Rainer Innreiter

 

 

Nacht über Median

 

Phantastische Geschichten

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Twilight-Line Medien GbR

Obertor 4

D – 98634 Wasungen

Deutschland

 

www.twilightline.com

redaktion@twilightline.com

 

ISBN: 978-3-941122-73-4

eBook-Edition
2. Auflage

 

© 2011 Twilight-Line Medien GbR

Alle Rechte vorbehalten.


 

 

 

Inhalt

 

Die Königin

Konquistador

Perfekter Plan

Stalker

Nacht über Median

Dubh

Werter David!

Zeitfenster

Kamerascheu

Mutter

Naturrecht


Die Königin

 

 

Ich bin eine Insel, rettungslos den Gewalten der Ozeane ausgeliefert. Dies Eiland versinkt langsam, strebt der alles verschlingenden Schwärze unter ihm zu, wie es unbarmherziges Gesetz der Evolution ist. Das erlösende Festland, es scheint so weit entfernt, so weit, driftet von stürmischen Winden getrieben davon. Und in Momenten totaler Agonie glaubte ich, dass ich dereinst den Odem jenes Festlandes in mir aufgesogen hatte. Ich zehre von Erinnerungen an jene Anderen, die mich längst aufgegeben haben. Und vor mir versinkt die Welt erneut, wie unzählige Male zuvor, im Chaos lichtstählernen Eises.“

 

Verträumt blickte Alice in das Gesicht ihrer Freundin, die sie unergründlich und schweigend musterte, als wären sie zwei Fremde, die sich rein zufällig gegenüber saßen und Kaffee tranken. Dann endlich durchschnitt Vickys Lachen die seltsame Leere, die sich aufgetan hatte. Argwöhnisch sahen einige der Gäste zu ihrem Tisch herüber – welche Gründe mochte es an diesem verregneten Herbsttag bloß für einen Heiterkeitsausbruch geben? Alice fühlte, wie sie puterrot anlief. Sie hasste es, Aufmerksamkeit zu erregen, und hatte wieder einmal diesen beklemmenden Eindruck, dass alle Welt in ihr Innerstes starrte und sie verhöhnte.

„Entschuldige bitte“, sagte Vicky, entnahm der Metallbox eine Serviette und tupfte sich die Augen ab. „Sei mir nicht böse, aber manches von dem, was du sagst, hat einen unfreiwillig parodistischen Beigeschmack.“

Alice nickte stumm, ihren Blick im Bodensatz der leeren Tasse vergraben. Sie wartete, bis das leise Murmeln der Anderen anschwoll und sie sicher sein konnte nicht mehr angestarrt zu werden. Gott, was sie sich nur wieder alles einbildete! Natürlich galt die Aufmerksamkeit Vicky, der hübschen, smarten Vicky, nicht ihr. „So fühle ich nun mal.“

Behutsam ergriff Vicky ihre Hand. „Das verstehe ich.“

„Nein, gar nichts verstehst du!“, schleuderte Alice ihr wütend entgegen und zog ihre Hand zurück. „Du gehst dann in dein Zimmer zurück, und wenn du einsam bist, rufst du Devo an – so er nicht ohnedies bereits vor deiner Tür auf dich wartet, einen Strauß Blumen in Händen haltend. Und wenn es keinen Devo für dich gibt, dann einen Frank, einen John, einen Cecil, wen auch immer. Einer ist immer für dich da. Und ich kehre in mein Rattenloch zurück, wo nur Einsamkeit auf mich wartet. Und...“

Die Worte waren nur so aus ihr herausgesprudelt, noch ehe sie sich klargemacht hatte, was sie da sagte. Das Gefühl, sie müsse ersticken, bemächtigte sich ihres Leibes. Sie zitterte. Ihre Hand tastete nach jener Vickys und fand sie.

„Oh, ich bin ja so ein Trottel. Das wollte ich nicht!“

Vicky lächelte – und Alice neidete ihr die perfekt geformten Zähne, strahlend weiß wie Marmor. „Ist schon gut. Du hast ja recht – Ich darf mir nicht anmaßen zu behaupten, ich würde dich verstehen.“

Wie tröstlich es doch war, wie gut es doch tat, diese Hand wie ein rettendes Seil zu umklammern. Allein die Gewissheit, sie wieder loslassen zu müssen, betrübte sie aufs Neue.

