Cover

Über dieses Buch:

Fühlst du dich sicher in deinen eigenen vier Wänden? Natürlich – wo sonst? Den Fehler hat Christiane auch gemacht. Dabei dringt jemand – Schritt für Schritt, ganz langsam – immer tiefer in ihr Leben ein. Zunächst bemerkt sie es kaum, hier und da verschwindet ein Wäschestück. Aber das kann jedem passieren … oder? Doch es wird immer schlimmer und schließlich ist sich Christiane sicher: Jemand verschafft sich Zugang zu ihrer Wohnung, zu ihren eigenen vier Wänden – ihrem Allerheiligsten. Und in ihr drängt sich der fürchterliche Verdacht auf: Kenne ich den kranken Stalker?

Über die Autorin:

Agnes Kottmann wurde 1959 im westmünsterländischen Vreden geboren. Nach einem Soziologie- und Publizistik-Studium, arbeitete sie als feste freie Mitarbeiterin für Hörfunk und Fernsehen des WDR.

***

Überarbeitete Neuausgabe April 2015

Copyright © der Originalausgabe 1995 GRAFIT Verlag GmbH, Dortmund

Copyright © der überarbeiteten Neuausgabe 2015 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Maria Seidel, atelier-seidel.de unter Verwendung eines Motivs von Thinkstockphoto/istock

ISBN 978-3-95824-059-9

***

Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weiteren Lesestoff aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem Stichwort Tote streiken nicht an: lesetipp@dotbooks.de

Gerne informieren wir Sie über unsere aktuellen Neuerscheinungen und attraktive Preisaktionen – melden Sie sich einfach für unseren Newsletter an: http://www.dotbooks.de/newsletter.html

Besuchen Sie uns im Internet:

www.dotbooks.de

www.facebook.com/dotbooks

www.twitter.com/dotbooks_verlag

http://gplus.to/dotbooks

http://instagram.com/dotbooks

Agnes Kottmann

Tote streiken nicht

Kriminalroman

dotbooks.

Kapitel 1

PROLOG

»Du alte Schlampe!«, zischte er. »Wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst nicht so spritzen beim Zähneputzen.«

Breitbeinig stand er vor dem Waschbecken, den Unterleib fest gegen den Rand gedrückt. Was er im Spiegel sah, ekelte ihn an. Wenn wenigstens diese weißen Spritzer nicht wären!

»Sich auch noch mit Schaum vorm Mund toll finden, was!«, höhnte er. »Aber mit vollem Mund spricht man nicht, Bitch.«

Mit beiden Händen umklammerte er den Beckenrand, und die Fingerknöchel traten durch die Handschuhe hervor, die er sich wie ein Kondom über die Finger gestülpt hatte. Der Wasserhahn glich mehr einer befleckten Empfängnis als dem polierten Silber seiner Mutter. Diese Mutter, die zu nichts anderem nütze war, als ihre Schlechtigkeit wegzuwienern. Aber die Putzfrau seines Schätzchens konnte nicht einmal das. Plötzlich hörte er Schritte auf der Treppe. Sie kann es nicht sein, dachte er. Leise schlich er ins Gäste-WC, lehnte die Tür aber nur an.

Die Eingangstür wurde aufgeschlossen und zugedrückt. Eine Tasche fiel im Flur zu Boden. Der Eindringling kam näher, ging aber ins Badezimmer.

»So ‘n Mist!«, fluchte eine Frauenstimme. »Kein Klopapier da!«

Die Frau kam aus dem Bad heraus und auf sein Versteck zu. Er nahm Haltung an, zog die Vinylhandschuhe hoch und stellte seine Beine auseinander. Die Arme fielen locker nach unten. Die Frau machte die Tür auf. Er kannte und würgte sie. Als er fertig mit ihr war, drehte er ihr Gesicht weg. Er wollte es nicht ansehen müssen. Die Fratze mit den fast platzenden Augen und der herausbaumelnden Zunge ekelte ihn an. In der Tasche seines Mantels kramte er nach dem Döschen, in dem er sein persönliches Souvenir aufbewahrte. Hoffentlich lebte das Mitbringsel noch. Das machte es aufregender, wenn es im Rachen der Erstickten noch zuckte oder umherhüpfte, bevor es keine Luft mehr bekäme. Wie er tötete und womit, war ihm egal. Aber den Grund sollte man finden, das Motiv. Warum sollte nur er so etwas ekelhaft Glitschiges in seinem Mund haben müssen?

Kapitel 2

MONTAG – 1. Woche und zweitletzte Woche vor dem 1. Mai

Christiane Holz hasste Montage, weil sie nie blaumachen konnte, auch wenn sie sich das Wochenende in der Gewerkschaftsschule um die Ohren gehauen hatte und nicht mit ihrem Liebsten. Jürgen hasste sie manchmal auch.

Der Radiowecker tat seine Pflicht, doch Christiane hörte nicht auf ihn. Zu groß war das Schlafdefizit, das sie sich Samstagnacht in der Kellerkneipe der zentralen Bildungsstätte eingehandelt hatte. Zu vorgerückter Stunde nahm sie es sehr genau damit, dass hauptamtliche Gewerkschaftsfunktionäre für die Mitglieder da zu sein hatten, besonders wenn es sich um die attraktiveren Ausgaben der männlich dominierten Basis oder des Funktionärskörpers handelte und alle interessanten Frauen schon im Bett waren.

Der Jingle für die Morning-News schepperte an Christianes Ohr und verriet zunächst nur den Sponsor. »Lion Kölsch, die jecke Antwort auf Löwenbräu.« Dann folgte die Zeit. Und die stimmte meist auch bei den kommerziellen Lokalradios. Acht Uhr!

Wie von einem Haufen Austrittserklärungen getroffen, saß Christiane kerzengerade im Bett. Um neun Uhr war GV, allwöchentliche Runde des Geschäftsführenden Vorstands! Auch deshalb hasste Christiane Montage.

