Über Antonia Baum

Foto: Mathias Bothor/photoselection

Antonia Baum, geboren 1984, studierte Literaturwissenschaft und Geschichte. Sie hat verschiedene Kurzgeschichten veröffentlicht und 2011 ihr Romandebüt Vollkommen leblos, bestenfalls tot. Seit Feburar 2012 ist sie Redakteurin im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung in Berlin.

1

Theodor ist unser Vater. Er behauptet von sich, er habe sich selbst erzogen, also ohne dass ihm dabei jemand geholfen hätte.

 

»Wie, du bist alleine groß geworden?«, fragte Jonny von hinten, als wir mal wieder zum Schrottplatz fuhren. Eigentlich hieß er Johann-Sebastian, wurde aber von allen Jonny genannt und war der Älteste von uns dreien. Wir saßen in dem alten Leichenwagen. Theodor vorne hinterm Steuer, ich auf dem Beifahrersitz, Jonny und Clint hinten auf der weinroten Kunstleder-Rückbank, die Theodor auf die Ladefläche geschraubt hatte und bei der sich leider nur einer anschnallen konnte.

»Na, eben alleine.« Theodor verdrehte das linke Auge. Er trug mal wieder keine Augenklappe, was ich gegenüber seinen Mitmenschen total falsch fand, weil die Leute fast immer peinlich berührt waren von dem zugenähten Schlitz, dessen eingefallene Naht einen so totenkopfmäßig angrinste.

Clint argumentierte: »Aber du musst doch irgendwie Eltern gehabt haben. Einer muss eigentlich einkaufen, kochen und so!«

Mit Clint, meinem Zwillingsbruder, war die Sache die, dass er mir immer viel kleiner als ich vorkam, dabei war er schon als Baby größer als ich gewesen und nur wenige Minuten jünger. Er lehnte sich von hinten an Theodors Fahrersitz und patschte mit seinen kleinen Händen auf Theodors Extremschwimmer-Schultern herum, weil er unbedingt eine Antwort wollte. Theodor reagierte nicht. Clint rüttelte an ihm.

»The-oo-door!«

»Was ist denn?«

Ich starrte durch die Windschutzscheibe auf das Pappmacheegrau der Straße und hörte an seiner Stimme, wie er in diesem Moment aussah: Kinn vorgeschoben und leicht nach oben zeigend, Kopf schief, das Auge schmal und etwas fokussierend, was überall sein konnte, nur nicht da, wo wir gerade langfuhren.

»Mann, Theodor, jetzt sag doch mal!«

Clint schlug Theodor sanft auf den Kopf.

Ich, routiniert, zu Theodor: »Du hörst nie zu!«

Theodor, plötzlich da: »Ich höre immer zu! Was war die Frage?«

Clint: »Dass man sich eigentlich gar nicht alleine erziehen kann und wer bei euch gekocht hat!«

Theodor verharrte im Kopf-schief-Auge-schmal-Modus. Wir warteten darauf, dass er den Mund aufmachte.

»Na ja, die Mutter hat außergewöhnlich schlecht gekocht. Also, man konnte das eigentlich nicht essen. Außerdem gab es ja eh nicht viel, und wir waren arm, war ja nach dem Krieg. Der Vater und ich waren zusammen hamstern, und dann brauchte er natürlich immer seine speziellen Sachen vom Schwarzmarkt. Wenn er abends müde war, durfte ich immer das Auto nach Hause fahren. Mit acht!«

»Mit acht durftest du schon Auto fahren?«, rief ich, tippte mir an die Stirn und drehte mich zu Jonny um, der mit verschränkten Armen auf der Rückbank saß, aber auch grinsen musste.

»Klar. Ich hatte auch immer wieder mit Waffen zu tun. Waffen waren ganz normal«, erklärte Theodor und zog die Mundwinkel herunter, so als würde ihn das mit den Waffen eher langweilen.

Clint war jetzt ein bisschen aufgeregt: »Deine Mutter hatte bestimmt Angst um dich!«

Theodor winkte ab: »Hatte sie nicht. Die Mutter war keine normale Mutter, verstehst du? Sie war sehr abenteuerlustig und sportlich. Eigentlich war ihr alles egal, Hauptsache, ich war auch abenteuerlustig und sportlich und brachte gute Leistungen. Durch meine Sportlichkeit kam ich auf ein Sport-Internat«, sagte Theodor zufrieden.

Jonny, der eigentlich zeigen wollte, dass ihn das alles nicht interessierte: »War gut?«

»Einmal gab ich einem Lehrer eine Backpfeife.«

Theodor schwieg eine Weile und sagte dann, anerkennend nickend: »Das war sehr gut!«

»Ehrlich?«, rief ich, und Clint, mein Zwillingsbruder: »Ohne Scheiß?«

»Ja, glaubt ihr, ich erzähle Geschichten?«, rief Theodor, wobei ich nicht wusste, ob er jetzt wirklich empört war oder nur so tat.

Es war eben schwer, Dinge über Theodor rauszufinden. Also, richtig normale Fakten und belastbare Details. Aber irgendwie mussten wir es ja trotzdem versuchen. Und obwohl wir die Geschichte mit der Backpfeife alle kannten, hatte sich jetzt sogar Jonny nach vorne gebeugt, vielleicht kam da ja jetzt noch mehr.

Clint: »Und dann?«

»Ich flog von der Schule« – Theodor machte an dieser Stelle eine bedeutungsvolle Pause und erklärte dann nickend, mit zusammengekniffenem Auge: »Aber das war ja von mir geplant.«

Clint: »Wie? Und dann?«

Theodor, stolz: »Ich zog nach Berlin.«

Das war wirklich etwas Neues.

Jonny, ungläubig: »Wie alt warst du?«

»So fünfzehn.«

Ich: »Darf man das?«

»Man muss ein bisschen aufpassen, aber es geht.«

»Kann ich dann auch nach Berlin ziehen?«, fragte ich, um zu testen, ob Theodor es mir verbieten würde.

»Klar! Wahrscheinlich müssen wir nächste Woche sowieso für längere Zeit nach Berlin. Ein Bekannter will da ein Wettbüro eröffnen, und ich mache mit, wie es aussieht«, antwortete Theodor und überholte, weil Überholen das war, was er auf der Straße für seinen Job hielt. Hinter uns wurde, normal, gehupt.

»Wir fahren nach Berlin?«, rief Clint erfreut und trommelte mit seinen Füßen gegen die Rückbank.

Theodor nickte. »Klar fahren wir nach Berlin.«

»Aber wir haben nächste Woche doch Schule!«, bemerkte Jonny seufzend.

»Wenn ich nach Berlin ziehe, gehe ich natürlich da zur Schule«, sagte ich aufgeregt und versuchte, Theodor meinen bevorstehenden Umzug plastischer zu machen.

»Alter, natürlich kannst du nicht nach Berlin ziehen«, bemerkte Jonny und sah mich genervt an, »du bist noch nicht mal neun. Außerdem geht es um nächste Woche, du Depp!«

Ich zeigte ihm den Mittelfinger. Er drehte sich weg und lehnte den Kopf an das Seitenfenster, durch das man nicht hindurchgucken konnte, weil es ein Leichenwagen-Fenster aus Milchglas war. Ein Palmwedel war auch darauf.

Clint, der ruhig das Ende unser Diskussion abgewartet hatte, machte weiter mit seinem Verhör:

»Was hast du in Berlin gemacht, Theodor?«

»Geld verdient.«

»Womit?«, bohrte Clint.