 

***

 

Die Tür schwang auf und eine eiskalte Brise klatschte ihr ins Gesicht. Sie fröstelte und zog den Kragen ihres billigen Mantels höher, um solcherart besser gegen den heulenden Ostwind geschützt zu sein. Die Bäume der nahen Allee bogen sich rhythmisch im Takt der Winde. Verdorrtes Laubwerk prasselte gegen ihre Schuhe. Alice seufzte leise auf, vergrub die Hände in den Manteltaschen, zog den Kopf ein, so wie sie es auch an schönen Tagen zu tun pflegte, und schritt gedankenverloren die Allee entlang. Ihr Weg führte sie nach Hause, wenngleich sie wenig Muße verspürte, einen weiteren Tag in jenen engen Mauern zu verbringen, wo die Einsamkeit sie zu ersticken drohte. Einsamkeit... Wann immer sie dieses Wort vernahm fiel ihr ein Poem ein, das sie vor langer, langer Zeit, als ihr dessen Bedeutung nicht bewusst war, gelesen hatte.

 

Wer sich der Einsamkeit ergibt,

Ach! der ist bald allein;

Ein jeder lebt, ein jeder liebt

und lässt ihn seiner Pein.

 

Sie glaubte sich zu erinnern, dass es von Goethe stammte, einem Mann, der berühmt dafür war, Frauen kunstvoll zu umwerben, nur um sie nach kurzem Glückstaumel zurück in die Einsamkeit ihrer Herzen zu verbannen...

Etwas schnüffelte wild und gierig an ihrer Hose. Sie erschrak und sah, dass dieses Etwas ein Hund war. Augenblicklich versteifte sich ihr Körper, denn sie hatte Angst vor Hunden.

„Sie brauchen keine Angst zu haben, junges Fräulein, Toby tut Ihnen nichts.“

Irgendwie schaffte sie es sich aus der Starre zu lösen und aufzublicken – ein älterer Mann lächelte ihr gönnerhaft zu. Woher wollen Sie wissen, ob ich Angst haben soll oder nicht? Woher wollen Sie irgendetwas über mich wissen? Aber natürlich sagte sie nichts. Nein, nicht Alice, deren Mitschüler in der High School oft gespottet hatten, es genüge ein schiefer Blick, um sie in Tränen ausbrechen zu lassen.

„Toby, bei Fuß, komm, wir müssen weiter, Fuß, bei Fuß, sag ich!“

Wie lange sie dagestanden und keinen Muskel gerührt hatte, hätte sie unmöglich sagen können. Irgendwann hatte sich die Verkrampfung wieder gelöst und Regentropfen, dick und schwer, prasselten auf ihr ungeschütztes Haupt nieder. Sie schrieb es dem Mute der Verzweiflung zu, dass sie es nach Hause geschafft hatte, ohne zu weinen.

 

***

 

Wie könnte ich beschreiben, wie könnte ich jemals in Worte fassen, was dein Anblick in mir auslöste? Du sahst wunderschön und zerbrechlich aus, als dein langes Haar, vom Regen durchnässt, dein Antlitz bedeckte. Ich wünschte, ich hätte den Mut aufgebracht, es aus deinem Gesicht zu streichen, ganz sorgsam, ohne dich zu berühren. Doch ich war damals nicht bereit, mich dir zu zeigen, denn du hättest meinen Anblick nicht ertragen, hättest nicht wissen wollen, was du für mich bedeutest. Oh Alice, ich schlich dir nach, so weit ich es wagte, von deiner Anmut glückstrunken und wartete die richtige Zeit ab, so schwer mir dies auch fiel...

 

***

 

Flüchtig strich sie ihr Haar beiseite und öffnete mit dem Schlüssel ihren Postkasten. Sie entnahm dem quadratischen Metallkästchen ein paar Kuverts, vermutlich ohnedies nur Rechnungen und Werbebriefe, und schloss es wieder.

„He, Sie!“

Alice wirbelte erschrocken herum.

