Allein in der Stadt

Janek wacht auf – und alle Menschen sind verschwunden! Dafür erobern Pflanzen und wilde Tiere die Stadt zurück. Mit einem herrenlosen Hund durchstreift Janek die Stadt und hinterlässt auf der Schultafel eine Nachricht: ›Falls noch jemand übrig ist außer mir: Melde dich bei Janek!‹ Doch die Antwort, eine verwischte Kreidespur, versetzt Janek in Panik. Wer versteckt sich vor ihm? Und warum? Plötzlich wird jeder Schatten, jedes Geräusch zur Bedrohung …

Von Christian Linker sind bei dtv außerdem lieferbar:

Das Heldenprojekt

Doppelpoker

RaumZeit

Blitzlichtgewitter

Absolut am Limit

Dschihad Calling

Der Schuss

Und dann weiß jeder, was ihr getan habt

Script Kid – Erpresst im Darknet

CHRISTIAN
LINKER

STADT
DER
WÖLFE

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1

Von ganz allein wachte er auf. Das kam sonst nur am Wochenende oder in den Ferien vor. Doch heute war Montag – das war ja das Problem. 7 Uhr 27. Niemand hatte ihn geweckt!

Sofort kehrte die Wut zurück, sie fuhr wie ein Stromstoß in seinen schmalen Körper. Janek schnellte hoch und kam federnd auf die Füße, sprang zum Fenster und ließ das Rollo hochschnappen. Die Morgensonne stach herein und blendete ihn für einen Augenblick. Er wandte sich vom Fenster ab, während schwarze Punkte vor seinen Augenlidern tanzten. Dann hielt er inne, drehte sich langsam zum Fenster zurück und schaute noch einmal hinaus, wobei er schützend eine Hand über die Stirn hielt. Etwas da draußen hatte ihn irritiert. Aber jetzt war es nicht mehr da – oder, wenn es doch noch da war, dann fiel es ihm nicht mehr auf. Was er sah, schien vollkommen normal: Die Garagen gegenüber warfen lange Schatten in den Hof. Der verrostete Ring des Basketballkorbs an der linken Hofmauer schimmerte rostrot im Morgenlicht. Und an dem alten Apfelbaum schnüffelte Tassilo, der unfreundliche Riesenschnauzer des unfreundlichen Herrn Hartmann aus dem Erdgeschoss.

Das jämmerliche Fleckchen Gras rings um den Baum wurde von den Erwachsenen im Haus als Grünfläche bezeichnet und führte ständig zu erbitterten Kleinkriegen zwischen den Nachbarn; vor allem wegen Tassilo natürlich, der jeden Tag, im Sommer wie im Winter, morgens erst einmal an diesen Baum kackte. Genau wie jetzt. Und gleich würde der unfreundliche Herr Hartmann aus seiner Erdgeschosswohnung geflitzt kommen, mit einem Sandkastenschäufelchen und einer kleinen Mülltüte in der Hand, um das Geschäft seines Hundes zu beseitigen.

Genau das war der Zeitpunkt, an dem normalerweise auch Janek Janczar aus dem Haus geflitzt kam, mit geputzten Zähnen und hochgestylten Haaren, mit Müsli im Bauch und Pausenbrot in der Schultasche, um über den Hof zur Straße hinaus und zur Bahn zu laufen. Eigentlich.

Er riss sich vom Fenster los, vor Wut bebend. Unfassbar, sie hatten ihn tatsächlich allein gelassen! Er rannte in die Küche, ins Wohnzimmer, ins Bad, in Adas Zimmer, ins Elternschlafzimmer und wieder zurück in die Küche. Nicht mal Frühstück hatten sie ihm übrig gelassen! Der Küchentisch war leer und sauber gewischt, als wäre heute Morgen überhaupt niemand hier gewesen, als hätten seine Eltern und seine große Schwester nicht wie jeden Morgen gefrühstückt, bevor sie aufgebrochen waren – Ada zur Schule, Papa ins Büro und Mama in ihren Laden.

Okay. Janek hatte sich gestern Abend ätzend benommen, war vielleicht ein wenig zu weit gegangen. Aber musste man als Elfjähriger damit rechnen, dass alle Großen plötzlich wortwörtlich nehmen, was man sagt? Wollten sie ihm jetzt eine Lektion erteilen, oder was? Er stellte sich vor, wie die drei hier beim Frühstück gesessen, getuschelt und unterdrückt gekichert haben mussten; leise, um ihn nicht zu wecken.

