Der Tag verging, und die Dämmerung sank tiefer. Der Abend war schön; die Sterne standen am Himmel, und die dünne Sichel des jungen Mondes, der im Beginne des ersten Viertels stand, neigte sich bereits dem Horizonte zu. Die gute Luna war bescheidenerweise, um nicht so lange gesehen zu werden, schon am Tage aufgegangen. Die nächtliche Helle war mir eigentlich nicht angenehm, doch stand im Osten eine Wolke vor, und da der Abendwind aus derselben Richtung kam, durfte ich hoffen, daß sie sich nach und nach ausbreiten und die Sterne verdunkeln werde.
Wir jagten, ohne ein Wort zu sprechen, über den weiten Plan dahin. Der Nijora hielt sich bescheiden hinter mir; an meiner Seite zu reiten, wagte er nicht. Nur einmal wurden wenige Worte gewechselt. Er kannte als Nijora die Gegend, in welcher wir uns befanden, genau, ich aber nicht, weil wir gestern nicht von dem tiefen Wasser, sondern von dem weißen Felsen nach dem Quell des Schattens gekommen und also weiter westlich geritten waren. Darum fragte ich ihn, als ich glaubte, das Stelldichein bald erreicht zu haben:
"Mein Bruder läßt mich den Weg finden. Sind wir auf der geraden, richtigen Linie nach der Quelle des Schattens?"
"Old Shatterhand findet jeden Weg, auch wenn er ihn noch nicht kennt," antwortete er.
"Ich glaube, daß wir nur noch eine Viertelstunde zu reiten haben, um dort anzukommen. Ist das richtig?"
"Es ist genau so, wie mein weißer Bruder sagt." infolgedessen ritten wir noch eine kleine Strecke weiter; dann hielten wir an, und ich gab einen Schuß aus dem Bärentöter ab. Ich erwartete nun, den Schuß Winnetous zu hören; anstatt dessen ertönte eine Stimme aus nicht zu großer Ferne:
"Hier bin ich. Ich habe die Stimme des Gewehres meines Freundes Scharlieh erkannt."
Dann sah ich Winnetou auf uns zugeritten kommen. Er gab mir seine Hand und sagte dabei:
"Du hast den Ort so genau abgeschätzt, daß du ganz nahe bei mir hieltest. Ich konnte dir mit meinem Munde anstatt mit einem Schusse antworten."
"Bist du schon lange hier?" erkundigte ich mich.
"Nein, denn ich konnte die Mogollons erst dann umschleichen, als es dunkel geworden war."
"Aber gesehen hast du sie früher?"
"Ja. Ich war immer so nahe hinter ihnen, wie ich es wagen konnte."
"Sie lagern an der Quelle des Schattens?"
"Ja. Mein Bruder weiß, daß so viele Krieger nicht da, wo die Quelle aus der Erde kommt, Platz haben. Dort sitzt nur der Häuptling mit drei alten, hervorragenden Kriegern. Die andern alle haben sich am Wasser weiter abwärts gelagert."
"Haben sie Posten ausgestellt?"
"Nein. Die Mogollons sind sehr unvorsichtige Menschen. Sie scheinen zu glauben, daß sich niemand als nur sie in der Gegend befinden kann."
"Weißt du, wo der Wagen steht?"
"Ich bin zweimal um das ganze Lager geschlichen und habe ihn deutlich gesehen. Er steht nicht weit von dem Häuptlinge im Wasser."
"Und wo befinden sich die beiden Gefangenen?"
"Sie sitzen in dem Wagen. Nur ein einziger Wächter steht dabei."
"Auch ich möchte ihn und überhaupt das ganze Lager sehen."
"Das ist nicht schwer, und wenn du noch einige Zeit warten willst, wird es noch leichter sein. Die Wolke, welche jetzt fast gerade über uns steht, hing noch vor kurzem über dem östlichen Horizonte; in einer halben Stunde wird sie auch den jetzt noch hellen Teil des Himmels bedeckt haben. Willst du so lange warten?"
"Ja, denn obgleich keine Gefahr dabei ist, ziehe ich es doch vor, vorsichtig zu sein."
Er hatte in Beziehung auf die Wolke recht. Sie hatte sich immer mehr ausgearbeitet und bedeckte nach der von ihm angegebenen Zeit den ganzen Himmel. Da sagte er:
"Jetzt können wir aufbrechen. Die Pferde bleiben hier, der Krieger der Nijoras wird sie bewachen."
"So lasse ich auch die beiden Gewehre bei ihm zurück. Sie sind mir bei dem Beschleichen im Wege."
"Gib ihm nur den Bärentöter; den Henrystutzen aber will ich nehmen."
"Warum?"
"Während du die Mogollons beschleichest, bleibe ich in der Nähe und lausche. Solltest du Unglück haben, so wird ein Lärm entstehen, den ich sicher höre. Dann schieße ich den Stutzen so viele Male rasch hintereinander ab, daß sie erschrecken und vor Überraschung von dir lassen."
"Gut! Wenn ich ergriffen werden sollte und du ziehst ihre Aufmerksamkeit nur so lange auf dich, daß sie einige Augenblicke nicht auf mich achten, wird das genügen, mich wieder frei zu machen."
Ich gab also dem Nijora die schwere Büchse; Winnetou nahm meinen Stutzen, und dann entfernten wir uns nach Süden, wo die Quelle des Schattens lag.
Es war jetzt infolge der Wolke so düster, daß man nicht ein Zehntel soweit und so scharf sehen konnte wie vorhin, als die Sterne schienen. Nach etwas über zehn Minuten hielt Winnetou an und erklärte mir mit leiser Stimme:
"Wenn du noch hundert Schritte weiter gehst, wirst du dich bei den ersten Büschen befinden, welche du genau kennst, da wir dort gewesen sind. Geradeaus von dort kommt das Wasser, an dem der Häuptling sitzt, aus der Erde. Es fließt nach links; dort sitzen die andern Krieger. Zwischen ihnen und dem Häuptlinge steht der Wagen."
"Und wo sind die Pferde?"
"Die weiden jenseits des Gebüsches im freien Grase."
"So will ich versuchen, mich an den Häuptling zu machen."
"Da muß mein Bruder aber außerordentlich vorsichtig sein."
"Warum gibt mir Winnetou diesen Rat? Ist er bei mir nötig? Der Häuptling sitzt nahe am Quell; dort steht viel Gesträuch, hinter dem ich mich verstecken kann, wenn nicht rechts davon auch noch Krieger liegen."
"Vorhin gab es dort keine."
"So glaube ich auch nicht, daß sich später welche dort gelagert haben, denn dort gibt es kein Wasser."
"Willst du etwa auch mit den Gefangenen sprechen?"
"Ja, wenn es möglich ist."
"Da muß ich dich aber doch warnen, obgleich du vorhin meine Worte übelgenommen hast. Es ist sehr gefährlich, zu ihnen zu gelangen, und noch gefährlicher ist es, gar mit ihnen zu sprechen."
"Ich werde keine Vorsicht außer acht lassen und meinen Vorsatz nur dann ausführen, wenn ich mich vorher überzeugt habe, daß ich es wagen darf. Also, wenn mir etwas passieren sollte, wirst du schießen, aber nicht eher, als bis du zwei oder drei Schüsse aus meinem Revolver gehört hast."
