Dunkle Seiten V

Horror, Mystery & Dark-Fantasy

 

 

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Twilight-Line Verlag GbR

Redaktion „Dunkle Seiten“

Obertor 4

98634 Wasungen

Deutschland

 

2. Auflage, September 2016

ISBN 978-3-941122-82-6

 

© 2012 Twilight-Line Verlag GbR

Alle Rechte vorbehalten.

 

Inhalt

 

Die Taschenuhr des Richters

Oliver Henzler

 

Bis auf den letzten Tropfen

Thomas Williams

 

Der Duft des Lavendels

Miriam Lisowski

 

Tuc Tuc to Hell

Vincent Voss

 

Nevada Slut Torturers

Marc Gore

 

Die Muse

Birgit Raule

 

Armee der Nacht
Marius Kuhle

 

Hasenjagd

Stacie McQueen

 

Das Gespräch mit dem Teufel

Marc Hartkamp

 

Die Taschenuhr des Richters

Oliver Henzler

 

 

Vor einigen Jahren begann am Amtsgericht des kleinen Städtchens S. ein junger Richter seinen Dienst. Daniel Kistenmacher hatte gerade sein zweites Staatsexamen mit Erfolg abgelegt und beschlossen sich in den Justizdienst des Bundeslandes B. zu begeben, weil ihm, wie er gerne erwähnte, der Anwaltsberuf nicht zu liegen schien. Die ersten Wochen waren harte Arbeit und es kostete Richter Kistenmacher viel Energie und Fleiß, sich mit den Abläufen eines Richterlebens vertraut zu machen. Aber es gefiel ihm, in dem altehrwürdigen Gebäude in seinem großen Dienstzimmer zu sitzen, Akten zu bearbeiten und an den Verhandlungstagen den holzgetäfelten Sitzungssaal aufzusuchen, um über die Menschen von S. zu richten. Als nach einiger Zeit der Tätigkeit seine Arbeitsbelastung etwas nachließ, begann Daniel Kistenmacher sein Dienstzimmer einer näheren Betrachtung zu unterziehen. In den Regalen standen allerlei Aktenordner aus längst vergangenen Tagen, Aktenkopien, an deren Vernichtung niemand mehr gedacht hatte. Verstaubte Fachbücher, deren Inhalt schon lange überholt war, weil der Gesetzgeber die kommentierten Gesetze reformiert oder aufgehoben hatte, gelangten in seine Hände. Auch allerlei ausgebleichte Zeitungsartikel von Strafprozessen, die zumindest in der lokalen Presse Widerhall gefunden hatten, entdeckte er und las sie mit Interesse. Schließlich hatte sich Richter Kistenmacher bis zur hintersten Ecke der untersten Schublade seines ausladenden Schreibtisches durchgekämpft. Dort befanden sich einige verblichene Fotos, die schon viele Jahre alt sein mochten. Sie zeigten einen rauchenden Grill, der im Hof des Gerichtsgebäudes aufgestellt war und von Menschen in khakifarbenen Hemden umstanden wurde, von denen die meisten eine Bierflasche in der Hand hielten. Auf den Fotos aber lag eine Taschenuhr, die Daniel Kistenmacher erstaunt aus dem Dunkel der Schublade emporzog und verwundert betrachtete. Sie bestand aus einem goldenen runden Gehäuse, wahrscheinlich aus Messing. Seitlich war eine ebenfalls goldene Kette an einem Ring oberhalb der Aufzugskrone befestigt. Das Ziffernblatt bestand aus einem weißen Untergrund, auf dem schwarze Ziffern prangten, die einer antiquiert wirkenden Schrifttype entstammten. Über dem Ziffernblatt wölbte sich ein Glas und als Kistenmacher darauf drückte, sprang der Glasdeckel zur Seite auf. Die Uhr musste lange Zeit unbewegt in der Schublade gelegen haben, denn durch die jähe Bewegung des Deckels wurde eine dichte Staubschicht darüber aufgewirbelt. Der Richter beobachtete, wie die Staubpartikel für kurze Zeit in der Luft schwebten, um sich sodann dem Holzfußboden des Zimmers entgegen zu senken. Auf der Rückseite des Gehäusekörpers befand sich eine Gravur, die sich aus den Buchstaben „A“ und „D“ zusammensetzte und offensichtlich ein Monogramm darstellten. Kistenmacher fragte sich, wem seiner Vorgänger die Uhr wohl gehört haben mochte. Er beschloss, in einer der nächsten Kaffeerunden den Fund anzusprechen und legte die Uhr behutsam auf seine Schreibtischplatte neben einen Stapel mit unbearbeiteten Akten.

