Cover
  Brigitte Schorr– Hochsensible in der Partnerschaft– SCM Hänssler

Vogel

Für meine Kinder Raphael und Stella, in der Hoffnung, dass sie gerade wegen ihrer Hochsensibilität erfüllende Beziehungen in ihrem Leben gestalten können.

Für meinen Mann, der mir gezeigt hat, dass es auch in Zeiten größter Krise möglich ist, den Blick auf das Gute zu lenken.

Für die vielen hochsensiblen und hochsensitiven Menschen, die mit mir ihre Erfahrungen geteilt haben.

Für die vielen hochsensiblen und normalsensiblen Menschen, ohne die dieses Buch schlichtweg nicht möglich gewesen wäre.

In der Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft, in der es möglich ist, alle Arten von Wahrnehmungsfähigkeit ohne Angst leben zu können und dafür geschätzt zu werden.

Inhalt

Inhalt

Einleitung

I. Was Hochsensibilität bedeutet

 1. Hochsensibilität – eine verbreitete Veranlagung

 2. Verschiedene Erklärungsansätze

 3. Hochsensible Personen und High Sensation Seeker

 4. Haltung entwickeln

 5. Vier Kriterien der Hochsensibilität

II. Wie Hochsensibilität Ihre Partnerschaft beeinflusst

 1. Sie sind mehr als nur hochsensibel

 2. In Beziehung sein heißt, in Resonanz zu sein

 3. Das Bedürfnis nach Sicherheit

 4. Das Bedürfnis, verstanden zu werden

 5. Der Zeitfaktor und das Ruhebedürfnis

 6. Eine Frage der täglichen Energie

 7. Die Kunst der langsamen Veränderung

 8. Geduld mit sich und anderen entwickeln

 9. Von Autobahnen und anderen Straßen – der Umgang mit (neuen) Verhaltensmustern

10. Hochsensible Eigenschaften und ihre Auswirkungen

11. Freie Zeiten

12. Von Wohnräumen, Freiheiten und Verbindlichkeiten

13. Sand im Getriebe

14. Mut zur Wut oder: Wie Abgrenzung gelingen kann

15. Das Weibliche, das Männliche und die Hochsensibiliät

III. Die eigene Hochsensibilität schätzen lernen – und ein zufriedenerer Partner werden

 1. Sie sind ein Weltwunder

 2. Über das Echte

 3. Was Tomatensoße mit Partnerschaften zu tun hat

 4. Das Gemälde der Liebe malen

 5. Frieden schließen

IV. Zum Vertiefen

 1. Fragebogen »Bin ich hochsensibel?« (nach Elaine Aron)

 2. Fragebogen »Sind Sie ein High Sensation Seeker?«(nach Elaine Aron)

 3. Der Ansatz des Somatic Experiencing von Peter Levine

 4. Weiterführende Literatur

 5. Website-Empfehlungen

Anmerkungen

Einleitung

Vielleicht geht es Ihnen wie mir: Wenn ich in einer Buchhandlung die Abteilung Psychologie/Lebenshilfe aufsuche, was ich allein schon aus beruflichem Interesse regelmäßig mache, fühle ich mich etwas hilflos angesichts der Bücherflut zum Thema Liebe, Partnerschaft und Ehe. Bücher kommen oft wie Menschen daher: manche laut und aufdringlich, andere dezent und unauffällig. So unterschiedlich, wie sie in ihrem Erscheinungsbild sind, so gleichen sie sich doch häufig in ihrem Inhalt. Die Autoren und Autorinnen werden nicht müde zu betonen, was es ihrer Ansicht nach für eine gute Partnerschaft braucht, und manche zögern auch nicht, eine Art Rezept für das Gelingen einer Beziehung auszustellen. Aus ihrer jeweiligen Perspektive haben sie alle recht. Doch regelmäßig lege ich diese Ratgeber enttäuscht zur Seite, denn nahezu immer fehlt mir ein Aspekt, den ich sehr wichtig finde: das Eingehen auf die verschiedenen Persönlichkeiten und dabei auch auf die unterschiedlich ausgeprägte Sensibilität der Partner. Wie kann man beschreiben, wie eine Partnerschaft sich gestaltet, ohne auf die Hintergründe und Erfahrungen einzugehen, die jedes Leben nachhaltig prägen und die meines Erachtens sehr stark zum Gelingen oder Scheitern einer Beziehung beitragen?

