JEAN PIAGET

GENETISCHE
ERKENNTNIS-
THEORIE

Aus dem Französischen übersetzt
von Fritz Kubli

Überarbeitet von Richard Kohler

Mit einer Einführung von Kurt Reusser

IMPRESSUM

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Klett-Cotta

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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »L’épistémologie génétique« ©1970 by Presses Universitaires de France

Für die deutsche Ausgabe

© 1974 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Umschlag: Rothfos & Gabler, Hamburg

Unter Verwendung eines Fotos von © ullstein bild – Fondation Horst Tappe

Gesetzt von Dörlemann Satz, Lemförde

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Vollständig durchgesehene, überarbeitete und erweiterte Neuausgabe, 2015

Printausgabe: ISBN 978-3-608-94816-5

E-Book: ISBN 978-3-608-10685-5

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20223-6

Dieses E-Book entspricht der 1. Auflage 2015 der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

INHALTSVERZEICHNIS

Einführung von Kurt Reusser

Vorwort

KAPITEL I: DIE PSYCHOGENESE DER ERKENNTNISSE

1. Die sensomotorischen Stufen

2. Die erste Stufe des präoperativen Denkens

3. Die zweite präoperative Stufe

4. Die erste Stufe der konkreten Operationen

5. Die zweite Stufe der konkreten Operationen

6. Die formalen Operationen

KAPITEL II: DIE ORGANISCHEN VORBEDINGUNGEN (BIOGENESE DER ERKENNTNISSE)

1. Der Empirismus Lamarcks

2. Die Theorie der angeborenen Fähigkeiten

3. Von den Instinkten zur Intelligenz

4. Die Autoregulationen

KAPITEL III: DIE KLASSISCHEN PROBLEME DER EPISTEMOLOGIE

1. Epistemologie der Logik

2. Epistemologie der Mathematik

3. Epistemologie der Physik

4. Konstruktivismus und Kreativität

Literaturverzeichnis

Sachregister

Personenregister

EINFÜHRUNG

Kurt Reusser

Im Jahr 1970 sind von Jean Piaget nicht weniger als vier von ihm verfasste Einführungstexte in sein Werk erschienen. Darunter der hier in deutscher Übersetzung (nach 1974) wieder aufgelegte kleine Band, der sich der Darstellung seiner genetischen Epistemologie widmet. Es handelt sich um eine Kurzfassung des Ansatzes, den Piaget bereits zwanzig Jahre zuvor in seinem dreibändigen Hauptwerk Introduction à l’épistémologie génétique (Piaget 1950) systematisch entfaltet hat, und der ihn als Klassiker der Humanwissenschaften ausweist, der über die Psychologie hinaus auch das philosophische Denken beeinflusst hat. Piaget entwickelt darin unter Rückgriff auf Biologie, Logik und Wissenschaftsgeschichte auf mehr als tausend Seiten die Grundfigur einer Verbindung der Ontogenese der Entwicklung mit der Entwicklung des Erkennens in einer historischen und phylogenetischen Perspektive.