»Der will uns nicht mehr sehen?«, hatte Ada vielleicht gesagt. »Kann er haben! Der wird sich ganz schön wundern.«

»Ob wir ihm nicht doch wenigstens einen Zettel hinlegen?«, könnte Mama dann überlegt haben.

Aber Papa dürfte ihr widersprochen haben: »So lernt er nie, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen.«

Was der halt dauernd sagte.

Janek schüttelte den Kopf. Durch die Szene, die er sich soeben in der Fantasie ausgemalt hatte, erschien die ganze Sache zwar weniger unwirklich, war aber trotzdem nicht zu fassen.

Er stieg auf die Eckbank und wuchtete das schwere Müsliglas vom Regal, nahm eine Schale vom Bord und holte Milch aus dem Kühlschrank. War das überhaupt erlaubt, dass Eltern sich mit der großen Tochter aus der Wohnung schlichen und den kleinen Sohn allein in seinem Bett zurückließen? Was würden seine Eltern sagen, wenn er jetzt einfach die Polizei anriefe – armer kleiner Junge zu Hause vergessen? Er füllte einen Berg Müsli in die Schale und häufte einen zweiten aus Zucker obendrauf. Wer wollte ihm das jetzt verbieten, he? Am liebsten würde er sich mit Müsliglas und Zuckerdose im Wohnzimmer vor den Fernseher pflanzen und den ganzen Tag im Schlafanzug verbringen. Allein und völlig verwahrlost. Armer kleiner Junge … das waren doch sonst die Worte von Ada: oh, der arme kleine Janek. Immer, wenn er hilflos und wütend war, von allen Mitgliedern dieser Familie komplett unverstanden.

Ha!, dachte er plötzlich und ließ seine Faust auf den Tisch krachen, dass die Milch über den Rand der Müslischale schwappte. Von wegen armer kleiner Janek! Er sprang auf. Von wegen Verantwortung!

Janek rannte in sein Zimmer, zog sich im Laufen das Oberteil seines Schlafanzugs über den Kopf und warf es aufs Bett. Die roten Ziffern am Radio zeigten 7 Uhr 43. In genau siebzehn Minuten fing die Schule an.

Er hatte keine Chance, aber er wollte es trotzdem versuchen. Mit der einen Hand die Schlafhose runterziehen, mit der anderen ein T-Shirt aus dem Schrank holen, die Hose mit den Füßen abschütteln und gleichzeitig das T-Shirt überziehen, mit der Zahnbürste im Mund Unterhose und Strümpfe zusammensuchen – das dauerte keine zwei Minuten. Die Jeans von gestern tat es noch. Er fand sie unter seinem Schreibtisch, wo er sie gestern Abend in seinem Zorn hingepfeffert hatte. Die Katzenwäsche musste reichen, trotzdem gönnte er sich dreißig weitere wertvolle Sekunden, um seine vom Schlaf ganz unordentlich zerzausten Haare mit einer Handvoll Gel in eine Form von ordentlicher Zerzaustheit zu bringen. Schuhe an, Schultasche, Hausschlüssel, 7 Uhr 47. Und los. Janek stürmte aus der Wohnung, und als die Tür krachend ins Schloss fiel, war er schon auf dem ersten Treppenabsatz. Er galoppierte die Stufen der beiden Stockwerke hinab, an den Briefkästen vorbei, warf sich gegen die Haustür und startete durch, quer über den Hof, wo Tassilo sich im Schatten der Garagen zusammengerollt hatte und ihm zähnefletschend hinterherknurrte. Offenbar war Janek nicht der Einzige, der an diesem Morgen zu spät aus dem Haus kam. Auch Herr Hartmann schien heute nicht gerade auf Zack zu sein, denn Tassilos Geschäft dampfte in der Morgensonne. Janek rannte durch die Toreinfahrt, bog nach links ab und lief auf die Kreuzung zu. Von dort aus sah er die Station, an der tatsächlich gerade eine Stadtbahn stand. Wenn er die erreichte, hätte er doch noch die Chance, halbwegs pünktlich zu kommen.

Er war völlig auf dieses Ziel fixiert, die anstehende Mathearbeit geriet zur Nebensache; er wollte nur noch pünktlich kommen und es allen zeigen: Ada mit ihrem armen kleinen Janek und Mama, die ihn heute zum ersten Mal an einem Schultag nicht geweckt hatte, und Papa natürlich mit seiner bescheuerten Verantwortung.