"Ich werde das tun, doch ist es besser, wenn ich es nicht zu tun brauche."
Jetzt verließ ich den Apatschen und schritt langsam und leise weiter. Mein Fuß stieß an einen Stein. Da kam mir ein Gedanke. Der Stein konnte mir von Vorteil sein. Er hatte die Größe einer halben Hand; ich hob ihn auf und steckte ihn ein. Darauf bückte ich mich nieder und tastete rings umher; es gab da noch fünf oder sechs Steine von ähnlicher Größe, welche ich auch zu mir steckte. Dann ging ich weiter.
Als ich vielleicht sechzig Schritte vorwärts gekommen war, legte ich mich nieder, um mich nun kriechend zu bewegen. Bald kam ich an die ersten Büsche. Es war ganz dunkel. Die Mogollons brannten keine Feuer. Darnach hatte ich Winnetou gar nicht gefragt, eine Unterlassungssünde, welche eigentlich unbegreiflich war.
Daß die Feinde im Dunkeln saßen, war mir unlieb und doch auch wieder lieb: ich konnte sie nicht sehen, aber desto schwerer konnten sie auch mich bemerken. Daß sie es unterlassen hatten, Feuer anzuzünden, schien ihrerseits doch die Folge von Vorsicht zu sein, denn sie verhielten sich so ruhig, daß ich kein Geräusch vernahm, obgleich ich mich bereits sehr nahe bei ihnen befand.
Immer nur Zoll um Zoll geradeaus kriechend, schob ich mich von einem Busche zum andern und hörte endlich Stimmen. Zugleich drang mir der Geruch von Tabak in die Nase, von Tabak, wie ihn die Indianer zu rauchen pflegen, nämlich eine Mischung von sehr viel wildem Hanf und sehr wenig Tabak. Und nun sah ich doch ein Feuer, aber ein so kleines, daß es von weitem schwer zu bemerken war. Es brannte in einer kleinen Vertiefung des Bodens, damit der Schein nicht weit dringen solle und wurde nur von einigen dünnen Zweigen genährt. Es hatte also nur den Zweck, mit Hilfe desselben die Pfeifen in Gang zu erhalten.
So klein es war, es verbreitete doch in seiner nächsten Nähe soviel Licht, daß ich den Häuptling und die drei alten Krieger, welche an der Quelle saßen, erkennen konnte. Es gab dort zwei nahe beisammenstehende Büsche; ich schob mich hin zu ihnen und schmiegte mich so eng an ihre Wurzelstöcke, daß selbst jemand, der vorüberging, mich nur dann sehen konnte, wenn er sich zufällig niederbückte. Jetzt befand ich mich so nahe bei den vier Roten, daß ich jedes ihrer Worte verstehen konnte.
Ja, jedes ihrer Worte, wenn sie nämlich gesprochen hätten; leider aber taten sie das nicht. Sie rauchten und rauchten, ohne auch nur eine Silbe gegenseitig auszutauschen. Ich wartete fünf Minuten, zehn Minuten, eine Viertelstunde und noch eine Viertelstunde sie sprachen kein Wort! Das war nicht nur eine Geduldprobe, sondern weit mehr als das. Der starke, fatale Geruch des wilden Hanfes schien es nur auf mich abgesehen zu haben; er drang mir in die Nase und reizte mich zum Niesen. Glücklicherweise war ich geübt im Unterdrücken des Reizes zum Husten und Niesen, doch allzulange darf man sich dem auch nicht aussetzen. Schon wollte ich mich zurückziehen, da erschallte draußen vor den Büschen ein lauter Ruf:
"Uff!" sagte da der Häuptling. "Die Kundschaften"
Also Kundschafter kamen. Die mußten ihre Meldung machen, wobei es jedenfalls etwas zu erlauschen gab. Ich blieb also liegen und fühlte keine Spur mehr von dem vorigen Reize zum Niesen. Der Geist hat also auch die Nase in seiner Gewalt.
Jetzt hörte man den Hufschlag von Pferden und den dumpfen Stoß von Füßen, welche aus dem Sattel sprangen und die Erde berührten. Zwei Männer erschienen; der eine kam nahe heran, und der andere blieb weiter zurück stehen. Der erstere war der Sprecher, sagte aber noch nichts, weil er aus Ehrerbietung auf die Anrede des Häuptlings warten mußte. Dieser verharrte im Gefühle seiner Würde eine ganze Weile in tiefem Schweigen und unterbrach es endlich mit den Worten:
"Meine jungen Brüder kehren spät zurück; sie müssen weit nach Süden gekommen sein. Bis wohin sind sie gewesen?"
"Bis über das dunkle Tal hinaus."
"Haben sie den Weideplatz der Nijoras gesehen?"
"Nein; so weit sind wir nicht gekommen."
"Aber den Weg, welchen wir zu reiten haben, habt ihr euch eingeprägt?"
"Wir kennen ihn so gut, als ob wir ihn hundertmal geritten wären."
"Ist er beschwerlich?"
"Nein. Nur auf die Platte des Cañons und dann wieder hinab zu kommen, wird für den Wagen schwer sein."
"Habt ihr keinen von den Hunden der Nijoras gesehen?"
"Einen einzigen zwischen der Platte des Cañons und dem dunklen Thale."
"Woher kam er?"
"Von Nord und ging nach Süd."
"Er kam also von hier und ritt heimwärts?"
"Er ritt heimwärts; ob er aber von hier kam, das konnten wir nicht erfahren."
"Hat er euch bemerkt?"
"Nein. Wir erblickten ihn eher, als er uns sehen konnte, und hatten Zeit, ihm auszuweichen."
"Warum habt ihr ihn nicht gefangen genommen?"
"Wir glaubten, es sei besser, ihn vorüberreiten zu lassen."
"Trug er Kriegsfarben?"
"Nein."
"Also der Weg nach der Platte des Cañons und von dieser wieder hinab ist für den Wagen zu schwer?"
"Er ist so steil und eng, daß es große Mühe machen wird, ihn mit nach dem dunklen Thale zu nehmen."
"Uff! Ich habe euch gehört; ihr könnt euch zu den andern lagern."
Die beiden entfernten sich. Ich glaubte, die vier würden sich nun über das Gehörte besprechen, aber sie schwiegen wieder wie vorher. Es verging eine Viertelstunde, bis ich endlich erkannte, daß das Sprichwort:
"Gut Ding will Weile haben" ein sehr richtiges ist, denn da ließ der Häuptling die Frage hören:
"Was sagen meine drei Brüder zu den Worten dieser Kundschafter?"
"Uff!" antwortete der erste.
"Uff!" meinte nach einer Weile der zweite.
"Uff!" erwiderte der dritte. Und dieser war doch so redselig, hinzuzufügen: "Der Häuptling mag zuerst sagen, was seine Meinung ist."
Der also Aufgeforderte wartete fünf oder sechs Minuten und sagte dann:
"Glauben meine Brüder, daß der Hund, dem unsere zwei Krieger begegnet sind, ein Kundschafter gewesen ist?"
