Karsten Steinmetz

DOPPELSPIEL
ZU DRITT

Roman

mitteldeutscher verlag

Inhalt

Cover

Titel

KAPITEL I

Juli 2004

KAPITEL II

Januar 2001

KAPITEL III

März 1992

KAPITEL IV

Mai 2006

KAPITEL V

Juni 2003

KAPITEL VI

März 2006

KAPITEL VII

September 2006

KAPITEL VIII

April 2006

KAPITEL IX

Oktober 2006

KAPITEL X

November 2006 • 65 n. Chr.

Über den Autor

Impressum

KAPITEL I

Juli 2004

Niemand will sich vorstellen können, wie es in solchen Untersuchungspraxen aussieht. Auf meine Männlichkeit zusammengestaucht, sehe ich, wo Zukunftsangst, Prostatakrebs und Nierensteine behandelt werden.

Ich sitze hier, weil ich nicht weiß, ob ich der Grund für den schleichenden Verfall unserer Ehe bin. Meine Frau und ich versuchen seit Jahren, Kinder zu zeugen. Ohne Erfolg. Es ist ein seltsames Gefühl: ungeschützten Sex zu haben und, bei all der Freiheit, die wir der Fortpflanzung geben – es passiert nichts. Das, was ich als Jugendlicher zu vermeiden, fürchten lernte, macht keine Angst mehr. Weil es nicht gelingt. Ich denke, dass ich außer Geschlechtskrankheiten nichts Konstruktives in der Welt ausrichten kann. Fühle mich behindert, zeitlos, in eine Plastiktüte eingesperrt.

Der Körper hat seinen biologischen Sinn verloren, wird zum Gefängnis eines verbalen familiären Erfahrungsaustauschs. Es klingt befremdlich, aber ich fürchte, dass, wer auch immer meine Einsichten über die Welt erben wird, nicht mein eigen Fleisch und Blut ist. Ich werde keine Kinder zeugen. Was ich an genetischen Eigenheiten in mir trage, wird mit mir aufhören zu existieren. Ich bin der Letzte meiner Unterart. Die Evolution hat mich ausgemustert, entschieden, mit dem Experiment an meinem Ast aufzuhören.

Alles, was mir bleibt, ist die eigene Verwirklichung. Kinder sind unsichtbar, unerreichbar, verschwommen und werden zu einer abstrakten Idee. Julia hatte mich gezwungen, zum Urologen zu gehen, weil sie sich den gesundheitlichen Luxus der Pille nicht mehr leisten wollte. Später war meine Neugier geweckt, und ich erkannte, dass dieser Schritt mein Leben und mein Gemüt von Grund auf ändern würde. Er hat mich zurückgeworfen in die Kälte der Einsamkeit.

Wenn ich darüber nachdenke, möchte ich eine Boje umarmen. An ihr hängen, in den Wellen für eine halbe Ewigkeit dahinreiten. Die Augen schließen.

Das Stahlseil, welches Boje und mich in der unendlichen Schwingung des Wassers hält, war der beste Freund meiner Jugend. Es hielt mich, steuerte mich im permanenten, abseitig fließenden Strom der Ereignisse. Als meine Großmutter starb – ich war neun – hatte ich Stunden damit zugebracht, in der Ostsee zu treiben und eine hellblaue Boje zu umklammern. Danach musste und später wollte ich in jedem Gewässer die Bojen berühren und umfassen. Dem Wasser, dem Leben Meter um Meter abringen, um mich festzukrallen und in den Taumel des Vergessens, des Ertrinkens zu sinken.

Die gelb angemalte Praxis, das Gefühl, mir unnötig Sorgen zu machen, beschäftigt mich. Die Krankenschwestern des Urologen vermuten mehr, als meine Männlichkeit hinter brauner Cordhose und rotem Seidenstoff verstecken kann. Das stelle ich mir vor, und es bewahrheitet sich. Denn am Empfang begegnen mir unterschiedliche Fragen: »Warum sind Sie in Ihrem Alter denn hier? Sie hegen wirklich einen Kinderwunsch? Haben Sie an das Handtuch gedacht?« Mit der letzten Frage, meinem verneinenden Gemurmel und einer nach oben verschobenen Schwesterbraue werde ich in einen Wartesaal geleitet. Ich bin umgeben von Salvador-Dalí-Bildern und schlecht beleuchteten, beigen Wänden. Die Praxis muss wenigstens zweihundert Quadratmeter Grundfläche haben.