Mit einem Satz war sie aus dem Bett, über das Che Guevara ein schützendes Auge hielt, als schwarzes Konterfei auf einer roten Fahne. Christianes wehender Altar für die sandinistische Revolution in Nicaragua. Und ein Zeichen der Verbundenheit mit ihrer besten Freundin Jutta, beides Spätzünder in Sachen Nicaragua. Die Diktatur war schon lange gestürzt und Commandante Daniel Ortega inzwischen ein durchgeknalltes Staatsoberhaupt.

Christiane lief durch ihr Arbeitszimmer. In der linken Wand war ein Kleiderschrank eingebaut. Dahinter befand sich ein Stauraum, zugänglich durch eine kleine Tür in dem schlauchartigen, verwinkelten Flur. Ein Blick in den Badezimmerspiegel und die Entscheidung stand fest: Katzenwäsche. Der Zopf saß einigermaßen, das Gummi war kaum verrutscht, und das Haarebürsten konnte warten. Ebenso die Kopfwäsche. Ihren westfälischen Dickschädel würde sie noch früh genug an diesem Tag gewaschen bekommen.

Wie der Schwanz eines hellbraunen Ponys standen ihre getönten Haare vom Scheitelmittelpunkt ab. In natura sah Christianes Haarschopf aus wie eine Garbe Stroh, die man im Sommer auf dem Feld vergessen hatte: graublond, also nach nichts. Ihr Teint war eierschalenfarben wie bei den Ablegern von glücklichen braunen Hühnern. Und manchmal schaute sie so streng wie eine aufgeregte Henne, wenn sie sich nicht traute, ihre Zähne hemmungslos zu entblößen. Die beiden Schneidezähne waren einen Tick zu lang, und auch die Eckzähne waren etwas vampirmäßig ausgefallen, also nicht nur länglich, sondern auch spitz. Von einer harmonisch angeordneten Zahnpracht konnte deshalb bei Christianes Gebiss keine Rede sein.

Das Fenster gab einen noch unentschiedenen Aprilhimmel preis. Also Jeans, kein Rock. Christiane schlüpfte in die Hose und schnürte den Bund mit einem Gürtel eng zusammen. Etwas Taille braucht der Mensch. Dazu ein bunt gemustertes Sweatshirt und sie kam sich wie der Sonnenschein höchstpersönlich vor. Knuffig und warm. Und vor allem klein.

Wie immer fuhr sie schwarz mit der U-Bahn. Sie brauchte den Kitzel, obwohl ihr Job eigentlich aufregend genug war. Und Jürgen auch.

Das Gewerkschaftshaus, das allen Einzelgewerkschaften Asyl bot, hatte ein ruhiges Wochenende verbracht. Grau, klotzig und in Beton stand es da. Durch die drei großen weißen Buchstaben vor knallrotem Hintergrund, die die Vorderfront zur Straße zierten, hatte es etwas Farbe bekommen. Früher war der DGB blau gewesen. Aber Rot war die Farbe des Kampfes, doch auch der war der Gewerkschaft neben den Mitgliedern oft abhandengekommen. Sie fasste lieber Beschlüsse.

Das gläserne Portal war von innen fast zu plakatiert. Der DGB rief auf, am »Tag der Arbeit« zu demonstrieren, für den Mindestlohn auch für Zeitungszusteller und gegen die Ausnahmen davon. Für einen kräftigen Schluck aus der Einkommens-Pulle und gegen Dumpinglöhne. Für das Verbot von Leiharbeit, Werkverträgen und befristeten Zeitverträgen ohne Grund und gegen die Billigkonkurrenz unter den Beschäftigten. Sonst war alles wie immer.

Der schöne Hausmeister, der auch den Empfangschef gab und Leuten den Weg zeigte, saß in seinem Kabuff in der Eingangshalle, eine Mischung aus Ryan Gosling und Orlando Bloom. Aber leider war er verheiratet, und das bis unters Dach. Er grüßte knapp.

Mit dem Aufzug fuhr Christiane nach ganz oben in ihr Reich, den siebten Stock. Sie schloss die Glastür auf. Im Flur war es dunkel. Durch das getönte Glas drang nur ein schwacher Schimmer. Sie knipste das Licht an, doch es funktionierte nicht. Mit der rechten Hand tastete sie sich an den Wandschränken entlang. Am Ende des Flurs konnte sie kaum noch etwas sehen. Links befand sich die Tür zum Materialraum und zum dahinterliegenden Archiv, rechts ihr Büro und geradeaus ein kleines Badezimmer mit Dusche und Toilette.

Ihre Hand erwischte die Klinke, und schon war die Welt wieder in Ordnung. Auf den ersten Blick war ihr Büro alles andere als einladend. Auf ihrem Schreibtisch stapelte es sich, wie es sich für eine unordentliche Funktionärin gehörte. An der Wand hing das Bild einer Tänzerin in einem roten Kleid, das schwarz eingerahmt war. In Nicaragua, wo Christiane zusammen mit Jutta ihren letzten Sommerurlaub verbracht hatte, war sie so richtig auf den Geschmack gekommen, Salsa hoch und runter. Dagegen war früher die Schieberei auf den Schützenfesten wie ein Viehauftrieb ausgefallen. Jutta hatte allerdings ihr Herz nicht nur an Land und Leute verloren, sondern auch im Einzelfall. Er war der beste Tänzer im Dorf.

Christiane lächelte bei der Erinnerung daran. Ton in Ton zum Tanzkleid auf dem Bild strahlten die Sitzbezüge ihres Schreibtischsessels und der beiden Besucherstühle: eine Harmonie, die Bestand hatte.

Christiane klingelte bei ihrem Sekretär Gabriel Kasimir, der eine Etage tiefer hauste, durch, dass sie an Bord sei. Er war der einzige Mann unter den Verwaltungsangestellten und nannte sich Finanzreferent, weil er auch der Kassiererin des Oberbezirks Nordrhein der VDG zuarbeitete. Die VDG war die Vereinte Dienstleistungs-Gewerkschaft und hatte sich nach der Fusion zur zweitgrößten Gewerkschaft gemausert. Trotzdem hätte Gabriel Kasimir die Stelle nie als reine Tippse angetreten.