»Mit Autos gehandelt zum Beispiel«, antwortete Theodor knapp.

»Und wie noch?«

»Dies und das. Ich war auch Türsteher und Croupier.«

»Was ist ein Croupier?«

Theodor, genervt: »Warum willst du denn das alles wissen?«

»Weil ich halt wissen will, was du alles gemacht hast!«, sagte Clint ein bisschen gekränkt.

Theodor nickte nachdenklich, das Auge wieder auf den Punkt gerichtet, den keiner kannte. Er sah auf die Rolex-Uhr an seinem breiten Handgelenk, deren Verschluss immer so schön klackerte, wenn Theodor schaltete. Er musste abbremsen.

»Jungs, wir können diese Verkehrslage hier gerade wirklich nicht gebrauchen. Das macht einen ja wahnsinnig! Rolf wartet schon. Später müssen wir auch noch bei Kalli vorbei«, sagte Theodor, mehr zu sich selbst und wie einer, der sich darüber klarwerden möchte, was jetzt zu tun ist.

»Warum müssen wir denn heute schon wieder auf den Schrottplatz? Da ist es immer arschkalt«, maulte ich, legte meinen Kopf an das Fenster der Beifahrertür und sah in den Himmel, der so tief hing, dass er kurz über den Häusern endete.

»Du sollst nicht Arsch sagen, Romy, das habe ich dir schon zweiunddreißig Mal erklärt«, sagte Theodor mit leicht ansteigender Stimme. »Rolf leiht mir seine Flex aus, weil wir die in Berlin brauchen. Außerdem hat der Benz schon wieder Probleme mit dem Anlasser, und du willst doch nicht, dass wir auf halber Strecke liegenbleiben, mein Täubchen.«

»Dauernd müssen wir zu dem blöden Schrottplatz.«

Ich versuchte genervt, aber nicht zu frech zu klingen, sonst würde Theodor vielleicht ausflippen. Ich hasste den Schrottplatz, weil sich da noch mehr Scheiße stapelte als bei uns zu Hause. Da gab es nichts, was schön war. Nur Dreck und kaputte Sachen, und alles war eckig und ohne Ordnung. Und Rolf, dem der Schrottplatz gehörte, konnte Sachen nicht normal sagen, er musste immer schreien, also echt jeden Satz. Außerdem schwitzte er auf der Nase, und ich hatte schon bestimmt drei Mal gesehen, dass ihm da ein Popel raushing.

»Also, was hast du noch gearbeitet außer Türsteher?«, nahm Clint den Faden wieder auf. Ich seufzte.

Theodor holte Luft, so, als koste ihn dieses Gespräch große Überwindung.

»Autos gehandelt zum Beispiel.«

Jonny zog die Augenbrauen hoch: »Sagtest du schon!«

Clint: »Und? Weiter?«

»Ich wohnte da direkt neben einem Schrottplatz und machte nebenbei mein Abitur und studierte dann Medizin. Ich habe immer mein eigenes Geld verdient!«

»Okay. Und wann hast du … Mama kennengelernt?«, fragte Clint vorsichtig, am Ende des Satzes fast flüsternd.

Theodor antwortete langsam, wie einer, der Idioten etwas zum Mitschreiben diktiert: »Mir war es immer wichtig, unabhängig zu sein! Das ist überhaupt mein Rat an euch: Guckt, dass ihr euch um eure Mobilität kümmert und schnell euer eigenes Geld verdient, dann kann nicht viel passieren.«

»Damit man nicht der Arsch der Nation ist«, bekräftigte Clint.

Theodor: »Ganz genau. Damit man nicht der Arsch der Nation ist.«

»Aber wann hast du Mama kennengelernt!? Das war die Frage, Theodor!«, erinnerte ich ihn und war erstaunt über meinen Mut, machte mir aber wenig Hoffnung.

Es redeten sowieso alle durcheinander.

»War deine Mutter auch irgendwie nett?«, fragte Jonny plötzlich, nachdem er vorher länger nichts gesagt hatte.

Ich, laut: »Mann, was hat das denn jetzt damit zu tun?«

Clint, lauter: »Romy, halt’s Maul!«

»Du sollst nicht halt’s Maul zu deiner Schwester sagen!«, sagte Theodor, am lautesten.

»Also, klar war die Mutter nett. Aber sie war eigentlich eher ein Mann«, meinte er dann und genoss den darauf folgenden Effekt seiner Analyse.

»Ein Mann?«

Ich tippte mir noch mal an die Stirn.

»Hä?«, machte Clint.

Jonny schwieg, aber er hatte sich vorgebeugt.

»Sie hat mich nur bekommen, weil sie es konnte, und deswegen war sie wahrscheinlich ein bisschen sauer auf mich«, erklärte Theodor, als läge diese Vermutung auf der Hand.

Jonny, skeptisch: »Wie ›sauer‹?«

»Na, das vermute ich. Psychologisch gesehen.«

»Was ist psychologisch?«, flüsterte ich.

»Die menschliche Psyche betreffend«, stöhnte Theodor.

»Warum psychologisch?«, fragte Jonny, noch immer misstrauisch.

»Wegen unserer Prügeleien zum Beispiel. Die alte Dame konnte ziemlich austeilen, aber ich habe auch zurückgehauen. Später ist sie ja dann nur noch um die Welt gesegelt, das letzte Mal habe ich sie in den frühen Siebzigern gesehen!«

»Was du sagst, ist unlogisch«, bemerkte Jonny und lehnte sich enttäuscht wieder zurück.

»Und dein Vater?«, fragte Clint.

»War Jurist. Hat mich auch immer verteidigt«, sagte Theodor und fing nun von selber an zu reden: »Der Vater war ein Geistesmensch. Dem Wesen nach ein Künstler, aber die Mutter hat ihm das verboten, und deswegen hat er Geld verdient. Meine künstlerische Ader habe ich jedenfalls von ihm. Na ja, und irgendwann hatte der Vater dann die Schnauze voll und ist nach Moskau abgehauen, wo er Konditor in einem Luxushotel wurde. Da konnte er seine Kreativität ausleben. Er hat zum Beispiel einen Porsche 356 Nr. 1 Roadster aus Marzipan hergestellt und mir ein Foto geschickt, nur habe ich es nie geschafft, ihn in Moskau zu besuchen.«

»Bist du deswegen traurig?«, fragte Clint mit einer Stimme, die klang, als rede eine Mickymaus, die Kette rauchte.

Theodor legte den Kopf schief und formte mit seinen Lippen ein O.

»Klar macht einen so was auch traurig«, sagte er dann. Er überlegte. »Aber eigentlich bin ich schon ganz zufrieden, solange ihr mir keine Schwierigkeiten macht.«

»Okay, dann erzähl noch mal bitte, bitte die Geschichte, wie du dein eines Auge verloren hast, als du auf der Autobahn mit hundertvierzig Sachen vom Motorrad abgestiegen bist«, bat Clint.

Aber da waren wir schon angekommen.

Theodor stieg aus.

»Komme gleich wieder.«

Draußen hatte es angefangen zu schneien, und »gleich« konnte bei Theodor eben auch richtig lange heißen.

