JEAN PIAGET

THEOLOGIE
UND REFORM-
PÄDAGOGIK

Aus dem Französischen übersetzt
von Gérald Schlemminger und Wolfgang Teuschl

Überarbeitet von Richard Kohler

Mit einer Einführung von Richard Kohler

IMPRESSUM

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Eine chronologische Gesamtbibliographie der Werke Piagets finden Sie auf www.klett-cotta.de/piaget.

Die drei Beiträge »Immanenz und Transzendenz«, »Immanentismus und religiöser Glaube« und »Die Überprüfung der neuen Methoden« wurden von Gérald Schlemminger aus dem Französischen übersetzt. Der Beitrag »Die neuen Methoden und ihre psychologischen Grundlagen« wurde von Wolfgang Teuschl aus dem Französischen übertragen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

Titel der Originalbeiträge:

»Immanence et Transcendance«, Genève, 1928

»Immanentisme et foi religieuse«, Genève, 1930

»Examen des méthodes nouvelles«, Paris, 1939

© 1928/1930/1939 by Fondation Jean Piaget pour

Recherches Psychologiques et Epistémologiques

Für die deutsche Ausgabe

© 2015 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

»Les méthodes nouvelles, leurs bases psychologiques«, Paris, 1939

© 1939 by Fondation Jean Piaget pour Recherches Psychologiques et Epistémologiques

Für die deutsche Ausgabe

»Die neuen Methoden und ihre psychologischen Grundlagen« in: Jean Piaget: Theorien und Methoden der modernen Erziehung.

Aus dem Französischen übertragen von Wolfgang Teuschl.

© 1974 by Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt am Main

Für genaue Angaben siehe den Quellennachweis im Anhang

Umschlag: Rothfos & Gabler, Hamburg

Unter Verwendung eines Fotos von © Fondation Jean Piaget, Genf

Gesetzt von Dörlemann Satz, Lemförde

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-94812-7

E-Book: ISBN 978-3-608-10681-7

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20227-4

Dieses E-Book entspricht der 1. Auflage 2015 der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

INHALTSVERZEICHNIS

Einführung von Richard Kohler

IMMANENZUNDTRANSZENDENZ

I. Die soziologische Sichtweise

II. Die psychologische Sichtweise

III. Versuch einer Bewertung

IMMANENTISMUS UND RELIGIÖSER GLAUBE

DIE NEUEN METHODEN UND IHRE PSYCHOLOGISCHEN GRUNDLAGEN

1. Die Entstehung der neuen Methoden

Die Vorläufer

Neue Methoden und Psychologie

Über die Entstehung der neuen Methoden

2. Erziehungsprinzipien und psychologische Gegebenheiten

Das Spiel

Die Intelligenz

Logik des Erwachsenen, Logik des Kindes

Die Stadien der Verstandesentwicklung

Der Wert der Stadien für die Pädagogik

Das soziale Leben des Kindes

Die Auswirkungen des ursprünglichen Egozentrismus

Der Sozialisationsprozess

DIE ÜBERPRÜFUNG DER NEUEN METHODEN

1. Methoden, die auf den individuellen Denkprozessen beruhen

Die Montessori-Methode

Die Decroly-Schule

Das »Haus der Kleinen« in Genf

Drei Beispiele neuer Methoden in den USA

Schlussfolgerungen: Die Individualisierung des Unterrichts

2. Methoden, die auf dem sozialen Leben des Kindes aufbauen

Die Gruppenarbeit

Das self government

Literaturverzeichnis

Quellennachweis

Sachregister

Personenregister

EINFÜHRUNG

Richard Kohler

Es mag erstaunen, dass sich Piaget nicht nur mit Entwicklungspsychologie, Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie und anderen Wissenschaftsdisziplinen, sondern auch mit Theologie beschäftigt hat, und noch mehr, dass dazu über achtzig Jahre später zwei Texte erstmals in deutscher Übersetzung veröffentlicht werden. Die beiden Ende der 1920er Jahre gehaltenen Vorträge Immanenz und Transzendenz sowie Immanentismus und religiöser Glaube markieren den Höhepunkt und Abschluss von Piagets Auseinandersetzung mit theologischen Themen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er ein kohärentes, mit seinen vielfältigen Ambitionen und Interessen übereinstimmendes theologisches System entworfen, das ihm als Basis seines Welt- und Selbstverständnisses diente. Der Immanenztheologie liegt die Vorstellung zugrunde, Gott sei nicht ein dem Menschen übergeordnetes Wesen, sondern ein inhärenter Teil des menschlichen Denkens. Für Piaget ist Gott identisch mit den absoluten Normen des Denkens, die sich in der Widerspruchsfreiheit und dem Guten verkörpern. Da er sein Leben lang die Entstehung und Funktionsweise des logischen Denkens untersuchte, hat er, in diesem Verständnis, auch immer Theologie betrieben. Man könnte einwenden, dass er nach 1930 keine theologischen Texte mehr veröffentlicht und die Religion in seinem weiteren Leben daher keine Rolle mehr gespielt habe. Wahrscheinlich hat er sich aufgrund der gefundenen Synthese tatsächlich nicht mehr mit explizit theologischen Fragen befasst, bestätigt aber 1969, er sei »Anhänger des Immanentismus geblieben« (Piaget 1977: 87). Allerdings ist er nicht derart einfach zu diesem Gottesverständnis gelangt, wie in diesem Interview behauptet, hat doch die Frage der Vereinbarkeit von Religion und Wissenschaft während 15 Jahren im Zentrum seiner Identitäts- und Theoriebildung gestanden.