Warum Piaget in den frühen siebziger Jahren gleich mehrere Einführungen in sein Werk verfasst hat, dürfte damit zusammenhängen, dass nach dem Erscheinen des für sein Gesamtwerk wichtigen Bandes Biologie et connaissance (Piaget 1967) die systematischen Grundpfeiler seines kognitionstheoretischen Denkgebäudes in ausgearbeiteter Form vorlagen und er das Bedürfnis empfand, Kernpunkte seiner in einen nochmals erweiterten Kontext gerückten Epistemologie in Kurzform verständlich darzustellen. Dazu kommt, dass Piaget sich in Interviews und Publikationen (einschließlich der vorliegenden) mehrfach geäußert hat, seine konstruktivistische Epistemologie sei zu wenig anerkannt und werde auch von erkenntnistheoretisch interessierten Lesern häufig missverstanden. Während ihn die einen für einen Empiristen halten würden, der auf psychologistische Weise philosophische Probleme bearbeite, würden ihn andere für einen biologistischen Reifungstheoretiker und Nativisten halten. Mit dem vorliegenden Band verfolgte Piaget das Ziel, seine genetisch-konstruktivistische Epistemologie einem breiteren, an erkenntnisphilosophischen Fragen interessierten Publikum nahezubringen. Da der Band dies auch heute noch zu tun vermag und Piagets Ansatz einer transdisziplinär angelegten genetisch-konstruktivistischen Wissens- und Erkenntnistheorie bis heute kaum etwas von seiner Anziehungskraft und von seinem Anregungspotential verloren hat, ist die vorliegende Neuausgabe zu begrüßen. Beschäftigt sich das erste Kapitel des Bandes mit einer Darstellung zentraler Konzepte, Mechanismen und Aufbaugesetzlichkeiten der Ontogenese des Erkennens (Piaget spricht von der empirischen Erforschung der Psychogenese), so ist das zweite Kapitel deren biologischen Wurzeln und Quellen gewidmet. In einem dritten Kapitel wendet sich Piaget einigen aus seiner Sicht klassischen Problemen der Erkenntnistheorie zu.

Zentrale Konzepte und Botschaften der von Piaget in diesem »Abriss« behandelten Theorie der Entwicklung des Erkennens, Denkens und Wissens sollen im Folgenden kurz vorgestellt werden.

Die Epistemologie, eine im frankophonen Raum verwendete Bezeichnung dafür, was im deutschsprachigen Raum Erkenntnistheorie heißt, beschäftigt sich mit der Natur und den Bedingungen des Zustandekommens von Erkenntnis und Wissen; im genetischen Begriffsverständnis Piagets mit den biologisch-stammesgeschichtlichen, historischen und individuellen Bedingungen der Entstehung und des Aufbaus begründeten Wissens und der Gewinnung logischer notwendiger Wahrheit. In Opposition zu einer mehr als zweitausendjährigen Tradition, wonach Erkenntnis sub specie aeternitatis, d. h. ohne Rücksicht auf ihre Entwicklung, als Teilhabe an überzeitlich und statisch gedachten Ideen und Strukturen verstanden wird, vertritt Piaget eine genetische Sicht des menschlichen Denkvermögens und damit der Wandelbarkeit ebenfalls der höchsten und allgemeingültigsten Formen der Vernunft und des logischen Denkens. Seine genetische Erkenntnisauffassung, deren Ausarbeitung sich in zahllosen, über mehrere Jahrzehnte publizierten Werken niedergeschlagen hat, kann als Gravitationszentrum und als Angelpunkt zum Verständnis seines Werks verstanden werden. Piagets monumentales Denkgebäude lässt sich nicht angemessen verstehen ohne Kenntnis jener im Kern philosophischen Frage nach der Hervorbringung und den Wurzeln des Wissens und des rationalen Denkens, welche Piaget während seines langen Forscherlebens beschäftigt hat.

Methodisch hat Piaget sein Forschungsprogramm, auch dies eine zentrale Differenz zur philosophischen Tradition, mit empirischen Mitteln verfolgt. Um die Frage zu klären, vermittelst welcher Leistungen der menschliche Geist zu Erkenntnisfortschritten gelangt bzw. zu neuen Einsichten kommt, hat sich Piaget sehr früh dem Studium der Psychogenese des Menschen – und damit dem Denken von Kindern – zugewandt. Interessiert an den Mechanismen der Hervorbringung und an den ontogenetischen Vorformen begründeten Wissens und Denkens ist Piaget in der Regel so vorgegangen, dass er Kinder unterschiedlichen Alters in »klinischen Interviews« befragte oder mit ihnen unter Verwendung von elegant einfachen Problemsituationen »klinische Experimente« durchführte. Zudem beobachtete er seine drei Kinder während ihrer ersten Lebensjahre intensiv und nahezu täglich. Die Ergebnisse seiner Beobachtungen und Experimente interpretierte er im Lichte seiner Stufentheorie und seiner erkenntnistheoretischen Fragestellung. Das heißt, einerseits erschloss der Entwicklungspsychologe Piaget aus den beobachteten Konstruktionsleistungen die Entwicklungsstufe, die kognitive Strukturhöhe und Denkqualität, die ein Kind bezüglich einer Aufgabe bzw. einer Wissensform zeigte. Andererseits lieferten die Verhaltensweisen der Kinder dem Epistemologen Piaget das Material zur Rekonstruktion der Denkkategorien und der Wissensformen durch Identifikation ihrer Vorläuferstrukturen.