2

Theodor ist weg. Wir sitzen im Wohnzimmer und warten auf ihn, seit wir entschieden haben, dass wir uns treffen sollten, und dann alle in das Dorf gefahren sind, in dem Theodors Haus steht, unser altes Haus. Da sitzen wir jetzt und warten und wissen nicht, wie groß unsere Sorgen sein sollten. Jonny war es, der gesagt hatte: »Passt auf, wir treffen uns in einer Stunde bei Theodor zu Hause.« Und wenn Jonny das sagt, dann machen wir das natürlich. Inzwischen ist Theodor seit neun Tagen verschwunden. Seither geht er nicht mehr ans Telefon. Er ist verschwunden, ohne eine Nachricht hinterlassen oder angerufen zu haben, was umso merkwürdiger ist, als heute unser Geburtstag ist, also, der von Clint und mir. Alle Nummern, die wir kennen, haben wir angerufen, Jonny hat mit den Leuten in der Praxis gesprochen, aber da weiß auch keiner was, die Autos stehen alle in der Garage oder vor dem Haus, die Motorräder auch.

Auf dem Tisch liegen Pizza-Kartons und unsere Telefone. Der Tisch ist von einem klebrigen Film überzogen, auf dem sich Staub abgesetzt hat. An einigen Stellen sind kreisförmige Abdrücke zu erkennen. Die Vorhänge sind zugezogen, aber nicht vollständig, der Abend steht schwarz vor dem Fenster, das auf die Terrasse führt, und obwohl es draußen dunkel ist und hier drinnen nur die funzelige Wohnzimmerlampe brennt, erkennt man, wie dreckig es überall ist, und obwohl es nie anders war, ärgere ich mich über den Schmutz. Auch über den schwarzen Motorradrahmen, der auf einer blauen Plane mitten im Wohnzimmer liegt, ärgere ich mich.

Jonny sitzt auf dem beigefarbenen Massagesessel, den Sultan damals gekauft hat, und spielt an dem Knopf, mit dem man die Lehne verstellen kann. Das schwerfällige Surren des Elektromotors durchschneidet die Stille im Wohnzimmer. Es nervt. Das heißt, eigentlich ist es Jonny, der nervt. Er legt die Füße auf den Tisch, er nimmt sie wieder runter, er greift nach der Whisky-Flasche, die Theodor gehört und auf dem Tisch steht, er gießt Theodors Whisky in ein Glas und trinkt und springt auf und geht ein paar Schritte und setzt sich wieder. Seine Blicke wandern hektisch im Raum herum, und er sagt zum zweiten Mal, dass wir vielleicht doch die Cops anrufen sollten, um im selben Satz zu erklären, dass die uns jetzt auch nicht helfen können, weil Cops einem nie helfen, sondern im Gegenteil eher Probleme machen.

»Wir sollten Kalli fragen. Vielleicht weiß der etwas«, sagt Clint, der neben mir auf dem jahrhundertealten Ledersofa sitzt, bei dem die Federn unten raushängen. Das Leder ist da, wo man sitzt, inzwischen so ölig schwarz. Clint sucht nach etwas in seiner Hosentasche.

»Kalli weiß überhaupt nichts mehr. Sein Gehirn hat sich längst aufgelöst«, sagt Jonny leise. Er zündet sich eine Zigarette an und sieht dem Rauch nach, den er in die Luft bläst, so als könne der ihm verraten, was jetzt zu tun ist. Er lässt sich wieder in den Massagesessel fallen. Die Zigarette im Mund, fährt er mit den Handflächen über die alten Zeitungen, die sich auf dem Tisch stapeln, befreit seine Hände von Staub, indem er sie an seiner Hose reibt, und verzieht das Gesicht.

»Der wird schon wieder auftauchen«, sage ich, um die Situation besser zu machen. Wir waren uns sicher, dass Theodor spätestens heute wieder auftauchen würde. Denn wir treffen uns absolut immer und feiern Geburtstag, obwohl wir natürlich nicht feiern, wie man normalerweise feiert. Theodor mag Geburtstage nicht, was soll das Theater, sagt er, man kann doch nichts dafür, dass man Geburtstag hat, das ist doch keine Leistung, sagt er. Aber er vergisst sie nie. Er marschiert auf den Geburtstag zu, umarmt und zerdrückt uns, sagt »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag« und singt uns ein Geburtstagslied. Auf exakt diese Weise betreibt er Jahr für Jahr seinen Geburtstagsappell und kommt seiner Pflicht nach, obwohl er überhaupt nicht singen kann, denke ich und sage ich, lache und gucke, ob die anderen mein Lachen erwidern.

»Er singt echt schrecklich«, murmelt Clint, den Kopf über den Tisch gebeugt, auf dem er sein Koks zerkleinert, das er endlich in seiner Hosentasche gefunden hat und das er zwar nicht mehr vertickt, aber immer noch liebt wie verrückt. Ich liebe Clint aber auch. Und Jonny und Theodor. Aber bei uns sind viele Sachen anders, und das meine ich nicht so: Haha, zwinker, zwinker, unsere Familie ist echt supercrazy. Ich meine, bei uns stimmt das wirklich.

Doch ich liebe meinen Vater, das weiß ich, und er darf bitte nicht tot sein. Ich wüsste dann außerdem gar nicht, wen ich fragen soll, wenn ich mich mal wieder komplett verschuldet habe. Obwohl die Verhandlungen mit ihm immer zäh sind und er danach denkt, ihm gehöre mein Leben, kriege ich von ihm jedes Mal irgendwie Geld, und so bleiben wir in Kontakt. Das ist es, was wir gemeinsam tun, über Geld streiten und über Zinsen verhandeln und neue Verträge machen. Wir haben tausend Verträge, sie reichen zurück bis in die späten achtziger Jahre. Theodor führt über die Beträge und die Rückzahlungsvereinbarungen in einem kleinen Buch mit braunem Ledereinband ein exaktes Protokoll. Das Buch mit unseren Verträgen. Sonst haben wir nichts. Aber das stimmt so auch nicht ganz.

Ich betrachte die weißen Leinwände, die an dem Bücherregal lehnen und die Theodor mit seiner Kunst bemalt. Vor den Buchrücken stehen kleine Farbtöpfe, an deren Außenseiten die Farbe in Rinnsalen nach unten gewachsen und geronnen ist. In einem von Farbresten verschmierten Gurkenglas stehen Pinsel mit dysfunktionalen Borstenköpfen, und es sieht wirklich aus, als wäre hier seit hundert Jahren keiner mehr gewesen, und so riecht es auch. Nach alter Luft. Eine Restnote Terpentin, Motorenöl, Zigarrenrauch und Schweiß, dazu Heizungsöl aus dem Keller, Fett aus der Küche, Kopffett auf der Sofalehne, und das alles vermischt und gespeichert in sämtlichen Textilien des Hauses.

»Gib mal einen Schein«, sagt Clint. Ich suche in meiner Tasche und reiche ihm einen Fünfer. Clint legt sich eine Bahn, er denkt, das darf man ohne weiteres am frühen Abend, wenn einem der Vater abhandengekommen ist. Seine Augen sind weit aufgerissen, die Pupillen riesig, wie ein Fuchs im Scheinwerferlicht sieht er aus.

Jonny läuft vor dem Bücherregal auf und ab. Er sagt, der Whisky sei ganz okay, zu okay, um von Theodor gekauft worden zu sein, also ein Geschenk wahrscheinlich. Wir lachen alle laut auf, in Gedenken an Theodors Billig-Besessenheit, wobei Jonny als Erster wieder verstummt.