Diese Anhäufung schlechten Geschmacks belustigt mich. Ich fühle die Ängstlichkeit der anderen Patienten nicht, nehme an, ich bin zum Spaß hier. Der Arzt wird herausfinden, dass nicht ich das Problem bin, sondern Julia.

Die Schwestern tuscheln, vielleicht wissen sie, dass ich Schauspieler bin. Auf dem Tisch stehen Kaffee, Wasser, Taschentücher und Tee. Meine Unbefangenheit in der Praxis des Urologen schwindet im Angesicht trauriger Männer, bestückt mit medizinischen Problemen, nicht. Ich empfinde es als Spiel. Dass mein Samen kein Leben in sich trägt, kann nicht sein.

Wie unecht das ist, worauf ich am tiefsten und kraftvollsten vertraue, merke ich erst, als ich es aus dem Mund eines anderen erfahre, in einem Reifeprozess hinterfrage oder auf einem medizinischen Monitor vorgeführt bekomme. Zweifeln war nie meine Stärke. Das hat mir geholfen, meine Träume zu erobern, mich aber anfällig für Selbstbetrug gemacht.

Bevor ich das Orakel des männlichen Körpers sehe, muss ich noch Zeit in einem zweiten Warteraum verbringen. Kleiner, am Ende des Flures, eindringlicher und Respekt einflößender. Hier stehen drei Pflanzen, vier Stühle und ein hässlicher Tisch. Die Gespräche zwischen den Patienten werden auf das Nötigste heruntergefahren. Ein jeder scheint auf das Schlimmste oder Banalste gefasst. Hier trennen sich Vorsorgeuntersuchung und akute Lebensgefahr. Wer beim Urologen sitzt, als Mann, als Perljuwel der Schöpfung, ist entweder vorsichtig, überdreht oder krank.

Die anderen Männer sind älter als ich. Sie schauen mir nie in die Augen, verstecken ihre Gedanken hinter Zeitungsartikeln, die sie nicht lesen, die ihnen nichts sagen und deren Buchstaben die Zeit zerstückeln, die den Wartenden bleibt, bis medizinische Wahrheiten aufgetischt werden.

Ich lese ein Buch über die Wirkung des europäischen Imperialismus auf die Entwicklung Chinas am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, und mir sind vier Sätze je Seite genug, um zu wissen, dass es keine lesenswerte Lektüre ist. Meine Gedanken fangen an zu schweifen. Ich denke darüber nach, wie es sein wird, wenn ich alt bin und mich hinter falsch herum gehaltenen Zeitschriften vor der Tatsache meines körperlichen Verfalls verstecke. Ich werde mich natürlich umbringen. Das sagen wir alle, die wir Angst vor dem Tod haben. Aber für mich ist es die Boje meines Lebens. Die kann ich nicht loslassen. Auch wenn Flut, Ebbe und Sturmwind hart an mir zerren – von dieser Boje werde ich nicht ablassen. Sie hat mir geholfen, mein Studium und die ersten Spielzeiten unbeschadet zu überstehen. Sie ist ein stabiles Versteck in einer durch verschiedene Schauspielrollen vorgegebenen ständigen und persönlichen Veränderlichkeit. Wer ich für die nächsten Wochen bin, sagt mir mein Regisseur. Jetzt spiele ich den Patienten, und ich werde aufgerufen, ins Behandlungszimmer einzutreten.