Im ersten Kapitel des vorliegenden Bandes gibt Piaget einen Einblick in seine Denkwerkstatt und in seine strukturgenetische Arbeitsweise. Er tut dies weniger durch die ausführliche Darstellung konkreter experimenteller Studien zum Werden der Intelligenz als durch die selektive »Beschreibung von Tatsachen […], die eine epistemologische Bedeutung haben« (in diesem Band: 21). Dazu gehören auf der sensomotorischen Denkstufe die aus einer adualistischen Anfangsstruktur hervorgehende Konstruktion eines bewusst erkennenden Subjekts und mit diesem in Wechselwirkung stehende Objekte als den beiden Polen der Erkenntnistätigkeit, auf der präoperativen Stufe die Entwicklung erster logischer Begriffe und Relationen und darauf bezogener Denkformen, auf der konkret-operatorischen Stufe die reversibles Denken (darunter den Zahlbegriff) ermöglichende Ausbildung der Fähigkeit zur reflektierenden Abstraktion, zur Koordination von Beziehungen zu Gesamtsystemen und zur Autoregulation, und schließlich auf der formal-operatorischen Stufe die Fähigkeit, über die vorfindbare Wirklichkeit hinauszugehen und diese in die Gesamtheit des Möglichen und des logisch und kausal Notwendigen einzubetten.

Entgegen einem in der Literatur immer wieder anzutreffenden Bild eines Entwicklungspsychologen, der sich mit der Denkentwicklung von Kindern beschäftigt hat, verstand sich Piaget, der sich seit seiner Jugend leidenschaftlich mit philosophischen Fragen beschäftigte, primär als ein mit empirisch-psychologischen Methoden arbeitender Erkenntnistheoretiker. Obgleich seine Theorie auf der Auswertung von empirischen Beobachtungen des Denkverhaltens von Kindern über eine schier unendliche Vielfalt kognitiver Anforderungen und Bereiche hinweg beruht, interessierten ihn weniger die Denkprozesse und Entwicklungsverläufe individueller Kinder als vielmehr die sich in deren Problemlöseund Denkverhalten widerspiegelnden allgemeinen Denkformen und Entwicklungsmuster, die er für universell hielt. Aus dem Studium der Ontogenese des Erkennens erschloss Piaget die Ursprünge des wissenschaftlichen Denkens und der Wissens- und Erkenntnisentwicklung. Aus dem über sechs Jahrzehnte sich erstreckenden systematischen Bemühen, das rationale Vermögen des Menschen vom Kind her zu verstehen und zu einer »Embryologie der Intelligenz« (Piaget 1966; in seiner Autobiographie) zu gelangen, entstand in interdisziplinärer Vorgehensweise eine universale Theorie der Entwicklung der Wissens- und Denkformen des rationalen Erkennens.