 

Einige Tage später fiel Richter Kistenmacher die Uhr wieder in die Hände, als er sich daran machen wollte, jenen Aktenstapel einer Durchsicht zu unterziehen. Er steckte die Uhr ein und zeigte sie nach dem Mittagessen seinen Kollegen, die sie interessiert betrachteten. Als sie die Gravur bemerkten, warfen sie sich einige vielsagende Blicke zu. Schließlich stand einer der Richter auf und reichte die Uhr Daniel Kistenmacher zurück. „Lieber Herr Kollege“, setzte der ältere Richter an, „da haben Sie ohne jeden Zweifel die Taschenuhr des Richters Alois Dagebühl gefunden.“

„Nie von ihm gehört“ entgegnete Kistenmacher, der nun neugierig geworden war. „Erzählen Sie mir von ihm!“

„Nun, dass Sie von Richter Dagebühl nichts wissen, kann nur damit zusammenhängen, dass Sie noch nicht lange in unserer Stadt leben. Jeder, der hier aufgewachsen ist, kennt Richter Dagebühl und seine Geschichte, auch wenn es schon lange her ist. So lange, dass selbst ich nicht aus eigener Anschauung darüber berichten kann. Es war wohl in den fünfziger Jahren. Richter Dagebühl war noch ein Strafrichter von altem Schrot und Korn. Sicher geprägt von den Kriegsjahren, die ihm eine lange, quer über die linke Backe verlaufende Narbe eingebracht hatten. Er galt als autoritär und unnahbar, doch nicht maßlos in seinem Urteil. Und er hatte seine Eigenheiten. Eine davon hing mit der Uhr, die Sie wieder ans Tagelicht gebracht haben, zusammen. Vor jeder Urteilsverkündung trat er aus seinem Beratungszimmer, stellte sich hinter die Richterbank und bevor er das Urteil im Namen des Volkes verkündete, zog er aus der Brusttasche seines Hemdes, das er unter der Robe trug, die Taschenuhr hervor, die er mit der Kette an einem Knopfloch befestigt hatte. Dann betrachtete er das Ziffernblatt kurz und begann die Urteilsverkündung immer mit den Worten: Wem die Stunde schlägt... Gewiss, das steht so in keiner Strafprozessordnung, doch war es anscheinend niemand gegeben, Dagebühl davon abzubringen. Und schließlich akzeptierte auch die Dienstaufsichtsbehörde, dass dem alten Sturkopf nicht beizukommen war. Er erlangte sogar eine gewisse Berühmtheit deswegen, die Presse bezeichnete ihn nicht ganz fernliegend als den Stundenrichter.“

Richter Kistenmacher hörte interessiert zu. Während der ältere Kollege den kauzigen Dagebühl beschrieb, konnte sich Kistenmacher die Person des längst verstorbenen Richters in lebhaften Bildern vorstellen. Er wollte nun mehr erfahren über diesen Menschen, der sein Dienstzimmer vor so langer Zeit genutzt hatte.

„Wenn ihm die Uhr so wichtig war, wieso hat er sie dann zurückgelassen?“

„Diese Frage kann ich natürlich nicht beantworten. Es kann mit dem schnellen Ende, die Dagebühls Richtertätigkeit nahm, zusammenhängen. Sehen Sie, lieber Kollege, eines Tages wurde sein Sohn angeklagt einen Tankstellenraub begangen zu haben. Dagebühl war von der Unschuld seines Sohnes vollkommen überzeugt, doch er wurde verurteilt. Nicht hier in diesem Ort, man musste, wie es für derartige Fälle vorgesehen ist, in die benachbarte Kreisstadt ausweichen. Dagebühl war damals vollkommen außer sich, begann auf alle Rechtsgelehrten zu schimpfen und äußerte lautstark, dass er den Glauben an die Justiz verloren habe. Dann war er auf einmal weg. Niemand wusste wo er steckte und ich kann Ihnen sagen, einfach zu verschwinden ging damals noch leichter, als heute. Nachdem man einige Zeit nichts mehr von ihm gehört hatte, wurde seine Stelle wieder besetzt. Er tauchte dann wieder auf, es mochte etwa ein Jahr vergangen sein. Sie haben ihn aus dem Justizdienst entlassen, was seine Verbitterung nur noch verstärkte. Auch als sein Sohn aus der Haft entlassen wurde, besserte sich seine Verfassung nicht. Er soll noch öfters gekommen sein und jeden am Gericht auf das Übelste beschimpft haben, sodass sich auch seine früheren Kollegen von ihm abwendeten. Soweit mir bekannt ist, starb er kurze Zeit später, allein und verbittert. Sein Grab soll auf dem Hauptfriedhof über die Straße sein, aber ich bin nie dort gewesen.“