„Verdammt, jetzt sehen Sie sich das mal an!“, fauchte sie die Frau vor ihr an, in der sie ihre Vermieterin erkannte.

„W-Wie bitte?“

Mrs. Carmody wies mit ihren arthritischen Händen zu Boden. „Hier, der verdammte Dreck, den Sie von draußen reintragen. Wo sind Sie aufgewachsen? Bei den Wilden in einer Höhle?“

Alice sah sich außerstande eine halbwegs vernünftige Antwort zu geben.

„Wenn Sie glauben, dass ich das sauber mache, dann haben Sie sich getäuscht! In einer halben Stunde ist der Aufgang wieder sauber oder Sie können sich eine andere Wohnung suchen, klar?“

Sie spürte wie Unmengen Blut in ihre Wangen schossen. „Ich habe mir doch die Schuhe abgeputzt und...“

„Schweinerei, das sieht ja aus, als hätte jemand den Biomüll hier verstreut.“

„Ich... Aber ich...“ stammelte Alice hilflos, doch Mrs. Carmody stapfte bereits fluchend und zeternd davon.

„Das habe ich von meiner verdammten Gutmütigkeit, Studenten bei mir aufzunehmen“, vernahm sie noch, ehe ihre Vermieterin um die Ecke bog und das Gemurmel in einen undefinierbaren Kauderwelsch überging. Alice drehte sich um und blickte erneut auf den Boden – selbst wenn sie sich die Schuhe nicht abgeputzt hätte, könnte der Dreck unmöglich von ihr stammen. Na schön, dann würde sie eben den Aufgang putzen müssen, wäre ja nicht das erste Mal. Geknickt von so viel Ungerechtigkeit stieg sie die Treppe hoch.

 

***

 

Nachdem sie sich umgezogen hatte, setzte sie Wasser für eine Kanne Pfefferminztee auf und überflog die Post. Das erste Kuvert enthielt eine Rechnung, das zweite Werbeprospekte eines Autohändlers. Merkwürdigerweise hellte es ihre Stimmung nicht auf zu erfahren, dass der Preis für einen gebrauchten Landrover um vierhundert Dollar gesenkt worden war, was, konnte man dem beiliegenden Schreiben trauen, die Welt ins Elysium stürzen würde. Das Telefon läutete und sie warf die Prospekte in den Korb für Altpapier – sollten doch andere ihr Glück in Form eines Automobils kaufen. Zu ihrem eigenen Erstaunen freute sie sich, die Stimme ihrer Mutter zu vernehmen.

„Weißt du, Alice, ich habe mir Sorgen gemacht, weil ich schon so lange nichts mehr von dir gehört habe. Ist alles in Ordnung?“

„Ja, alles in Ordnung“, log sie, wie um sich selber zu beruhigen. „Ich hatte eine schwierige Prüfung letzte Woche und musste im Restaurant ein paar Überstunden machen, deshalb war ich zu müde dich anzurufen. Wie geht es Dad?“

Ihre Mutter lachte. „Um den mach dir keine Sorgen! Irgendwann wird er uns alle verblüffen und einen Schwertfisch angeln, wie in dieser Geschichte von, na, du weißt schon. Jedenfalls hat er vor zwei Wochen an einem Wettbewerb in Vancouver teilgenommen und wurde Zehnter unter mehr als achthundert Teilnehmern! Er sah so glücklich aus wie ein kleines Kind, wie an dem Tag, als ich ihn kennen lernte.“

Nun war es Alice, die auflachte.

„Hör mal, Schatz, Bobby hat gestern angerufen und sich nach dir erkundigt.“

Eiskalt lief es Alice den Rücken runter. Wie konnte sich dieser Mistkerl erdreisten, immer wieder seine Eltern anzurufen? „Er hat was? Mum, bitte sagt ihm das nächste Mal ich wäre gestorben. An gebrochenem Herzen, das würde er am liebsten hören.“

Ihre Mutter schwieg einen Moment lang. „Er vermisst dich wirklich.“

„Darauf würde ich wetten – eine, die so naiv ist wie ich es war, findet er wohl kein zweites Mal.“

Warum konnte nicht Bobby am anderen Ende der Leitung sein, damit sie ihm endlich sagen konnte, was sie von ihm hielt?