"Nein," antwortete der Älteste von ihnen. "Er müßte hier gewesen sein, wenn er ein Kundschafter wäre. Wir haben aber, als wir ankamen, keine Spur gesehen. Also kam er aus einer andern Richtung und ist kein Kundschaften"
"Mein Bruder hat richtig gesprochen. Aber haben unsere Späher gut gehandelt, indem sie ihn vorüberließen?"
"Ja. Wenn er unbehelligt in sein Lager kommt, wird man nicht denken, daß Feinde so nahe sind."
"Wenn er aber doch ein Späher gewesen wäre! Wir werden später sehen, ob es gut gewesen ist, daß sie ihn haben entkommen lassen."
Der Häuptling befand sich ganz auf der richtigen Fährte, denn der Nijora, den die beiden Mogollons gesehen hatten, war derjenige, den ich heute früh vom tiefen Wasser fortgeschickt hatte. Doch wenn sie ihn auch ergriffen hätten, wäre das wohl nicht von Nachteil für uns gewesen, weil er jedenfalls nichts gestanden haben würde. Der Häuptling fuhr fort:
"Und was sagen meine Brüder zu dem Wagen?"
"Wir hätten ihn im Lager zurücklassen sollen," antwortete wieder der Älteste.
"Die Gefangenen können aber doch nicht reiten!"
"So hätten auch sie zurückbleiben müssen; sie waren uns dort sicher. Wir konnten einige erfahrene Krieger bei ihnen lassen!"
"Die hätten sie nicht verteidigen können."
"Gegen Winnetou und Old Shatterhand?"
"Ja. Mein Bruder hat ja gehört, daß die beiden berühmten Männer mit ihren Gefährten auf dem Pueblo gewesen sind, um den Weißen zu fangen, welcher sich Melton nennt. Dieser ist ihnen entflohen, und sie werden ihm nachkommen."
"Wenn sie seine Spur entdecken!"
"Diese zwei Krieger finden jede Fährte; sie werden auch die Spur Meltons finden und ihr folgen. Sie haben die Hunde der Nijoras gegen uns aufgehetzt; darum sandte ich ihnen Melton mit fünfzig Kriegern entgegen. Treffen diese auf sie, so werden sie gefangen genommen. Treffen unsere Krieger aber nicht auf sie, so wird Winnetou mit Old Shatterhand und den andern nach unserm Lager am weißen Felsen reiten, dort umkehren und uns nachkommen."
"Dann haben wir eine große Gefahr in unserm Rücken!"
"Sie bilden keine Gefahr für uns, denn wenn sie uns einholen werden, haben wir die Nijoras längst besiegt und werden auch sie so in Empfang nehmen, daß sie uns nicht entkommen können. Es ist also gut, daß wir die Gefangenen mitgenommen haben, denn wenn wir sie an dem weißen Felsen zurückgelassen hätten, so wären selbst zwanzig oder dreißig Krieger nicht im Stande, sie gegen die List Old Shatterhands und Winnetous festzuhalten."
Der gute Häuptling der Mogollons hatte wirklich eine ganz vortreffliche Meinung von uns. Leider waren alle seine Voraussetzungen und Berechnungen falsch. Hätte er das geahnt und dazu gewußt, daß ich hier in seiner Nähe lag und seine Worte hörte, so wäre er wohl nicht so ruhig in seiner Rede fortgefahren, wie er es jetzt tat:
"Den Wagen mußten wir nehmen, weil die Gefangenen nicht reiten können und zu Pferde unsern Zug verlangsamt hätten."
"Aber wenn wir ihn nicht durch die Hohlwege bringen, so müssen sie doch noch reiten!" meinte der Älteste.
"Es wird sich finden, ob die Hohlwege zu schmal sind. Wenn wir morgen früh mit dem ersten Grauen des Tages aufbrechen, so lassen wir die Gefangenen unter einer genügenden Bedeckung zurück; sie können uns in einigen Stunden nachfolgen. Wir erreichen also die Hohlwege eher als sie und können Stellen, welche zu eng sind, vielleicht weiter machen."
"Haben wir Zeit genug, uns solange aufzuhalten?"
"Es bedarf jedenfalls nicht langer Zeit. Mit Hilfe der Tomahawks ist bald ein Stückchen Felsen losgeschlagen. Howgh!"
Dies Wort war das Zeichen, daß er die Angelegenheit als abgetan betrachtete, und da er nun nicht weiter sprach, so schwiegen die andern drei auch. Ich wußte, daß, wenn sie wieder ein Gespräch beginnen würden, dies erst nach einer langen Pause geschehen werde, und solange zu warten, konnte mir nicht einfallen. Ich kroch also unter den Büschen zurück und wendete mich nach links, wo, wie Winnetou gesagt hatte, der Wagen stand. Ich sah ihn am diesseitigen Ufer des Quellbächleins stehen, welches hier nur anderthalb Fuß breit war. Jenseits, doch ganz in der Nähe, saß ein Indianer im Grase, der sein Gewehr neben sich liegen hatte. Das war der Wächter.
Zunächst kroch ich noch weiter, denn ich mußte wissen, in welcher Entfernung sich die nächsten Mogollon befanden. Es waren vielleicht zwölf bis vierzehn Schritte bis zu ihnen. Als ich das erfahren hatte, kroch ich wieder zurück zum Wagen. Es war eine alte, hoch und breit gebaute Überlandpostkusche, ein wahres Ungetüm, wie es jetzt keins mehr gibt.
Wie bereits wiederholt erwähnt, hatte die Wolke die Sterne verfinstert, sodaß man nicht weit sehen konnte. Unter dem alten Karren aber war es noch finsterer als rund umher, und da ich im tiefen Schatten lag, konnte die Wache mich nicht erkennen, während ich sie ziemlich deutlich sitzen sah.
Zu meinem großen Erstaunen bemerkte ich, daß das nach meiner Seite gerichtete Fenster des Wagens offen war, eine große Unvorsichtigkeit der Mogollons, wenn die Gefangenen sich drin befanden. Vielleicht waren sie nicht drin, sondern anderswo, und Winnetou hatte sich geirrt. Vielleicht aber, hm, das wäre dumm! vielleicht saß ein zweiter Wächter drin bei ihnen, und dann war es allerdings zu erklären, daß ein Fenster offen stand.