Eine komplexe Beziehung

Wenn Menschen in meine psychologische Praxis kommen, weil sie verzweifelt festgestellt haben, dass ihre Beziehung kurz vor dem Scheitern steht, wollen sie sehr häufig schnelle Hilfe. Sie erhoffen sich Tipps und Tricks, um die Lage zu entschärfen und zum Besseren zu wenden. Das ist sehr verständlich – wenn es eng wird im Leben, dann braucht es oft auch Interventionen, die schnelle Wirkung zeigen. Es gibt Dinge, die sofort zu einer Erleichterung oder auch Entlastung führen, vorausgesetzt, beide Partner sind dazu bereit, sie einzusetzen. Daneben ist es unbedingt nötig, Ursachenforschung zu betreiben: Woher genau kommen diese Schwierigkeiten? Welche Bedürfnisse und Motive spielen im Hintergrund eine Rolle? Wie ist die Persönlichkeit dieser Menschen entstanden? Gab es Brüche, Schwierigkeiten, vielleicht sogar traumatische Erlebnisse, die bestimmte Eigenschaften gefördert oder unterdrückt haben und dadurch die Partnerschaft nachhaltig beeinflussen? Das ist für mich dann die eigentliche Arbeit. Zu verstehen, wie man zu dem Menschen geworden ist, der heute lebt, benötigt man manchmnal einen Blick in die Vergangenheit der Persönlichkeit. Verstehen ist deshalb für mich ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer reifen Beziehung.

Beinahe nichts scheint mir so komplex zu sein wie eine Liebesbeziehung. Und in beinahe keinem anderen Bereich des menschlichen Lebens liegen Glück und Schmerz so nahe beieinander. Menschen, die aufgrund ihrer Lebensgeschichte und ihrer Veranlagung sensibler sind als andere, können unter dem plötzlichen Wechsel zwischen Glück und Schmerz sehr leiden. Ich möchte in diesem Buch aufzeigen, woran das meiner Ansicht nach liegen kann, und ich möchte Wege für Hochsensible und ihre Partner bzw. Partnerinnen eröffnen, mit dem, was ihnen von Gott und vom Leben geschenkt wurde, lebensfreundlich umzugehen.

Hochsensibilität und Beziehungen

Im Alltag können wir immer wieder beobachten, dass es Menschen gibt, die sensibler sind als andere, die mehr wahrzunehmen scheinen und auf eine besondere Art verletzlich, aber auch differenziert und vielschichtig sind. Es überrascht mich immer wieder, dass in Beziehungsratgebern nicht darauf eingegangen wird, obwohl es doch offensichtlich ist, dass es eine Partnerschaft beeinflussen muss, wenn man als Betroffener sensibler durchs Leben geht.

In meiner Arbeit als psychologische Beraterin habe ich mich auf hochsensible Menschen spezialisiert und ich habe erlebt, dass diese Eigenschaft Beziehungen so sehr prägt wie kaum eine andere. Sind Sie sehr sensibel, vielleicht sogar hochsensibel, dann drückt sich diese Veranlagung in jedem Bereich und an jedem Tag Ihres Lebens in verschiedenster Weise aus. Und es beeinflusst Ihre Partnerin oder Ihren Partner, auch wenn er oder sie nicht hochsensibel sein sollte. Viele Missverständnisse und Hürden, denen man in einer engen Beziehung begegnen mag, können entschärft werden, wenn sich beide Partner ihrer Veranlagungen bewusst sind und zu einem ausgewogenen Rhythmus finden. Dass das nicht ganz so einfach ist, wie es klingt, ist offensichtlich. Deshalb habe ich in diesem Buch versucht, die subtilen Mechanismen zu beschreiben, die in einer Partnerschaft auftreten können, in der mindestens einer der Partner hochsensibel ist.

Möglichkeiten, eine Beziehung zu gestalten

Viele Themen, die ich in diesem Buch anspreche, besitzen möglicherweise genauso Gültigkeit für normalsensible Partnerschaften. Dass es dabei immer nur um ein Kann, aber nicht um ein Muss geht, möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich betonen. Auch wenn ich Ideen entwickele und Sie einlade, Dinge auszuprobieren: Sie entscheiden, welche Methoden und Möglichkeiten für Sie speziell sinnvoll sind und welche Ihnen helfen, neue Seiten an sich und dem Partner oder der Partnerin zu entdecken. Verstehen Sie dieses Buch als Anregung, das mitzunehmen, was Sie persönlich für sinnvoll halten, und anderes, was nicht zu Ihnen passt, wegzulassen. Das Leben ist ein großes Experimentierfeld und ich habe die Erfahrung gemacht, dass viele Menschen sich in ihrem Leben nur am Rande ihrer Möglichkeiten bewegen. Interessiert daran zu sein, welches Potenzial noch in Ihnen liegt, ist für mich die Grundvoraussetzung für das Gestalten einer lebendigen und erfüllten Beziehung. Seien wir ehrlich: Lebendig und erfüllt wollen wir alle sein. Dieses Ideal haben wir schließlich vor Augen, wenn wir an Liebesbeziehungen denken. Filme, Romane und Medien haben ihren Einfluss auf die Entwicklung solcher Vorstellungen.