„Ihr wart so ein schönes Paar.“

Darauf wusste sie nichts zu entgegnen. Es war ohnedies egal, würde Bobby doch stets unter dem Protektorat ihrer Eltern stehen.

„Entschuldige, ich weiß ja, dass du das nicht hören willst, und trotzdem sage ich es immer wieder. Ich werde wohl alt.“

Alice schluckte. „Ich habe Teewasser aufgesetzt, Mum. Ich rufe dich morgen noch mal an, okay?“

„Natürlich, Alice, ich mache mir nur große Sorgen um dich.“

Während sie das kochende Wasser in die Kanne einfüllte fragte sie sich erneut: Woher wissen die Leute, was gut für mich ist? Woher wissen sie was ich fühle, wovor ich Angst habe, was mich glücklich machen würde? Woher nehmen sie sich das Recht, über mein Leben zu bestimmen?

Unwillkürlich erinnerte sie sich an jenen Tag, als sie bei der Party einer Freundin anwesend war. Genau genommen handelte es sich nicht um eine Freundin, sondern lediglich um ein Mädchen, dass sie nicht verspottete und somit einem erlauchten Kreise angehörte, in dessen Nähe sie sich nicht unwohl fühlte. Sie war damals 14 gewesen und hatte sich gut unterhalten, wie es sich für einen Teenager geziemte. Vom heimlich genossenen Alkohol war ihr übel geworden und sie hatte sich nach draußen begeben, um sich der Schmach des Übergebens vor all den Gleichaltrigen nicht aussetzen zu müssen. Nachdem sie gemerkt hatte, dass sie doch nicht kotzen musste, hatte sie sich auf die Veranda gesetzt und den sternenklaren Himmel genossen. Sie erschrak, als sie plötzlich eine Gestalt neben sich ausmachte. Es war ein Junge, den sie bloß flüchtig kannte. Er setzte sich neben sie und sie unterhielten sich ein Weilchen. Irgendwann hatte sie, vom Alkohol immer noch leicht betäubt, seinen Arm auf ihren Schultern gefühlt, was ihr surreal vorkam – Himmel, was sollte das denn werden? Während sie noch schwankte, ob sie ihn auffordern sollte, seinen Arm runterzunehmen oder nicht, fühlte sie seine andere Hand zwischen ihren Beinen.

„Du bist wunderschön, Alice“, wisperte er in ihr Ohr, und in ihrer Fassungslosigkeit ließ sie ihn eine Zeitlang gewähren.

„Lass das“, stieß sie heiser hervor und befürchtete, sie würde ohnmächtig werden. Er küsste sie rau und seine Lippen waren seltsam kalt.

„Komm schon, du willst es doch auch!“

Die berauschende Wirkung des Bieres war wie weggeblasen – sie befreite sich von ihm, sprang auf und lief nach Hause, ohne nur ein einziges Mal zurückzublicken. Ihr Vater, der die Tür öffnete, war verärgert gewesen, denn es war ausgemacht gewesen, dass sie anrufen würde, alsbald sie nach Hause wollte, um nicht allein des Nachts in der Stadt unterwegs zu sein. Doch noch ehe er ihr Vorhaltungen machen konnte, hatte sie sich bereits im Bad eingeschlossen. Sie nahm eine lange Dusche, übergab sich mehrmals, und entschuldigte sich bei ihren Eltern damit, dass sie Streit mit einem Mädchen gehabt hätte.

Die nächsten Wochen schlief sie schlecht und duschte ungewöhnlich lange. Sie wusste, dass kein Junge jemals ihr Vertrauen erlangen könnte. Und dann kam Bobby. Sie hatte sich von Anfang an zu ihm hingezogen gefühlt, auch wenn sie zuerst nicht wusste, woran das lag. Er war etwas kleiner als sie und wirkte wie ein kleiner Junge, dem man einfach nicht böse sein konnte, selbst wenn er etwas angestellt hatte. Wenn er sie mit seinen blauen Augen ansah und lächelte, konnte sie nicht anders als gleichfalls zu lächeln. Manchmal half er ihr beim Lernen für Prüfungen und Seminararbeiten, wenngleich er im Gegensatz zu Alice nicht Soziologie studierte. Sie war vor allem von seinem reichhaltigen Wissen beeindruckt, welches er selbst zwischen seinen Scherzen und Späßen geflissentlich einbrachte. Später fand sie heraus, dass sein Wissen keineswegs umfangreich war, ja, geradezu kläglich, doch verstand er es durch seine gekünstelte Bescheidenheit Eindruck zu schinden. Und es gelang ihm prächtig! Alice, schüchtern und von Selbstzweifeln zerfressen, vertraute ihm bereits nach wenigen Wochen blindlings und verliebte sich haltlos.