Ich hatte mir vorgenommen, mit ihnen zu reden, und wollte nun, da ich einmal da war, nicht gern darauf verzichten. Wie das aber nun anfangen? Ich hielt nur zwei Fälle für annehmbar: entweder sie waren nicht drin, oder sie saßen drin, und dann befand sich jedenfalls ein Mogollon bei ihnen. Wie nun erfahren, welcher von den Fällen der richtige war, aber ohne mich dabei in Gefahr zu bringen? Ich erhob mich halb, doch beim Rade, sodaß zwei Räder zwischen mir und dem drüben sitzenden Wächter waren und er mich unmöglich sehen konnte, klopfte an die Tür und ließ mich dann sofort niederfallen. Ich hatte so geklopft, daß die Insassen es hören mußten, jener Wächter es aber nicht hören konnte. Saß ein Mogollon drin, so blickte er jetzt ganz gewiß zum offenen Fenster heraus. Ich sah empor. Mit gegen den Himmel gerichteten Augen konnte ich alles deutlich erkennen, es erschien kein Kopf. Ich klopfte noch einmal, doch mit demselben Erfolge. Mehr als Fortsetzung dieser Versuche, als weil ich mir einen Erfolg davon versprach, klopfte ich zum drittenmal, und da antwortete mir ein vorsichtig leises Klopfen am Boden des Wagens. Ah, sie waren also dennoch drin! Und zwar ohne Aufsicht! Aber wahrscheinlich gefesselt, sonst hätte man das Fenster nicht offen gelassen und ihnen einen Wächter hineingegeben. Ich richtete mich also ganz auf, hielt den Kopf an den offenen Schlag und fragte leise hinein:
"Mr. Murphy, seid Ihr da?"
"Yes," antwortete es ebenso leise.
"Habt Ihr drin Platz auf dieser Seite?"
"Ja. Wollt Ihr etwa herein, Sir?"
"Ja."
"Um Gottes willen, da gebt Ihr Euch ja augenblicklich gefangen!"
"Fällt mir nicht ein! Drin bin ich viel sicherer als hier außen. Schreit die Wagentür, wenn sie geöffnet wird?"
"Nein. Die metallenen Angeln sind verloren gegangen und durch lederne Bänder ersetzt worden."
"Gut, ich komme also hinein!"
Diese Fragen und Antworten waren, wie die Situation es mit sich brachte, in hastiger Weise gegeben worden. Ich ließ mich wieder in das Gras nieder und blickte zwischen den Vorder- und Hinterrädern zu dem Wächter hinüber. Er saß noch genau so dort wie vorher. Ich zog einen Stein heraus, zielte gut und warf ihn so, daß er mehrere Schritte jenseits des Wächters in das Gras fiel. Der letztere hörte das Geräusch; er stand schnell auf und horchte. Ich nahm einen zweiten Stein aus der Tasche und warf ihn weiter, als ich den ersten geworfen hatte. Der Mogollon ließ sich betrügen und entfernte sich in der Richtung des Schalles, den er gehört hatte; er sah und hörte also nicht nach uns herüber. Im Nu war ich wieder auf, öffnete die Tür, stieg ein und zog sie hinter mir wieder zu; sie gab dabei nicht das leiseste Geräusch von sich. Als ich nun mit den Händen tastete, fühlte ich links die beiden, welche nebeneinander saßen; der Sitz zu meiner rechten Hand war leer, und ich ließ mich darauf nieder. Zu meiner abermaligen Verwunderung sah ich, daß das jenseitige Fenster auch offen stand.
"Ihr seid es also doch, Sir!" flüsterte der Advokat mir hastig zu. "Welche Verwegenheit von Euch! Ihr wagt ..."
"Still!" unterbrach ich ihn. "Jetzt kein Wort! Ich muß zunächst den Wächter beobachten."
Als ich hinausblickte, sah ich diesen zurückkehren. Er war wohl mißtrauisch geworden, denn er trat drüben an den Wagenschlag und fragte in das Innere herein:
"Sind die beiden Bleichgesichter noch drin?"
Er hatte sich in einem ganz schlechten Englisch ausgedrückt.
"Yes!" antworteten beide zugleich.
Ich glaubte, dies werde genug für den Roten sein, hatte mich aber geirrt, denn er sagte, und zwar nun in seinem spanisch-indianischen Mischmasch:
"Es gab ein Geräusch. Sind die Fesseln noch fest? Ich werde sie untersuchen."
Er setzte den Fuß auf den Wagentritt und langte mit den Armen durch das Fenster, um die drüben sitzende Sängerin zu betasten. Als er sich überzeugt hatte, daß ihre Fesseln in Ordnung waren, sprang er drüben ab und kam um den Wagen herum auf die andere Seite. Schnell rückte ich hinüber und drückte mich soviel wie möglich zusammen. Er erschien am andern Fenster, griff herein und untersuchte die Banden des Rechtsgelehrten. Als er auch diese im besten Zustande fand, verschwand er mit einem unverständlichen Murmeln. Ich rückte auf die Mitte meines Sitzes, und als ich von da aus hinauslauschte, sah ich, daß er sich auf seiner frühern Stelle wieder niedersetzte.
"Jetzt könnten wir sprechen," sagte ich. "Nur hütet Euch, daß "s" und andere Zischlaute zu laut auszusprechen! Er hat sich beruhigt."
"Mein Himmel, in welcher Gefahr habt Ihr Euch befunden!" meinte Murphy. "Er brauchte nur hinüber zu greifen, so hatte er Euch!"
"Oder ich ihn! Habt keine Sorge um mich! Es ist ganz so, wie ich sagte: ich bin hier viel sicherer als draußen. Ich werde hier in dem Wagen bleiben, so lange es mir gefällt, und ihn verlassen, wenn es mir beliebt."
"Aber es handelt sich nicht nur um die Freiheit, sondern auch um das Leben!" hörte ich Martha mit zitternder Stimme sagen.
"Um keins von beiden; ich bin vollständig sicher! Welcher Art sind eure Fesseln?"
"Zunächst sind wir aneinander gebunden, durch ein Lasso, welches man um uns gewunden hat. Sodann hat man uns die Hände auf den Rücken befestigt. Und drittens tragen wir eine Schlinge um den Hals, deren Ende unten am Sitze befestigt ist. Wir können also gar nicht aufstehen, ohne uns zu erwürgen."
"Das ist freilich eine sehr komplizierte Art, sich eurer Personen zu versichern. Da ist eigentlich gar kein Wächter nötig, und nun wundere ich mich nicht mehr darüber, daß man die Fenster geöffnet hat, um euch wenigstens Luft zu gönnen."
"Die Fenster? Das ist hier eine höchst imaginäre Sache. Fenster gibt es ja nicht; der liebenswürdige Häuptling hat sie herausgemacht. Ihr werdet wissen, welchen ungeheuren Wert zwei Glasscheiben für einen solchen Kerl haben."
"Allerdings. Also darum standen die Fenster offen! Schön! Nun handelt es sich vor allen Dingen darum, euch zu sagen, was ihr zu tun habt, falls ich hier bei euch entdeckt werden sollte."
"Was?"
"Wartet noch! Erst muß ich eure Fesseln untersuchen; dann kann ich es euch sagen."
Ich fand die Banden so, wie Murphy sie mir beschrieben hatte.
"So," sagte ich dann, "Jetzt weiß ich, wohin ich mein Messer zu führen habe."
"Euer Messer?"
"Ja. Hört wohl auf meine Worte! Bleibe ich jetzt unentdeckt, so wird eure Gefangenschaft bis morgen früh dauern; entdeckt man mich aber, so seid ihr sofort frei. Paßt auf! Wenn ich hier bemerkt werde, so ist es mein erstes, eure Fesseln zu zerschneiden. Dazu bedarf es nicht mehr als zehn Sekunden. Dann halte ich die Roten uns mit meinen zwei Revolvern vom Halse, während ihr die Tür hier zu meiner linken Hand öffnet, hinausspringt und in gerader Richtung durch die Büsche lauft. Dort werdet ihr Schüsse hören. Es ist Winnetou, den ihr bei seinem Namen ruft. Wenn ihr ihn erreicht habt, seid ihr sicher, denn alle diese drei- oder vierhundert Mogollons werden, wenn sie den Namen Winnetou rufen hören, es nicht wagen, euch in die Dunkelheit hinein zu verfolgen."