Richter Kistenmacher blickte die Uhr versonnen an. Die Uhr eines berühmten Kollegen! Was sollte mit ihr geschehen? Die Schilderung klang nicht gerade so, als ob Dagebühl über eine große Verwandtschaft verfügte. Ob sein Sohn noch lebte? Ihm könnte er die Uhr geben. Doch als Kistemacher in sein Dienstzimmer zurückgekehrt war, legte er die Uhr zunächst beiseite und öffnete seinen Schrank. Er wusste, dass sich darin ein Gemälde befand, angelehnt an die Rückwand. Es war ihm vor einigen Tagen bei der Durchsicht des Inhalts des Möbelstückes in die Hand gefallen. Es zeigt einen ihm unbekannten Mann, daher stellte er es uninteressiert zurück. Doch nun würde er mit einem anderen Blick auf das Gemälde schauen. Handelte es sich um ein Bildnis von Dagebühl? Gespannt zog Daniel Kistenmacher das Bild hervor und seine Vermutung bestätigte sich. Obwohl er Dagebühl nicht kannte, bestand kein Zweifel, denn der Richter, der auf dem Bild hinter dem Richtertisch stand, wies eine lange Narbe im Gesicht auf und hielt eine Taschenuhr an einer Kette in der Hand.

Daniel Kistenmacher zögerte kurz, dann hängte er das Bild an einen der in der Wand schon vorhandenen Nägel. Es kam gerade recht, denn er hatte noch keine Zeit gefunden, sein Dienstzimmer zu schmücken. Der Richter betrachtete den Kollegen auf dem Bild und hielt dabei die Taschenuhr unbewusst in seiner Hand. Die Augen Dagebühls blickten ihn an, geradewegs in seine Seele. Unbewegte, kalte Augen. Kistenmacher wollte den Augen ausweichen und blickte nach unten auf das Ziffernblatt der Taschenuhr. Ungläubig stellte er fest, dass sich der Minutenzeiger bewegte. Seltsam war das, hatte er die Uhr doch nicht aufgezogen. Gerade, als sich der junge Richter das Phänomen damit erklärte, dass das Uhrwerk wohl durch die Erschütterungen, denen die Uhr ausgesetzt war, wieder in Gang gebracht wurde, stellte er fest, dass der Zeiger rückwärts lief. Nicht nur das, er bewegte sich auch weitaus schneller als dies von einem Minutenzeiger zu erwarten war. Seine Geschwindigkeit nahm zu, immer schneller und schneller wurde die Bewegung, wie in einem wildgewordenen Karussell. Auch der Stundenzeiger geriet außer Kontrolle, versuchte eiligst dem Minutenzeiger zu folgen, wurde von diesem jedoch ein ums andere Mal überholt. Der rasende Ritt beschleunigte sich so weit, dass die Zeiger nicht mehr zu sehen waren, doch das stumme Vibrieren der Uhr zeigte Kistenmacher, dass in ihr das Chaos tobte. Schon wurden seine Augen müde von dem hypnotisierenden Spiel auf dem Ziffernblatt und das Letzte, was Daniel Kistenmacher fühlte, war, dass sich sein Körper nun selbst auf einer Kreisbahn befand und abtauchte in einen Abgrund der Zeit.