Grundsätzlich gehe ich davon aus, dass jede enge Beziehung zwischen zwei Menschen großer Sorgfalt bedarf. Vor allem für hochsensitive und hochsensible Menschen, die ein ausgeprägtes Gespür für Stimmigkeit und deren Fehlen besitzen, ist es wichtig, achtsam und sorgfältig mit ihren Erfahrungen der Wahrnehmung umzugehen. Und Sorgfalt braucht Zeit. Darauf werde ich in diesem Buch auch eingehen.

Was Sie erwartet

Dieses Buch richtet sich nicht nur an Hochsensible, sondern ich möchte auch die normalsensiblen Menschen unter Ihnen herzlich einladen, meinen Gedanken zu folgen. Ich hege die Hoffnung, dass sowohl Hochsensible als auch Normalsensible dadurch angeregt werden, ihre Beziehungserfahrungen, Haltungen und Bedürfnisse zu reflektieren und so zu einem erfüllten Leben beizutragen.

Im ersten Teil des Buches beschreibe ich, was sich unter dem Begriff Hochsensibilität verbirgt, welche Erklärungsansätze und welche Kriterien es gibt.

Im zweiten Teil des Buches gehe ich darauf ein, wie die hochsensitive und hochsensible Veranlagung auf Partnerschaften einwirken kann und welche Risiken, aber auch welche Chancen sich daraus ergeben. Ideen zur lebensfreundlicheren Gestaltung Ihrer Beziehung lasse ich einfließen.

Ein wichtiger Punkt ist für mich auch, dass Menschen ihre eigene Hochsensibilität schätzen lernen, denn dadurch können sie zu zufriedeneren Partnern werden. Darauf gehe ich im dritten Teil ein.

Und schließlich finden Sie im vierten Teil Fragebögen, Informationen zu Methoden, die ich für Hochsensible als sinnvoll erachte, sowie Literatur und informative Websites.

Idealerweise lesen Sie dieses Buch zu zweit. Mir ist aber sehr bewusst, dass es oft einer der Partner ist, der oder die die Initiative ergreift und zuerst Bücher dieser Art liest. In dem Fall möchte ich Sie dazu anregen und ermutigen, die Gedanken und Ideen, die in Ihnen durch dieses Buch anklingen, sorgfältig, wertschätzend und in einem gesunden Maß in Ihre Beziehung einzubringen.

Mit der Hochsensibilität ist es ein wenig wie mit einer kostbaren Perlenkette:

Jede natürliche Perle ist wertvoll und hat gerade ihren Wert durch die Dellen und Unebenheiten, die sie einzigartig machen. Vielleicht gelingt es Ihnen, durch die Lektüre dieses Buches und der Beschäftigung mit Ihrer Hochsensibilität sich selbst auch als eine besondere Art von Perle zu betrachten. Das ist nicht anmaßend oder arrogant gemeint. Perlen sind schon im Altertum eine Quelle von Anekdoten und ein Zeichen von Wohlstand, Weisheit und Würde gewesen. Im Mittelalter wurde die Perle als Zeichen der Liebe zu Gott angesehen.

Jedoch verweilen wir zu oft mit unserer Aufmerksamkeit bei den Dellen und Unebenheiten, anstatt den kostbaren Perlmuttschimmer und die Einzigartigkeit der eigenen Schöpfung, die Gott in uns hineingelegt hat, wahrzunehmen. Meine Erfahrung ist die, dass es oft eines Umdenkens bedarf, die Aufmerksamkeit auf die positiven Seiten zu lenken, weil die negativen oft so dominant erscheinen. Aber wer diesen intensiven Weg beschreitet, dem mag es auch mit der Zeit gelingen, den besonderen Wert hochsensibler Menschen in der Gesellschaft wahrzunehmen.

Manche Schätze werden durch Leiden geboren. So wie das Eindringen eines Sandkorns in die Muschel diese dazu anregt, eine Perle zu bilden, entsteht ein reifes, hochsensibles Leben ebenfalls oft aus Verletzungen. Perlen brauchen lange, um zu reifen. Zwischen mehreren Monaten und mehreren Jahren dauert die Heranbildung einer einzigen Perle. So erscheint es nur verständlich, dass auch die hochsensible Veranlagung in einem Menschen erst reifen muss, bevor sie als Schatz zu erkennen ist.