Die Billig-Besessenheit ist es auch, die ich Theodor entgegenhalte, wenn er mir sagt, was er mir, seit ich denken kann, sagt, nämlich: »Romy, du hast doch im Grunde eine ganz überschaubare Kostenstruktur. Es handelt sich um ein simples marktwirtschaftliches Prinzip, das du begreifen musst: Man kann nur so viel ausgeben, wie man einnimmt. Wann kapierst du das endlich?«

Und ich darauf dann etwa so: »Nie, und es ist deine Schuld, denn nur deinetwegen habe ich ein vollkommen gestörtes Verhältnis zum Geld entwickelt. Ich kann dir das schwarz auf weiß geben, wenn du willst. Wissenschaftlich belegt!«

Ich weiß, dass es bescheuert ist, Theodor die Schuld zu geben, das ist Blödsinn, aber ich versuche eben, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Ich studiere Psychologie (trage mich aktuell allerdings mit dem Gedanken, es abzubrechen), nur leider gibt Theodor nicht besonders viel auf mein Fachwissen und weigert sich, den Zusammenhang zwischen meinem und seinem komischen Geldverhältnis anzuerkennen, welcher wahrscheinlich auch nur bedingt richtig ist. Am Ende ist eh alles Quatsch.

Neben mir saugt Clint das Koks in seine Nase. Jonny steht mit dem Rücken zu uns vor dem Terrassenfenster und guckt in die Dunkelheit. Links von ihm liegen Theodors Holzclogs, deren Leder er schon x-mal geflickt hat. Ich klopfe dreimal auf den Holztisch, weil ich jetzt wirklich glaube, dass Theodor tot ist, und will, dass der Gedanke weggeht. Er hätte schon so oft tot sein können. Jeden Tag meines Lebens habe ich damit gerechnet, und zwar einfach weil ich dachte, wenn ich nicht damit rechne, dann passiert es doch, weswegen ich gezwungen war, damit zu rechnen, sonst wäre ihm etwas passiert. Und so ist nie etwas passiert. Aber heute, denke ich, vielleicht auch weil Jonny so nervös ist, heute könnte etwas passiert sein. Ich sehe seinen zermatschten Schädel an einer Leitplanke kleben, den Holzclog alleine brennend auf der Autobahn liegen, oh Gott, wie mich jetzt dieser verlassene Schuh rührt, obwohl der Fuß und was dranhängt doch so ein Arschloch ist und obwohl der Holzclog ja da neben Jonny steht. Und dass Theodor ein Arschloch ist stimmt so eben auch nicht. Aber ich habe mir so oft vorgestellt, dass ihm etwas passiert, und ja, es ist nie etwas passiert, aber jetzt hier könnte doch was sein. Nur damit wir endlich mal wissen, wie es ist, wenn wirklich etwas mit ihm gewesen ist. Vielleicht wäre dann alles anders, vielleicht wäre es eine Erleichterung. Aber so will ich nicht denken. Ich klopfe noch mal auf das Holz, drei Mal und so fest, dass ich mir danach die Knöchel halte.

»Was machst du denn da?« Jonny dreht sich um und guckt, als hätte ich ihm vor die Füße gespuckt.

»Nichts«, sage ich und muss noch mal dreimal klopfen, sonst ist Theodor tot.

3

Die noch unfertigen Gemälde hießen, soweit ich mich erinnere, Der Fuchs in der Waschmaschine und Porsche-Blues. Auf jeden Fall konnte niemand vorne neben Theodor sitzen, weil dort schon die Bilder lagen, an denen er in Berlin ein bisschen arbeiten wollte und um deren Sicherheit und unbeschadetes Ankommen er sich massiv Sorgen machte. Kalli, Jonny, Clint und ich mussten uns auf der Rückbank zusammenzwängen, wo sich, wie gesagt, nur einer anschnallen konnte.

Kalli hielt seine Vogelspinne Luise in einer durchlöcherten Tupperdose auf dem Schoß, weil er niemanden gefunden hatte, der auf sie aufpassen wollte. Aber wenn er ganz ehrlich sei, sagte Kalli hinter vorgehaltener Hand zu mir, würde er sie auch gar keiner fremden Person anvertrauen wollen.

Ich wollte wissen, wieso nicht.

»Luise hat heute keinen guten Tag. Sie ist ganz aggressiv«, nuschelte Kalli durch seine restlichen Zähne hindurch und zündete sich eine Roth-Händle an. Gemeinsam beobachteten wir durch die weiße Tupperdosen-Wand Luises bedrohliche Spinnen-Bewegungen.

Der Leichenwagen-Motor war laut, das Werkzeug auf der Ladefläche klapperte, seit ein paar Stunden waren wir auf dem Weg nach Berlin. Theodor hatte uns schulfrei gegeben.

Luise klopfte mit einem Bein gegen die Wand und wirkte dabei wirklich extrem ungeduldig.

»Habt ihr das gesehen? Wie sie eben in Kampfposition war? Ich sage doch, sie ist ganz aggressiv«, rief Kalli, der sich, wenn er redete, immer so anhörte, als habe er sehr viel Spucke im Mund. Ich vermutete, dass das an seinen fehlenden Zähnen lag.

»Warum ist Luise aggressiv?«, fragte Jonny, nicht übermäßig interessiert.

»Sie ist vom Wesen her eigentlich eine Amazone. Sie mag es nicht, wenn sie zum Reisen genötigt wird. Sie ist sehr dickköpfig. Wenn ich zu wenig mit ihr spreche, guckt sie mich manchmal fast vier Tage nicht an. Da ist sie wie meine liebe tote Frau Marie-Luise, deswegen heißt sie übrigens auch Luise, comprende

Das Tolle an Kalli war, dass er alles, was wir ihn fragten, ernst nahm.

Mit einem Feuerzeug öffnete er eine Flasche Bier. »Früher konnte ich das mit den Zähnen!«

»Hattest du auch eine Pistole?«, fragte Clint.

»Ja, klar. Ich war mal Waffenhändler, verstehst du? Liegt alles bei mir zu Hause.«

Kalli rückte sich seine dunkelblaue Wollmütze auf dem Kopf zurecht, und ich betrachtete ihn von der Seite: Seine dünne Haut, die unterhalb der Wangenknochen und auf der Stirn faltig war und aussah wie ein Vulkangestein. Das Grau seiner Haut, das jedoch noch nicht seine schwarzen Haare und den Bart besiegt hatte, nur an einigen Stellen waren graue Strähnen zu sehen. Der trockene, irgendwie abgewetzte Mund, seine Augen, auf denen immer ein leichter Schleier lag (vom Alkohol, sagte Theodor), und die vollen Brauen darüber, die er sich leider manchmal ansengte, wenn er sich eine Roth-Händle anzündete, was er quasi ständig tat, so auch jetzt.

»Kalli, pass auf!«, rief ich, als die Zippo-Flamme nach oben schoss, und dann: »Ich finde, du siehst aus wie ein richtiger Pirat. Theodor hat mir erzählt, dass du sogar schon mal eine Bank überfallen hast.«

»Na ja, eigentlich ist ja Theodor hier der Pirat, aber er will ja keine Augenklappe anziehen.« Kalli gluckste, und ich schubste ihn ein bisschen. Theodor saß vorne hinterm Steuer und reagierte nicht.

»Hast du jetzt eine Bank überfallen oder nicht?«, fragte Jonny, der wie immer gerne zum Punkt kommen wollte.