 

Als er wieder zu sich kam, umfing ihn ein fahles Licht. Er lag zusammengekrümmt auf einem Holzfußboden und hatte Mühe, sich bei Bewusstsein zu halten. Schließlich gelang es dem Richter, sich an einem Holztisch hochzuziehen. Unsicher stellte er sich auf und blickte sich um. Er erkannte den Zuschnitt seines Dienstzimmers wieder, es war derselbe Fußboden, auf dem er lag und auch die Anordnung der Fenster und der Türe passte. Doch stimmte die Möblierung in keiner Weise mit derjenigen überein, die er erwartet hätte. Das Gericht war erst letztes Jahr mit Möbeln aus der Werkstatt der Vollzugsanstalt ausgestattet worden. Diese hier waren wesentlich wuchtiger und viel dunkler. Wo mochte er also sein? Da entdeckte Kistenmacher die Uhr auf dem Fußboden. Vorsichtig hob er sie auf. Ein Blick auf das Ziffernblatt zeigte ihm, dass das Schauspiel beendet war. Die Zeiger waren wieder zur Ruhe gekommen, als ob sie nicht kurz zuvor Teilnehmer eines Höllenrittes gewesen wären. Kein Geräusch drang an Richter Kistenmachers Ohr, als er unsicher dem Fenster des Zimmers entgegenstrebte, um einen Blick nach draußen zu werfen. Er schien sich in einer Welt der absoluten Stille zu befinden. Der Blick nach draußen ließ auch in dem Richter alles still werden. Es war ein Parkplatz vor dem Gericht und ohne Zweifel war es der Gerichtsparkplatz, doch er war vollgestellt mit hellgrün, beige und blau lackierten VW Käfer. Einige hatten sogar noch ein Brezelfenster an der Heckscheibe, wie die Fahrzeuge kurz nach dem Krieg gebaut worden waren. Daniel Kistenmacher ließ voller Verwunderung über die Ansammlung von Oldtimerfahrzeugen seinen Blick in die Ferne schweifen. Die verstreut erbauten Häuser auf dem Hügel gegenüber der Innenstadt hatten nichts mit der Ansicht zu tun, wie sie sich eigentlich hätte darstellen müssen. Der Hügel war vollständig zugebaut, weiter unten die Mehrfamilienhäuser, auf dem Höhenzug schmucke Einfamilienhäuser, die sich die Besserverdienenden der Stadt leisteten. Die Innenstadt präsentierte sich ohne dass hässlich Hochhaus mit angeschlossener Einkaufspassage, die den wohlklingenden Namen „Solariszentrum“ trug, im Volksmund aber nur das „Solis“ genannt wurde. Die Stadt unterhalb seines Fensters war von der gleichen Leblosigkeit geprägt, wie die Atmosphäre in seinem Zimmer. Kein Mensch war zu sehen, kein Laut drang zu Kistenmacher herauf, wo dieser das gleichmäßige Rauschen des Straßenverkehrs und die Stimmen der Passanten erwartet hätte. Ungläubig und verwirrt drehte sich der junge Richter um und blickte direkt auf das an der gegenüberliegenden Wand aufgehängte Portrait. Seine Position an der Wand wies keine Unterschiede zu den Gegebenheiten seines Zimmers auf, wie er es kannte. Er selbst hatte das Bildnis an dieser Stelle aufgehängt. Aber auch dem flüchtigen Betrachter konnte nicht verborgen bleiben, dass Richter Dagebühl nicht hinter dem Richtertisch stand und auch keine Taschenuhr in der Hand hielt, sondern auf seinem Stuhl saß und den Betrachter aufmerksam anblickte. Unwillkürlich umschloss Richter Kistenmachers Hand die Uhr, als ob er sie dem Blick des Mannes auf dem Portrait entziehen wollte. Da brach Dunkelheit herein und innerhalb weniger Augenblicke verfinsterte sich die Welt außerhalb des Zimmers. In schweren Schwaden zog die Schwärze auch durch das geschlossene Fenster und umfing den Raum zuerst in der hintersten Ecke, um sodann jeden Winkel zu verschlingen. Der junge Richter war über den plötzlichen Wechsel der Tageszeit nicht einmal sonderlich überrascht, denn die Welt, in der er sich befand, kam ihm ohnehin unwirklich vor. Regungslos stand er inmitten des Dienstzimmers, zu keiner Bewegung fähig. Kälte kroch durch seine Hosenbeine und Ärmel und er begann zu frieren. Eine Anspannung, wie er sie noch nie zuvor erlebt hatte, ließ jedes Haar an seinem Körper nach oben stehen und nahm ihm die Luft zum Atmen. Eine Bewegung ließ seine Aufmerksamkeit auf das Portrait richten. Etwas hatte sich daraus gelöst, etwas, das jemanden suchte. Kistenmacher spürte, das Schreien nichts helfen würde in einer Welt ohne Geräusche, deren tiefgreifende Stille nur von dem polternden Laut seines rasenden Herzschlags durchbrochen wurde. So blieb er regungslos und stumm stehen und sah dem Schatten nach, der noch dunkler war, als der Raum um ihn herum. Der junge Richter wartete, bis der Schatten ihm seine Gestalt offenbaren und Besitz von ihm nehmen würde. Die Luft schien sich immer weiter abzukühlen, doch nichts war mehr zu sehen, nur Schwärze, gleichbleibende Schwärze, und Kistenmacher begann die Orientierung zu verlieren. Etwas näherte sich ihm, doch er konnte nicht mehr bestimmen, von wo es kam. Oben, unten, alles war eines und nicht mehr wichtig. Eine Stimme drang in sein Bewusstsein, erst leise, dann immer lauter, bis sie schließlich seine gesamte Wahrnehmungsfähigkeit ausfüllte. Der monotone Klang der Stimme schien immer denselben, schwer verständlichen Satz zu formen und nach einigen Wiederholungen war Kistenmacher klar, was er bedeutete: „Gib mir meine Zeit zurück!“