Und manchmal kann man erst in reiferen Jahren den Wert von Perlen schätzen. Ich denke, eine Grundvoraussetzung für ein erfülltes Leben als hochsensibler Mensch besteht darin, diese Veranlagung aus tiefer Seele heraus schätzen zu lernen. Wie eine Perle lange im Dunkeln reift, so entwickelt sich auch die hochsensible Veranlagung oft im Verborgenen. Um sie eines Tages als Schmuckstück tragen zu können, braucht es sehr viel Bewusstsein für diesen Schatz, den man im Inneren trägt, sowie die Bereitschaft und Geduld, ihn zu hegen und zu pflegen.

Zu diesen Dingen soll Ihnen dieses Buch verhelfen.

Altstätten, im Herbst 2014
Brigitte Schorr

I. Was Hochsensibilität bedeutet Schmetterling

Wenn Betroffene zum ersten Mal mit dem Thema in Berührung kommen, dann empfinden sie oft Erleichterung. Endlich wissen sie, was mit ihnen los ist, das Kind hat einen Namen, sie können nun – oft das erste Mal in ihrem Leben – ihr Verhalten einordnen und Gründe zum Beispiel dafür finden, wieso sie auf diese Art und Weise reagieren. (Falls Sie für sich klären möchten, ob Sie hochsensibel sind, finden Sie im Teil IV einen entsprechenden Fragebogen.) Aber gleich danach kommen die Fragen auf: »Und jetzt? Was soll ich damit anfangen? Wem sage ich es? Soll ich es überhaupt jemandem sagen, und wenn ja, wie? Und wie gehe ich zukünftig damit um?«

Erleichterung und Spannung liegen also sehr nah beieinander. Ich glaube sogar, dass dies eines der grundlegenden Spannungsfelder für Hochsensible ist: Auf der einen Seite endlich zu wissen, was mit einem los ist, und einen Namen für das Gefühl der Andersartigkeit zu haben, und andererseits nicht zu wissen, wie man damit umgehen soll. Nach einer Antwort stellen sich gleich hundert Fragen. Es ist typisch für hochsensible Menschen, dass die Fragen, die sie bewegen, sich zu einem wahren Gedankenkarussell aufschaukeln. Ist es einmal in Fahrt, erscheint der Ausstieg nur schwer möglich. Sollte es Ihnen genauso gehen (vielleicht auch gerade beim Lesen dieses Buches), dann möchte ich Sie dazu einladen, Ihre Aufmerksamkeit für ein paar Minuten auf Ihren Atem zu lenken, zu spüren, wie er in Sie hinein- und wieder hinausströmt, und diesem natürlichen Rhythmus zu folgen. Vielleicht gelingt es Ihnen dann sogar, die Gedanken einfach kommen und gehen zu lassen. In diesem Moment, den Sie jetzt und hier erleben, muss nichts weiter beantwortet werden. Sie sind auf dem Weg – und das genügt.

Vogel 1. Hochsensibilität – eine verbreitete Veranlagung

Es gibt viele hochsensible Menschen

Es wird Ihnen vielleicht an sich selbst oder an anderen Menschen schon aufgefallen sein, dass es Personen gibt, die sehr viel dünnhäutiger als andere zu sein scheinen. Menschen, die jedes Wort auf die Goldwaage legen, denen schnell alles zu viel wird, die auf Belastungen mit körperlichen Symptomen reagieren und die möglicherweise schnell verletzt sind. Vielleicht sind es aber auch gerade diese Menschen, die besonders gut zuhören, die äußerst differenziert beobachten und ihre Erfahrungen sehr subtil reflektieren können. Oft haben diese Menschen ein besonders hohes ethisches Verständnis, stellen hohe Ansprüche an sich und andere, brauchen viel Ruhe und sind zuverlässig in Freundschaft und Liebe.

Diese Eigenschaften sind typisch für hochsensible Menschen. Dass es sich bei der Hochsensibilität um eine Veranlagung handelt, ist von Elaine Aron, einer klinischen Psychologin aus San Francisco, erstmalig untersucht und Mitte der Neunzigerjahre des letzten Jahrhunderts publiziert worden. Aufgrund ihrer Untersuchungen geht Aron davon aus, dass es sich um einen Anteil von 15 bis 20 Prozent hochsensibler Menschen an der Gesamtbevölkerung handelt. Das ist nicht wenig und bedeutet, dass es in jeder Schulklasse, jedem Verein, jedem Unternehmen, jeder Gemeinde und jedem Wohnquartier hochsensible Menschen gibt. Vielfach sind sie aber nicht so leicht zu erkennen, wie man meint. Hochsensibilität hat viele Gesichter und es ist denkbar, dass es viele hochsensible Menschen gibt, die ihre Veranlagung verbergen mussten und die sich möglicherweise eine besonders harte Schale zugelegt haben, um sich zu schützen. Denken wir nur an die herrschenden Erziehungsvorstellungen der vorigen Generationen, in denen Sensibilität kaum einen hohen Wert genossen haben dürfte, vor allem bei der Erziehung von Jungen. Oder denken wir an diejenigen, die vielleicht aufgrund hoher Wahrnehmungsfähigkeit krank geworden sind und durch die Maschen der Leistungsgesellschaft fallen. Neuere Studien1 stützen die Vermutung, dass die oft genannte Zahl von 15 bis 20 Prozent mit Vorsicht zu behandeln ist.