»Ja, aber sehr erfolglos. Ich wurde gleich geschnappt, aber ich hab nicht gesungen. Rolf war ja dann für eine Weile in Thailand.«

Im Rückspiegel sah ich Theodors Auge flink zwischen uns und der Fahrbahn hin- und herspringen. Es war geisterblau. Theodor rief, um den Motor zu übertönen: »Ich würde gar nicht sagen, dass du kein Talent hast, Kalli. Das war nur der Alkohol. Deswegen hast du vergessen, dir den Strumpf übers Gesicht zu ziehen.« An Theodors Auge sah ich, dass er grinsen musste und nur ernst blieb, weil er sich so witziger fand. Man konnte ihn schon sehr mögen, wenn sein Auge lachte, fand ich.

»Theodor, das ist aber nicht korrekt von dir. Nicht vor den Kindern, Himmel, Arsch«, brummte Kalli, und Jonny bot ihm aus Loyalitätsgründen eine Hand zum Einschlagen an.

Clint hatte geschwiegen und fingernägelkauend vor sich hin gestarrt, so als hätte er es gerade mit einem Problem zu tun. Jetzt drehte er sich ruckartig um und trug mit rauer Comicstimme sein Anliegen vor: »In der Schule habe ich erzählt, dass mein Papa einen echten Bankräuber kennt, aber es hat mir keiner geglaubt. Mir glaubt immer keiner was. Wie kann ich es schaffen, dass die mir glauben, dass du mal ein Bankräuber warst? Immer sind wir der Arsch der Nation!«

Ich wusste, dass das eine Sache war, die Clint beschäftigte, denn er hatte mich vor kurzem auf dem Schulhof als Zeugin gerufen, und ich hatte es bezeugt. Vor Toy 1 (so ein Spast, der nur Nike-Sachen hatte und immer von der Schule abgeholt wurde) und vor Toy 2 (gegelter Igelhaarschnitt mit einem roten Tuch um den Kopf gebunden und ziemlich fett). Die beiden hatten sich wenige Wochen zuvor einen Spaß daraus gemacht, Clint für die Dauer des Sportunterrichts in ihre Gang aufzunehmen, um danach in der Umkleide in eine Tüte zu furzen, Clint zu sagen, da wären Cola-Kracher drin, und Clint, nachdem er sich vorsichtig genähert hatte, die ekelhafte Tütenluft ins Gesicht zu blasen. Jetzt bezichtigten sie Clint der Lüge. Mit bestem Gewissen bezeugte ich also vor den größten Trotteln unserer Stufe die Tatsache, dass unser Vater einen Bankräuber kannte, wobei ich diese Jungs unter normalen Umständen nicht mal anzugucken bereit gewesen wäre, weil ich wusste, dass sie uns für Asoziale hielten, für Flodders. Aber wir sind keine Flodders, unser Vater ist Arzt, klar? Wir haben mehr Geld, als eure Scheißväter in einem verschissenen Jahr verdienen, und wir diskutieren zu Hause die blaue Phase von Picasso, während eure Scheißeltern überhaupt nicht wissen, wer Scheißpicasso war! Unser Vater malt sogar fast so gut wie Picasso und macht Ausstellungen! Wie, ihr glaubt nicht, dass er erst letzte Woche in der Volksbank eine Vernissage hatte? Tja, das liegt wohl daran, dass ihr nicht mal wisst, was eine Vernissage ist!

Es hatte gerade zum Ende der Pause geklingelt, der Schulhof leerte sich, aber die beiden waren noch nicht fertig mit uns. Ich hatte zu dem einen gesagt, dass er nicht immer alle Cola-Kracher aufessen soll, weil er sonst noch fetter werden und bald explodieren würde. Die beiden gingen auf uns zu, wir wichen nach hinten aus, sie kamen näher, und dabei rümpften sie die Nasen und fragten sich gegenseitig, was denn hier so stinke, woraufhin Clint Toy 2 vors Schienenbein trat, und ich hatte wirklich keine Ahnung, wie wir aus der Nummer wieder rauskommen sollten, weil Toy 2 Clint nach dem Schienbeintritt umgehend in den Schwitzkasten genommen hatte und Toy 1 sich daranmachte, ihn leidenschaftlich zu ohrfeigen.

Aber dann kam Jonny. Er packte Toy 1 von hinten und schmiss ihn auf den Boden. Dann schlug er ihm mit der Faust ins Gesicht, ein, zwei, drei Mal. Toy 1 röchelte und spuckte einen Zahn aus, das Blut schoss ihm splattermäßig aus der Nase. Okay, das ist ein bisschen übertrieben, aber er flennte und bat um Gnade. Der Junge mit dem Igelhaarschnitt ließ von Clint ab und stand unsicher herum, und Clint nutzte die Chance, ihm, so fest es ging, in seinen Speckbauch zu beißen. Der Igelhaarschnitt ergriff snitchmäßig die Flucht, das heißt, er rannte ins Lehrerzimmer und petzte (wofür ich wirklich kein Verständnis hatte, man petzt einfach nicht, egal was). Wenig später wurden wir abgeführt und saßen im Büro der Schuldirektorin, die ihren seriösen Lockenkopf schüttelte und schwer atmend Theodor anrief. Eine halbe Stunde später kam Theodor mit seinem Motorrad auf den Schulhof gefahren und parkte exakt vor dem Haupteingang, wie wir vom Fenster aus beobachten konnten. Er trug einen Helm, und sein Bart regnete, weil es inzwischen in Strömen goss, die Lederjacke machte ihn noch breiter, als er sowieso war, und bedauerlicherweise trug er keine Augenklappe. Ich wünschte in diesem Moment, dass die Trottel, mit denen wir gekämpft hatten, ihn sehen könnten, dann hätten sie bestimmt nie wieder etwas gesagt oder uns als Lügner beschimpft. Mehr wollten wir ja gar nicht. Theodor stand in der Tür, groß wie ein Baum, breitbeinig, und in einem guten Film wäre an dieser Stelle »His Name is King« gespielt worden.

»Grüß Gott, gnädige Frau.« Theodor ging langsam auf die Direktorin zu und hielt ihr seine Hand entgegen. Er verbeugte sich leicht. Die Direktorin kannte Theodor schon. Mit einer Mischung aus Mitleid, Unglaube und Respekt lächelte sie ihn tapfer an und räusperte sich. »Bitte setzen Sie sich doch.«

»Freut mich, Sie wiederzusehen«, sagte Theodor und betrachtete extrem entspannt das Büro-Interieur der Direktorin, die sich eine Auswahl beruhigender Landschaften mit Seerosen und im Wind wogendem Getreide an die Wände gehängt hatte. Ich wurde ungeduldig und wollte, dass Theodor endlich seinen Helm abnahm und sich setzte, wie sich die Direktorin das gewünscht hatte. »Theodor, der Helm«, flüsterte ich. Er kniete sich vor Clint, Jonny und mich, küsste uns und zog sich schließlich zeitlupenmäßig seinen Helm vom Kopf. Unter seiner Lederjacke trug er seinen Arztkittel, den er sich in die verbeulte Hose gesteckt hatte, an seinem Hals baumelte ein Stethoskop, und ich sah, dass er sich eine Krawatte umgebunden hatte. Und dann endlich setzte er sich.