Noch zehn Minuten bis zum GV. Wo war nur das verdammte Protokoll der letzten Sitzung? Auf dem zuständigen Stapel schon mal nicht. Das Telefon riss Christiane aus der Sucherei. Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Wie oft musste sie denen da unten noch sagen, dass sie vor dem GV nicht gestört werden wollte. Kasimir entschuldigte sich, was sonst weniger seine Art war, aber es sei Jutta General und sehr dringend. Für Freundinnen war Christiane natürlich immer zu sprechen. Man gönnt sich ja sonst nichts.

»Ich habe nicht viel Zeit, muss gleich zum GV«, sagte Christiane nach einer kurzen Begrüßung und um ein möglicherweise längeres Palaver über traumatische Wochenenderlebnisse abzublocken.

»Ach, habe ich ganz vergessen. Dann rufe ich dich nach der Sitzung noch mal an«, erwiderte Jutta General. »Es ist nämlich wirklich wichtig.«

»Katholen-Jutta«, wie Christiane diese Jutta nannte, um sie von »Nica-Jutta« zu unterscheiden, arbeitete beim Sozialbund Christlicher Frauen. Und nahm ihren Job sehr genau. »Oder ruf du mich besser nach dem GV an«, insistierte Katholen-Jutta. »Das kann ja immer dauern bei euch.«

Was Jutta und Christiane nicht ahnten: Dieser GV würde es in sich haben.

Kapitel 3

In den sechsten Stock des Gewerkschaftsklotzes, wo der Rest des Apparates der VDG wirkte, stieg Christiane zu Fuß hinab. Sie öffnete die Etagentür, und das Empfangspersonal hob die Köpfe. Rechts am Schreibtisch des »Zwillingsbüros« saß Mary Süßrauh, die rechte Hand der 1. Bevollmächtigten, und ihr gegenüber Kasimir. Sie blickte vorwurfsvoll auf die Uhr, er schaute wie so oft mies gelaunt.

Auf den beiden zusammenstehenden Schreibtischen hätte man gut Tischtennis spielen können, doch dafür waren sich die Zwillinge nicht grün genug. Sie arbeiteten lieber nebeneinander her. Mary, die mit ihrem güldenen, in große Wellen gelegten Haar einem Krippenspiel mit Engelsbesetzung entstiegen zu sein schien, war nur für ihre Chefin da, vor allem in ihrer Abwesenheit. Und das war sie häufig.

Kasimir band seit einigen Wochen sein gekräuseltes Haar im Nacken zu einem Zopf zusammen. Er sah immer gleich blass aus, und seine Augen sagten nichts. Dagegen hatte ein Fisch einen feurigen Blick.

Christiane rechnete damit, mal wieder die Letzte beim GV zu sein. Doch was für ein Glück – »die Knete«, die Kassiererin, die eigentlich Knette hieß, war nicht auf ihrem Platz, als Christiane das Sitzungszimmer betrat. Es war quadratisch, praktisch und zu klein. Vier Tische bildeten ein Karree.

Gerda Lampe, die 1. Bevollmächtigte, saß an ihrem angestammten Platz. Sie steckte in dunkelblauen Jeans, einer grauen Flanellbluse und einem anthrazitfarbenen Blazer. Wenn die Lampe nicht saß, war sie groß, schlaksig und ohne die bei Männern öfter anzutreffende Funkti-Wampe. Sie hatte etwas von Hannelore Elsner, nur nicht deren Wirkung auf Männer, da einfach zu groß. Da könnte ihr Dekolleté auch gefährlicher sein, kaum einer konnte ihr hineinsehen. Die Gewerkschaftssatzung legte sie strenger aus als der Papst neuerdings die Bibel, und daheim hielt sie sich einen Hausmann, der den kleinen Sohnemann und die noch kleinere Tochterfrau hochpäppelte.

Lampes Stellvertreter Valentin Fränschel hantierte nebenan in der Teeküche herum.

»Hat einer von euch die Knete gesehen?«, fragte Gerda Lampe. Dass sie den Spitznamen der Kassiererin bemühte, verhieß nichts Gutes. Da kam Gewitter auf.

»Nein«, antwortete Christiane und entledigte sich des doch noch wiedergefundenen Protokolls.

»Wie auch, du bist ja gerade erst gekommen«, frotzelte Fränschel aus der Küche. Er selbst hielt es nicht für nötig, der Vorsitzenden zu antworten.

Die Lampe hob den Hörer des Tischapparats ab. »Gerda hier, wo ist deine Chefin?«

Fränschel balancierte ein Tablett aus der Küche, vollgepackt mit Geschirr, einer Thermoskanne, einem Zuckerstreuer und einem braunen Glas mit Kaffeemilchpulver – Christianes Antrag auf fettarme Dosenmilch wurde einfach hartnäckig ignoriert.

»Wenn sie da ist, soll sie sofort in die Sitzung kommen!«, befahl Lampe und legte fast beiläufig auf. Ihr Blick hing schon wieder an den Sitzungsunterlagen.

Niemand wunderte sich übermäßig, dass Eva Knette sich nicht einmal abgemeldet hatte, obwohl sie sonst die Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit in Person war.

Fränschel quetschte sich hinter Christianes Stuhl an der Wand vorbei, und sie rückte keinen Zentimeter nach vorn. Er war zwar schlank wie eine Gerte, doch sein Hinterteil streifte eine lose in einem Plakat steckende Heftzwecke und riss sie heraus. Das Plakat geriet in eine Schieflage, und auch die darauf verewigte Forderung hatte jetzt etwas Schräges: Wir sind es wert! – Nachtschichten im Bio-Rhythmus! Das fand Christiane auch, besonders für Nachtarbeiterinnen in ehelichen Schlafzimmern.

Wider Erwarten regte Fränschel sich nicht auf, machte aber auch keine Anstalten, das Plakat wieder gerade zu hängen. Auch nicht, als er seine schwere Ladung auf dem Tisch abgesetzt hatte.

»Was ist denn jetzt mit der Kollegin?«, fragte er.

»Keiner weiß, wo sie steckt«, erwiderte Lampe.