Es ist meines Erachtens aber nicht so wesentlich, ob jetzt 20 oder 30 Prozent der Gesamtbevölkerung hochsensible Menschen sind, wohl aber kann es wichtig für die Betroffenen sein, sich bewusst zu machen, dass sie keineswegs allein mit dieser Veranlagung sind. Wenn Sie als Normalsensibler oder Normalsensible mit einer oder einem hochsensiblen Partner gesegnet sind, dann können auch Sie sich bewusst machen, dass es viele Paare mit Ihrer Konstellation gibt. Wahrscheinlich ist es sogar so, dass es mehr Hochsensible in Ihrem privaten oder beruflichen Umfeld gibt, als Sie bis jetzt angenommen haben. Das Bewusstsein, nicht allein zu sein, kann Sie auch mutig werden lassen, über Ihre Empfindungen und Wahrnehmungen zu sprechen. Einsam macht oftmals nicht nur das Gefühl, die oder der Einzige zu sein, der oder die so kompliziert ist, sondern auch die Meinung, nicht darüber sprechen zu können oder zu dürfen.

Hochsensibilität – ein aktuelles Thema

Seit Elaine Arons ersten Büchern zum Thema Hochsensibilität sind nun nahezu zwanzig Jahre vergangen, und seitdem sind viele Bücher zum Thema erschienen.2 Wer aufmerksam die Medienlandschaft beobachtet, dem wird aufgefallen sein, dass es in den letzten Jahren immer mehr Interviews, Publikationen, Artikel, Radiosendungen und Berichte zum Thema Hochsensibilität gegeben hat. Meines Erachtens ist es kein Zufall, dass Hochsensibilität gerade in dieser Zeit immer mehr Beachtung erfährt. Es ist, als ob ein Scheinwerfer sein Licht auf dieses Thema geworfen hätte. Ich bin wie Gerald Hüther, ein namhafter deutscher Neuro-wissenschaftler, der Ansicht, dass diejenigen Eigenschaften in einer Gesellschaft dann sichtbar werden, wenn diese Eigenschaften auch benötigt werden.3 So gesehen hat unsere Gesellschaft hochsensible Fähigkeiten mehr denn je nötig. Eine ermutigende Erkenntnis, wie ich finde, da es sich häufig schwierig anfühlt, hochsensibel zu sein.

Das Gefühl der Andersartigkeit

Wenn Sie hochsensibel sind, dann haben Sie vielleicht schon immer das Gefühl gehabt, anders zu sein: Mehr zu fühlen, sich offensichtlich mehr Gedanken zu machen als andere, mitunter sogar schwerer am Leben zu tragen, ein vielschichtiges und reichhaltiges Innenleben zu haben und doch der Umwelt wenig bis gar nichts davon zeigen zu können – diese Erfahrungen und noch viel mehr gehört zu dem Erlebensspektrum der meisten hochsensiblen Menschen. Für sie sieht es oft so aus, als ob es Normalsensible einfacher hätten: Diese scheinen mit den äußeren Gegebenheiten der Welt besser klarzukommen, sie scheinen manchmal gern mit anderen um die Wette zu schwimmen und sogar Spaß dabei zu haben. Scheinbar leiden sie weniger unter Disharmonien, werden weniger aus der Bahn geworfen, können sich sichtbar besser abgrenzen und Ungelöstes auch mal stehen lassen.

Wenn wir davon ausgehen, dass es sich um zwei verschiedene Menschentypen handelt, dann handelt es sich auch um zwei verschiedene Arten, wie Menschen in der Welt und im Leben stehen. Auch wenn es sehr verständlich ist, erscheint es aber wohl nicht besonders konstruktiv, den anderen in die eigene Welt hinüberziehen zu wollen. Es ist eine tiefe Wahrheit und zugleich ein großer Schmerz, dass man immer nur die jeweils andere Welt besuchen kann, ohne je wirklich dazuzugehören.