 

Bei diesem Gedanken lachte sie auf und verschüttete dabei ihren Tee, der sich in einer einzigen großen Pfütze über den Tisch ergoss und sich dem dritten Kuvert bedrohlich näherte, welches sie noch gar nicht geöffnet hatte. Automatisch riss sie ein paar Lagen Küchenrolle herunter und drückte sie auf die Flüssigkeit. Dabei nahm sie beiläufig das Kuvert an sich und öffnete es. Dieses enthielt bloß ein weißes Blatt Papier, welches gefaltet war. Sie entfaltete es und las erstaunt:

 

Vergib

und sei ein Wort

das die Hoffnung umschreibt

wenn Stürme Dein Herz bedrängen

Nacht den Tag verschlingt

Gut und Böse achselzuckend

Deinen Lebensweg verlassen

Nur sag mir:

Was ist dies nie gesprochne Worte gleich?

 

Sie blickte auf das Kuvert, doch war kein Absender erkenntlich. Es enthielt auch keine Adressanschrift – jemand hatte es in ihren Briefkasten geworfen. Bobby? Natürlich, es musste Bobby sein! In Ermangelung einer poetischen Ader hatte er vermutlich einfach ein Gedicht abgeschrieben und nahm wohl an, er könne sie damit für sich gewinnen. Sie hatte fast ein Jahr lang für die bittere Erkenntnis gebraucht, dass hinter Bobbys Fassade aus liebenswertem, intelligentem, schüchternem Jungen ein eiskalter Gefühlskalkulator saß, der nichts dem Zufall überließ um zu bekommen, was er wollte. Und sie hatte ihm bereitwillig alles gegeben – von dem Heuchler Bobby geblendet, hatte sie sich ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Elf Monate lang hatte er sie emotional und finanziell erbarmungslos betrogen. Bis zum Schluss wollte sie nicht wahrhaben, dass jener junge Mann, der ihr die ergreifendsten Liebesschwüre gemacht, der mit seinem nur zufällig erworbenen Wissen geprahlt hatte, der ihr lange so geduldig bei ihren Problemen gelauscht hatte, lediglich ein Parasit war, dessen Wirt von seiner Gier völlig erschöpft war. Wütend zerknüllte sie das Blatt Papier und warf es in den Mülleimer, wo es sich mit den Essensresten der vergangenen Tage vollsog.

 

***

 

Missmutig stapfte sie auf die Straße hinaus. Der wolkenverhangene Himmel versprach erneute Schneefälle, eisig pfiff der Wind durch die Häuserschluchten, gleichgültig passierten vergrämt dreinblickende Menschen ihren Weg. Es war kurz vor 20 Uhr und sie hatte ihren Dienst gerade beendet, worüber sie heilfroh war, denn innerhalb der nächsten Stunden würde das Lokal zusehends von freudlosen Seelen bevölkert werden, die ihren Kummer in Alkohol ertränkten. Zwar gaben Betrunkene erfahrungsgemäß mehr Trinkgeld, wurden aber oft ausfallend und mitunter zudringlich. Alice hasste diese Welt, die böse Menschen züchtete und zugleich in ohnmächtigem Selbstmitleid ertrank. Und sie war ein unbedeutender, tragischer Teil dieser Welt: Unglücklich, verloren, jeglicher Hoffnung beraubt.

 

Arme Alice! Den Blick zum Boden gesenkt, wandeltest du wie ein einsames Gespenst umher, auf der Suche nach der dich erlösenden Seele. Damals konntest du nicht ahnen, wie nah dieser Tag doch war! Ich hatte dir mein Herz zu Füßen gelegt und du brauchtest es nur noch zu ergreifen...