Ein eiskalter Luftzug durchzog den Raum, als sich die schwarze Robe des toten Richters auf den jungen Richter senkte. Sein Geist kannte nicht mehr Zeit noch Raum, sein vernebeltes Bewusstsein war nicht mehr fähig, die fremdartigen Eindrücke zu erfassen. Das letzte, was Kistenmacher wahrnahm, bevor er besinnungslos in sich zusammensank, war eine hässlich lange Narbe auf einer eingefallenen Wange. Die Uhr glitt ihm aus den Fingern und fiel ebenfalls nach unten, doch prallte der Körper im Gegensatz zu dem von Daniel Kistenmacher nicht auf dem Holzboden auf, sondern verschwand geräuschlos.

 

Als die Sonne zum Fenster hereinschien und der Straßenlärm in dem einsetzenden Berufsverkehr zunahm, erwachte Daniel Kistenmacher. Es dauerte eine Weile, bis er gewahr wurde, wo er sich befand und noch länger, bis er sich erinnerte, was zuvor passiert war. Stöhnend rieb sich Kistenmacher die schmerzende Stirn und stand auf. Das Leben war zurückgekehrt. Die Vögel zwitscherten, Passanten unterhielten sich unterhalb des Gerichtsgebäudes lautstark und eine Mülltonne wurde auf dem Gehweg entlang geschoben. Auf den Parkplatz fuhr ein hellblauer VW Käfer und gesellte sich zu den bereits dort abgestellten baugleichen Fahrzeugen. Kistenmacher fuhr herum. Auf dem Portrait war der Richter, doch er saß nicht mehr hinter dem Richtertisch, sondern stand dort. In einer Hand hielt er eine Taschenuhr und in Daniel Kistenmachers Bewusstsein dröhnte seine Stimme: „Wem die Stunde schlägt...“.

 

 

 

 

 

Bis auf den letzten Tropfen

Thomas Williams

 

Ich muss zugeben, es war vielleicht keine so gute Idee Tobias links und rechts eine zu knallen, denn danach heulte er nur noch lauter und beschimpfte uns zwischen seinen Schluchzern als Arschlöcher. Sebastian und ich sahen uns ratlos an.

„Also, wenn das die ganze Nacht so weiter geht, penne ich draußen“, sagte Sebastian.

„Du bist so ein Arsch“, brüllte Tobias.

„Und du ein Muttersöhnchen. Was willst du denn, was wir machen? Wir sind hier mitten im Nirgendwo, in einer Scheune, aber wenigstens im trockenen.“

Tobias schniefte, wischte sich Tränen aus den Augen. Ich hatte mich schon gefragt, wann er loslegen würde. Dass es erst jetzt passierte, Stunden nachdem wir unsere Schulkasse aus den Augen verloren hatten, überraschte mich. Tobias heulte schon los, wenn ihm eine Matheaufgabe zu schwer war und schrie dabei etwas von einem Hirnkrampf oder so.