»Warum sagt ihr das nicht gleich. Dann hätte ich die vierte Tasse nicht auch noch spülen müssen«, regte sich Fränschel nun doch auf. Er war wieder in Form. Auch seine Natur-Dauerwelle saß tipptopp. Er gehörte zu den Männern, die früh ergrauen und spät kommen oder gar nicht. Das erzählten sich die Kolleginnen des Frauenrates, die ihn manchmal einluden. Zum Referieren.

Gerda Lampe eröffnete den GV. »Das Protokoll der letzten Sitzung des Geschäftsführenden Vorstands können wir nicht behandeln, weil die Protokollantin nicht da ist.« Sie war ungehalten.

»Wieso war das die letzte Sitzung, wir sitzen doch schon wieder zusammen«, scherzte Christiane.

Lampe schaute sie nur kurz an. »Ich bin derzeit zu solchen Scherzen nicht aufgelegt«, wies die Chefin sie zurecht. »Wir haben andere Sorgen. Wenn ich an die Tarifrunden denke, wird mir ganz anders.«

Lampe nahm ihren üblichen Monolog auf, berichtete ausführlich über ihre Heldentaten der vergangenen Woche, wem sie wo auf die Füße getreten war und wem sie was zwischen die Hörner gegeben hatte. Mit wem sie anschließend essen gegangen war, verriet sie natürlich nicht.

Lampe redete und redete und rollte das »R«, so dass sie jederzeit politisches Asyl im Freistaat Bayern erhalten würde. Und keiner protokollierte. Christiane amüsierte das, drohten doch diese arbeiterbewegenden Ausführungen nicht in die Annalen der Gewerkschaft einzugehen.

»Bei der Gelegenheit fällt mir ein«, unterbrach Lampe ihren Redefluss und schlürfte aus der Kaffeetasse, dass Christianes Nerven auf die Barrikaden gingen. »Wer schreibt das Protokoll?«

Mist, dachte sie. Fränschel senkte seinen Blick so tief, als würde er seine Augen mit einem Mikroskop auf der Suche nach Vogelgrippe-Viren auf seinen Papieren verwechseln.

Lampe sagte nichts. Sie schaute Christiane einfach nur an.

»Nein, ich lehne das ab«, verteidigte sie sich. »Nur weil ich eine Frau bin, schreibe ich doch nicht das Protokoll!«

»Das ist doch Siebziger und hat damit überhaupt nichts zu tun«, konterte Lampe. »Du bist Journalistin, dir fällt das doch nicht so schwer.«

»Wieso schreibst du nicht das Protokoll, Valli?«, versuchte Christiane den Kelch weiterzureichen.

Das war ein Fehler. Den Stellvertretenden Vorsitzenden mit seinem Kosenamen anzusprechen, den er nur in der Horizontalen gerne hörte, war grob fahrlässig. Christiane hätte es wissen müssen, denn im besagten Frauenrat, dem sie manchmal außer der Reihe einen Besuch abstattete, nahm man es immer noch sehr ernst mit der alten feministischen Parole »Das Private ist politisch«. Doch seit Fränschel in festen Händen war, hatte die Gerüchteküche nicht gebrodelt.

»Ich habe keine Zeit, und nenn mich nicht Valli!«, sagte der Kollege unwirsch. Er machte sich nicht einmal die Mühe, wenigstens auf dem Smartphone in seinen Terminkalender zu schauen, um dann demonstrativ unter der Last der eingetragenen Verpflichtungen zusammenzubrechen.

»Ich habe dich gefragt, Christiane, nicht Valentin«, sagte Gerda Lampe.

»Also gut, ich mach’s, aber nur, wenn deine Kollegin das Protokoll fertig macht und an den erweiterten Vorstand verschickt, und nicht Kasimir«, lenkte Christiane ein, wohlwissend, dass das keine Glanzleistung in Selbstbehauptung war.

»Die Kollegin hat seit heute Urlaub«, entgegnete Fränschel. »Und zwar wohlverdient. Ich muss ja nicht noch einmal betonen, dass der Fachbereich ›Öffentlicher Dienst‹ acht Mal so viele Mitglieder umfasst wie das Ressort ›Medien und Kultur‹. Und den Rechtsschutz haben meine Mitarbeiterin und ich auch noch am Hals.«

Das war Fränschels Totschlagargument, und dagegen war auch Lampe machtlos. Obwohl das ungerecht war, denn Christianes Klientel war viel schwieriger und brauchte mehr Einzelmassagen. Doch bevor sie irgendetwas dieser Art vorbringen konnte, nur, um Fränschel die Sache nicht einfach durchgehen zu lassen, klingelte das Telefon. Widerwillig nahm Lampe ab. Beim GV wollte sie nicht gestört werden. Doch schnell hellte sich ihre Miene auf. Schien wichtig oder jemand Wichtiges zu sein.

»Für dich«, sagte sie knapp zu Christiane, und: »Mary macht das Protokoll.«

Erst jetzt reichte sie ihr den Hörer.

Christiane meldete sich mit ihrem Nachnamen und war überrascht. Solche Anrufe erhielt sie nicht jeden Tag.

»Renner, LFV, Lokalfunk-Verband«, gab sich der Anrufer zu erkennen.

Christiane kam nicht dazu, ihre Verblüffung auszudrücken oder so zu tun, als sei es das Normalste der Welt, dass der Verhandlungsführer der gegnerischen Seite bei den Tarifrunden für den Privatfunk sie anrief – sie, die zwar Mitglied der Verhandlungskommission der VDG war, aber noch nie die Ehre hatte, bei den sogenannten Spitzengesprächen unter vier oder acht Augen dabei zu sein.

»Frau Holz«, sagte Renner. »Ich weiß, dass ich Sie in einer wichtigen Sitzung störe, aber mein Anliegen ist sicherlich nicht weniger wichtig. Leider müssen wir den Termin für die nächsten Verhandlungen unsererseits absagen. Nicht dass Sie denken, wir wollen die Verhandlungen platzen lassen. Da kann ich Sie beruhigen. Es handelt sich lediglich um Terminschwierigkeiten. Aber das Problem kennen Sie selbst, nicht wahr.« Renner lachte kurz auf, er kicherte.

Christiane war es nur recht. Keine Verhandlung, weniger Arbeit. Und es schmeichelte ihr, dass Renner sie persönlich informierte.