 

***

 

Erstaunt betrachtete sie die Post: Wieder war ein anonymes Kuvert beigelegt. Sollte sie es gleich wegschmeißen oder zuerst lesen, was Bobby ihr diesmal in dem vergeblichen Versuch sie zurückzuerobern geschrieben hatte? Doch woher wollte sie wissen, dass es tatsächlich Bobby war, der sie neuerdings mit Gedichten beglückte? Außerdem hätte er sie gewiss nicht im Unklaren gelassen, dass er ihr neuer „Verehrer“ war. Eine Tür knarrte. Erneut war der geflieste Boden mit Dreck und Matsch übersät. So leise es ihr möglich war, huschte Alice die Treppe hoch zu ihrer Wohnung. Kurz bevor sie die Wohnungstür schloss, hörte sie Mrs. Carmody fluchen. Unwillkürlich musste sie lächeln. Noch ehe Sie das Badezimmer aufsuchte, riss sie das Kuvert auf, entnahm den Zettel, las das Gedicht – und war wie gebannt ob der wohlfeilen Worte, die der Autor ihr – IHR! – verehrt hatte. Wenig später durchwühlte sie den Mülleimer nach dem ersten Gedicht, säuberte das Papier und glättete es.

 

***

 

Als der Schnee zu tauen begann, erwachte auch ihr Herz aus einem langen Winterschlaf. Sie konnte es sich selbst nicht erklären, wieso sie plötzlich frohgemut selbst langweilige Vorlesungen besuchte und im Restaurant mit ihrer Fröhlichkeit all die verstockten Gemüter erheiterte, die für gewöhnlich übelst gelaunt ihr Essen bestellten und über die Rechnung murrten. War dies die selbe Welt, die noch Tage zuvor grau und triste vor ihr sich ausgebreitet hatte wie ein Meer des Ekels? Esther, die Eigentümerin des Lokals, konnte es sich eines Tages nicht mehr verkneifen, sie nach dem Grund ihres Stimmungswandels zu fragen. Aber Alice, immer noch voll der Furcht verlacht zu werden, wagte es nicht, von den Gedichten zu erzählen und begründete das Wunder ihrer Heiterkeit mit allerlei Nichtigkeiten.

 

Wie glücklich war ich, da ich dich tänzelnd durch die Straßen gewahrte, wie unsäglich schön glänzte dein vom Lachen gerötetes Gesicht in der Wintersonne, wie sehr verzehrte ich mich nach dir, dürstete nach dem Augenblick, dich zu berühren, ganz sanft zu liebkosen, den Duft deiner Haut einzuatmen, deinen Odem mit meinem zu vereinen, dir meine ewigliche Liebe zu versichern ... Und wie glücklich war ich zu wissen, dass ich der Grund deines erblühten Lebens war.

 

***

 

„Bist du verrückt?“, sagte Vicky ganz ruhig und blickte ihrer Freundin in die strahlenden Augen – noch nie hatte sie Alice so ausgelassen erlebt. „Bobby war schon schlimm genug, aber ein unbekannter Verehrer, der dir fast täglich Gedichte schickt ...“ Sie schüttelte den Kopf und goss Milch in ihren Kaffee.

„Ich weiß das es verrückt klingt, aber sieh mal: Da gibt sich jemand unheimlich Mühe, sich vor mir zu verstecken – Was muss das für ein schüchterner Mensch sein? Und du hast doch seine Gedichte gelesen.“

„Ja, bezaubernd.“, warf Vicky ein und seufzte. „Ich an deiner Stelle hätte Angst und würde Bobby anrufen und fragen, ob er dein neuer Verehrer ist, und dann wäre mein nächster Schritt der zur Polizei.“

Sorgsam bündelte Alice die Papierbögen und schob sie zurück in die Klarsichtfolie. „Bobby wohnt jetzt mehr als hundert Meilen entfernt! Er wird ja wohl kaum jeden Tag die lange Strecke zurücklegen, ein Kuvert in den Postkasten werfen und dann einfach wieder nach Hause fahren? Er ist nicht der Typ dazu, Bobby ist schrecklich faul.“ Bei den letzten Worten musste sie lachen.