Der Arzt begrüßt mich freundlich. Er hat ein interessiertes Lächeln, eine Kumpelhaftigkeit an sich. Sein Zimmer ist gefüllt mit Holz. In allen Farben und Arten. Er setzt sich, bietet mir einen Stuhl an, spielt ein wenig mit seinem Computer und widmet sich dann meinem Problem: »Warum genau sind Sie hier?«, fragt er mich.

»Nun ja, ich habe meinen dreißigsten Geburtstag gefeiert und mich gefragt, ob ich fruchtbar bin«, sage ich frei heraus.

»Aha, versuchen Sie und Ihre Freundin oder Ehefrau …?«, erkundigt er sich.

»Ja, sie ist meine Ehefrau.«

»Ah, gut, seit wann versuchen Sie, Nachwuchs zu zeugen?«

»Seit einiger Zeit«, antworte ich kurz.

»Gut, Sie wissen, dass die Krankenkassen die Kosten für solche Untersuchungen nicht tragen?«

»Nein.«

»Ja, selbst Privatversicherte müssen nachweisen, dass sie seit wenigstens einem Jahr ungeschützten Verkehr praktizieren.«

»Ach!« Ich bin überrascht, und mir wird bang wegen der Gebühren.

»So eine Analyse wird 160 Euro kosten«, stellt er klar.

Das ist mir zu viel, entscheide ich und gehe auf Distanz. »Puh, das hätte ich nicht gedacht.«

Er erkennt meine Zweifel und fragt noch: »Wollen Sie wirklich Kinder?« Ich schaue ihm in die Augen und nicke. »Na gut, dann wollen wir mal nachschauen. Legen Sie sich bitte auf das Bett. Ziehen Sie bitte Hose und T-Shirt aus dem Behandlungskreis.«

Ich schnalle meinen Gürtel ab, lasse meine Hose und Shorts hinunterrutschen, besteige eine prall gepolsterte Pritsche und hebe mein T-Shirt. Er folgt mir, greift mit sachter Bewegung nach meinem verletzlichsten Körperteil und versucht, durch seinen Tastsinn etwas über meine Männlichkeit herauszufinden. Leise Geräusche begleiten seinen Erkenntnisprozess.

»Tja, Sie haben da was. Ich würde sagen, ja, das ist es wert, untersucht zu werden.«

»Wie?«, frage ich verstört. Es wird ernst. ›Der Spaß ist vorbei‹, denke ich. Dann bin ich mir sicher, dass er mir helfen will, die 160 Euro zu sparen, also frage ich freundlich: »Was ist los? Sprechen Sie mit mir!« Er lacht nicht. Er lässt ab von mir, geht hinter seinen Schreibtisch und beginnt etwas zu notieren.

Dann sagt er: »Sie können sich wieder anziehen.« Ich ziehe verschämt Seide über mein defektes Körperteil.

»Was ist los?«, frage ich noch einmal.

»Varikozele dritten Grades, würde ich sagen.«

»Das hört sich nicht gut an.«

»Na ja, es bedeutet Krampfaderbildung am Hoden, diese kann die Zeugungsbildung stark einschränken.«

»Was?!« Ich bin entsetzt.

»Wir müssen die Laborergebnisse abwarten, aber so wie bei Ihnen, das ist außergewöhnlich.«

Noch glaube ich, das Spiel zu durchschauen und bin nicht überzeugt: »Es kann aber auch alles in Ordnung sein?«

Er sieht mir direkt in die Augen: »Wir müssen das Spermiogramm abwarten. Bis dahin kann ich Ihnen nichts sagen. Ich werde Ihnen auf jeden Fall eine Überweisung schreiben. Sie dürfen fünf Tage vor der Abgabe keinen Sex haben. Bringen Sie die Probe so schnell wie möglich, am besten noch warm, zur Abgabe. Wenn Sie wiederkommen, machen wir einen Ultraschall. Den Rest erklärt Ihnen die Schwester.« Die Wortgewalt seiner Notizen schüchtert mich ein, ich traue mich nicht von meinem Platz weg. »Können Sie mir nicht noch ein wenig erklären?«

»Noch haben wir keine Ergebnisse. Wir sehen uns in einem Monat, und dann wird vieles klarer sein.«

Mit meinen Gedanken alleingelassen, gehe ich wie in Trance zur Rezeption. Spielt der Doktor mit mir ein Spiel, sind wir Kameraden, weiß er mehr über mich als ich? Will er Geld verdienen? Verunsicherung dringt in meine Gedanken. Ich stehe vor der hölzernen Theke, und die junge blonde Schwester lächelt mich an.