"Gut, aber Ihr? Wollt Ihr etwa hier zurückbleiben?"
"Fällt mir nicht ein! Sobald ich bemerke, daß ihr fort und in Sicherheit seid, komme ich nach."
"Wenn Ihr könnt! Man wird Euch umringen, Euch erstechen, erschießen!"
"Pshaw! Denkt doch nicht solche Sachen! Ihr kennt den Westen nicht; ich aber kenne ihn und weiß, wie es kommen wird. Vielleicht wird der Häuptling nach euch sehen, oder wenn der Wächter abgelöst wird, überzeugt sich der neue Posten, daß ihr noch da seid. Nur bei diesen beiden Gelegenheiten ist es möglich, daß man mich entdeckt. Wir haben es auf alle Fälle mit zwei, höchstens drei oder vier Personen zu tun, und diese schieße ich in nicht mehr und nicht weniger Augenblicken nieder. Das wird freilich Lärm, aber auch tüchtige Verwirrung geben, und niemand wird sich dahin wagen, wo geschossen wird, also hierher nach dem Wagen. Inzwischen seid ihr lange fort, und es bedarf höchstens noch einiger Schüsse, um auch mich in Sicherheit zu bringen. Wahrscheinlich aber kann ich gleich mit euch die Flucht ergreifen."
"Tod und Wetter!" meinte der Advokat. "Es handelt sich hier um nicht weniger als um alles, und da redet Ihr in einer Weise, so kalt und so ruhig, als ob Ihr einem kleinen Kinde zu erklären hättet, daß zweimal acht nicht fünfzehn, sondern sechzehn gibt!"
"Wie anders soll ich sprechen? Es droht mir jetzt nicht die allerkleinste Gefahr. Also jetzt wißt ihr, was ihr zu tun habt für den Fall, daß irgend ein Neugieriger mich erwischt. Geschieht dies nicht, so werdet ihr morgen früh befreit werden."
"Gebe der Himmel, daß Eure zuversichtlichen Worte sich bewahrheiten, daß wir frei werden! Dann aber sind wir noch lange nicht fertig. Es gibt noch mehr zu tun. Wir müssen Jonathan Melton haben."
"Den habe ich."
"Was ... wie ... Sir ...!"
"Still, still!" warnte ich, ihn unterbrechend. "Nennt Ihr das "flüstern"? Wenn der Rote es hört!"
"Ist es wahr! Soll ich das glauben? Sir, ich möchte laut Hurra und Viktoria schreien!"
"Das laßt bleiben! Später könnt Ihr meinetwegen schreien, daß Euch der Atem ausgeht."
"Wo habt Ihr ihn denn ergriffen?"
"Am tiefen Wasser, an welchem auch Euer Wagen gehalten hat. Die Millionen habe ich auch."
"Wo, wo?" fragte er begierig.
"Hier in meiner Brusttasche."
"Wie! Was? Ihr tragt die ungeheure Summe bei Euch!"
"Natürlich! Soll ich sie etwa an einen Baum hängen oder in die Erde vergraben?"
"Und wagt Euch damit hierher, mitten zwischen vierhundert Feinde und in diese Überlandpostkutsche hinein? Wenn man Euch erwischt, ist das Geld wieder verloren."
"Man wird mich eben nicht erwischen! Ich bin der festen Überzeugung, daß hier meine Tasche ein besserer Aufbewahrungsort für dieses Geld ist, als es Euer Geldschrank in New Orleans war. Übrigens mag Euch der Umstand, daß ich es bei mir trage, beweisen, wie sicher ich mich hier in der alten Kutsche fühle, und ich wünsche sehr, daß es, wenn ich es den rechtmäßigen Eigentümern übergeben habe, bei diesen keinen größeren Gefahren ausgesetzt ist als jetzt bei mir! Doch, wir sind von unserem eigentlichen Thema abgekommen. Wir wollen von Jonathan Melton reden."
"Ja, wie er in Eure Hände gekommen ist. Ich wünsche, Ihr hättet sehen und hören können, wie er sich gegen mich benommen hat, als er zu den Mogollons kam und mich als deren Gefangenen vorfand!"
"Gab er sich noch immer für den wirklichen Small Hunter aus?"
"Das fiel ihm gar nicht ein. Ich hätte ihn mit meinen Händen erwürgen können!"
"Sein Geständnis wird uns später sehr nützlich sein."
"Er teilte mir sogar mit teuflischer Schadenfreude mit, daß ich den Osten niemals wieder sehen würde und daß auch Mrs. Werner hier verschwinden müsse."
"Dafür wird er ihn selbst wiedersehen, und zwar in Eurer und in unserer Gesellschaft. Er ist endlich unschädlich gemacht worden, obgleich er die Hoffnung hegt, sich wieder befreien zu können."
"So! Hegt er die wirklich?"
"Er hat es mir in das Gesicht gesagt."
"Der Schurke! Erzählt, erzählt, Sir! Ich muß wissen, wie er in Eure Hände geraten ist und wie er sich dabei benommen hat!"
Es braucht wohl kaum erwähnt zu werden, daß wir uns während der Unterredung mit der äußersten Vorsicht benahmen, und daß der draußen sitzende Wächter während derselben oft und scharf beobachtet wurde. Dem Advokaten, der sich wohl in seinen Gesetzesparagraphen aber nicht in der Wildnis heimisch fühlte, war es um sich selbst bange und um mich erst recht himmelangst zu Mute, und daß sich die Sängerin in nicht geringerer Angst befand, verstand sich von selbst. Ich aber hatte wirklich keine Sorge, weder um die beiden, noch um mich selbst. Der Innenraum der alten Kutsche war in Wirklichkeit für mich ein besserer Aufenthalt, als jeder andere Ort in der Nähe. So konnte ich denn mit beinahe vollständiger Unbefangenheit erzählen, was ich zu erzählen hatte, nur daß ich öfters einen Blick hinaus auf den Wächter warf, um zu sehen, daß er noch an seinem Platze saß. Aber so ganz ohne gefährliche Unterbrechung sollte mein Bericht denn doch nicht zu Ende gehen. Ich war damit noch nicht ganz fertig, als ich gezwungen war, zu schweigen. Ich hörte Schritte, und als ich hinausblickte, sah ich einen Roten kommen, der unsern Posten voraussichtlich abzulösen hatte. Der letztere stand auf; der erstere aber kam an den Wagen, stellte sich auf das Trittbrett und führte die Untersuchung der Fesseln ganz in der Weise, wie sein Vorgänger aus, erst auf der rechten dann auf der linken Seite der Kutsche. Es verstand sich ganz von selbst, daß ich mich beidemal in die entgegengesetzte Ecke meines Sitzes drückte, welchem Umstand ich es zu verdanken hatte, daß die Gefahr glücklich vorüberging.