Kapitel 4

Protokollschreiben war doch was Herrliches. So hatte Christiane schwarz auf weiß, was die Kollegen manchmal für einen Stuss redeten.

Sie selbst war als Letzte dran, fasste sich kurz, doch es hörte niemand mehr richtig zu. Die Knette machte immer noch blau und Christianes Magen einen Aufstand. Eine Marathon-Sitzung ohne Frühstück grenzte an Selbstverstümmelung.

Endlich war es vorbei, und Christiane begab sich wieder in ihre Gemächer. Das Licht im Flur funktionierte immer noch nicht. Schnurstracks schritt sie durch die Dunkelheit. Ihre Bürotür müsste eigentlich offen stehen und etwas Licht in den Flur lassen. Doch es blieb dunkel.

Kräftig drückte sie die Klinke herunter und traute ihren Augen nicht: Kasimir stand über ihren Schreibtisch gebeugt und durchwühlte einen Stapel. Statt sich zu entschuldigen oder sich wenigstens zu erklären, sagte er anklagend: »Bei dir findet man auch gar nichts wieder.«

»Probleme lösen, nicht Schuldige suchen«, sagte Christiane. Der Satz aus dem letzten Management-Seminar für Führungskräfte in Non-Profit-Organisationen hatte sich ihr eingeprägt. Manchmal hielt sie sich sogar daran. In diesem Augenblick natürlich nicht.

»Mach mir die Ablage und maul nicht rum«, fuhr sie Kasimir an.

»Sonst noch was! Als hätte ich nicht genug damit zu tun, für zwei zu arbeiten«, erwiderte Kasimir. Mit beiden Händen stützte er sich auf den wenigen frei gebliebenen Quadratzentimetern auf ihrem Schreibtisch ab. Er wollte den Kampf. Bitte.

»Für die Eva machst du doch so gut wie gar nichts. Ist ja auch nicht nötig, Finanzreferent.« Das letzte Wort betonte Christiane ironisch. Das war Kasimirs wundester Punkt.

»Ihr habt doch alle keine Ahnung. Wenn ich mal auspacken würde, dann wäre die Eva ihren Job bald los.« Es flackerte kurz in seinen kalten Augen. Ein Lebenszeichen, doch wofür?

Christiane wurde einfach nicht schlau aus ihrem Mitarbeiter. Sie hatte stets versucht, die frisch erlernten Motivationstechniken sofort umzusetzen, vielleicht nicht mit dem notwendigen Feingefühl, doch Kasimir blieb hart wie Krupp-Stahl.

»Hast du inzwischen was von Eva gehört?«, wechselte sie das Thema.

»Nein«, sagte Kasimir und suchte weiter.

»Was tust du hier überhaupt!«, platzte Christiane nun doch der Kragen.

»Meine Arbeit. Einer muss sie ja machen.« Kasimir hob nicht einmal den Kopf. Diese Gleichgültigkeit brachte Christiane zur Weißglut.

»Jetzt hör mir mal zu, du Möchtegern-Workaholic! In meinem Büro hast du nichts verloren und erst recht nicht auf meinem Schreibtisch. Und jetzt raus!«

»Aber wer wird denn gleich in die Luft gehen, Kollegin«, säuselte Kasimir und tänzelte mit einer Unterlage in der Hand um den Schreibtisch herum Richtung Tür.

Christiane fasste ihn am Handgelenk. »Was hast du da?«

»Nur das Flugblatt über die letzte Runde mit den Privatfunkern. Es gibt nämlich Mitglieder, die so was interessiert, während ihr euch im GV den Arsch platt sitzt.« Sprach’s, riss sich los und war durch die Tür.

»Hast du wenigstens mal bei Eva zu Hause angerufen?«, schrie Christiane ihm hinterher.

»Für Personalfragen bin ich nicht zuständig«, antwortete Kasimir mit einem triumphierenden Unterton.

Wie so einer nur bei der Gewerkschaft sein konnte.

Kapitel 5

Bei Katholen-Jutta war besetzt. Christiane versuchte es auch per Handy, sie war zu Tisch. Beim Chinesen. Auf diesen Streit brauchte sie einen Schnaps. Und den gab’s beim Chinesen gratis und in niedrigprozentiger Form, als Pflaumenwein.

Der Kellner grinste breit wie immer, und so war auch das Menü: üppig und billig. Dazu ein Wasser, denn Kölsch stieg Christiane mittags zu Kopf, besonders auf nüchternen Magen. Und dann noch Kasimir. Prost Mahlzeit!

Kaum im Büro zurück, hing er gleich wieder an der Strippe. Er reichte ihr durch, wer in ihrer Mittagspause nach ihr gefragt hatte. Gemessen an der langen Liste, musste sie für Stunden weg gewesen sein.

»Kannst du mir die Telefonnummern nicht aufschreiben und nach oben bringen?«, versuchte es Christiane auf die freundliche Tour. »Oder mir eine Mail schicken?« Auch Kasimir schien sich wieder beruhigt zu haben. Er gab keine Widerworte.

»Vier sind ganz wichtig. Die Nummern hast du hoffentlich.« Kasimir zählte auf: Freundin Jutta und drei Hauptamtliche – darunter Herbert Schneider vom Bundesvorstand in Frankfurt. Schneider war im GBV, dem Geschäftsführenden Bundesvorstand, zuständig für die gewerkschaftliche Bildungsarbeit.

Katholen-Jutta war wieder oder immer noch besetzt, die zwei anderen waren nicht an ihrem Platz und Kollege Schneider zu Tisch. Wenn Arbeiterkämpfer und Sozialklempner schon versuchten, sich telefonisch zu erwischen. Sie probierte es noch einmal bei Jutta. Immer noch besetzt. Das war mal wieder typisch! Erst auf total wichtig machen und sich dann wahrscheinlich von Nica-Jutta volltexten lassen mit sicher wichtigen Dingen von der Solidaritätsfront für Nicaragua-Kaffee. Ortsgespräche führte Nica-Jutta nämlich immer bevorzugt am Tage, denn die Abende waren zu kurz für die vielen Ferngespräche, besonders die über den Atlantik. Und für die war Jutta auf den günstigen Mondscheintarif angewiesen, weil sie keine Flatrate hatte. Ja, es gab solche Frauen.