In meiner psychologischen Praxis erzählen mir manchmal meine Klienten und Klientinnen von dem Wunsch, eine hochsensible Welt vorzufinden. Da scheint die Vorstellung verlockend, dass der Großteil der Menschheit sensibel und einfühlsam wäre, es genügend Zeit und Raum für Nachdenklichkeit und zum Verarbeiten gäbe und in der Welt weniger Konflikte und Kriege wären. Dieses sehr verständliche Bedürfnis danach, mehr Raum zum Entfalten der hochsensiblen Veranlagung zu haben, lässt aber auch oftmals übersehen, dass es zum Gelingen einer Gesellschaft auch anderes braucht. Rasch Entscheidungen zu treffen, die Fähigkeit, Projekte zu initiieren, Gelder aufzutreiben, sich nicht unnötig durch die eigenen Gedanken einschüchtern zu lassen sind nur einige der Eigenschaften, welche die Welt ebenso nötig hat.

Meiner Ansicht nach ist es nicht von Vorteil, ein Gesellschaftssystem durch das andere abzulösen. Es geht vielmehr darum, beide Arten, wie Menschen im Leben stehen, zu verstehen und immer wieder nach verbindenden Elementen zu suchen. Das gilt auch für Partnerschaften. Die Kunst einer gelingenden, modernen Partnerschaft besteht darin, sich gegenseitig wertzuschätzen, das Positive an der jeweils anderen Art annehmen zu lernen und die Herausforderungen, die sich aus der Andersartigkeit ergeben, zu meistern.

Unterschiedliche Begriffe – ein Phänomen

An dieser Stelle halte ich eine Begriffsklärung für nötig. Es kursieren im deutschen Sprachraum verschiedene Ausdrücke für dasselbe Phänomen. Da wird viel von Hochsensibilität gesprochen, oft liest man auch von Hochsensitivität, Hypersensibilität oder Überempfindlichkeit. Zu Ihrer Orientierung: Sensibel sein, im Sinne von stark wahrnehmen kann man mit allen Sinnen, das heißt auch mit dem Tastsinn (Berührungsempfindlichkeit), Geruchs- oder Geräuschsinn (es gibt zahlreiche Hochsensible, die sehr lärmempfindlich sind), oder man kann auch einen ausgeprägten Geschmackssinn haben. Von daher ist der Begriff Hochsensitivität im Grunde genommen die umfassendere und korrektere Bezeichnung. Immer mehr Autoren legen Wert darauf, von Hochsensitivität zu sprechen.

Im deutschen Sprachgebrauch wird der Ausdruck Hochsensibilität dagegen eher mit Empfindlichkeit (Mimose) und Einfühlungsvermögen gleichgesetzt, was aber streng genommen nur ein kleiner Teil dessen ist, wie sich eine hohe Wahrnehmungsfähigkeit ausdrücken kann. Entscheiden Sie, mit welchem Begriff Sie sich wohler fühlen. Ich werde in diesem Buch meistens von Hochsensibilität sprechen, aber auch mitunter den Ausdruck Hochsensitivität synonym verwenden.

In dem Ausmaß, in dem das Thema Hochsensibilität seit einiger Zeit öffentliche Aufmerksamkeit erfährt, gedeihen auch die Versuche zu erklären, was Hochsensibilität eigentlich ist und woher sie kommt. Es kann Ihrer Orientierung und damit auch der Klarheit in Ihrer Partnerschaft dienen, wenn Sie einen Überblick über die gängigen Vorstellungen erhalten. Die Grundidee der meisten Erklärungsversuche ist, dass es biologische Unterschiede zwischen Hochsensiblen und Normalsensiblen geben muss. So versuchen Forscher seit einiger Zeit herauszufinden, ob im Gehirn und/oder im Nervensystem hochsensibler Menschen etwas anders tickt als bei Normalsensiblen.