Der vorige Wächter war fortgegangen, und der jetzige hatte sich fast genau an dieselbe Stelle gesetzt. Als die beiden Gefangenen nun kurz erfahren hatten, was ihnen über Jonathan Melton zu wissen nötig war, fuhr ich fort:
"Die Mogollons werden früh, sobald der Tag zu grauen beginnt, aufbrechen. Ihr sollt mit dem Wagen unter Bedeckung noch für einige Zeit zurückbleiben. Diese Bedeckung werden wir Überfallen, und dann seid ihr frei."
"Wie das klingt!" meinte der Advokat. "Die Bedeckung werden wir überfallen, und dann seid ihr frei! Als ob das nur so glatt abgehen müßte, wie beim Papierschneiden! Meint Ihr denn, daß die Bedeckung sich nicht wehren wird?"
"Vielleicht, oder sogar wahrscheinlich tut sie es."
"Schrecklich! Und das sagt dieser Mann so ruhig! Sir, ich bitte Euch, bringt mich nur dieses Mal glücklich heim! Es soll mir nie im Leben wieder einfallen, nach dem wilden Westen zu gehen! Was meint Ihr wohl, wird die Bedeckung, die bei uns zurückzubleiben hat, stark sein?"
"Schwerlich. Der Häuptling wird sicher nur soviel Reiter bei euch lassen, wie unumgänglich nötig sind, ungefähr zehn."
"Die können doch nichts gegen Euch und Eure hundert Nijoras machen!"
"Volle hundert haben wir nicht, da wir eine Anzahl zur Bewachung der heute gefangenen Mollogons verwenden müssen, dennoch werden wir aber eurer Bedeckung sechs- oder siebenmal überlegen sein. Dazu kommt der Schreck, den die Leute haben werden, wenn wir so unerwartet über sie herfallen. Ich denke, daß wir die Sache ganz ohne Blutvergießen abmachen werden. So, nun will ich gehen."
"Nehmt Euch in acht, daß Euch nicht doch noch schließlich der Posten bemerkt!"
"Den schicke ich fort, wie den vorigen. Paßt auf!"
Ich zog zwei Steine aus der Tasche; da sagte Martha, und zwar in deutscher Sprache, während wir uns bis jetzt der englischen bedient hatten:
"Sie haben so viel, so außerordentlich viel für uns getan und gewagt; fügen Sie jetzt noch die Erfüllung einer großen Bitte hinzu!"
"Gern, wenn ich kann."
"Sie können. Schonen Sie sich! Warum müssen nur Sie immer voran sein! Überlassen Sie den Ueberfall morgen doch andern!"
"Ich danke Ihnen für die Freundlichkeit, welche für mich in Ihrer Bitte liegt. Daß ich mich schone, versteht sich ganz von selbst; doch will ich Ihnen gern versprechen, daß ich mich morgen ganz besonders in acht nehmen werde."
Ich mußte ihre Bitte doch beantworten, und konnte dies nicht gut in einer andern Weise tun. Nun warf ich einen Stein hinaus. Wir paßten auf und sahen, daß der Posten aufmerksam wurde; beim zweiten Steine stand er auf, und als ich dann noch einen dritten, den letzten, weiter hinüberwarf, entfernte er sich in der Richtung des Geräusches, welches dadurch verursacht worden war.
"Gute Nacht! sagte ich. "Es wird alles gut ablaufen; habt also keine Sorge! Auf Wiedersehen morgen früh!"
Durch das Fenster greifend, öffnete ich die Tür, stieg hinaus und machte sie leise wieder zu, um mich dann gleich auf den Boden niederzuwerfen, denn ich sah, daß der Posten schon zurückkehrte. Auch ihn hatte der Fall der Steine mißtrauisch gemacht. Er setzte sich nicht nieder, sondern trat, ganz wie sein Vorgänger, zum Wagen, um das Innere zu untersuchen, glücklicherweise auf der mir entgegengesetzten Seite. Es war als wahrscheinlich anzunehmen, daß er dann auch diesseits kommen werde; darum rollte ich mich so schnell und so weit wie möglich fort und blieb dann liegen, um nicht etwa seine Aufmerksamkeit durch irgend eine Bewegung auf mich zu ziehen. Er kam aber nicht herüber, sondern blieb drüben und setzte sich wieder nieder. Nun kroch ich weiter. Da ich jetzt wußte, wo die Feinde sich befanden und daß ich keinen von ihnen vor mir hatte, konnte ich mich bald vom Boden erheben und den Weg zu Winnetou gehend zurücklegen.
Er stand noch genau da, wo ich ihn verlassen hatte. Ich fragte ihn: "Ist dir die Zeit lang geworden?"
"Nein," antwortete er. "Mein Bruder ist zwar länger, als ich dachte, fortgeblieben, aber da kein Lärm zu hören war, wußte ich, daß er eine Gelegenheit zum Lauschen gefunden habe, und war also ohne Sorge um ihn."
"Ja, ich habe gelauscht; doch komme fort zu unsern Pferden! Wir haben keine Veranlassung, hier stehen zu bleiben, und es ist für alle Fälle besser, wenn wir uns nicht so sehr in der Nähe des feindlichen Lagers befinden."
Der Nijora saß bei den drei Pferden. Als er uns kommen sah, stand er ehrerbietig auf. Wir setzten uns und forderten ihn auf, dies auch zu tun. Er gehorchte, doch so, daß zwischen uns und ihm die bei den Roten gebräuchliche Respektentfernung lag.
Wir saßen eine Weile stumm. Ich wußte, daß Winnetou mich nicht fragen oder zum Sprechen aufforden werde, darum begann ich:
"Mein Bruder mag einmal raten, wo ich gesessen habe!"
Er warf mir einen prüfenden Blick zu, senkte das Auge nachdenklich zu Boden und antwortete dann:
"Waren die beiden Gefangenen noch in dem Wagen?"
"Ja."
"So hast du bei ihnen gesessen. Weiß mein Bruder, was er da getan hat?"
"Was?"
"Er hat den großen Geist versucht, welcher seine guten Menschen nur dann beschützt, wenn sie sich nicht ohne Ursache in Gefahr begeben. Wer sich ohne Grund in ein reißendes Wasser stürzt, kann, selbst wenn er ein guter Schwimmer ist, leicht darin umkommen. Ich muß meinen Bruder ob seiner Verwegenheit tadeln!"
"O, im Inneren des Wagens war ich weit sicherer, als anderswo!"
Ich erzählte ihm, was ich gesehen und gehört hatte. Am wichtigsten war für uns der Umstand, daß der Wagen nach dem Aufbruch der Mollogons zurückbleiben und erst später nachkommen sollte.
"Wir werden die Bedeckung überfallen und die beiden Gefangenen befreien," sagte der Apatsche.
"Das ist auch meine Ansicht; es fragt sich aber, ob sie die richtige ist. Es gibt einen sehr triftigen Grund, den Wagen und seine Bedeckung unbelästigt fortzulassen, nämlich die Enge der beiden Hohlwege. Findet der Häuptling der Mogollons, daß sie so breit sind, daß der Wagen hindurch kann, so wird er unbesorgt weiterreiten und annehmen, daß derselbe ihm folgen werde. In diesem Falle können wir die Gefangenen befreien, ohne daß er es zu früh bemerkt."