Das machte Christiane verrückt, zu wissen, jemand war im Prinzip da, aber trotzdem für sie nicht zu sprechen. Aber sie widerstand der Versuchung, Jutta auf dem Handy zu stören, wenn sie auf dem Festnetz telefonierte.

In ihrer Not rief sie auf Eva Knettes Handy an. Mailbox. Dann bei Eva zu Hause. Die Leitung war Gott sei Dank frei, doch es ging niemand ran. Meist meldete sich sonst sofort Evas Mann. Der saß im Rollstuhl und den ganzen Tag neben dem Telefon. Christiane wunderte sich immer, wie Eva den beruflichen und privaten Stress wegsteckte. Aber sie funktionierte, auch nach dem schweren Unfall. Eine Straßenbahn war ihrem Mann über beide Beine gefahren. Das Einzige, womit Eva nach außen sichtbar reagiert hatte, war eine Fehlgeburt gewesen. Seither brachte Eva ihren Mann regelmäßig zu Wochenendseminaren mit und fuhr in den Pausen mit ihm spazieren. Ob die beiden jetzt auch unterwegs waren?

Christiane wollte gerade auflegen, als am anderen Ende der Leitung doch abgehoben wurde.

»Knette.« Erich Knette schien aus der Puste zu sein. Wahrscheinlich vom manuellen Drehen der Rollstuhlräder.

»Ich war gerade woanders«, entschuldigte er sich auch noch. »Auch ich muss mal.« Er lachte, doch Christiane glaubte, Traurigkeit zu spüren.

Am liebsten hätte sie wieder aufgelegt. Sie tat sich schwer, ihn unter Umständen überflüssigerweise zu paniken. Doch Erich Knette reagierte sehr gefasst.

»Ich weiß nicht, wo Eva steckt«, sagte er. »Ich bin davon ausgegangen, dass sie heute Morgen von Bockeroth direkt ins Büro zur Sitzung gefahren ist.«

»Aber hier ist sie nie angekommen«, entfuhr es Christiane und wollte eigentlich nicht so dramatisch klingen. Und wenn sie es genau überlegte, hatte sie Eva nur am Samstag bei den Mahlzeiten in der Gewerkschaftsschule in Bockeroth gesehen, nicht aber am Sonntag.

Aber Evas Mann erklärte sich nur noch mehr: »Ich war am Wochenende bei meinem Bruder, und der hat mich erst heute Morgen zurückgebracht.«

Und ob Christiane es wollte oder nicht: Etwas kroch in ihr hoch. Wo bist du, Eva?

Kapitel 6

Hätte Christiane doch bloß nicht dort angerufen! Jetzt hatte sie die Geschichte auch noch am Bein. Was sollte sie tun? Die Pferde verrückt machen oder mal wieder darauf hoffen, dass sich die meisten Dinge von selbst erledigen?

»Verdammt noch mal, Knette, jetzt tauch endlich hier auf oder ruf wenigstens an!«, schimpfte Christiane und schaute ihre eingerahmte Tänzerin an.

»Du hast es gut«, seufzte sie. »Wenn du weg wärst, würde ich zum Generalstreik aufrufen.«

Das Bild mit der Tänzerin war ihr das Teuerste bei der Gewerkschaft. Und sie musste nie betreut werden. Telefon. Der Anruf bei Katholen-Jutta erledigte sich von selbst. Sie war dran.

»Wieso hast du nicht zurückgerufen?«, fragte sie.

»Wie denn, bei dir war ständig besetzt.«

»Bei dir aber auch.«

»Weil ich dich immer wieder angewählt habe.« Was sollte diese Rechtfertigungsorgie?

»Dann haben wir uns gegenseitig blockiert«, sagte Katholen-Jutta.

»Wäre ja nicht das erste Mal«, erwiderte Christiane. Und dachte kurz an die unsäglichen Empfindlichkeiten, mit denen Katholen-Jutta manchmal aufwartete. Wenn man nicht jede SMS von ihr abschließend mit einem Smiley goutierte, grenzte das an Majestätsbeleidigung.

»Wie meinst du das denn?«, fragte die Freundin.

»Ach, lass uns nicht wieder davon anfangen. Was gibt’s, was heute Morgen noch so wichtig war?«

Pause. Jutta antwortete nicht. Sie hatte den Unterton gehört.

»Du, ich finde das nicht gut, dass du …«

Christiane ahnte, was jetzt kam, und darauf hatte sie überhaupt keine Lust. »Hör mal, ich bin total im Stress«, unterbrach sie die aufkommende Beziehungsdebatte.

»Na gut«, lenkte Jutta ein. »Ist dir schon mal ein Fall untergekommen, dass es ein Typ mit … dass ein Typ Hühner malträtiert?«

»Wie, Hühner?«, fragte Christiane nach. »Was ist los?«

»Eine Menge, und es ist so, wie ich es sage. Er killt Hühner. Aber nicht zum Schlachten, oder nicht nur. Kapiert?«

Christiane gab ein Geräusch von sich, das wie das letzte Glucksen einer Klospülung klang.

»Hat er’s bei Facebook gepostet oder ein Video bei YouTube hochgeladen?« Christiane hatte schon eine Menge in ihrem Leben gesehen, auch weil sie in nächster Nachbarschaft zu einem großen Bauernhof aufgewachsen war. Aber was hatte ausgerechnet Katholen-Jutta mit dem Thema Tierschutz am Hut? Sie war eine Frauen-Flüsterin.

»Und was hat das mit mir zu tun?«, fragte Christiane.

»Mit dir weniger, aber mit unserer kleinen, aber gar nicht so feinen Gewerkschaft.« Katholen-Jutta war auch Mitglied, aber mehr symbolisch, für die Ehre oder gegen das schlechte Gewissen, denn die Gewerkschaft hatte bei der Kirche nicht viel zu melden.

»Der Typ ist nämlich Mitglied bei der VDG«, erklärte Jutta.