Die Direktorin informierte ihn über »den Zwischenfall«, er legte einen Finger an die Nase, lauschte andächtig, nickte, unterbrach sie kein einziges Mal, sagte hin und wieder »Ja, ist völlig klar« und rückte sich die verbogene Brille gerade. Ein großer Tropfen hing zitternd an seiner Nasenspitze. Vorsichtig trat ich ihn, damit er zu mir sah und ich ihn darauf aufmerksam machen konnte, während die Direktorin redete und redete und im Grunde immer nur sagte, wie schiefgewickelt wir wären. Dabei tanzten ihre sauberen Hände mit den gefeilten Nägeln und den perfekten Nagelbetten ohne einen einzigen Riss oder eine Unregelmäßigkeit durch die Luft. Wenn sie am Ende eines wichtigen Satzes angekommen war, faltete sie die Hände, und man sah ihre ruhenden, aufgeräumten Direktorinnenhände auf ihrem Schreibtisch liegen, und dann richtete sie ihren Oberkörper auf. Sie lächelte und redete weiter von den Glaubenssätzen ihres pädagogischen Wirkens, dass an dieser Schule Gewalt nicht geduldet würde, »Herr Doktor«, und dass sie sich ja unserer besonderen Situation durchaus bewusst wäre, dass eine angemessene Entschuldigung bei den Opfern allerdings dringend nötig sei und dass sie es weiter für dringendst angezeigt halte, dass wir an dem Anti-Aggressions-Training teilnehmen, wirklich, »Herr Doktor«, weil derartige »Zwischenfälle« leider schon zu oft passiert seien, eine gewisse Schwelle sei hiermit überschritten, Alarmglocken läuteten bei ihr, und ob man sich nicht doch besser »Unterstützung« holen sollte, das sei überhaupt nichts Schlimmes und so weiter, und dann war sie fertig und wartete auf die Stellungnahme Theodors.

Theodor räusperte sich und sah an die Decke. Die Beine übereinandergeschlagen (Hose absurd verdreht in Stiefel gestopft) und die Hände im Schoß gefaltet (Fingernägel mit schwarzen Rändern), saß er da und machte erst mal gar nichts. Er räusperte sich noch einmal und erklärte dann endlich, dass er das alles jetzt erst mal »zur Kenntnis« nehme, kleinen Moment bitte. Keiner sagte etwas, Clint rutschte auf seinem Stuhl herum und wippte mit den Beinen, Jonny starrte auf seine Hände, ich zu Theodor, die Direktorin lächelte angestrengt. Theodor musste dann laut und lange husten, und nachdem er sein Husten mit einem gurgelnden Kehle-von-Schleim-Befreiungs-Geräusch beendet hatte, fing er an: Er gebrauchte viele Fremdwörter, weswegen ich nur die Hälfte verstand. Er senkte seine Stimme und redete vom Tod unserer Mutter, der uns immer noch sehr zu schaffen mache, und dass er längst auf der Suche sei nach einer geeigneten Therapie für uns, vom Jugendamt würde er jedoch gerne bis auf weiteres keinen Gebrauch machen.

»Was – Therapie?«, fragte Jonny entgeistert und richtete zum ersten Mal seinen Blick nach oben, weg von seinen Händen. Clint und ich guckten ebenfalls erschrocken zu Theodor, der die Augenbrauen bescheuert zusammenzog, so, wie er das wahrscheinlich in Vorabendserien bei diesen unangenehm fürsorglichen Ärzten gesehen hatte.

»Ja, das wird nötig sein.«

Die Direktorin strahlte und begann in ihren Schubladen nach Broschüren und Telefonnummern zu suchen.

 

Später saßen wir bei McDonald’s, was eine Ausnahme war. Aber irgendwie hatten wir Theodor überreden können, der nach dem Gespräch mit der Direktorin bester Laune war. Ich fand, dass McDonald’s ein richtig guter Ort war. Die modernen Tische und Lampen und die Angestellten mit ihren gestreiften Hemden und Mützen und das leckere Essen, ich liebte das alles sehr.

»So eine Schnepfe, das sehe ich sofort!«, sagte Theodor. Er klaute sich von Clint eine Pommes, weil er aus Kostengründen nichts für sich selber bestellt hatte.

Jonny fragte mit vollem Mund: »Was siehst du sofort?«

»Du sollst nicht mit vollem Mund reden! Dass die eine Schnepfe ist, sehe ich sofort. Eine bürgerliche Schnepfe. Ich bin im Grunde meines Herzens ja auch zutiefst bürgerlich, das wisst ihr alle.«

Und er sah in unsere Gesichter, die nur Augen für das McDonald’s-Essen hatten, was ihn ermutigte, weiter und lauter zu reden. Es war einer dieser Momente, in denen er, beschwingt durch seinen Sieg über die Direktorin, davon ausging, besonders druckreife, kluge Dinge zu sagen.

»Ich bin aber in einem ganz anderen Sinne bürgerlich, das heißt: Ich bin für eine umfassende Bildung im humanistischen Sinne, und ich bin für Klarheit. Das zieht sich wie ein roter Faden durch mein Leben. Klarheit darf man aber nicht mit Vorschriften-Religiosität verwechseln, und diese Schnepfe, das sieht man eben als einigermaßen geübter Beobachter, ist eine Vorschriften-Schnepfe. Steht in einer Vorschrift, dass Bach ein Genie war, geht sie ins Kaufhaus und kauft sich alles von Bach. Sie ist einfach eine dumme Bach-Gans, versteht ihr das?«

Theodor sprach zu laut. Clint und ich sahen uns an, weil es uns nervös machte, wenn er so war. Wir drehten uns um, um zu gucken, ob die anderen Gäste uns bereits als merkwürdig identifiziert hatten.

Theodor, wieder zu laut: »Ist das klar geworden?«

Ich nickte eifrig, um zu verhindern, dass er noch lauter wurde, Jonny zuckte mit den Achseln.

»Aber das ist doch ganz einfach, das liegt doch bitte auf der Hand! Sie ist eine bürgerliche Bach-Schnepfe, weil ihr Kopf zugestellt ist durch einen Schilderwald voller Vorschriften. Schilder sind schlecht, merkt euch das. Deswegen liebe ich das Anarchische und mag die Kirche nicht. Vereine sind auch scheiße.«

»Hast du getrunken?«, erkundigte sich Jonny und machte mit dem Daumen und dem kleinen Finger das Zeichen für Trinken.

»Sei nicht so vorlaut!«, hustete Theodor, der sich beim Aufregen verschluckt hatte.

»Was ist anarchisch?«, fragte ich.

»Wenn man macht, was man für richtig hält«, sagte Theodor.

»Und wenn ich es jetzt für richtig halte, Clint sein Softeis wegzunehmen, bin ich auch ein guter Anarchist?«

Jonny sagte manchmal, ohne eine Miene zu verziehen, Dinge, dass man dachte, er sei nicht zwölf Jahre alt, sondern der Älteste und Klügste im Raum.

»Das hältst du natürlich nicht für richtig, weil das nicht richtig ist, und das weißt du. Stell dich nicht blöd! Damit kann ich nicht umgehen!«, schimpfte Theodor.

Wir aßen schweigend unser Softeis. Jonny dachte nach.

»Da habt ihr den Jungs aus eurer Stufe also richtig eins auf die Mütze gegeben, ja?«, unterbrach Theodor die Stille.

Wir nickten.

»Wir müssen doch nicht wirklich zur Therapie, oder?«, fragte Clint mit vollem Mund. Theodor schlug mit der Faust auf den Tisch, und wir zuckten zusammen. Die Leute am Nebentisch, Eltern mit zwei dicken Kleinkindern, die die ganze Zeit über gekaut hatten, als würden sie beten, sahen von ihrem Essen auf zu uns herüber. Ich lächelte sie entschuldigend an.