Piaget sah sich dabei in der Tradition Kants. In seiner Antrittsvorlesung zu seinem ersten Lehrstuhl in Neuchâtel formulierte er seine erkenntnistheoretische Position in kritischer Auseinandersetzung mit dem Königsberger Philosophen: »Wir finden eine gewisse Zahl von Prinzipien, Begriffen oder Schemata, bei denen es unmöglich ist, sie nicht zu gebrauchen. Es handelt sich um die formalen Gesetze der Logik, die Begriffe der Zeit und des Raumes, die Ideen von Ursache, Quantität und Klassifikation. Diese Begriffe, denen sich der Geist nicht entziehen kann, sind nach Kant genau jene, die dem Denken selbst zugehörig sind und die dieses der Erfahrung aufzwingt« (Piaget 1925: 195; Übersetzung K. R.). Philosophisch gesehen entspricht Piagets genetisches Programm der Rekonstruktion der Modi und Denkformen rationaler Welterfassung und des logischen Schließens denn auch einem »dynamischen Kantianismus« (Piaget 1974: 3). Wie Kant fragte der empirisch arbeitende Epistemologe Piaget nach den Bedingungen des Zustandekommens sicherer, allgemeiner, logisch notwendiger Erkenntnisse. Beantwortete Kant 1781 die Frage durch Rückgriff auf einen a priori gegebenen, spontan-gesetzgeberisch tätigen Verstand, so antwortete Piaget mit seiner These von der schrittweisen Konstruktion der Erkenntnis- und Verstandesstrukturen in der Ontogenese. Logisches Vermögen sowie alle grundlegenden Wissens-, Denk- und Anschauungsformen gehen im Verlaufe eines anderthalb Jahrzehnte dauernden Konstruktionsprozesses durch reflektierende Abstraktion aus der humanen Handlungs- und Operationstätigkeit hervor.

Piaget, der sich als ausgebildeter Zoologe zum Ziel setzte, sein Leben »der biologischen Erklärung des Erkennens zu widmen« (Piaget 1966: 20), geht vor allem in seinem Spätwerk noch einen Schritt weiter. In dem zu seinen Hauptwerken gehörenden Buch Biologie und Erkenntnis (1967), dessen Kerngedanken Piaget im zweiten Kapitel der vorliegenden Schrift zusammenfasst, wird die biologische Fundierung seiner Erkenntnistheorie deutlich. Piaget war überzeugt, dass »die Entwicklung der kognitiven Prozesse« nicht verstanden werden kann, »ohne dass man auf die organischen Wurzeln zurückgeht« (in diesem Band: 67). Als interdisziplinärer Geist, der sich dem menschlichen Verhalten auch von der Biologie her näherte, behandelt Piaget das intelligente Verhalten des Menschen als Sonderfall und Weiterführung der biologischen Anpassung des Organismus an eine komplexe Umwelt. Durch die Übertragung von biologischen Begriffen auf die Psychologie der Intelligenz stellte er den Zusammenhang zwischen biologischer und psychologischer Entwicklung her. Für Piaget setzen die kognitiven Funktionen des Menschen dessen organische Regulationen fort und steuern die Austauschprozesse mit der Außenwelt. Diese Steuerung fasst Piaget als Selbstregulation und hält sie als »zu den allgemeinsten Eigenschaften der Organisation des Lebens« (ebd.: 76) gehörig. Die Selbstregulation ist als Entwicklungsprinzip und als Triebkraft des Denkens verantwortlich für das Erreichen von immer höheren Gleichgewichtsniveaus in der geistigen Entwicklung und damit für eine immer bessere Passung von Subjektwelt und Objektwelt, von Denken und Wirklichkeit. Piaget betont die innerhalb biologischer Bandbreiten autonome Natur des Subjekts bei der Konstruktion seiner Erkenntnismittel und seines Weltbildes. In Abgrenzung zum »Empirismus Lamarcks« (ebd.: 67 ff.), der von einer »Vererbung von erworbenen Eigenschaften« (ebd.: 75) der Intelligenz ausgehe, jedoch auch in Abgrenzung zum »Inneismus« (ebd.: 70 ff.) eines Konrad Lorenz bzw. zur »aprioristischen Schule« (der Kant angehörte), die von einer »›prästabilierten‹ Harmonie zwischen dem Universum und dem Denken« (ebd.: 79) oder aber (wie Lorenz) von biologisch präformierten »›Kategorien‹ des Denkens« (ebd.: 71) ausgehe, postuliert der empirisch vorgehende Piaget eine »›etablierte‹ Harmonie, die sich allmählich durch einen Prozess entwickelt, der im Organischen wurzelt und sich ins Unendliche erstreckt« (ebd.: 79). Das heißt, er deutet den »Zusammenhang zwischen dem Subjekt und den Objekten sowie […] des überraschenden Einklangs der logisch-mathematischen Operationen mit der Erfahrung und der physikalischen Kausalität« als Parallelität »zwischen der Biogenese und der Psychogenese der kognitiven Instrumente« (ebd.: 78). Die biologisch vererbten Strukturen verhalten sich zur Naturwelt wie die mentalen Strukturen zur Erfahrungswelt.