"Und wenn aber die Wege zu eng sind?"
"So wird er halten bleiben, um die schmalen Stellen mit Hilfe der Tomahawks erweitern zu lassen. Ist dann der Wagen zur bestimmten Zeit nicht da, so wird er Verdacht schöpfen und Boten zurücksenden. In diesem Falle ist es notwendig, von der Befreiung der beiden Gefangenen zunächst noch abzusehen."
"Mein Bruder hat recht."
Nach diesen Worten fiel er in ein längeres Nachdenken. Ich konnte leicht erraten, womit er sich beschäftigte, und hatte mich da nicht geirrt, denn als er zu einem Resultate gekommen war, sagte er:
"Wir können die Bedeckung des Wagens getrost überfallen, denn die Wege sind so breit, daß er hindurch kann."
"Weißt du das genau?"
"Ja, ich habe den Wagen gesehen und kenne seine Breite. Da wir die Mogollons oben auf der Platte überfallen wollen, so handelt es sich nur um den einen Weg, welcher hinauf-, nicht aber auch um den andern, der jenseits wieder hinabführt; der erstere aber bietet kein Hindernis. Ich bin jetzt im Geiste dort gewesen, und habe mit den Augen meiner Seele jede Stelle ausgemessen. Der Wagen kann hindurch."
"So werden sich die Mogollons also nicht unten aufhalten, sondern ohne Verzögerung hinauf zur Platte reiten."
"So ist es. Wir können also die zurückgebliebene Bedeckung des Wagens getrost überfallen."
"Wie meinst du, daß das am besten geschehen könnte?"
"Mein Bruder hat die Örtlichkeit gesehen und mag mir seine Meinung sagen!"
"Ich möchte dabei keinen Menschen töten oder verwunden. Um das zu erreichen, muß der Ueberfall eine Überrumpelung sein; er muß ganz plötzlich geschehen."
"Hält mein Bruder dies für möglich? Jeder Mogollon, welcher hier zufällig außerhalb der Büsche steht, muß uns doch kommen sehen und wird Lärm machen."
"So müssen wir nicht hier auf dem Wege, also von Norden her, sondern von Süden kommen, weil die Mogollons von dort her am allerwenigsten einen Feind erwarten können. Der Häuptling reitet mit über dreihundert Mann nach Süden. Wenn wir eine halbe Stunde später aus dieser Gegend kommen, können die Zurückgebliebenen uns unmöglich für Feinde halten. Ja, sie werden höchstwahrscheinlich denken, wir seien eine Schar der Ihrigen, welche aus irgend einem Grunde zurückkehren mußte, und erst dann, wenn sie unsere Gesichter erkennen, werden sie ihren Irrtum einsehen. Dann aber ist es schon zu spät für sie."
"Mein Bruder hat das Richtige getroffen, wie immer; sein Plan wird ausgeführt. Was dann aber weiter?"
"Von der Quelle des Schattens bis auf die Platte des Cañons, auf welcher der Kampf stattfinden soll, sind drei Stunden zu reiten. Ich möchte die Gefangenen, welche wir heute gemacht haben und morgen früh noch machen werden, nicht mit nach der Platte nehmen. Sie hindern uns, und können uns sogar gefährlich werden."
"Was soll denn mit ihnen geschehen?"
"Sie mögen unter hinreichender Aufsicht an der Schattenquelle zurückbleiben. Da sie sich nur drei Stunden von uns befinden, sind sie uns jedenfalls sicher genug. Lassen wir vierzig Nijoras bei ihnen, welche wir unter den Befehl Emerys stellen, so ist's gerade so gut, als ob sie sich unter unsern Augen befänden."
"Auch darin stimme ich meinem Bruder bei, denn wenn wir sie mitnehmen, müssen wir kämpfen und sie zugleich beaufsichtigen, wobei ihnen irgend ein unerwarteter Umstand die Freiheit verschaffen kann. Sie mögen also zurückbleiben. Hat mein Bruder die Absicht, sich direkt am Kampfe zu beteiligen?"
"Das kommt auf die Umstände an. Ich töte nicht gern einen Menschen; aber die Nijoras sind unsere Freunde und Brüder geworden, und wir müssen ihnen also gegen die Mogollons beistehen, welche nicht nur ihre Feinde, sondern auch die unsrigen sind. Wir haben die Aufgabe, den Mogollons zu folgen, sie durch den Hohlweg hinauf auf die Platte und den dort wartenden Nijoras in die Hände zu treiben. Das müssen wir auf jeden Fall tun. Was dann noch zu geschehen hat, werden die Umstände ergeben. Am liebsten wäre es mir freilich, wenn die Mogollons ihre Waffen streckten, ohne den Kampf zu beginnen."
"Das werden sie nicht tun oder höchstens nur dann, wenn ihnen kein Zweifel bleibt, daß der Widerstand sie in den sichern Tod treiben würde."
"So muß man ihnen das zu beweisen suchen! Der Plan, den wir dem Häuptlinge der Nijoras mitgeteilt haben, will ja diesen Erfolg erreichen."
"Denkt mein Bruder, daß der Häuptling nach diesem Plane handeln wird?"
"Ich meine es; wenigstens wäre er ein großer Thor, wenn er es nicht täte; und wie ein Thor ist er, den ich zwar nur erst einmal gesehen habe, mir nicht vorgekommen."
"Dennoch wäre es nützlich, ja sogar notwendig, Gewißheit darüber zu erlangen, ob er unsern Vorschlägen Folge geleistet hat. Willst du ihm einen Boten senden, um ihn fragen zu lassen?"
"Nein, denn dazu ist die Zeit zu kurz. Ehe der Bote ihn erreicht und wieder zu uns zurückkehrt, ist es zu spät; auch würde er sicher den Mogollons begegnen und von ihnen weggefangen werden. Auch genügt es nicht, nur zu erfahren, ob der Häuptling nach unsern Weisungen handeln will, sondern es ist notwendig, zu wissen, daß er wirklich nach denselben handeln wird."
"Du meinst also eine Beaufsichtigung. Dann müßte einer von uns beiden hin. Das ist's doch, was du sagen willst?"
"Das ist es. Und nur dann, wenn du bei ihm bist oder ich bei ihm bin, kann er bestimmt werden, von unnützem Blutvergießen abzusehen. Ich kenne die beiden Gefangenen, weiche hier zu befreien sind, und habe es mehr wie du mit der Erbschaftsangelegenheit, also mit der Bewachung Jonathan Meltons, zu tun, gehöre also mehr hierher. Du bist viel länger als ich ein Freund der Nijoras; also reite du zu ihrem Häuptlinge."
"Du sagst es, und ich bin einverstanden; ich werde sofort aufbrechen."
"Nimmst du den jungen Krieger mit, der sich bei uns befindet?"
"Ja."