»Sie sind erst dreißig?«, fragt sie mich.

»Ja.«

»Ich finde es gut, was Sie machen«, sagt sie, und ich frage mich, ob im Zimmer des Arztes ein verstecktes Mikrofon postiert war.

Sie fährt fort: »Mein Freund ist auch dreißig, und der zeigt keinerlei Interesse an Kindern.« Ich nicke aus Höflichkeit und weiß nicht, worüber sie redet.

»Ich habe ihn des Öfteren angesprochen, wann wir es wagen wollen.« Abschließend sagt sie: »Bei so einem wie Ihnen, da lohnen sich Gefühle.«

***

Ich bin am Ende der Welt. Gefangen in einer Industriebrache. Irgendwo hier wird mein Samen auf seine Konsistenz, seine Substanz, auf seine Beschaffenheit getestet. Nicht ich, sondern das, was ich an biologischem Leben ausstreuen kann, wird das erste Mal untersucht. Da nützt kein Wille, keine Macht und keine Philosophie. Was ich seit meiner Geburt mit mir herumtrage, steht auf dem Auktionsblock.

Hunderte von Fahrzeugen fahren auf einer Schnellstraße an mir vorbei, ein Autohaus bietet französische Wagen zum Verkauf und verhindert hinter Leuchtreklamen den Blick auf verfallende Wellblechgaragen und kahle Bäume. Nach einstündiger Suche finde ich das Labor. Es ist in einem braunen Backsteinbau, einer ehemaligen Mehlmühle, in einer Sackgasse, die, verstopft mit Autos, an eine brüchige, kopfsteingepflasterte Straße grenzt und hinter einem grauen Tor noch einem Tischler Zuflucht gewährt. Während ich mich in dieser Welt orientiere, höre ich, dass ich richtig bin. Zwei Personen, die nicht zu sehen sind, rufen sich zu, dass wieder einer da ist, um seine Manneskraft zu testen. Das bin ich. Ich frage mich, warum die beiden Stimmen davon ausgehen, dass ich nicht zum Tischler will.

Bevor ich den muffigen Treppenaufgang betrete, rauche ich eine Zigarette. Ich stehe da und phantasiere. Frauen werden zu Reagenzgläsern, und ich bekomme Angst vor meinen nächsten Schritten. Ich werfe die selbstgedrehte Zigarette so weit weg, wie ich kann. Die Treppen sind mit braunem Linoleum bezogen und führen zu Professor Dr. Schulzes Labor. Ich klingle und betrete eine Untersuchungsanstalt, die einem Bienenkorb gleicht. Alt und Jung erzeugen Laborgeräusche. Es riecht nach Desinfektion. Ich bin der, der den Samen bringt. Erst kümmert sich keiner, dann erscheint diese junge, barocke Frau. Ich gebe ihr meine Überweisungen, sie sieht mich an und eilt davon. Kommt zurück, schaut besorgt und führt mich in eine kleine Kammer. Sie ermahnt mich, auf jeden Fall die Tür abzusperren und bugsiert mich mit dieser nett gemeinten Warnung in eine Neun Quadratmeter-Zelle. Ich hätte mir das nicht vorstellen können, dass ich die Wahl haben würde zwischen einem Bett, dem ordinären Waschbecken oder, noch tiefer fallend, einer einfachen Toilettenschüssel. Das hängt im Endeffekt davon ab, wie weit in der Beziehung die eigene Einbildungskraft abhandengekommen ist. Neben der Pritsche steht ein kleines Notregal mit Taschentüchern, Pflastern, Desinfektionscremes und Plastikhandschuhen.