Mit seinem monumentalen Projekt der Rekonstruktion der Tiefenstrukturen der kognitiven Tätigkeit und des Erkennens hat Piaget bereits in seinem epistemologischen Hauptwerk von 1950 einen kühnen Bogen von der Biologie zur Psychologie, von der mit Geltungsfragen befassten Logik und Philosophie zu den empirisch arbeitenden Wissenschaften vom Menschen geschlagen. Im Gegensatz zu einem gegenüber jeder Form des »Psychologismus« skeptischen Verständnis erkenntnisphilosophischer Theoriebildung gibt es für den Konstruktivisten Piaget keine festen und unverrückbaren Grenzen zwischen Geltungs- und Faktenfragen, zwischen Erkenntnistheorie oder Logik einerseits und Biologie oder Psychologie andererseits. Die an der Erklärung von Natur und Verhalten beteiligten Wissenschaften fundieren sich wechselseitig. Piaget hat dafür das Bild eines sich erweiternden Kreises von Wissenschaften als allgemeines Modell für die nach stets höheren Gleichgewichtsformen strebende Interaktion von Subjekt und Objekt verwendet, eine Denkfigur, die sich im vorliegenden kleinen Band im dritten Kapitel allerdings nur andeutet. 1950 schreibt er: »Die psychologischen Erklärungen beziehen sich früher oder später auf diejenigen der Biologie, diese beruhen ihrerseits auf denjenigen der Physik und der Chemie, die physikalischen Erklärungen stützen sich auf die Mathematik, und die Mathematik und die Logik können sich nur auf die Gesetze des Geistes berufen, die das Untersuchungsobjekt der Psychologie bilden« (Piaget 1950, I: 47).

Das Subjekt erkennt (assimiliert) die Objektwelt nur durch sein einwirkendes Handeln, und gleichzeitig kann es die Struktur seiner Aktivitäten, die sich in einem lebendigen Organismus vollziehen und eine Fortführung der biologischen Organisation darstellen, nur durch eben dieses Einwirken kennenlernen. Physik und Chemie sind die Wissenschaften von der Objektwelt, sie erreichen diese jedoch nur über logisch-mathematische (Denk-)Strukturen, die den Aktivitäten lebendiger Wesen entspringen. Die Biologie ist die Wissenschaft, die solche lebendigen Wesen untersucht. Diese sind gleichzeitig die Subjekte, die Verhaltens- und Denkstrukturen durch Konstruktion und Akkommodation an die Wirklichkeit ausbilden. Für Piaget ist das Gesamtsystem der Wissenschaften ein natürlicher und notwendiger Kreis, eine Endlosspirale, jedoch kein circulus vitiosus.