Der kleine Jean wächst auf mit einem eher agnostisch eingestellten Vater, von dem er jedoch eine protestantische Arbeitsethik und einen strengen Wissenschaftsethos übernimmt, und einer devoten und psychisch instabilen Mutter, die ihn streng protestantisch erzieht. Anlässlich eines Konfirmandenkurses beginnt der Fünfzehnjährige, der sich bereits seit längerem mit der Taxonomie der Mollusken beschäftigt hat, die Widersprüche von Schöpfungsund Evolutionstheorie sowie die Fragilität der Gottesbeweise anzuprangern. Piaget deutet heftige Konflikte mit seiner Mutter an (in diesem Band: 30 f.); es entsteht eine moralische Krise, die durch seine Revolte gegen die Paradoxien der christlichen Theologie ausgelöst wird. Diese Konflikte werden so gravierend, dass Piaget die Hälfte der Studienzeit im Kurort Leysin verbringt, wo Tuberkulosepatienten und verwundete Soldaten gepflegt werden und er selbst mehrere Glaubenskrisen durchlebt (vgl. Piaget 1916; 1918). Gestützt auf die Theorien von Auguste Sabatier und Henri Bergson versucht Piaget 1914 erstmals eine Versöhnung von Wissenschaft und Glaube zu erreichen. Gleichzeitig beginnt er sich im Schweizerischen Verband Christlicher Studenten zu engagieren, dem er eine bedeutende Rolle im Aufbau einer moralischeren Nachkriegsgesellschaft zuspricht (Piaget 1915). Angeregt von verschiedensten Lehrern und Denkern entwickelt er sein Projekt zur Versöhnung von Religion und Wissenschaft schrittweise weiter. Die entscheidende religionsphilosophische Radikalisierung wird durch die Lektüre von Nature et liberté (1921) und Le progrès de la conscience dans la philosophie occidentale (1927) von Léon Brunschvicg ausgelöst, dessen Vorlesungen Piaget in Paris besucht, woraus eine langjährige Freundschaft entsteht.

Zusammen mit seinem Freund Jean de la Harpe, der an der Universität Neuenburg bei denselben Professoren studiert und manchmal in Kooperation mit, manchmal in Konkurrenz zu ihm teilweise an denselben Themen arbeitet, präsentiert Piaget im März 1928 an der 31. Tagung der Studenten der französischsprachigen Universitäten in Sarraz mit Immanenz und Transzendenz das Ergebnis seiner theologischen Studien. Auf der soziologischen Ebene versucht Piaget nachzuweisen, dass die gesellschaftliche Entwicklung eine zwangsläufige Transformation der religiösen Vorstellungen bedinge, die ausgehend von den primitiven totemistischen Vorstellungen über den katholischen Symbolismus und die protestantischen Prinzipien zu einem dem Denken immanenten Gott gelange. Dabei stützt er sich weitgehend auf Emile Durkheims Theorie der sozialen Differenzierung, wobei er dessen Säkularisierungstheorie jedoch ablehnt. Auf der psychologischen Ebene argumentiert er mit Pierre Bovet, die transzendentale Gottesvorstellung des Kindes sei das Produkt einer Projektion der durch die Eltern enttäuschten Allmachtserwartungen. Piaget postuliert, dass sich diese Vorstellung, sofern sie nicht durch eine autoritäre Erziehung zementiert wird, aufgrund der in der Kooperation erfahrenen Gegenseitigkeit zwangsläufig zu einer immanentistischen Gottesvorstellung weiterentwickle. Dank der Bewusstwerdung der Werte der Liebe, des Guten und der Wahrheit konvergierten Religion, Moral und Wissenschaft. Gott ist demnach das vom Egoismus, Bösen und Irrtum gereinigte Denken.

Die These eines die absoluten Werte des Denkens verkörpernden Gottes löst intensive Diskussionen aus, zumal nach dem Ersten Weltkrieg konservative Glaubensvorstellungen überwiegen. So kritisiert etwa der junge Theologiestudent Jean-Daniel Burger (1929) Piagets Soziologie der beiden Gesellschaftstypen als zu banal, das Bild des isolierten Wilden als eine Fiktion, seinen Realitätsbegriff als gegenstandslos und paradox und die Bedeutung des wissenschaftlichen Denkens als überschätzt. Da Piaget (1929) auf eine Reihe von Kritikpunkten nicht eingeht, wird er von den ehemaligen Mitgliedern des christlichen Studentenvereins im Juni 1929 zu einem zweiten Vortrag (Immanentismus und religiöser Glaube) eingeladen, der die offenen Fragen zum Verhältnis von Immanenztheologie und christlichem Glauben klären soll. Piaget erweitert seine Argumentation und erklärt, weshalb auch für einen Immanentisten das Gefühl einer Kommunion mit Gott und das Gebet möglich seien. Dazu postuliert er eine innerpsychische Transzendenz, das heißt eine hierarchische Überlegenheit der göttlichen Werte gegenüber dem Ich: Die Identifikation des Ich mit den Werten löst ein Gefühl der Verbundenheit mit Gott aus, während die Unterwerfung des Ich unter die Werte einem Gebet entspricht. Damit schwächt er seine radikale Position ab und entschärft die Debatte.