Vorsichtig sagte Jonny in die Stille: »Du kannst doch aber als Anarchist nicht anderen verbieten, anarchistisch zu sein. Clint hält es eben für richtig, mit vollem Mund zu reden.«

»Aber ich halte es für falsch!«, entgegnete Theodor und grinste sein Jack-Nicholson-Grinsen.

»Und? Müssen wir jetzt zur Therapie oder nicht?«, fragte ich noch mal.

»Quatsch, papperlapapp. Ich bin euer Therapeut!«, sagte Theodor. »Wir haben doch Spaß zusammen. Aber wir müssen uns ein bisschen vorsehen, sonst hetzt die uns wirklich noch das Jugendamt auf den Hals.«

 

Ich fand die Sache mit dem Jugendamt allerdings überhaupt nicht witzig. Weil wo sollte das hinführen? Dann steht irgendwann echt das Jugendamt vor der Tür und nimmt uns Theodor weg, der dann ganz alleine ist. Und Jonny und Clint auch. Da gibt es dann einen Speisesaal und wahrscheinlich auch einen Schlafsaal, und abends liegen die Kinder in ihren Betten und weinen und pinkeln sich gegenseitig in die Getränke, weil alles kaputt ist, und man ist ein Verbrecher, weil der eigene Vater ein Verbrecher ist, dem man ein Kind nicht anvertrauen darf. Das ist wie behindert sein, oder fett, oder kein Deutsch können, genauso wird man dann angeguckt und tut allen leid.

So stellte ich es mir vor, wenn ich abends im Bett lag und an Clints ruhigen Atemzügen vom anderen Ende des Zimmers hören konnte, dass er schlief. Ich überlegte mir, was passieren würde, wenn das Jugendamt käme, und dass das Jugendamt total falsch lag mit seiner Einschätzung, weil die ja überhaupt nichts über uns wussten. Die wussten zum Beispiel nicht, was für eine wunderschöne, normale Mutter wir hatten, die zwar tot war, aber sie war ja trotzdem unsere Mutter. Ich wollte, dass das Jugendamt und alle anderen das kapierten.

 

So hatte ich im Laufe mehrerer Nächte mehrfach beschlossen, mit Theodor sowohl über das Jugendamt-Problem als auch über unsere Mutter zu sprechen. Als wir dann nach Berlin fuhren, um ein Wettbüro zu gründen, und es hinten im Fond so ekelhaft nach Roth-Händle-Zigaretten stank, sah ich, dass genau jetzt auf dieser Autobahn der richtige Zeitpunkt gekommen war. Ich kletterte nach vorne auf den Beifahrersitz und setzte mich ganz vorsichtig neben die Gemälde. Theodor sagte nichts. Er wirkte sehr konzentriert, und ich dachte eine Weile nach, was ich ihn fragen könnte, um ein Gespräch zu beginnen.

Ich holte tief Luft.

»Wie geht’s?«

»Ganz gut, und selbst?«, entgegnete er sachlich.

Er sah auf die Straße, ich rutschte herum. Wie immer hatte er nur einen Mittelfinger am Lenkrad, sein Sitz war, so weit es ging, nach hinten gerückt, die Rückenlehne nach unten geschraubt. Er saß nicht im Auto, er lag, und er hatte einen Zahnstocher im Mund. Die Sonnenblende war heruntergeklappt. Von Jonny wusste ich, dass er das machte, damit er, wenn er geblitzt wurde, auf den Fotos nicht so gut zu erkennen war.

Ich fragte: »Ist das ein Diesel oder ein Benziner?«

Neulich auf dem Schrottplatz hatte Theodor Rolf die gleiche Frage gestellt, als es um ein anderes Auto gegangen war.

»Diesel natürlich«, antwortete Theodor durch die Zähne, um den Zahnstocher nicht fallen zu lassen. Er raste auf einen VW-Passat-Kombi zu, gab Lichthupe, drängte ihn zur Seite, und ich dachte, dass wir uns auf der Autobahn echt immer benehmen wie ein weißer Hai, wie so ein richtiges Arschloch.

»Aha«, sagte ich, »ich finde ja, Benzin riecht besser.«

Das fand ich wirklich. Wann immer sich die Gelegenheit ergab, schnüffelte ich an Tanköffnungen und Kanistern, weil ich den Geruch so unglaublich fand.

»Stimmt. Aber ist auch teurer«, sagte Theodor, und ich ärgerte mich kurz, dass er wieder mit seinem Billig-Fimmel ankam. Ich weiß nicht, ob ich es besser gefunden hätte, wenn Theodor gesagt hätte, dass ich nicht so oft an Benzin riechen soll, aber vielleicht schon.

»Hmm«, machte ich und dachte an mein Vorhaben und wie ich es am geschicktesten angehen sollte.

Theodor fuhr weiter auf der linken Spur, er fuhr so dicht an die Autos vor uns heran, bis sie ihm auswichen. Ich kniff die Augen zusammen und hielt die Luft an, wenn es eng wurde, und es wurde immer eng. So richtige Angst hatte ich aber nicht, denn mit Theodor passierte nie etwas. Außerdem wurde er sauer, wenn man Angst hatte. Ich überlegte weiter. Theodor schwieg.

»Wie lange hat der hier noch TÜV

»Ein Jahr. Schätze aber, das wird beim nächsten Mal problemlos über die Bühne gehen.«

Pause.

»Was wählst du eigentlich?«, erkundigte ich mich.

Ich wusste, was er jetzt sagen würde, und ich wusste, dass es ihm Spaß machen würde. Er ließ sich noch einige Sekunden Zeit.

»Mal so, mal so. Eigentlich kann man gar nichts mehr wählen, weil man es nur mit Armleuchtern zu tun hat.«

Ich nickte: »Hast recht.«

Er nickte: »Klar habe ich recht.«

Lichthupe. Durchziehen bis zum nächsten Auto.

»Wolltest du dir nicht bald ein Flugzeug kaufen?«

»Kann ich mir vorstellen. Dann müssten wir nicht mehr so viel im Stau stehen. Staus sind mir absolut zuwider.«

»Mir auch! Also lass uns doch ein Flugzeug kaufen!«

Theodor nickte und starrte stur geradeaus. Er fuhr sich mit der Hand über die Haare und murmelte dann: »Wahrscheinlich sollten wir das tatsächlich mal ins Auge fassen.«

Ich hatte eigentlich beschlossen, mit meinen Fragen, die ich in meinem Kopf schon perfekt formuliert hatte, noch bis zur nächsten Autobahnausfahrt zu warten, aber dann fragte ich doch schon eher:

»Findest du, dass ich Mama ein bisschen ähnlich sehe?«

Theodor schlug auf das Lenkrad. Ich zuckte zusammen.

»Nachtwächter!«, rief er. »Solche Nachtwächter! Hast du das gesehen?«

Direkt vor uns gab ein Auto die linke Spur nicht frei. Eben hatte es sogar kurz gebremst.

»Ja, aber jetzt sag mal!«

»Was?«, fragte er gereizt.

»Ob ich Mama ähnlich sehe!«

»Du stellst Fragen!« Er seufzte. Ihm war deutlich anzusehen, dass er das Thema nicht mochte, es war das absolute Scheißthema. Wir sprachen nie darüber, was ich darauf zurückführte, dass es ihm Schmerzen bereitete, und da wollte ich nicht schuld dran sein. Aber ich wollte manchmal eben auch etwas über meine Mutter wissen.