Die Fußgängerampel zeigte Rot, aber das hielt ihn nicht auf. Ohne nach rechts oder links zu sehen, sprang er aus vollem Lauf auf die zweispurige Straße. In diesem Augenblick kam die Erkenntnis. Und zwar so, als bewegte er sich in extremer Zeitlupe, als schwebte er einen Moment lang in der Luft. Da waren gar keine Autos. Da waren keine Leute unterwegs, nicht eine Menschenseele. Und Tassilo – der hatte gar kein Halsband getragen, als Janek vorhin zum ersten Mal aus dem Fenster gesehen hatte.

Er kam auf dem Asphalt auf, bremste seinen Sprint und trabte noch ein paar Schritte, bevor er mitten auf der großen Kreuzung stehen blieb, wo die vier Fahrspuren mit den beiden Bahngleisen seine eigene kleine Straße querten.

Kein Auto, kein Fahrrad, kein Mofa fuhr, keine Kinder warteten an der Ampel, kein Lieferwagen hielt vor dem Supermarkt, keine Jugendlichen hingen vor dem Kiosk rum. Das Fenster des Kiosks war geschlossen wie sonst nur sonntags. Hinter den breiten Scheiben des Supermarktes herrschte Finsternis. Die Fußgängerampel sprang von Rot auf Grün und summte für sich allein. War gar nicht Montag, sondern Sonntag? Das konnte nicht sein, denn gestern war definitiv Sonntag gewesen, einer von der allerschlimmsten Sorte. Und die große Anzeigetafel an der Bahnstation zeigte es ganz deutlich:

Montag, 4. Juli, 7:52 Uhr

Nächste Bahn:

Darunter war die Tafel leer. Ungläubig staunend ging Janek auf die Station zu, wo noch immer die Bahn stand. Es waren zwei Waggons, menschenleer wie alles andere auch, die Türen standen offen. Er spähte durch die letzte Tür des hinteren Wagens. Die vollkommene Stille war unnatürlich. Die Sonne linste über die Giebel der Häuser auf der anderen Straßenseite und flutete den Waggon mit ihrem Licht.

Hier gab es nichts, wovor er Angst hätte haben müssen – wäre nicht plötzlich die ganze Welt komplett zum Fürchten gewesen. Und hätte er da nicht ein Scharren und Rascheln unter einer der hinteren Sitzbänke gehört. Dort lag ein Haufen weggeworfener Zeitungen. Die sich bewegten! Janek erstarrte. Da lugte das spitze Näschen einer Maus aus dem Blätterberg hervor. Mit zitternden Härchen schnupperte das Tier nach Orientierung, die schwarzen Knopfaugen spähten umher. Janek entspannte sich ein wenig, da fuhr ein Fauchen durch den Stadtbahnwaggon, der Berg aus Papier explodierte und eine braune Katze stürzte sich mit ausgefahrenen Krallen auf die Maus. Janek hörte jemanden brüllen. Die Stimme kannte er doch – es war seine eigene. Er hatte vor Schreck laut geschrien und einen Satz rückwärts gemacht. Die Katze hielt inne. Für einen Sekundenbruchteil bohrten sich die Blicke von Mensch und Tier ineinander. Dann wollte sie sich wieder ihrer Beute zuwenden, doch die Maus war verschwunden. Die Katze warf Janek einen missbilligenden Blick zu und trollte sich, sprang zur vorderen Tür hinaus und verschwand. An der hinteren Tür stand immer noch Janek wie festgefroren mit dem Echo seines Schreis im Ohr.

Er atmete tief ein und aus, löste sich aus seiner Starre und ließ sich auf einen der Sitze im Wartehäuschen fallen. Er versuchte, seine Gedanken zu sortieren, die nur zu einem einzig logischen Schluss kamen: Er schlief und träumte. Eine andere Erklärung konnte es nicht geben. Durfte es nicht geben.

Janek hatte schon öfter Träume gehabt, in denen er genau wusste, dass er träumte. Aber noch nie war ihm ein Traum so seltsam vorgekommen. Einerseits fühlte er sich absolut echt und wirklich an. Andererseits war das hier viel zu verrückt, um kein Traum zu sein. Und dass er einen solchen Quatsch träumte, wunderte ihn eigentlich gar nicht, bei allem, was sich inzwischen in ihm aufgestaut hatte: der andauernde Stress mit Ada und den Eltern, der Terror von Leon in der Schule – und eben diese scheißverdammte Mathearbeit. Noch nie in seinem Leben hatte Janek eine Situation so ausweglos empfunden, denn irgendwie hing alles mit allem zusammen wie bei einem total verknoteten Wollknäuel, bei dem nirgendwo ein Ende herausschaute, an dem er hätte anfangen können, es zu entwirren.