Die Hartnäckigkeit, mit der Piaget für den Rest seines Lebens die Entstehung des Denkens und die Bedingungen der Erkenntnis erforscht, ist nachvollziehbar, wenn man berücksichtigt, dass er selbst sein Werk als Beitrag zur Genese des Göttlichen versteht. Der Immanentismus bleibt sein grundlegendes Konzept, das alle seine Forschungen und Konzepte prägt: Psychologisch ist er im Begriff der spontanen Aktivität, biologisch in der gerichteten Äquilibration, epistemologisch in der Synthese von Idealismus und Realismus, moralisch in der Autonomie, politisch in der demokratischen Selbstbestimmung, pädagogisch in den Interessen der Schülerinnen und Schüler und sozial in der Kooperation enthalten. Allerdings gibt es in seinem späteren Werk nur wenige Stellen, in denen er diese Überzeugung offenlegt (vgl. etwa Band 5: 121). Diese Zurückhaltung dürfte auf die Konflikte um das Institut Jean-Jacques Rousseau (IJJR) zurückzuführen sein, als konservative Genfer Kreise dessen Finanzierung wegen politischer »Agitation« infrage stellen. Nach heftigen Auseinandersetzungen und Bovets Rücktritt als Institutsdirektor setzt Piaget 1932 eine strikt wissenschaftliche Linie durch, die weltanschauliche Themen und öffentlich politisches Engagement ausspart (vgl. Kohler 2009: 99 ff.).

Diese strikt neutrale Linie vertritt Piaget auch als Direktor des Internationalen Büros für Erziehung, das er von 1929 bis 1967 leitet. Im Rahmen dieser Funktion verfasst Piaget 1935 die Beiträge Die neuen Methoden und ihre psychologischen Grundlagen und Die Überprüfung der neuen Methoden, die 1939 in der renommierten Französischen Enzyklopädie erscheinen. In den beiden Texten fasst Piaget die reformpädagogische Position zusammen, die seine Kollegen und Lehrer Edouard Claparède, Pierre Bovet und Adolphe Ferrière am IJJR erarbeitet haben.

Das 1912 zum zweihundertsten Geburtstag Rousseaus gegründete private IJJR orientiert sich an den child studies von Stanley Halls Children’s Institute an der Clark University in Massachusetts und setzt sich in der Forschung und Lehrerbildung für die ›neue Erziehung‹ ein (Hameline 2004). Die Genfer sind überzeugt, dass eine Wissenschaft des Kindes, die verschiedene Disziplinen zusammenführt, die Gültigkeit der reformpädagogischen Konzepte beweisen würde. Dazu zählen insbesondere der von Claparède als école sur mesure bezeichnete adaptive Unterricht und die von Bovet und Ferrière propagierte école active, die den rezeptiven Unterricht durch das forschende Lernen ersetzen soll. Von solchen Reformen in der Volksschule erwartet man sich nicht nur bessere Lernergebnisse, sondern vor allem die Bewahrung natürlicher und spontaner Eigenschaften und Interessen und in der Folge moralisch bessere Menschen.

Diese Zielsetzungen gewinnen nach der Erfahrung des Ersten Weltkriegs noch an Brisanz, hofft man nun doch, dass eine kindgerechte Schule eine erneute Zivilisationskatastrophe verhindern und eine humane Gesellschaft hervorbringen könne. Eine beachtliche Zahl reformpädagogischer Organisationen (etwa die New Education Fellowship) und Institute (z. B. das Institute of Education of London) werden gegründet, Kongresse (beispielsweise der Kongress für moralische Erziehung) durchgeführt und Zeitschriften (etwa die Education for the New Era) herausgegeben.

Das ist auch der Kontext, in dem, nach dem Scheitern diverser Vorstöße beim Völkerbund, das IJJR 1925 das private Internationale Büro für Erziehung (BIE) einrichtet, das zunächst von Bovet geleitet wird. Dieser setzt sich ein für die Verbreitung der Ideen der internationalen Verständigung und des Friedens (Suchodolski 1979). Nicht zufällig besteht das Emblem des BIE aus zwei den Globus in die Luft hebenden Kindern, untertitelt mit dem Slogan per juvenes ascendat mundus. Das zentrale Ziel des BIE besteht in der Beschaffung und Aufbereitung von Informationen, die den Bildungsministerien helfen sollen, Schulreformen im Sinne des Völkerbundes (und der Genfer) durchzusetzen. Dazu führt das BIE eigene Vergleichsstudien – etwa zur Verbreitung der Gruppenarbeit in den verschiedenen Mitgliedsländern – durch, welche zur Anwendung solcher Ansätze motivieren sollen.