Der über den Blick eines Biologen, Psychologen, Wissenschaftshistorikers und Logikers verfügende, mit einer kognitiv-vitalen Leidenschaft sowie der Fähigkeit, sich gegen Zeit- und Traditionsströme zu stellen ausgestattete Piaget verfolgte kein geringeres Ziel als das bis ins 20. Jahrhundert der Philosophie vorbehaltene Terrain der Erkenntnistheorie einer empirisch-naturwissenschaftlichen Bearbeitung zugänglich zu machen. Auf der Suche nach den Vorläuferstrukturen einer genetisch aufgefassten Ratio hat Piaget im Verlauf seines langen Forscherlebens weite Teile der theoretischen Vernunft des Menschen einer strukturgenetischen Analyse unterzogen und den qualitativen Aufschwung des Denkens vom Säuglingsalter bis hin zum formalen Denken als progressiven epistemischen Strukturaufbau nachgezeichnet. Piaget war überzeugt, dass sich der Mensch als erkennendes Wesen nur vom Kinde her verstehen lässt, da das Wesen der Erkenntnis und ihrer Bedingungen untrennbar mit ihrem Werden verbunden ist, und sich das Rätsel des Zustandekommens neuer Erkenntnis – der Kreativität, wie er es im Schlussabschnitt des vorliegenden Bandes anspricht – nur durch das Studium der die geistige Entwicklung des Kindes kennzeichnenden Konstruktionsprozesse und ihrer Modellierung erhellen lässt.

Es verwundert nicht, dass jemand, der mit dem Anspruch auftrat, das epistemologische Denken in kopernikanischer Weise zu erneuern, auch zu Kritik herausforderte. Diese im Einzelnen darzulegen, würde den Rahmen dieser Einführung sprengen. Erwähnt sei neben dem genannten Psychologismus-Vorbehalt, der seit jeher von Philosophen formuliert wurde, hier lediglich ein Problem: der von Piaget verwendete, enge logisch-mathematische Struktur- und Wissensbegriff. Dieser wird entgegen dem globalen Geltungsanspruch, den Piaget mit der formalen Logik als Modell für das menschliche Denken verbindet, der Vielfalt des qualitativen Weltwissens nicht gerecht. Zwar lassen sich mathematischnaturwissenschaftliche Denkformen und Qualitäten relativ gut in logischen Strukturmodellen fassen. Interpretative und narrative Prozesse, d. h. hermeneutische Denkoperationen und Schlussformen lassen sich durch die der mathematischen »Gruppentheorie« entnommenen logischen Modelle, die Piaget dem entwickelten Denken zugrunde legte (und denen er ebenfalls im vorliegenden Band Raum gibt), nicht angemessen beschreiben. Insbesondere die der Sphäre der sozialen und kulturell-historischen Wirklichkeit zugehörigen Wissensformen und Modi des Denkens, einschließlich der Differenzen, die sich durch den von Piaget vernachlässigten Entwicklungsfaktor der Sprache ergeben, lassen sich durch die Allgemeingültigkeit beanspruchende Modellsprache der mathematischen Logik nicht abbilden.

Kein Forscher hat unsere Auffassung von der geistigen Entwicklung des Menschen nachhaltiger beeinflusst als der Genfer Jean Piaget. Auch unter Ansehung der heute an sein Werk gerichteten Kritik gehört er zu den bahnbrechenden Theoretikern der Entwicklungspsychologie und zu den Anregern der Wissenschaftstheorie des 20. Jahrhunderts. Als epochaler interdisziplinärer Geist, der sich über Jahrzehnte mit den Grundproblemen der Erkenntnistheorie und des Denkens beschäftigte und diese mit empirischen Mitteln erforschte, verstand er sich als Brückenbauer zwischen Philosophie und empirischer Wissenschaft – eine Funktion, die auch heute nichts von ihrer Aktualität eingebüßt hat.

LITERATUR:

Piaget, Jean (1925): Psychologie et critique de la connaissance. In: Archives de psychologie, 19: 193–210.

Piaget, Jean (1950): Die Entwicklung des Erkennens. Drei Bände. Stuttgart: Klett, 1975.

Piaget, Jean (1966): Autobiographie. In: Giovanni Busino (Hg.): Jean Piaget – Werk und Wirkung. München: Kindler, 1976.