Vicky runzelte die Stirn. „Du willst also nichts unternehmen? Devo könnte mal ein paar Stunden ein Auge auf das Mietshaus werfen und würde sicher rauskriegen, wer der geheimnisvolle Unbekannte ist.“

„Nein!“, wehrte Alice ab, „Du meinst es gut mit mir, aber das möchte ich nicht. Ich werde mir Klarheit verschaffen.“

„Und wie?“

„Ich habe beim Verlassen des Hauses einen Post-it-Zettel an mein Postfach geklebt.“

„Hm“, machte Vicky, der diese Angelegenheit gar nicht gefiel. Sie mochte Alice von Herzen gern und hatte Angst um sie – nicht einfach die Angst, ihre Freundin könnte erneut emotional verletzt werden, sondern die Angst, Alice schwebte in Gefahr. „Und darauf hast du eine Botschaft an den Unbekannten hinterlassen, richtig?“

Alice nickte und trank einen Schluck Kaffee. „Ja. Ich möchte endlich wissen, mit wem ich es zu tun habe. Ein Mensch, der solche Gedichte schreibt, ist ein guter Mensch, dessen bin ich sicher.“

„Ich hoffe, du behältst recht“, sagte Vicky düster. Verdammt, war sie vielleicht nur übervorsichtig und dabei Alice zu entmutigen? Vielleicht war es so, wie Alice es vermutete – ein schüchterner Junge mit goldenem Herzen hatte sich auf niedliche Weise in sie verguckt und machte ihr scheu den Hof. Andererseits: Wenn es ein Psychopath darauf anlegte, sich ein neues Opfer zu erwählen? Wer wäre besser dafür geeignet als die leicht zu beeinflussende Alice? „Ich hoffe es wirklich“, bekräftigte sie.

 

***

 

Ich wusste, dass der Tag kommen würde, an welchem du meiner Schauen wolltest. Du warst genauso neugierig auf mich, wie ich es war, nachdem ich dich das erste Mal im Wald beobachtet hatte. Du warst umhergestreift, ziellos und doch zielgerichtet, denn ich spürte, was du fühltest: Bitterste Einsamkeit, den Wunsch nach einer verständigen Seele, die Sehnsucht, dich einem Wesen bedingungslos hingeben zu können. Und nun ist dieser Moment da, ich sehe dich vor mir und weiß, dass du mich sehen kannst. Die Zeit des Versteckens ist vorbei. Oh, geliebte Alice...

 

Ihr Puls raste, als sie in das Haus eintrat und zu ihrem Postfach lugte. Der Zettel war immer noch angebracht. Nervös nahm sie diesen ab. Mit einem leisen Schmatzen löste er sich von der Kälte des Metalls. In altmodischen Lettern mit wunderhübschen Serifen verziert stand dort: Du bist wunderschön und ich bin hässlich. Nicht mehr, nur diese Worte. Am linken Rand war der Zettel feucht. Mit den Fingerkuppen berührte sie die feuchten Stellen. Sie merkte, dass sie zitterte – nicht vor Kälte, sondern vor Aufregung. Handelte es sich um eine allzu kritische Selbsteinschätzung einer introvertierten Seele oder war ihr Verehrer wahrhaftig hässlich? Nachdenklich stieg sie nach oben und stellte fest, dass es ihr einerlei war, ob diese Behauptung den Tatsachen entsprach oder nicht. Sie musste ihn endlich kennen lernen! Sie wollte mit ihm lachen, Gespräche führen, im Theater jene Dramen gebannt verfolgen, die Bobby nur anfangs interessant fand, bevor er sein wahres Wesen des Kleingeistes enthüllte; sie wollte einen Menschen, den sie lieben konnte und der sie liebte.

Du bist wunderschön. Alice ging ins Badezimmer und betrachtete sich im Spiegel. Und wahrlich, wie die Rose nach dunkler Nacht, hatte auch sie die Kälte und den Tau abgeschüttelt und war erblüht. „Du bist wunderschön“, hauchte sie und der Spiegel beschlug mit ihrem Atem. Mit ihren Fingern malte sie ein Herz in den Dunst und lachte.