Parallel dazu lässt das IJJR die reformpädagogischen Methoden in verschiedenen Modellschulen ausprobieren (Hofstetter 2010): In der Maison des petits orientieren sich die beiden Leiterinnen Mina Audemars und Louise Lafendel an Montessori und Decroly (obwohl in der Praxis die Fröbel-Tradition weitgehend bestimmend bleibt), in der Maison des grands, in der Ecole Toepffer und im Waisenheim Home chez nous führen Ferrière und Paul Meyhoffer die Prinzipien der école active ein. Die von Robert Dottrens geleitete Ecole expérimentale du Mail setzt auf individualisierende Unterrichtsformen in Sinne von Parkhursts Dalton-Plan und Washburnes Winnetka-System sowie auf Gruppenarbeiten nach dem Modell von Roger Cousinet. Es ist daher kein Zufall, dass Piaget in seinen Beiträgen vor allem diese Versuche als Beispiele für die neue Schule anführt.

Im ersten Beitrag (Die neuen Methoden und ihre psychologischen Grundlagen) begründet er die Prinzipien der neuen Erziehung systematisch mit seiner Entwicklungspsychologie. Dem Ziel, disziplinierte, kritische, kooperative und solidarische Persönlichkeiten zu erziehen, die unabhängig denken und moralisch handeln, stehe ein zwangsläufig hierarchisches Verhältnis von Erzieher und Kind entgegen. Der Erzieher sei von vornherein in einer paradoxen Situation, zumal er das vom Erwachsenen radikal verschiedene Kind an die Werte und Normen der aktuellen Gesellschaft anpassen müsse. Die traditionelle Erziehung versucht dies durch die sprachliche und sanktionierende Werte- und Normenvermittlung zu erreichen, womit sie aus der Sicht der Reformpädagogen aber zwangsläufig scheitert. Der auf Rezeption von konsolidiertem Schulwissen angelegte Unterricht verfehle das kindliche Verständnis und die Motivation und müsse daher zu Strafen, Lob und Druckmitteln wie Noten greifen, was die Schüler korrumpiere. Nur wenn die Kinder auf der Basis ihrer jeweiligen Bedürfnisse und Interessen aktiv sein könnten, seien sie in der Lage, verlässliche und adäquate, objektive Erkenntnisse, Kreativität und ein moralisches Sozialleben ermöglichende Strukturen auszubilden. Mit dem Drang zu körperlicher Aktivität und dem Spieltrieb, der mit der Zeit vom Bedürfnis nach geistiger Aktivität und Arbeit abgelöst werde, sei das Kind zum forschenden Lernen prädestiniert. Erfolgreicher Unterricht kann laut Piaget nur das bewusst machen, was das Kind auf der praktischen Ebene schon beherrsche, und aufgrund der Reifungsvorgänge könne dies nicht irgendwann geschehen.

Der psychologischen Begründung vorangestellt ist eine Genealogie der neuen Erziehung, in der Piaget eine Linie von Vorläufern konstruiert, die die Legitimität und Bedeutung der reformpädagogischen Schulkritik und der Alternativvorschläge unterstreicht, die dann im zweiten Beitrag (Die Überprüfung der neuen Methoden) diskutiert werden. Piaget unterteilt die neuen Methoden in die sich eher ergänzenden als ausschließenden, individualisierenden sowie kooperativen Verfahren, die er jeweils knapp darstellt und auf der Folie seiner Entwicklungspsychologie in einigen Fällen scharfsichtig und kritisch beurteilt.

Auch wenn Piaget große Hoffnungen auf die neuen Methoden setzt, befindet er sich in einer defensiven Position, denn die Bewegung zur neuen Erziehung zerfällt während der 1930er Jahre weitgehend (Hameline et al. 1995). Einerseits ist dieser Niedergang eine Folge der Weltwirtschaftskrise, da die Gelder für Schulversuche versiegen und reaktionäre Tendenzen gestärkt werden. Andererseits können die neuen Methoden die Erwartungen nicht einlösen, weshalb es zu einer Restauration der traditionellen Konzepte kommt. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg bleibt die erwartete Renaissance der Reformpädagogik aus. Es erstaunt daher nicht, dass Piaget 1965 in seinem dritten Beitrag für die Französische Enzyklopädie (Erziehung und Unterricht seit 1935) eine pädagogische Krise diagnostiziert. Die mangelnde empirische Unterrichtsforschung, das fehlende wissenschaftliche Selbstverständnis der Pädagogik und der Lehrerbildung, die starren Lehrpläne, die ungenügende internationale Kooperation, aber auch das Ausbleiben eines hervorragenden Pädagogen hätten zum Stillstand geführt. Einmal mehr votiert er für die Notwendigkeit einer grundlegenden Schulreform und zeigt auf, wie welche Konzepte in einzelnen Fächern und in der Lehrerbildung berücksichtigt werden sollten.