Sebastian setzte sich.

„Ich weiß, dass das hier Scheiße ist. Aber im Moment können wir nur warten, okay? Der Kerl hat gesagt, dass er uns morgen in die Stadt fährt.“

Und darüber hatten wir uns alle drei aufgeregt, aber der Typ blieb stur. Ihm gehörte dieser Bauernhof, den wir gefunden hatten, nachdem wir mindestens vier Stunden verzweifelt durch einen Wald geirrt waren. Anfangs hatten wir es noch lustig gefunden. Wir machten Witze darüber, was unsere Lehrer und Mitschüler wohl gerade dachten. Wir glaubten schon wieder auf den Wanderweg zurückzufinden, aber irgendwann wurde uns klar, dass wir uns vollkommen verirrt hatten. Keiner reagierte auf unser Rufen. Wir waren am Arsch der Welt.

Sebastian sagte, es sollten kleine Telefone erfunden werden, mit denen man jederzeit erreichbar war, aber ich zeigte ihm den Vogel und sagte, dass das kompletter Blödsinn sei und kein Mensch so etwas kaufen würde.

„Du hast ein Supernintendo“, sagte Basti. „So etwas kauft auch keiner.“

Als wir irgendwann im strömenden Regen und völlig durchnässt den Bauernhof erreichten, dachten wir, wir wären gerettet. Jeder von uns erwartete, dass der Bewohner des Hofs uns zur Herberge oder wenigstens in die Stadt fahren konnte, aber stattdessen bot er uns an in der Scheune zu schlafen. Sie stand ohnehin leer und in die Stadt konnte er uns erst am nächsten Morgen fahren, weil er wichtigen Besuch erwartete.

„Ich will nach Hauuuuuuse!“, schrie Tobias und der Mann sah ihn genervt an. Er hatte uns nicht einmal in sein Haus gelassen, deutete noch einmal auf die Scheune und sagte, dass es dort Pferdedecken gab.

Wenigstens brachte er uns etwas Suppe. Keinem von uns gefiel es hier, aber wir hatten keine Orientierung und waren völlig erschöpft. Ich hätte mich auch auf den Waldboden legen können, um zu schlafen.

„Wenn er uns nicht in die Stadt fährt, gehen wir eben zu Fuß weiter“, sagte Sebastian, während er sich mit einer Pferdedecke auf den Boden legte. Er hatte etwas Stroh unter sich ausgebreitet. „Scheiße, das juckt!“

„Wenn er uns in die Stadt gefahren hat, trete ich ihm in die Eier“, sagte ich. „Lässt uns in der Scheune pennen. Die anderen machen sich Sorgen. Wahrscheinlich sucht man schon nach uns und der Arsch will uns nicht helfen.“

„Vielleicht schmeißt er uns ja noch raus, wenn Tobi weiter so einen Lärm macht.“

„Halt die Fresse“, knurrte Tobias und zog ebenfalls eine Pferdedecke über seinen Körper.

Ich saß an die Wand gelehnt und konnte durch einen Spalt zwischen den Brettern nach draußen sehen. Im Wohnhaus brannte immer noch Licht. Eine Straße verlief in den Wald, aber wohin sie führte, wussten wir nicht. Sollte uns der Mann morgen nicht helfen, mussten wir uns zu Fuß auf den Weg machen.

„Wer lebt denn schon freiwillig so abgeschieden?“, fragte Sebastian unter seiner Decke. „Das ist doch ätzend. Hier draußen ist nichts. Gar nichts. Er hat ja nicht mal ein Telefon.“

„Aber Fernsehen“, sagte ich, mit dem Blick aufs Haus gerichtet. Durch eines der Fenster konnte ich den Fernseher sehen. Ich erkannte weder das Programm, noch ob der Hausbesitzer sich im Zimmer aufhielt, aber das ständig wechselnde Bild und die Bewegungen verrieten mir, worauf ich da starrte.

„Ja, klasse. Das ergibt doch keinen Sinn, oder?“ Sebastian schob die Decke von sich weg. „Die stinkt! Hey, Tobias. Stinkt deine Decke auch so?“

Keine Antwort.

Sebastian setzte sich auf. „Der pennt ja!“

„Was soll er sonst machen? Dir ‘ne Geschichte erzählen?“

„Sehr witzig.“