»Auch das noch.«

»Tierquälerei … das ist vielleicht wie mit den Puffs«, meinte Jutta. »Sonst gäb’s noch mehr Vergewaltigungen.«

»So ein Quatsch!«, widersprach Christiane. »Tiere killen verhindert doch keine Menschenmorde.«

»Jetzt reg dich doch nicht gleich wieder auf«, sagte Jutta. »Ich wollte bloß wissen, ob du da was hast läuten hören.«

»Nein, bisher nicht. Und der ist von hier?«

»Das darf ich nicht verraten«, sagte Jutta. »Beratungsgeheimnis.«

»Mir kannst du es doch sagen.«

»Nein. Heute Morgen war die Tochter des Schweins bei mir in der Beratungsstelle, und der habe ich es versprochen. Der Alte rastet ziemlich schnell aus. Der darf nicht erfahren, dass die Kleine geplaudert hat.«

»Also ist er doch von hier?«, bohrte Christiane weiter.

»Nein, das heißt, nicht unbedingt. Die Eltern leben getrennt. Der Vater kommt nur ab und zu nach Hause und lässt dann seinen Frust schon mal an einem Huhn aus.«

»Wie, und das kriegt niemand von den Nachbarn im Haus mit?«

»Nicht alle Einwohner einer Großstadt leben in Hochhäusern, du Landei«, revanchierte sich Jutta für die gekappte Frauenbeziehungsdebatte.

»Und der ist einer von uns?«, verschob Christiane den Akzent der Unterhaltung. »Hat die Tochter das erzählt?«

»Ja, der ist bei der Gewerkschaft«, bestätigte Jutta.

»Also, ein Hauptamtlicher?«

»Wie kommst du denn darauf?«, fragte Jutta viel zu schnell, als dass Christiane nicht merkte, dass sie ihre Freundin auf dem falschen Fuß erwischt hatte.

»Wenn jemand bei der Gewerkschaft ist, dann arbeitet der da auch. Als Ehrenamtlicher ist er nur in der Gewerkschaft.«

»Eins zu null für dich«, gab Jutta sich geschlagen. »Aber sag’s bitte nicht weiter.«

»Und warum erzählst du mir dann überhaupt davon? Du redest doch sonst nie über deine Fälle.«

»Die Tochter hat so eine komische Andeutung gemacht. Ich dachte, dir würde vielleicht jemand auf Anhieb einfallen, dem du das zutrauen würdest. Dann könntest du etwas gegen ihn unternehmen.« Das war typisch Jutta. Niemanden beschuldigen, aber Christiane als Strafkommando losschicken.

»Zutrauen, zutrauen! Herr Gott, da gäb’s viele. Aber konkret habe ich da keinen im Auge.« Nicht einmal Kasimir, und das sollte was heißen.

»Vielleicht kannst du mal die Frauen- und Gleichstellungs-beauftragte beim Bundesvorstand anrufen? Vielleicht weiß die etwas«, schlug Jutta vor.

»Was hat die denn damit zu tun?«, wunderte sich Christiane.

»Kann und darf ich noch nicht sagen«, erwiderte Jutta. »Aber die ist doch auch Ansprechpartnerin für Kolleginnen, die in Bockeroth belästigt worden sind.«

»Hast du sie mal in Anspruch nehmen müssen?« Mist, raus war es. Zunge verbrannt.

Und Jutta nahm es ihr übel. »Leck mich!«, konterte sie. »Jedenfalls hat die Sau einem Huhn den Hals umgedreht, es war das Lieblingshuhn der Kleinen.«

»Aber was hat das Thema mit Belästigungen zu tun?«

Jetzt bockte Jutta: »Netter Versuch. Ich habe dir schon viel zu viel erzählt.«

Als ob Christiane darum gebeten hatte.

Kapitel 7

Elvira Jaschke liebte ihren Mann, den Concierge des Gewerkschaftshauses, auf ihre Weise. Sie griff ihm unter die Arme, wo sie nur konnte, außer beim Zeitunglesen in seinem Häuschen. Tassenspülen allerdings war ganz allein ihre Sache. Denn dreckiges Geschirr ließen die Frauen von der Cleaning-Crew links liegen. Und sie erbarmten sich auch nie der grünen Pflanzen in Christiane Holz’ Büro. Wenn Elvira nicht wäre, würden viele im Haus den Kopf hängen lassen.

Sie schloss oben auf, um Christianes Geschirr zu holen und unten in der Teeküche zu spülen. Das Licht ging nicht, doch Christianes Tür stand offen, so dass sie nach einigen Metern genug sehen konnte. Elvira hatte die Kaffeetasse auf dem Schreibtisch schon erspäht, als plötzlich die Tür zum WC vor ihrer Nase aufging. Sie erschrak fürchterlich. Heraus trat Gabriel Kasimir.

»Mann, haben Sie mich erschreckt!«, sagte Elvira.

»Tut mir leid«, erwiderte Kasimir. »Das wollte ich nicht. Was tun Sie hier? Die Küche ist doch eine Etage tiefer.«

»Nur die Tasse Ihrer Kollegin holen«, rechtfertigte sich Frau Jaschke.

»Sind Sie zu allen so freundlich?«, fragte Kasimir. Sein Gesicht blieb unbewegt. Der Schalk saß in seiner Stimmlage.

Elvira war irritiert. Hatte er etwas von ihren kleinen Eskapaden mitbekommen?, fragte sie sich. Doch dann riss sie sich zusammen und erwiderte: »Ja, außer zu Schreckgespenstern.«

»Ich bitte Sie«, blieb Kasimir höflich. »Meine Chefin ist heute nicht aufgetaucht, und ich brauchte dringend die Zahlen aus dem Archiv für den Quartalsabschluss. Einer muss ihn ja machen, damit er bis zur Vorstandssitzung fertig wird.«

Was geht mich das an?, fragte sich Elvira. Und wozu hat er einen PC, in den hundert Archive passen? Der Finanzkram interessierte sie ohnehin nicht, dafür umso mehr das Abbleiben von Christiane: »Wo ist Christiane denn?«

»Kollegin Holz ist nicht meine Chefin. Ich arbeite nur ab und zu für sie«, stellte Kasimir klar.

Elvira verstand nicht, was diese Unterscheidung sollte.