"So bitte ich dich, ja darauf zu sehen, daß auf der Platte der Wald dicht besetzt wird und hinter dem Felsenzuge sich genug Krieger aufstellen. Geschieht das, so gibt es für die Mogollons keinen Ausweg. Wenn sie sich nicht ergeben, so werden sie entweder wie zusammengetriebenes Wild niedergeschossen oder in den tiefen Cañon getrieben, dessen Grund sich mit ihren zerschmetterten Gliedern füllen würde."
"Du kannst überzeugt sein, daß ich nichts unterlassen werde, was einen friedlichen Ausgang herbeizuführen vermag; gehen aber die Mogollons nicht darauf ein, so kann ich nicht verhindern, daß sie in den sichern Tod rennen. Bringe du sie nur den Hohlweg heraufgetrieben!"
Nachdem noch einige andere Bemerkungen ausgetauscht worden waren, setzte er sich zu Pferde; der Nijora stieg auch auf; dann ritten sie davon, natürlich zunächst einen Bogen schlagend, um das feindliche Lager zu umgehen. Die Entscheidung nahte.
Nun befand ich mich allein. Ich ritt noch ein Stück zurück, um beim Anbruche des Morgens nicht von den MogolIons gesehen zu werden, pflockte mein Pferd an und legte mich nieder. Zum Schlafen etwa? Ich hätte schlafen dürfen, denn ich befand mich an einer Stelle, an welcher kein Un- oder Ueberfall zu erwarten war; aber ich hatte am Tage genugsam ausgeruht, und mußte daran denken, daß wir jetzt, in der heutigen Nacht, an dem Schlusse unserer vielen und schweren Bemühungen standen. Die Hände unter dem Kopfe und die Augen gen Himmel gerichtet, an welchem die Sterne jetzt wieder erschienen, da das Gewölk im Westen verschwunden war, dachte ich an all die Ereignisse von jenem Tage an, an welchem ich Harry Melton, den Ermordeten, in Guaymas zum erstenmal gesehen hatte. Welche Ereignisse, welche Sorgen, Mühen, Enttäuschungen und Gefahren lagen zwischen jenem Tage und dem heutigen Abend! Die Lehre aus allem, allem, was ich in dieser Zeit erfahren und erlebt hatte, bestand in den wenigen und doch so schwerwiegenden Worten: Bewahre dir allezeit ein gutes Gewissen!
So sann und sann ich, bis meine Gedanken weniger scharf wurden; dann träumte ich halb, halb wachte ich, und endlich schlief ich doch ein. Da ich mich nicht in meine Decke gehüllt hatte, wurde ich von der empfindlich kühlen Luft geweckt. Der Stand der Sterne sagte mir, daß es ungefähr eine Stunde vor Morgen war.
Bald darauf hörte ich Pferdegetrappel von Norden her. Ich ging dem Schalle entgegen, und legte mich auf die Erde. Ein Zug von Reitern kam, eine Strecke voran zwei; der eine war ein Weißer, der andere ein Roter, welcher wohl den Führer machte. Ich stand auf und rief sie an, und zwar mit verstellter Stimme:
"Halloo, Mesch'schurs! Wohin der Ritt?"
Die beiden parierten sofort ihre Pferde und griffen zu ihren Gewehren. Der Weiße antwortete:
"Wen geht es etwas an, wohin wir reiten? Komm näher, Bursche, und lasse dich sehen, wenn du keine Kugel kosten willst!"
"Versteht Ihr denn, einen Menschen zu treffen, Mister Emery?"
"Emery? Der Kerl kennt mich! Wer mag ... Alle Wetter, bin ich dumm!" unterbrach er sich. "Das ist doch jedenfalls kein anderer als der alte Charley, den sie Shatterhand nennen! Komm her, mein Kind, und sage uns, wo der Apatsche steckt!"
"Steigt ab; dann sollst du es erfahren. Wir müssen hier halten. Ist alles in Ordnung, Emery?"
"Alles."
"Und Jonathan?"
"Kommt da hinten mit seiner lieben Judith geritten. Dunker hat sich sein erbarmt, und mag nun keinen Augenblick mehr von ihm lassen."
Der Zug hielt an, und alle stiegen ab. Ich ging vor allen Dingen zu Melton. Eben war er vom Pferde genommen, und neben Judith auf die Erde gelegt worden. Dunker stand bei ihnen.
Dann sah ich nach den gefangenen Mogollons. Sie lagen auf der Erde, zwei und zwei mit den Rücken gegeneinander zusammengebunden. Die waren uns sicher; die konnten nicht entfliehen. Dann erzählte ich Emery, Dunker und dem Unterhäuptlinge, was ich mit dem Apatschen beobachtet und besprochen hatte, und fragte hierauf den letzteren:
"Kennt mein roter Bruder vielleicht eine nahe, an der Schattenquelle liegende Stelle, von welcher aus wir die abziehenden Mogollons beobachten können, ohne von ihnen bemerkt zu werden?"
"Es gibt eine solche," antwortete er. "Sobald mein Bruder es wünscht, werde ich ihn zu derselben führen."
"Gut! Wir müssen sehr bald aufbrechen, da der Morgen nahe ist. Fünfzig deiner Krieger mögen uns begleiten, um die zurückbleibenden Feinde zu überfallen. Die andern fünfzig bleiben zur Bewachung der Gefangenen hier."
"Und ich?" fragte Dunker.
"Ihr müßt unbedingt bei Melton bleiben, den ich Euch anvertraut habe."
"Well! Ich bin also sein Kerkermeister. Da mag er den Gedanken an eine Flucht nur immer fallen lassen!"
"Aber ich darf doch mit?" erkundigte sich Emery.
"Ich möchte dich bitten, auch hier zu bleiben."
"Warum? Möchte gar zu gern dabei sein."
"Um zu sehen, wie wir zehn oder zwölf Indianer fangen? Das ist nichts. Bedenke, daß wir außer Melton noch fünfzig Gefangene zu bewachen haben. Die muß ich unter ganz sicherer Obhut wissen. Es ist ein Vertrauensposten für dich, Emery."
"Gut! Wenn du es mir von dieser Seite klar und fein machst, kann ich es nicht gut grob nehmen. Wann sollen wir nach der Quelle kommen?"
"Ich schicke euch einen Boten."
Nach kurzer Zeit stiegen fünfzig Nijoras wieder auf. Ihr Unterhäuptling setzte sich mit mir an ihre Spitze, und führte uns nicht süd-, sondern westwärts, um die Quelle des Schattens nach dieser Richtung zu umgehen. Später lenkten wir nach Süden, und dann nach Osten ein; der Bogen war geschlagen, und wir hielten vor einer langgestreckten, nicht bedeutenden und schmalen Anhöhe, auf welcher Gebüsch zu stehen schien.
"Wir befinden uns an Ort und Stelle," sagte der Unterhäuptling.
"Wie weit von der Quelle?" erkundigte ich mich.
"Fünf Minuten. Wer auf diese kleine Höhe steigt und sich da hinter das Gebüsch legt, kann die ganze Gegend der Quelle des Schattens überblicken und wird doch selbst nicht gesehen."
"Das ist gut. Warten wir, bis es Tag geworden ist. Aber gebt gut auf die Pferde acht, damit nicht etwa eines davonläuft und uns verrät!"