Vogel 2. Verschiedene Erklärungsansätze

Die schlechte Nachricht vorweg: Es gibt bislang noch keine abgesicherte wissenschaftliche Erkenntnis, wodurch Hochsensibilität verursacht wird oder was bei Hochsensiblen anders ist als bei Normalsensiblen. Es gibt Fachleute, die der Meinung sind, es müsse sich im Gehirn eine Besonderheit zeigen, die darauf hinweist, dass es sich um hochsensible Menschen handelt. Und tatsächlich gibt es neuere Untersuchungen an HSP (die gebräuchliche Abkürzung für hochsensible Personen), die gezeigt haben, dass der visuelle Cortex stärker aktiviert ist als bei Normalsensiblen. Ob das aber angeboren oder durch das Leben erworben ist, bleibt bei dieser Beobachtung unbeantwortet. Denn man weiß mittlerweile, dass die Regionen, die gut trainiert werden, besser ausgebildet sind. Auch in der Depressionsforschung konnte man mit bildgebenden Verfahren nachweisen, dass bei depressiven Menschen das limbische System, also die Region, die für die Gefühle, Stimmungen und Befindlichkeiten zuständig ist, stärker aktiviert ist als bei nicht-depressiven Probanden. Bereits gut erforscht sind die Auswirkungen von Stress auf Körper und Psyche. Dauerstress, ein tägliches Erleben hochsensitver Menschen, führt zu Hormonausschüttungen und neuronalen Veränderungen im Gehirn. Ob bei der untersuchten Personengruppe auch Hochsensible dabei waren, ist nicht bekannt, aber es ist wahrscheinlich, wenn man davon ausgeht, dass sich unter sehr ungünstigen Umständen aus einer nicht erkannten und/oder verleugneten Anlage zur Hochsensibilität eine Depression entwickeln kann. Ich kann feststellen, dass eigentlich alle hochsensiblen Menschen, die ich kenne, sehr stark über Gefühle wahrnehmen. Sie erleben eine Situation und sie empfinden etwas dabei. Diese Beobachtung lässt mich vermuten, dass auch bei Hochsensiblen das limbische System stärker aktiviert ist als bei Normalsensiblen.

Die meisten Forscher sind der Meinung, dass eine hochsensible Veranlagung mit auf diese Welt gebracht wird, das heißt, dass sie angeboren und vererbbar ist. Wenn man annimmt, dass ein hochsensibles Kind schon früh Stimmungen und Befindlichkeiten anderer Personen wahrnimmt und darauf reagiert, ist es sozusagen eine Trainingsleistung wie bei Spitzensportlern, diese Fähigkeiten (man könnte auch Talent sagen) so auszubilden, dass sie nach ein paar Jahren oder gar Jahrzehnten praktisch automatisiert ablaufen. Dann ist es schwierig zu sagen, ob eine Fähigkeit tatsächlich angeboren oder durch Training erworben ist. Meine persönliche Haltung dazu ist: Wir kommen alle mit Spuren auf die Welt, die in unserer Seele und unserem Körper angelegt sind. Manche dieser Spuren werden durch tägliches Beobachten und Spüren weiterentwickelt, andere verkümmern vielleicht, weil sie nicht gefördert werden.

Weniger Filter?

Manche Forscher sind der Ansicht, dass hochsensitive Menschen grundsätzlich nicht mehr Reize aufnehmen als Normalsensible, dass aber weniger Reize ausgefiltert werden und es so zu der typischen Überreizung kommt. Wieso dieser, bei allen Menschen eingebaute Filter aber bei einer gewissen Personengruppe schwächer ausgebildet zu sein scheint als bei der großen Mehrheit, ist noch unbeantwortet.

Relativ gut erforscht ist aber mittlerweile eine Region in unserem Zentralhirn, die ein neuronales Netzwerk darstellt und als die latente Hemmung bekannt ist. Erforscht wurde diese Region erstmals von Lerntheoretikern, die herausfinden wollten, wieso manche Menschen besser lernen als andere. Das Ergebnis: Die latente Hemmung scheint dafür verantwortlich zu sein, wichtig von unwichtig unterscheiden zu können. Aus meiner beruflichen und privaten Erfahrung kann ich feststellen, dass sehr viele Hochsensible Mühe haben, Prioritäten zu setzen. Ihnen erscheinen die zu erledigenden Dinge alle gleich wichtig, egal, ob es sich um die Vorbereitung zu einer Prüfung handelt oder um das Ausräumen der Spülmaschine. Ein Impuls, der ins Gehirn schießt (der Gedanke: »Ich muss die Spülmaschine ausräumen«), kann so stark sein, dass es wichtig ist, ihm nachzugeben und sich erst danach wieder der eigentlichen Arbeit zuzuwenden. Ansonsten könnte dieser Gedankenimpuls so stark werden, dass er beinahe sämtliche Aufmerksamkeit bündelt, die dann für die eigentlichen Aufgaben fehlt.

Laut einer Forschungsgruppe in Kanada ist die latente Hemmung dafür verantwortlich, dass Genie und Wahnsinn mitunter so nah beieinanderliegen. Sie konnten nachweisen, dass zum Beispiel Künstler eine niedrige latente Hemmung haben, aufgrund derer sie innovativ und kreativ sein können.4

Dieses Phänomen kann man auch bei vielen Hochsensiblen beobachten: Kreativität und innovative Ideen sind ihnen oftmals zu eigen, auch wenn sie es vielleicht nicht wagen oder verlernt haben, sie öffentlich zu zeigen. Meine Vermutung ist, dass Hochsensible eine geringe latente Hemmung aufweisen, die sich mit verschiedenen Testverfahren nachweisen lassen müsste. Es ist nur eine Annahme, die sich aus Beobachtungen speist – hier ist die Forschung aufgerufen, diese Hypothese zu bestätigen oder zu widerlegen.