Leon war das größte Arschloch der Welt, jedenfalls für Janek – für alle anderen war er der Star der Klasse, der coolste der Coolen, der Held der 5b. Sofern man dem Herumprotzen mit Smartphones, teuren Jeans und Bikes irgendwas Heldenhaftes abgewinnen konnte. Die anderen konnten das offensichtlich, denn sie vergötterten Leon, vor allem Anouk. Die hatte Janek selbst mal vergöttert, jedenfalls kurz, ganz am Anfang der fünften Klasse. Dieses Mädchen mit seinen feuerroten Haaren, Millionen von Sommersprossen und dem wunderschön fremdartigen Namen hatte er ein paar Tage lang angehimmelt, bevor er zu begreifen begann, welche Regeln auf dieser neuen Schule galten und dass Mädchen mit schönen Namen sich lieber an Jungs mit teuren Hosen hielten; nicht an jemanden wie ihn, Janek Janczar.

Wenn es nach Leon, Anouk und all den anderen ginge, dann hätte Janek in dieser Klasse nichts zu suchen gehabt, und irgendwie sah er das auch selber so. Es lief ja alles darauf hinaus: Würde er in der Mathearbeit heute nicht wenigstens eine Drei plus schaffen, dann bliebe er sitzen; der Horror schlechthin. Als Terstegen, der Klassenlehrer, seiner Mutter vorsichtig gesagt hatte: »Vielleicht ist die Realschule doch eine Option, Frau Janczar«, da hatte Janeks Herz einen Riesensprung gemacht und er hatte sich mit diebischer Freude vorgenommen, die kommende Mathearbeit nach allen Regeln der Kunst in den Sand zu setzen. Aber seine Mutter hatte geantwortet: »Janek gehört aufs Gymnasium, zur Not wiederholt er eben eine Klasse.«

Es gab keinen Ausweg außer einem, den es aber eben nicht in Wirklichkeit gab, sondern nur im Traum; nämlich diesen hier. So wie Janek es gestern Abend seinen Eltern und seiner großen Schwester ins Gesicht geschrien hatte, die wieder mal nichts, überhaupt nichts verstehen wollten von seinen Sorgen und Problemen. Er hatte geschrien: »Ich wünschte, es gäbe euch alle nicht!«

Und da hatte sein Vater verächtlich das Gesicht verzogen, seine Mutter hatte die Stirn gekräuselt und Ada hatte sich halb totgelacht und gerufen: »Zu wem willst du gehen? Bei wem willst du leben? Bei Oma Luba vielleicht?«

»Allein«, hatte er gebrüllt, »am liebsten ganz allein! Ich wünschte, es gäbe überhaupt niemanden! Am liebsten wäre ich allein auf der Welt, verstanden?«

»Fürs Erste gehst du allein ins Bett, und zwar sofort«, hatte seine Mutter dann gesagt – mit ruhiger, aber unnachgiebiger Stimme, »und morgen sehen wir weiter.«

Da würde seine Mutter aber Augen machen, wenn es morgen wäre und es gäbe sie gar nicht mehr …

Was für ein seltsamer Traum, dachte Janek. Was für ein Traum, in dem man an einer vollkommen verlassenen Bahnstation sitzt, in einer vollkommen verlassenen Stadt, und über sein Leben nachgrübelt, stundenlang. Na ja, minutenlang, denn es war jetzt acht und die Schule fing an. Normalerweise. Er könnte sich mit dem Fahrrad auf den Weg machen, überlegte er, den ersten Kilometer sprinten, dann langsamer treten, zuletzt sich keuchend die Treppe hinaufschleppen und mit hochrotem Kopf in die Klasse taumeln. Die anderen würden ihn hämisch lachend empfangen und Leon feixt triumphierend: »Reingelegt!«, während Anouk die Augen verdreht und wegschaut, weil jemand wie Janek einfach zu peinlich ist, zum Fremdschämen. Dieses Wort hatte er von Anouk mal aufgeschnappt. Und Terstegen sammelt gerade die Klassenarbeit ein, schaut Janek an und sagt: »Tja, das ist leider eine Sechs.« Dann würde Janek schweißgebadet aufwachen und der Horror-Montag konnte von vorn beginnen, aber diesmal in echt.

Viele seiner Träume handelten vom Zuspätkommen: zu spät zum wichtigsten Spiel der Saison und der Trainer hat einen anderen aufs Feld geschickt; zu spät zur Ferienfahrt und der Bus ist längst weg. Aber vielleicht konnte er diesmal dem Traum ein Schnippchen schlagen, denn schließlich wusste er, dass er träumte. Er konnte mit hocherhobenem Kopf sein Klassenzimmer betreten und allen mal richtig die Meinung sagen.