Piaget, Jean (1967): Biologie und Erkenntnis. Frankfurt a. M.: S. Fischer, 1968.

Piaget, Jean (1974): Lebendige Entwicklung. In: Zeitschrift für Pädagogik, 20: 1–6.

VORWORT

Mit Vergnügen nehme ich die Gelegenheit wahr, dieses kleine Buch über die genetische Epistemologie zu schreiben, um bei dieser Gelegenheit einmal mehr die Idee hervorzuheben, auf der diese Theorie aufbaut, eine Idee, die allgemein noch viel zu wenig anerkannt ist. Das Grundprinzip unserer Forschung, das durch unsere im Team ausgeführten Arbeiten immer wieder bestätigt wurde, war das folgende: Die Erkenntnis ist auf keinen Fall prädeterminiert, weder in den inneren Strukturen des Subjekts, denn sie resultiert aus einer effektiven und ständigen Konstruktion, noch in den gegebenen Eigenschaften des Objekts, denn diese können nur dank der Vermittlung durch Strukturen erkannt werden, welche die erfassten Objekte bereichern (auch wenn die Bereicherung nur in ihrer Eingliederung in die Gesamtheit aller möglichen Objekte besteht). Mit anderen Worten, jede Erkenntnis beinhaltet eine Neuerarbeitung, und das große Problem der Erkenntnistheorie besteht darin, diese mit zwei Tatsachen zu versöhnen: Die Neuschöpfungen erhalten, sobald sie geschaffen sind, eine formale Notwendigkeit, und sie (und nur sie) erlauben die Erfassung der realen Objektivität.

Das Problem der Konstruktion nicht-präformierter Strukturen ist keineswegs neu, jedoch greift die Mehrzahl der Erkenntnistheoretiker auf aprioristische (oft sogar wieder auf vererbte) oder empiristische Hypothesen (die die Erkenntnis auf das Erfassen der im Subjekt oder im Objekt bestehenden Formen reduzieren) zurück. Alle dialektischen Strömungen insistieren dagegen auf der Idee der Neuheit und suchen das Geheimnis der Erkenntnis in den »Aufhebungen« zu erfassen, die das Spiel der Thesen und Antithesen permanent überschreiten. In der Geschichte des wissenschaftlichen Denkens stellt sich zwangsläufig das Problem des Wechsels gewisser Perspektiven oder sogar der »Revolution« der »Paradigmen« (Kuhn 1962), und Léon Brunschvicg (1927) hat daraus eine Epistemologie der grundlegenden Entwicklung der Vernunft abgeleitet. Im psychologischen Bereich hat James Mark Baldwin unter dem Stichwort »genetische Logik« tiefgründige Gedanken über den Aufbau kognitiver Strukturen geäußert; auch andere Versuche in dieser Richtung könnten angeführt werden.

Die genetische Epistemologie hat diese Frage in der doppelten Absicht aufgegriffen, eine Methode zu finden, die Kontrollen erlaubt und vor allem eine Rückkehr zum Ursprung und zur Entwicklung der Erkenntnis, denn die traditionelle Erkenntnistheorie befasst sich nur mit deren höchsten und letzten Stufen oder, anders ausgedrückt, mit gewissen Resultaten. Die genetische Epistemologie versucht jedoch, nicht nur die »Wurzeln« der verschiedenen Erkenntnisse aufzuspüren (d. h. ihre elementarsten Formen), sondern auch ihre Entwicklung bis zu den höchsten Stufen zu verfolgen, also bis zum heute akzeptierten wissenschaftlichen Denken.

Obschon unsere Untersuchung eine wichtige psychologische Dimension einschließt, reduziert sie sich nicht auf die Psychologie. Die Psychologen sind sich dessen bewusst, wie ein Artikel beweist, der dem Verfasser dieser Zeilen von der American Psychological Associationbyproduct