»Und?«

»Bisschen«, sagte er wie einer, der sich gerade in die Zunge gebissen hat.

Es tat mir leid, aber ich sagte, ganz vorsichtig: »Was an mir sieht ihr denn ähnlich?«

»Na, die Haarfarbe zum Beispiel«, nuschelte Theodor.

Wow. Die Haarfarbe also.

»Mehr nicht?« Ich bekam eine ganz hohe Stimme und flüsterte fast.

Die Nachrichten kamen, und Theodor drehte das Radio lauter. Ich fragte mich, ob ich rücksichtslos gewesen war.

»Wer ist eigentlich Fuat?«, fragte ich, als die Nachrichten vorbei waren, um zu gucken, ob mit Theodor alles in Ordnung war. Immer wenn wir in den letzten Wochen zum Schrottplatz gefahren waren, hatte er mit Rolf über Fuat gesprochen.

»Fuat ist der Herr, mit dem ich in Berlin das Wettbüro mache«, erklärte Theodor.

Es schien so weit alles in Ordnung zu sein. Er machte sogar den Eindruck, als wolle er wirklich darüber reden.

»Und warum macht ihr das zusammen?«

Auf der Rückbank spielten Kalli und die Jungs Schere-Stein-Papier, und Theodor bekam seinen Die-Sache-ist-folgende-Blick.

Die Sache mit dem Wettbüro war also folgende:

»Um so was zu machen, brauchst du eine Genehmigung von der zuständigen Gemeinde und eine Konzession. Das hat Fuat. Und ich habe das Geld.« Theodor tippte sich mit dem Zeigefinger auf die Brust. »Deswegen arbeiten wir quasi zusammen. Aber erst mal muss das Ding da einigermaßen auf Vordermann gebracht werden. Bisschen neuer Boden, bisschen die Wände anmalen. Und Kalli muss das Bad machen. Kacheln, Wasseranschlüsse und so. Neue Kloschlüsel brauchen wir wahrscheinlich auch.«

Theodor sagte das wie jemand, der sich darauf freut, zwei Wochen im besten Hotel der Welt abzusteigen.

Und ich misstrauisch: »Wo wohnen wir eigentlich in Berlin?«

Ich wusste natürlich, dass wir auf keinen Fall in einem Hotel schlafen würden, sondern bei irgendwelchen Kumpels von Theodor, die davon wahrscheinlich noch gar nichts wussten. Aber die Frage brachte mir Du-bist-schuld-an-allem-Punkte bei Theodor ein. Und die brauchte ich, um mit Theodor über die Sachen sprechen zu können, an die ich nachts dachte. Und ich hatte ja auch noch das Jugendamt-Thema offen.

Hinter uns warf Kalli Clint vor, dass er beim Schere-Stein-Papier-Spielen bescheißen würde, aber Jonny sagte, man könne bei diesem Spiel gar nicht bescheißen, und Theodor rief nach hinten, ja, das stimme, man könne bei diesem Spiel tatsächlich nicht bescheißen, was mich nervte, weil ich gerade dran war.

Ich, genervt: »Also, wo wohnen wir jetzt?«

»Bei Fuat.«

Ich seufzte (vielleicht ein bisschen demonstrativ).

»Will der das wirklich?«

»Klar will der das!«

»Aa-ha.« Ich seufzte erneut. »Und hast du unserer Lehrerin Bescheid gesagt, dass wir nächste Woche nicht da sind?«

Noch mal sehr langes Seufzen und extremes Augenverdrehen meinerseits, also der totale Wie-kann-man-nur-Gesichtsausdruck.

Theodor, empört: »Natürlich wissen die Bescheid.«

»Auch Jonnys Lehrer?«

»Selbstverständlich!«

Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Sag mir mal, wie unsere Lehrer überhaupt heißen!«, befahl ich.

Theodor, noch empörter: »Junge Frau! Wie eure Lehrer heißen? Willst du mich verschaukeln?«

»Gib’s zu, du hast gar nicht Bescheid gesagt!«, rief ich. »Mann, du musst echt aufpassen wegen dem Jugendamt. Weißt du das?«

Ich legte eine Pause ein, weil Theodors Kopf plötzlich rot war. Dann ich, etwas versöhnlicher: »Die nehmen uns dir sonst weg. Dann sind wir alle weg! Ist dir das egal?«

»Das ist mir natürlich nicht egal, abgesehen davon, dass mir keiner meine Kinder wegnimmt.« Er hatte sich jetzt etwas beruhigt, gestikulierte aber immer noch vor sich hin. Er drehte sich zu mir und sah mich an.

»Sehe ich aus, wie jemand, dem man seine Kinder wegnimmt? Bei dir piept es wohl!«

Ich musste lachen, wollte aber nicht.

Schweigen.

Plötzlich ging Theodor vom Gas. Das Auto wurde langsamer, und Theodor sah zu mir herüber.

»Ich habe in der Schule Bescheid gesagt, klar? Die Sprechstundenhilfe hat ein Fax an die Schule geschickt. Und da steht drauf, dass ihr drei einen umwerfenden grippalen Infekt habt, sehr ansteckend und pflegeintensiv. Dauert bis Anfang nächster Woche.«

Er lachte mich von der Seite an, mit einem zwinkernden Auge, und kaute auf seinem Zahnstocher herum. Da griff ich nach seiner riesenhaften Hand, die über dem Steuerknüppel hing, und hielt sie.

»Warum hast du eigentlich immer einen Zahnstocher im Mund?«, fragte ich lächelnd.

»Weil es mir Spaß macht, Püppi.«

 

Fuat trug einen grauen Anzug, der leicht schimmerte, und dazu ein weißes Hemd. Die obersten Knöpfe waren offen, sodass man seine schwarzen Brusthaare sehen konnte. Er hatte einen goldenen Schneidezahn, und wenn er lachte, wackelte sein Bauch, und dabei übertrug sich das Wackeln auf den gesamten massigen Körper, und in diesem wackelnden Lach-Zustand begrüßte er uns, als wir in dem hässlichen Treppenhaus vor seiner Wohnungstür standen (alle außer Kalli, den hatten wir bei einer Kneipe abgesetzt).

Fuat umarmte jeden von uns und führte uns in die Küche, wo er uns seiner Frau vorstellte. Ihr Name war Züleyha. Sie stand vor dem Herd, trug ein dunkelblaues Kopftuch und rührte in einem großen Topf. Züleyha lächelte schüchtern und erinnerte mich ausstrahlungsmäßig an einen frischgebackenen Kuchen. Die Küche war schmal und sehr eng, aber ich war voller Bewunderung für die goldenen Knöpfe an den Schubladen und Schranktüren der weißen Einbauküche. Außerdem hing an der Decke ein Kronleuchter mit glitzernden Steinen daran, die mir speziell gefielen.

Neben Züleyha, auf einem schwarzen Barhocker mit einem geschwungenen silbernen Fuß, saß ein Junge und spielte Gameboy. Fuat sagte, dass der Junge sein Sohn sei und Murat hieße. Murat nickte uns zu und sah wieder auf den Gameboy, den seine Daumen irre schnell bearbeiteten.

Ich dachte sofort, dass das hier besser war als bei uns. Ich sah die Flasche Cola, die auf dem kleinen Esstisch stand, und ich sah das Obst in einer Schale daneben, das aussah, als wäre es poliert worden. Nichts stand hier ohne Sinn herum, der Salz- und der Pfefferstreuer hatten die gleiche Farbe (Dunkelrot) und wirkten