»Ach, dann meinen Sie die Frau Knette«, sagte Elvira. Eva Knette war die einzige Frau im Gewerkschaftshaus, wie Kasimir der einzige Mann war, mit der sich Elvira siezte. Für die Gewerkschaft immer noch ziemlich unüblich, obwohl sich auch da die Sitten änderten. Bei Kasimir schien es, als sei es unter seiner Würde, der Duz-Kumpel einer Spülfrau zu sein.

»Der wird doch wohl nichts zugestoßen sein«, sagte Elvira weniger aus Sorge, sondern um das Gespräch anzuheizen.

»Und wenn schon«, sagte Kasimir kalt. »Für die Gewerkschaftskasse wäre es das Beste.«

Kapitel 8

Christiane fuhr wieder ohne gültigen Fahrausweis. Schwarzfahren für die Organisation war ihr Sparbeitrag.

Von weitem sah sie ihren Siesta stehen. Er war knallrot, und eine Hälfte seines Hinterteils blockierte den Bordstein. Es schien alles in Ordnung zu sein. Keine zusätzlichen Schrammen oder Beulen. Beide Straßenseiten säumte ein Sammelsurium von Häusern, die Mann an Mann standen. Einige trugen Make-up, von türkisblau über tannengrün bis ockergelb. Andere standen ungeschminkt und ohne Zier. Die ganz noblen waren verziert wie eine Buttercremetorte. Vor einem etwas zurückgesetzten Haus trauerte eine Weide. Aus einem unbewohnten wuchsen aus den Ritzen zwischen den Steinen Birkensträucher heraus. Die hatte man bei der Räumungsklage vergessen.

Christiane wohnte über dem Kölsch Eck. Das Haus war einfach nur verputzt. Während es im Erdgeschoss noch weiße Farbe abbekommen hatte, schien ab dem ersten Stock die alte DDR ausgebrochen und die Farbe ausgegangen zu sein. Einen Baustil vermochte man nicht auszumachen.

Im Postkasten steckte nur ein Brief von Christianes Anwalt. Sie durchquerte den mit Wellblech überdachten Vorraum, der Mülltonnen, Fahrrädern und den Wäscheleinen der anderen Mietparteien Unterschlupf bot. Rechts befand sich der Waschraum und darin auch Christianes Maschine.

Sie betrat das eigentliche Treppenhaus. Es war mit rostrotem körnigen Putz ausgestattet, wozu das beigebraune Linoleum überhaupt nicht passen wollte. Links ging es runter in den Keller, der schon seit Tagen im Dunkeln lag, weil niemand das Licht reparierte. Außerdem gab es noch eine Tür, die in die Kneipe führte. Christiane stapfte die Stufen hinauf. Sechs Treppen, drei Stockwerke und zwischendurch absolute Finsternis, falls die Intervallschaltung es so wollte.

Den Wohnungsschlüssel musste sie nur einmal umdrehen. Sie hatte die Tür am Morgen einfach zugezogen. Kein Anruf auf dem Beantworter, nicht einmal von Nica-Jutta. Auf dem Sofa im Wohnzimmer sah Christiane noch die Spuren des gestrigen Fernsehabends. Eine stark mitgenommene Fernsehzeitung, die doch eigentlich nichts für das schlechte Programm konnte. Neben einem Holzpfosten, der die Decke in der Mitte des Raums stützte, stapelten sich DVDs und Blu-Rays. Der himmelblaue Teppich und die weißen Vorhänge boten einen tiefen Kontrast zu den dunkelbraunen Rattanmöbeln. Hinten in der Ecke, neben einem kleinen ebenerdigen Dschungel aus pflegeleichten Grünpflanzen, befand sich, was man üblicherweise eine Sitzecke nennt. Stühle mit riesenhohen Lehnen, gruppiert um einen runden Glastisch für die »Ritterinnen der Tafelrunde«, wie Christiane den »Damengipfel« nannte, das dreiblättrige Frauen-Kleeblatt: Wenig Glück, viele Juttas. Hinter dem Wohnzimmer lag die Küche mit dem entsprechenden Einbau.

Christiane griff zu ihrem Telefon. Angela Gräweling, die Frauen- und Familiensekretärin beim Bundesvorstand, war sofort am Apparat, als hätte sie darauf gewartet.

»Na, schon zu Hause!«, scherzte Christiane. »Machst wohl Dienst nach Vorschrift?« Eine der größten Beleidigungen für Gewerkschaftsaktivisten. Noch schlimmer, als dabei ertappt zu werden, den Quartalseinkauf bei der Büchergilde Gutenberg verpennt zu haben.

»Wer ist denn da?« Die Gräweling war irritiert.

Christiane holte das Versäumte nach und lieferte eine stichhaltige Begründung für den privaten Anruf, der kostbare Freizeit in Anspruch nahm, die so knapp bei hauptamtlichen Funktionären war.

»Die Sache ist zu spooky. Wer weiß, wer da alles im Büro über die neue Telefonanlage mithört«, schloss Christiane ihre einführenden Bemerkungen und erzählte das wenige über den »Hühner-Kollegen«, was sie ausplaudern durfte.

»Davon habe ich ja noch nie gehört!«, staunte die Gräweling.

»Und was ist mit Belästigungen?«

»Hier und da gab’s mal Grapschereien, und einmal soll eine Kollegin in Bockeroth angeblich beinah vergewaltigt worden sein. Aber da ist nichts nachgekommen.«

»Und wer war das?«

»Du meinst die Kollegin? Oder den Kollegen?«

»Von einer Frau ist die Kollegin also nicht angemacht worden«, schloss Christiane messerscharf und völlig unnötig.

»Die Namen sind nie groß breitgetreten worden«, erwiderte Angela, ohne auf Christianes dumme Bemerkung einzugehen. »Man wollte dem Kollegen wohl nicht zu stark schaden.«

»Ach, wie rücksichtsvoll«, sagte Christiane ironisch. »Und die Kollegin, was ist aus der geworden?«

»Keine Ahnung. Sie ist seitdem nicht mehr in Bockeroth gesehen worden.«

»Also kennst du sie?«, hakte Christiane nach.