 

***

 

Du bist wunderschön und ich bin hässlich. Beschämt stehe ich vor dir, blicke in deine Augen und sehe mich – wie kann ich es nur wagen, deine Liebe zu erhoffen? Nicht in all meinen Poemen hätte ich ausdrücken können, was ich für dich fühle, so lange bereits fühle. Nichts und niemand soll uns trennen, wir sind füreinander bestimmt, oh Alice ... Sei mein...

 

Niemals zuvor war sie dermaßen nervös gewesen: Sie hatte ihren freien Tag dazu genutzt, in der Studienbibliothek einige Seiten aus einem Buch herauszukopieren, die sie für eine Seminararbeit benötigte. Immer wieder war ihr Blick in der stillen Vorhalle umher geschweift, ob einer der Studenten ihr Verehrer war? Ab und an betraten oder verließen Studenten das Gebäude. Und einige warfen ihr durchaus wohlwollende Blicke zu – war ihr dies früher nicht bewusst gewesen oder hatte sie tatsächlich an Schönheit gewonnen? Sie wollte ihm ausreichend Zeit geben, den Zettel zu beantworten und verbrachte noch zwei Stunden, indem sie auf dem Campus herum strich, im Computerraum ein paar Informationen aus dem Internet ausdruckte und in der Cafeteria heiße Schokolade trank und einen Donut aß. Um halb sechs ertrug sie die Spannung nicht mehr und ging raschen Schrittes nach Hause, wobei sie die Menschen beobachtete, darauf wartend, ob er sich verraten würde.

Atemlos nahm sie den Post-it-Zettel an sich: Werter Unbekannter! Es ist mir gleich, wie du aussiehst, solange dein Herz rein und anmutig ist. Bitte zeige dich; ich erwarte dich ungeduldig ab 17 Uhr in meiner Wohnung. Wenn nicht heute, dann morgen. Oder wann immer. Aber bitte lass mich nicht länger in meiner Sehnsucht darben!

Und darunter: Gardener Rd. Nr. 12

Es war eindeutig seine Schrift. Die erste Enttäuschung wich einer Euphorie: Er hatte sie zu sich eingeladen und bald würde sie ihn sehen! Die Zeit des Wartens war vorüber. Hastig steckte sie den Zettel ein und machte sich auf den Weg.

 

***

 

Wie verfaulende Leiber reihten sich die Häuser der Straße aneinander. Unsicher blickte sie auf die Adresse: Gardener Road. Hatte man sich doch einen Scherz mit ihr erlaubt? Wer könnte in diesem heruntergekommenen Häuserblock nur leben? Ihre Euphorie war schlagartig verflogen.

Oh Gott, dachte sie, bitte lass es keinen grausamen Scherz sein! Nr. 12 war ein im viktorianischen Stil erbautes Haus, mit Fensterläden, die wie gigantische Schwingen in ihren verrosteten Angeln hingen. Der Vorgarten war längst von allerlei Unkraut überwuchert, das Eingangstor schwang lustlos krächzend auf. Vorsichtig stieg sie die Treppe zur Tür hoch und sah sich verstohlen um – kein Mensch war zu sehen oder auch nur zu hören. Kein Auto fuhr die Straße entlang. An der Tür war keine Klingel angebracht. Sie ergriff den Türklopfer, zögerte aber ihn zu betätigen.

Jemand hatte mit ihr gespielt und bestimmt lachte sich dieser Jemand tot über ihre Einfältigkeit. Aber dieser ganze Aufwand, den er betrieben hatte ... Vielleicht wollte er sich einfach nur an einem „neutralen“ Ort mit ihr treffen. Sie wusste das Vicky entsetzt wäre, wüsste sie, dass sie sich darauf eingelassen hatte. Niemand wusste dass sie hier war. Vielleicht hatte Vicky Recht und er war ein Psychopath? Und... Von ihrer eigenen Courage verblüfft, pochte sie mit dem Türklopfer gegen die Pforte. Diese öffnete sich ein paar Zentimeter. Nun gab es kein Zurück mehr! Alice trat ein. „Hallo?“