1967 tritt Piaget von seinen Funktionen als Direktor des BIE und des IJJR zurück, kurz bevor das Interesse an den reformpädagogischen Ideen wieder erwacht, das insbesondere in der Lehrerbildung bis heute anhält. Damit verwirklicht sich, wenn auch nur langsam und partiell, wofür sich die Reformpädagogen ein halbes Jahrhundert zuvor eingesetzt haben. Allerdings hat sich Piaget selbst seit Mitte der 1930er Jahre nur noch sporadisch mit pädagogischen Themen beschäftigt und die psychologische Forschung am IJJR auf Kosten der pädagogischen Studien stark favorisiert. Zudem erfährt seine Entwicklungspsychologie zur selben Zeit eine markante Veränderung. Der früher als entscheidend angesehene Einfluss des sozialen Milieus auf die kognitive Entwicklung wird nun in seiner Relevanz massiv zurückgefahren und durch die Funktion der Äquilibration ersetzt, gekoppelt mit einer primär mathematischen und formallogischen Fundierung der Kognitionstheorie. Der Einfluss von außen erscheint also einer inneren Entwicklungsrichtung und -dynamik unterworfen, was mit den theologischen Prämissen Piagets konsistent ist. Wenn Gott die absoluten Normen des Denkens darstellt und die Entwicklung des Denkens zu diesen Normen hin verläuft, sich Gott also gewissermaßen selbst entwickelt, kann diese Entwicklung weder zufällig noch von äußeren Faktoren bestimmt sein. Zufällige evolutionäre Mutationen stellen das Göttliche ebenso infrage wie kulturelle Bedingtheit des Denkens, Entwicklungsrückschritte oder -deviationen. Eine auf der Basis einer endogenetischen Psychologie beruhende Pädagogik reduziert sich daher, in der Tradition Rousseaus, auf eine negative Erziehung, das heißt auf die Bereitstellung einer förderlichen Entwicklungsumgebung. Im Mittelpunkt des Emile steht die Herzenstheologie des savoyischen Vikars, genauso wie die Immanenztheologie bei Piagets genetischer Entwicklungstheorie.

Die beiden Beiträge von 1935 liegen an der Schnittstelle zwischen dem sozialpsychologischen Frühwerk, das der Pädagogik einen eigenständigen Handlungsspielraum offen lässt, und dem logisch-mathematisch basierten Hauptwerk, das die endogenetischen Faktoren in den Mittelpunkt stellt, woraus sie ihre Relevanz beziehen.

LITERATUR:

Brunschvicg, Léon (1921): Nature et liberté. Paris: Flammarion.

Brunschvicg, Léon (1927): Le progrès de la conscience dans la philosophie occidentale. Paris: Alcan.

Burger, Jean-Daniel (1929): Pour la transcendance. In: Revue de théologie et de philosophie, 17: 33–40.

Hameline, Daniel/Helmchen, Jürgen/Oelkers, Jürgen (1995) (Hg.): L’éducation nouvelle et les enjeux de son histoire. Actes du colloque international des Archives Institut Jean-Jacques Rousseau. Bern: Lang.

Hameline, Daniel (2004): L’Institut Jean-Jacques Rousseau et l’Education nouvelle. In: Annick Ohayon/Dominique Ottavi/Antoine Savoye (eds.): L’Education nouvelle, histoire, présence et devenir. Bern: Lang: 145–162.

Hofstetter, Rita (2010): Genève: creuset des sciences de l’éducation (fin du XIXe siècle – première moitié du XXe siècle). Genève: Droz.

Kohler, Richard (2009): Piaget und die Pädagogik. Eine historiographische Analyse. Bad Heilbrunn: Klinkhardt Forschung.

Piaget, Jean (1914): Bergson et Sabatier. In: Revue chrétienne, 61: 192–200.

Piaget, Jean (1915): La mission de l’Idée. Lausanne: La Concorde, 1916.

Piaget, Jean (1916): Les mystères de la douleur divine (Hg. von Fernando Vidal). In: Revue de Théologie et de Philosophie 1993, 126: 112–118.

Piaget, Jean (1918): Recherche. Lausanne: La Concorde.

Piaget, Jean (1929): Pour l’immanence: réponse à M. J.-D. Burger. In: Revue de théologie et de philosophie, 17: 145–152.

Piaget, Jean (1977): Jean Piaget. Ein Selbstporträt in Gesprächen (Hg. von Jean-Claude Bringuier). Weinheim: Beltz.

Suchodolski, Bogdan et al. (1979) (Hg.): Le Bureau international d’éducation au service du mouvement éducatif. Paris: UNESCO.

IMMANENZ UND TRANSZENDENZ1

Man klagt den Protestantismus an oder lobt ihn, die Frage des Übernatürlichen ausgeschlossen zu haben. In der Vorstellung, die sich seine katholisch eingestellten Kritiker oder philosophischen Bewunderer davon machen, handelt es sich um eine Religion des inneren Lebens und moralischen Handelns, um eine Religion ohne Dogmen – deren eigentlich kirchliche Institutionen sich zunehmend auflösen, gerade weil sie die Transzendenz abgeschafft haben. Die große Mehrheit ihrer Mitglieder sieht im Protestantismus wohl eine Religion, die der christlichen Orthodoxie treu bleibt, die vom Katholizismus den Begriff der Transzendenz bewahrt und bejaht und trotz allem die Einheit der Kirche über gemeinsame Formeln und Riten zu begründen anstrebt. Es scheint uns gefährlich, diesen Zustand allein mit der Methode der philosophischen Analyse erklären zu wollen, denn ein reflexives Vorgehen ist nur im Rahmen der Logik und der Erkenntnistheorie angebracht. Wenn es jedoch um soziale oder affektive Tatsachen geht, um Werte im Allgemeinen, kann es leicht passieren, dass der Philosoph Opfer seiner eigenen Gefühlsvorstellungen und der seiner Gruppe wird. Das deduktive Vorgehen ist eine Selbsttäuschung, wenn es nicht auf eine vorhergehende wissenschaftliche Analyse aufbaut. Der Philosoph ist oft ein Prediger, und in einer Frage wie der unsrigen gilt es nicht zu predigen, sondern klar zu sehen.