Der Raum wirkt wie ein Experiment mit dem, was Männer erotisch finden könnten. Die Wände wollen jeden Typ sexueller Vorlieben ansprechen, und so sehe ich, als ich den Raum betrete, auf einem verschlissenen Poster eine halb nackte Frau, auf deren Schultern eine Schlange herumlungert. Das Fenster daneben ist voll mit bunten Aufklebern, herausgegeben von gemeinnützigen Organisationen. In Sichtweite des Krankenbetts hängt das Bild einer völlig nackten, tiefbraun gebrannten Frau an der Wand. All dies als sexuelle Erstickung wahrgenommen, möchte ich in die Toilette flüchten und sehe kurz davor die nächste Frau, auf ihre Primärgeschlechtsteile heruntergebrochen. Umgeben von schlechtem Geschmack, setze ich mich auf die Pritsche und sehe diesen Hefter, der mich heißmachen soll. Er ist bestückt mit Schnipseln, die keine Frauen, sondern pures Fleisch bewerben. Ich sehe rasiertes »Young Desire«, unsichere Models und eine »Victoria«, die vielleicht dringend Geld brauchte. Neben all dieser Jahrmarkt-Atmosphäre weiß ich, warum ich hier bin, und entscheide mich für das Waschbecken. Ich hasse Bilder, etwas muss passieren, denke ich mir und vergrabe mich in die beliebten »Esprit-d’escalier«-Vorstellungen.

***

Ich bin allein mit meiner Phantasie, sie belagert mich. Warum schaffe ich es nicht, in der Welt das zu sein, was ich in meinen Gedanken bin? Ich stehe vor dem Waschbecken, habe meine Hose aufgeknöpft, meine Männlichkeit ans Tagelicht hervorgekramt und soll dessen Output in einen kleinen milchigen Plastikcontainer schöpfen. Das Problem ist, dass ich keinerlei Ideen habe, wie ich in Stimmung kommen soll, um mein Leben abzupumpen. Sperma ist nicht einfach aus einem Menschen herauszupressen. Da gibt es diese vereinfachte Vorstellung von Männern und Physik, die vieles verkompliziert und einschränkt. Da ist dieser Moment, der für kurze Zeit sexuellen Sinn macht, und den versuche ich zu finden. Wo steckt er? Wieso treffe ich in meiner Schublade der Erinnerung nichts an, was sich in Untersuchungsergebnisse ummünzen ließe?

Die Situation ist surreal. Ich stehe in diesem kleinen Waschraum, vor der Tür brummen Messgeräte, trappeln Mitarbeiter über Linoleumböden, und ich soll mein Schicksal in ein PVC-Eimerchen hineinquetschen.

Sexualität im Kopf fühlt sich an wie ein Glühwürmchen, dem hinterhergejagt werden kann. Es schwirrt durch die Gedanken und bleibt selten ruhig auf einer Vorstellung sitzen. Ich lass’ ein paar Frauen Revue passieren, um eine Sexphantasie zu injizieren. Wie ein Giftstachel fast.

In meinem Kopf ist diese graue Straße zu sehen, ich gehe auf ihr entlang, sie ist monoton, bekleidet mit Häusern; und was sie kanalisiert, ist mein Hoffen auf einen sexuellen Stimulus. Niemand kommt mir entgegen, schaut aus einem Fenster, steigt aus einem Auto, betrachtet ein Buch in einem der Schaufenster, schaut verträumt in die Abendwolken. Ich bin allein, wohin ich auch gehe.

Wenn Liebe ein Theaterstück ist, wie heißt dann das Theater, in dem sie inszeniert wird? Ich fühle mich verloren im Gewitter meiner Ängste und Vorurteile und stehe gefangen vor dem Waschbecken. Ich muss es schaffen und versuche weiter, meinen leblosen Stängel in die Horizontale zu manövrieren.