Irgendwie musste er ja die Zeit totschlagen, bis dieser Traum zu Ende ging. Nein – er konnte sich wirklich nicht erinnern, jemals so intensiv, so lange und zusammenhängend geträumt zu haben.

Entschlossen stand er auf und ein winziges Steinchen knirschte unter seinem linken Schuh. Das Knirschen zerriss die Stille und ließ ihn zusammenzucken. Mitten auf der Kreuzung stritten Tauben um ein altes Stück Brot. Ein paar Schwalben kämpften mit einer halb leeren Pommes-Schale im Rinnstein, die Reste von Mayonnaise klebten an ihren Schnäbeln. Janek sprang von dem Bahnsteig herab, lief über das Gleisbett und über die Straße, ohne dass die Vögel von ihm Notiz nahmen. Ihnen schien die Stadt ohne Menschen ganz gut zu gefallen und von diesem einen, übrig gebliebenen wollten sie sich nicht stören lassen.

Seine Schritte hallten zwischen den Häuserfronten, als er in seine Straße einbog. Er rannte, ohne es zu wollen. Erst am Tor bremste er abrupt ab, denn da saß Tassilo, als bewache er die Hofeinfahrt, und ließ dicken Sabber von seinen Lefzen tropfen.

»Platz, Tassilo!«, rief Janek. Der Torbogen warf ein schepperndes Echo zurück.

Das waren die ersten Worte, die er überhaupt an diesem Morgen – das heißt: in diesem Traum – gesprochen hatte.

Janek setzte einen strengen Blick auf, so wie er es mit seinem Vater geübt hatte, und ging langsam, mit gleichmäßigen Schritten an dem Hund vorüber. Aus Tassilos Brust grollte es rasselnd, aber er bewegte sich keinen Millimeter, beobachtete den Jungen nur scharf, bis Janek von einem angemessenen Sicherheitsabstand aus wieder zu rennen anfing, über den Hof lief und die Fahrradgarage öffnete. Da standen sämtliche Räder der Hausbewohner, auch das seiner Mutter und Adas Mofa. In der Garage daneben sah er das Auto stehen, als wären Janeks Schwester und Eltern gar nicht aus dem Haus gegangen – oder als würden sie … nicht existieren. Wie er es sich gewünscht hatte.

2

Er schwang sich auf das Rad, sauste zurück über den Hof und an Tassilo vorbei, bevor der wusste, wie ihm geschah. Wütend sprang der Hund auf, wetzte los und verfolgte Janek noch gut fünfzig Meter die Straße hinab, bevor er es aufgab. Sein Kläffen verhallte in der einsamen Straße.

Durch die leere Stadt zu fahren, kam Janek zunächst nicht viel anders vor, als wenn er an einem Sonntagmorgen früh rausmusste, weil irgendwo ein Turnier anstand. Doch auch an einem frühen Sonntagmorgen sah man wenigstens einige wenige Leute auf der Straße, die mit einer Tüte Brötchen vom Bäcker kamen. Und selbst wenn die Straßen leer blieben, konnte man sich darauf verlassen, dass hinter all den Fenstern Menschen lebten, die friedlich schliefen oder sich gerade den ersten Kaffee machten. Hinter diesen Fenstern war jetzt niemand und das konnte er fast körperlich spüren. Vollkommen sinnlos wurden die Ampeln mal grün, mal rot, als warteten sie verzweifelt auf irgendwelche Autos und Fußgänger, aber niemand benutzte diese Straßen außer Janek – und den Vögeln, die sie sich über Nacht vermehrt haben mussten. Sie kamen ihm viel lauter vor als sonst.

Die Schule lag so verlassen da, wie in den Ferien. Er lehnte sein Rad an die Mauer, ging durch das weit geöffnete Tor über den verwaisten Schulhof und zog an den breiten Griffen der zweiflügligen Glastür des Haupteingangs. Sie war nicht verschlossen. Der vertraute Schulgeruch wehte ihn an.

»Hallo?«, rief er in die Eingangshalle. »Hallo!«

Natürlich kam keine Antwort. Aus einer großen Vitrine glotzten ihn Blechfiguren mit unheimlich verdrehten Gliedmaßen an. Die Oberstufenschüler hatten die Figuren im Kunstunterricht hergestellt. Wir verstehen das auch nicht, schienen sie zu sagen, aber uns fehlen die ganzen Leute gar nicht. Wir genügen uns selber.

Das Klassenzimmer der 5b lag im zweiten Stock. Janek stieg die Treppe hinauf und lauschte dem einsamen Hall seiner Schritte. Niemand