Ein hochsensibles Gen?

Es gibt sogar in Deutschland Bestrebungen, sich auf die Suche nach dem Hochsensiblen-Gen zu machen. Dem liegt die Idee zugrunde, dass alles, was angeboren ist, sich auch in den Genen zeigen muss.

Bei allem Verständnis für das Bedürfnis nach Beweisbarkeit betrachte ich diesen Versuch mit Skepsis. Es scheint mir etwas gefährlich zu sein, anhand eines Gentests (Abgabe der DNA) jemanden als hochsensibel oder nicht-hochsensibel einzustufen. Solange wir noch nicht grundsätzlich die Komplexität der Mechanismen verstehen, die zur Ausbildung von Wesensmerkmalen führen, können wir uns auch meines Erachtens nicht anmaßen, jemanden mithilfe eines Gentests grundsätzlich als hochsensibel oder eben nicht-hochsensibel einzuordnen. Es gibt durchaus hochsensitive Menschen, die nur punktuell, das heißt in nur einem Bereich, hochsensibel sind, aber in anderen eben nicht. Sich ausschließlich auf die Gene zu berufen, lässt außer Acht, dass die hochsensible Spur, die jemand mit auf diese Welt bringt, im Laufe des Lebens entwickelt werden oder verkümmern kann und ist meiner Ansicht nach sehr einseitig.

Es gibt einen Teil der hochsensiblen Menschen, die ihre hohe Empfindungs- und Wahrnehmungsfähigkeit im Laufe des Lebens erwerben bzw. entdecken. Manche Menschen werden durch bestimmte Ereignisse besonders verletzlich und wieder andere bemerken erst etwa in der Mitte ihres Lebens, dass sie eigentlich immer schon sehr sensibel waren, aber es nicht gezeigt und gelebt haben. Dann ist der Wunsch sehr groß, endlich einmal dem Raum zu geben, was bisher zu kurz kam, und sie entdecken ihre Sensibilität ganz neu. Wer mag sich anmaßen zu sagen, was richtige Hochsensibilität ist und was falsche? Nützt es den Betroffenen wirklich, wenn sie durch einen Gentest erfahren, dass sie echte Hochsensible sind oder nicht? Würde dadurch nicht vielmehr einem Schubladendenken Tür und Tor geöffnet, das die Welten von Hochsensiblen und Normalsensiblen noch weiter voneinander trennt?

So wichtig biologisch orientierte Forschungen auch sind und so große Hoffnungen ich persönlich hege, dass vor allem die Neurowissenschaften in den nächsten Jahren wichtige Erkenntnisse für Hochsensible liefern werden, so bergen sie doch auch eine Gefahr in sich: Vor allem in unserer westlichen Gesellschaft neigen wir dazu, das, was als gesund betrachtet wird, an der Norm zu messen, also an der Mehrheit. Sollte sich nun herausstellen, dass im Gehirn Hochsensibler tatsächlich etwas anders tickt, ist der Weg zu einem Krankheitsbild nicht mehr weit. Schon jetzt gibt es Tendenzen, Hochsensibilität in die ärztlichen Diagnosekataloge aufzunehmen. Mitunter gibt es sogar schon offizielle Stellen, die Hochsensibilität als kinetische Störung oder als Störung der Affektregulierung einordnen wollen. Zweifellos scheint es oft so, als ob die Betroffenen impulsgesteuert und emotional labil wären, jedoch ist das nur eine Seite der Medaille. Dass diese Verhaltensweisen ein Ergebnis von mangelndem Verständnis des Umfeldes und langer Vernachlässigung eigener Bedürfnisse sein können, findet in dieser Denkweise kaum Beachtung.5

Ich werde nicht müde, darauf hinzuweisen, dass Hochsensibilität/Hochsensitivität eine Veranlagung ist, die grundsätzlich weder besonders gut noch besonders schlecht ist. Sie ist neutral, wie andere Veranlagungen auch, und damit nichts Krankhaftes oder gar eine Störung. Nur: Das Leben macht etwas mit allem, was ein Mensch auf diese Welt mitbringt, und wenn jemand von Natur aus mit einer erhöhten Wahrnehmungsfähigkeit ausgestattet ist, sein Umfeld dem aber skeptisch bis ablehnend gegenübersteht, dann ist der Weg in eine Richtung geebnet, in der sich Krankheiten und somatische Störungen aller Art entfalten können.

besonders