Da kommt mir dieser Mensch in den Sinn – es ist erkennbar, dass er weiblich ist, seine körperliche Hülle bedeutet mir etwas, verengt mein Blickfeld, aber er berührt nicht das Verwirrspiel, das, was ich als Eintagsfliegen der Sexualität zu einem Stimulus aufbauschen könnte. Er geht vorüber, und meine Probe steckt noch in mir.

Wenn die Vorstellungen nicht so wollen, wie es die Not gebietet, bin ich in der Klemme. Ich beginne, noch mehr zu denken. Warum regt sich nichts in mir? Ich versuche zu verstehen, warum ich Weiblichkeit als attraktiv empfinde. Frauen haben einen Körper. OK. Sie haben Augen. OK. Sie haben einen eigenen Körpergeruch. OK.

Ich komme nicht weiter und frage mich, was ich hier mache. Die Eingangstür ist verschlossen. Ich habe es selbst errichtet, dieses Gefängnis. Was will ich in dieser Welt? Sie war da, bevor ich etwas über sie sagen konnte, und bald wird Gras über New York wachsen. Sie zeigt ihre Verlogenheit im Angesicht meiner versagenden Reproduzierbarkeit.

Wenn ich nachdenke, spüre ich diesen dominanten Zweifel, dass ich neidisch bin auf ein anderes Leben. Ein besseres Dasein als das, das ich habe, ein Lebensgefühl, das ich als heilsam empfinden könnte. Seit meiner Jugend habe ich gedacht, die Schauspielerei könnte mir das geben. Ein Ausweg sein. Wenn ich die Welt von der Bühne aus betrachten könnte, würde sie mir fernbleiben. Ich bliebe in meinem kleinen künstlichen Verlies und wäre geborgen. Die Selbstzweifel lauern überall, sogar in dem kleinen Supermarkt, dessen Musikauswahl ich mag, und in den Augen meiner Freunde. Beinahe wirkt es, als ob Menschen nur in Reagenzzuständen existieren. Dies ist eine Welt, in der jeder etwas in einem anderen vermutet, ihn auf sein Aussehen und seine Gestalt reduziert.

Aber das sind keine Gedanken, die mich dem Ziel einer perfekten Untersuchungsprobe näher bringen. Ich betrachte meine Position als Lebenserfahrung, mache mich über meine Situation lustig und suche krampfartig nach einer erotischen Blaupause.

Ich schaue mich mit heruntergelassener Hose im Spiegel an und sehe in meinen Augen wieder diese vereinsamte Straße mit ihren grauen Fassaden, eine leere Straßenbahn fährt auf mich zu, an mir vorbei, und in ihrem Windschatten taucht eine Frage auf: Will ich wirklich einen neuen Menschen erschaffen, der so sein könnte wie ich? Was ist das, was aus meinem Mund kommt? Würde ich mir selbst zuhören wollen? Auf ›interessant‹ gespritzte Früchte eines Geistes, der keine Zuhörer haben will? Warum sieht jemand, der allein ist, verlassen aus? Ich habe mich entschieden – ich breche ab. Ich hieve meinen Penis zurück in die Hose, knöpfe sie zu und ziehe meinen Gürtel fest. Ich brauche keine Kinder, keinem Menschen will ich etwas beweisen müssen. Ich hasse Menschen. Sie reden auf mich ein, verstopfen meinen Verstand, wollen Aufmerksamkeit, ein unendliches Verständnis für ihre eigene Situation.

Ich fühle mich einsam. Das soll nicht heißen, dass dies eine unerträgliche Situation ist. Einsamkeit erscheint mir wie die einzige Möglichkeit, mir näher zu kommen. Da ist viel unverarbeiteter Erinnerungsmüll, der Aussagekraft in sich trägt. Doch da ist auch diese drohende Leere. Was will ich mit einem Kind? Reicht nicht meine Nichte? Ist ihr Lächeln nicht tausend eigene Kinder wert? Warum lasse ich diese erniedrigende Tortur über mich ergehen? Weshalb haben diese fremden Wünsche Macht über mich? Weil ich mich nicht aus mir herausbewegen kann, aus diesem kommunikativen Stacheldraht.