Versuchen wir daher, auf unseren Gegenstand die Methoden der Soziologie und der Psychologie anzuwenden. Vereinbaren wir also, dass wir von jeder Metaphysik absehen, betrachten wir die religiösen Einstellungen als Fakten, und versuchen wir sie zu erklären, ohne das empirische Feld zu verlassen. Daher werden wir in den beiden ersten Teilen aufzeigen, dass die Krise, in der sich derzeit der Protestantismus befindet, aus soziologischer und psychologischer Sicht unausweichlich ist. Mit dieser Analyse können wir die psychosoziologischen Wurzeln der beiden religiösen Haltungen, die wir Immanenz und Transzendenz nennen, aufdecken. Damit können wir die unbewussten Beweggründe, oder zumindest einige von ihnen, klarer sehen, weshalb die einen diese Richtung, andere die zweite einschlagen. In einem dritten Teil verlassen wir die Psychologie und die Soziologie und nehmen zu dieser Frage persönlich Stellung. Wir wollen damit keine Richtung vorgeben, sondern nur ein Beispiel einer möglichen praktischen Schlussfolgerung zeigen und die Diskussion damit anregen.

I. Die soziologische Sichtweise

Es scheint uns schwierig, direkt eine psychologische Analyse von religiösen Einstellungen, zumal so weit entwickelten wie die des Protestantismus, vorzunehmen. Überzeugungen, die über Generationen und durch Jahrhunderte weitergegeben wurden, sind, unabhängig von ihrem Ursprung, das Ergebnis einer sozialen Erarbeitung. Es ist daher notwendig, die soziologische Problematik der Entwicklung dieser Überzeugungen zu durchleuchten, bevor man ihre psychologischen Aspekte untersucht.

Die Soziologie untersucht die Religionen und Moralvorstellungen genauso wie alle anderen sozialen Tatsachen: Sie hält die historischen oder derzeitigen Transformationen fest, widmet den sogenannten »primitiven« oder »zivilisierten« Formen die gleiche Aufmerksamkeit und versucht, all diese Variationen mit den damit verbundenen sozialen Prozessen in Verbindung zu setzen. Mit dieser gänzlich positiven Methode, mit der sie die Transzendenz ausschließt, kommt die Soziologie dazu, Religionen und Moralvorstellungen als Produkte des sozialen Lebens und sogar als dessen wichtigste Produkte zu betrachten.

Es ist in der Tat sehr bemerkenswert, dass es im Großen und Ganzen eine starke Korrelation zwischen der Struktur der gesellschaftlichen Gruppen und der Struktur der religiösen Überzeugungen gibt.

Der Totemismus zum Beispiel, sei er nun eine primitive Form der Religion oder nicht, entspricht einer sozialen Struktur, die sich genau nach ihren Grundüberzeugungen ausgebildet hat. Die aus unteilbaren und kollektiven Einheiten bestehende Totem-Gesellschaft kennt keine anderen Ungleichheiten als das Alter und das Geschlecht, hat weder Führer noch Väter (im juristischen Sinne) und bestimmt die Verwandtschaft nicht durch die physiologische Generationenabfolge, sondern durch die Teilnahme an einer gemeinsamen Mystik. Die wahre Gottheit, die von diesen Gesellschaften verehrt wird, ist eine unpersönliche Kraft, verstanden als Prinzip des Lebens und der Macht, als magische und mystische Verbindung aller Wesen, die die Teilhabe der sozialen Gruppe an der gesamten Natur garantiert. Dieses göttliche Prinzip verkörpert sich in verschiedenen Objekten, die gerade die Symbole von bestimmten sozialen Gruppen bilden: die Totems.

Wenn soziale Zellen sich vergeistigen und die sozialen Einheiten sich Führer oder Väter geben, »vergeistigt« sich auch das göttliche Prinzip, womit der Begriff der Seele der Vorfahren zentrale religiöse Bedeutung erlangt. Wie von den Soziologen gezeigt wurde, ist das Konzept der Seele ein Produkt der sozialen Differenzierung und nicht ein ursprüngliches Objekt des religiösen Gefühls. Entsprechend werden, wenn sich Gesellschaften hierarchisieren und große Einheiten Stämme und Sippen unterwerfen, auch die Gottheiten hierarchisiert, und das Komplexerwerden der irdischen Regierung spiegelt sich in der Regentschaft der Götter. Es ist von jedermann leicht nachzuvollziehen, wie sehr die Abstraktionskraft, die zum Monotheismus führte, der Entwicklung nach einer stärkeren Vereinheitlichung des gesellschaftlichen Lebens selbst entspricht.

Diese in so wenigen Sätzen beschriebene Parallelisierung von sozialen Strukturen und religiösen Glaubenssystemen wird zu einer Karikatur, wenn man zu sehr vereinfacht. Aber wir können hier nicht ins Detail gehen. Es muss reichen, an die Tatsachen zu erinnern, über die sich heute alle Sozialwissenschaftler einig sind. Zweifellos, wie bereits Durkheim feststellte, vermehren sich die Göttertempel oft aufgrund einer Art intrinsischer Symbolik von selbst, wobei sie vorübergehend den Kontakt mit der sozialen Struktur verlieren. Aber wenn wir von diesen sozialen Produkten zweiten Grades einmal absehen, kann man im Großen und Ganzen sagen, dass immer und überall eine enge Übereinstimmung zwischen den Gesellschaftsformen und den religiösen Überzeugungen besteht.

Kann man unter diesen Bedingungen davon ausgehen, dass es die Gesellschaft ist, die die Religion prägt, oder sind es die irgendwie und in unbestimmter Vielzahl entstandenen religiösen Überzeugungen, die die Gesellschaft prägen? Je mehr vergleichende Studien vorliegen, desto klarer wird, dass sich der Mensch die Götter nicht nur nach seinem eigenen Bild formte, sondern auch nach dem Abbild der Gesellschaft, in der er lebte. Es ist in der Tat schwierig, den Polymorphismus der Religionen zu erklären, wenn man von den sozialen Strukturen absieht. Hingegen lässt er sich sehr gut erklären, wenn man von den komplexen Gesetzen der kollektiven Vorstellungen ausgeht. Die Religion erscheint so als ihr Produkt.

Dieses Produkt wirkt zwar auf das gesamte System zurück, aus dem es entstanden ist, und stellt einen hochgradigen Fokalisierungspunkt dar. Aber es erscheint immer unwahrscheinlicher, dass die religiösen Überzeugungen dessen Grundursache sind.

Hier setzt die Hypothese von Durkheim ein: Das religiöse Gefühl leite sich aus dem sozialen Gefühl selbst ab, dessen tieferer Kern es letztlich sei.

Wie ist der Mensch dazu gekommen, so fragt sich Durkheim, Wesen zu entwerfen, die körperlich und geistig mächtiger seien als er und denen er seine Geschicke unterwirft? Die Untersuchung primitiver Gesellschaften führt uns auf den Lösungsweg. In bestimmten Situationen seines Lebens muss sich der »Primitive«, wenn er von den anderen isoliert ist, mit den Schwierigkeiten des Überlebenskampfes auseinandersetzen. Er ist auf allen Seiten von einer feindlichen Natur bedroht. Krankheiten, Tod, Hunger, Unfälle oder Katastrophen fallen unberechenbar über ihn herein. Die Unwissenheit erhöht die Unsicherheit. Die Vorstellungskraft verstärkt noch die Schrecken des einsamen Kampfes. Zu anderen Zeiten taten sich die Menschen zusammen. Soziale Kontakte stärken nicht nur den Einzelnen, sondern lösen bei den regelmäßig auftretenden rituellen Festen Erregtheit aus, die sich bei den Tänzen zu einer anhaltenden kollektiven Begeisterung steigert, wobei diese Trunkenheit umso ergreifender ist, je größer der Gegensatz zum gewöhnlichen Leben ausfällt. Es genügt festzustellen, wie sehr jede gesellschaftliche Vereinigung, selbst bei nicht-kirchlichen Zusammenkünften, ihre eigene Mystik enthält, um zu verstehen, was die Begeisterung primitiver Gesellschaften bei rituellen Feiern sein muss. Hier nimmt, so Durkheim, die Gotteserfahrung ihren Ursprung. In der Vereinigung mit der Gruppe entdeckt das Individuum in sich die Einwirkung eines höheren Wesens, die ihn in ein neues Leben erhebt, ihm Kraft sui generis einflößt und seinem Leben einen Sinn gibt.

Aber natürlich wird diese soziale Kraft nicht in abstracto begriffen. Die Menschen müssen sie sich konkret vorstellen können. Die Gesellschaft bedarf der Symbole. Vom Totem zu den höheren Wesen, von der Seele der Vorfahren bis zu den nationalen Göttern, von Elohim zu Jahwe sind die Götter Symbole der sozialen Gruppe selbst.

Vom moralischen Standpunkt aus gesehen, ist es das gleiche Phänomen. Jede Moral, was auch immer die entwickelten Moralanschauungen unserer »zivilisierten Welt« besagen, ist religiös. Denn es ist das Wesen allen kollektiven Lebens, sich Regeln zu geben. Selbst die amorphsten Gemeinschaften wie die Kindergruppen, die sich zum Spielen treffen, geben sich Vorschriften. Werden diese Vorschriften über viele Generationen weitervermittelt und verfestigt, erscheinen sie dem Individuum als heilig. Falls das religiöse Gefühl wirklich durch den Druck der Gruppe auf die Einzelnen entsteht, dann haben alle primitiven Vorschriften einen mystischen Charakter, denn das moralische Gewissen ist nichts anderes als das Ergebnis der Verinnerlichung dieser Vorschriften.

Wenn wir diese Ansichten als Arbeitshypothesen annehmen, werden wir sehen, wie fruchtbar sie in Bezug auf die Fragestellungen sind, die uns hier beschäftigen. Es ist lediglich erforderlich, dass wir jetzt nicht mehr von der Gesellschaft im Allgemeinen sprechen, sondern dass wir mindestens zwei Arten von sozialen Organisationsformen unterscheiden.

Wir können in der Tat die Gesellschaften im Groben in zwei große Gruppen einteilen. Es gibt zunächst die konformistischen Gesellschaften, in denen der gesellschaftliche Zwang dem Einzelnen eine Gesamtheit von Glaubensvorstellungen und entsprechenden Verpflichtungen auferlegt, die als heilig betrachtet werden und die niemand infrage zu stellen berechtigt ist. Das Individuum ist also völlig der Tradition unterworfen, einem starren und geschlossenen System von verbindlichen kollektiven Vorstellungen. Es gibt auf der anderen Seite ausdifferenzierte Gesellschaften, in denen der Einzelne das Recht erwirbt zu überprüfen und frei zu denken; hier beruht die Solidarität daher auf der Zusammenarbeit und nicht mehr auf dem Zwang.

Diese zweite Art der Struktur ist noch sehr jung. Abhängig von der ökonomischen und intellektuellen Arbeitsteilung (der wissenschaftlichen Forschung) und der Individualisierung, die daraus hervorgeht, tritt sie nur bei einer kleinen Elite unserer heutigen Gesellschaften auf. Es muss sicher noch gesagt werden, dass die Ausdifferenzierung nur ein Entwicklungsprozess ist und nur einen Teil unserer kollektiven Vorstellungen betrifft. Wie dem auch sei, diese Ausdifferenzierung ist der Grund für eine tiefe Krise unserer sozialen Gefühle in ihren beiden Varianten, der religiösen und der moralischen.

Wenn die Götter und theologischen Realitäten wirklich Symbole der sozialen Gruppe, also dem Individuum und dem Zwang äußerlich sind, zieht aus religiöser Sicht jegliche Ausdifferenzierung, das heißt jeder Bruch mit dem bindenden Konformismus, selbstverständlich einen Rückgang des Glaubens an das Übernatürliche nach sich. Die Idee der Transzendenz hängt mit dem sozialen Zwang zusammen, wenn wir unter diesem Begriff alle heiligen Traditionen und Verpflichtungen verstehen, die auf dem Einzelnen lasten und von außen auf ihn zukommen. Denn unabhängig vom Inhalt gewöhnt jegliche soziale Verpflichtung den Einzelnen an den Gehorsam und besonders dazu, die Realitäten anzuerkennen, die ihm von außen auferlegt werden. Diese Äußerlichkeit ist aber keineswegs nur scheinbar, denn so wie der Einzelne den Konformismus annimmt, nimmt er innerlich, in seinem innersten Bewusstsein, an dem gemeinsamen Gut seiner Gruppe teil. Genauso ist es mit dem transzendenten Gott, der sowohl über allem und gleichfalls innerhalb des Bewusstseins steht.

Kurz gesagt ist, aus soziologischer Sicht, die Idee des Übernatürlichen oder der Transzendenz an die Äußerlichkeit des Zwangs in Bezug auf den Einzelnen gebunden, und die soziale Ausdifferenzierung erscheint für eine solche soziale und religiöse Überzeugung als zerstörerisch. Die Ausdifferenzierung führt aber keineswegs zwangsläufig zum Aussterben des religiösen Gefühls. Denn neben der fortschreitenden Säkularisierung der ausdifferenzierten Gesellschaften und dem so neuen und revolutionären Konzept der Religion als Privatsache erleben wir in unserer Gesellschaft eine allmähliche Internalisierung der Religion. Man glaubt nicht mehr an den Wert von Dogmen und an die Wirkungskraft von Riten. Das für die Transzendenzreligion Wesentliche wird nur noch symbolisch verstanden. Gott wird dem Bewusstsein innerlich.

Die Frage stellt sich hier natürlich, ob sich Gott dem Ich angleichen wird. Das werden diejenigen behaupten, die in jeder Individualisierung und in jedem Bruch mit dem verpflichtenden Konformismus einen Schritt hin zur Anarchie sehen. Aber wenn man mit Durkheim glaubt, dass »eine organische Solidarität« (bei der die Zusammenarbeit auf Ausdifferenzierung beruht) genauso lebensfähig ist wie eine Solidarität des Konformismus, dann ist es berechtigt, in der Weiterentwicklung der Immanenz etwas anderes zu sehen als eine Mystik des Ich. Der Mensch ist nicht gespalten zwischen dem Ich und dem sozialen Konformismus, denn es gibt ein Drittes: die Vernunft selbst und ihre unpersönlichen Normen.

Unter dem moralischen Gesichtspunkt sind die Auswirkungen der Ausdifferenzierung nicht weniger heikel. Die Moral der sozialen Verpflichtung ist eine Moral des Gehorsams. Das Gute geht hier mit dem Einhalten der Vorschriften einher. Eine Regelverletzung ist ein Verbrechen, unabhängig von der Absicht, die man dabei hat. Die Verantwortung ist damit objektiv und unabhängig von den psychologischen Umständen. Dies ist der moralische Realismus der Fremdbestimmung. Mit der Ausdifferenzierung tritt ein völlig anderes und im Wesen revolutionäres Konzept auf: das der Autonomie des Gewissens. Auf die reine Pflicht, das heißt den Gehorsam, folgt ganz einfach das Gute, das heißt die Nächstenliebe, die unabhängig von festgehaltenen Vorschriften oder Verboten ist. Die Zusammenarbeit führt so zu Verständnis und Sympathie, die gegenseitig sind, wohingegen der dem Konformismus immanente Zwang nur den Legalismus hervorruft.

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