Karl May


Old Surehand II

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Klassiker als ebook bei RUTHeBooks, 2015


ISBN: 978-3-95923-008-7


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Kapitel 4 - Die verkehrten Toasts



Als Treskow seinen Bericht beendet hatte, gab es von Seiten seiner Zuhörer eine ganze Menge von Fragen, die er ihnen beantworten sollte. Die Geschichte, besonders das Ende derselben, war ihnen nicht ausführlich genug, und jeder wollte etwas wissen, was er vermißte. Am sonderbarsten kam es ihnen vor, daß Winnetou eine Seereise mitgemacht hatte. Ein Roter und noch dazu dieser Indianer, und eine Reise zur See, das war ihnen unbegreiflich, mir aber nicht, denn ich kannte diese Geschichte längst und wußte auch, daß er nicht nur dieses eine Mal zur See gewesen war.

Während sie noch hin und her sprachen, kamen neue Gäste. Es waren sechs Personen, welche lärmend eintraten und etwas mehr Spiritus genossen zu haben schienen, als ihnen zuträglich war. Sie sahen sich nach Plätzen um, und obgleich genug andre leer waren, zogen sie es vor, sich an meinen Tisch zu setzen.

Am liebsten wäre ich aufgestanden, was sie aber gewiß als eine Beleidigung betrachtet hätten, und da ich keine Veranlassung zu rohen Streitigkeiten geben wollte, so blieb ich sitzen. Sie verlangten Brandy und bekamen welchen, doch wurden sie von Mutter Tick in einer Weise bedient, welche erkennen ließ, daß sie diese Leute lieber gehen als kommen sah.

Bewohner der Stadt konnten sie nicht sein, denn sie hatten außer ihren Messern und Revolvern auch Gewehre mit. Wie echte Rowdies aussehend, stanken sie förmlich nach Schnaps, und es kostete mich wirklich Überwindung, mit ihnen an demselben Tische auszuhalten. Sie führten das große Wort und sprachen so laut und so unausgesetzt, daß von der Unterhaltung der andern Gäste fast nichts zu hören war. Die Ruhe und Gemütlichkeit, welche vorher geherrscht hatten, waren verschwunden.

Der lauteste von ihnen war ein stark und ungeschickt gebauter Kerl mit einem wahren Bullenbeißergesicht. Es war, als ob seine Glieder und seine Gesichtszüge aus Holz roh zugehackt worden seien. Er spielte sich als den Anführer der andern auf, und es war allerdings zu bemerken, daß sie ihn nach ihrer Weise mit einer Art Respekt behandelten.

Sie sprachen von Heldentaten, die sie begangen hatten und wieder begehen wollten, von Vermögen, welche sie besessen und verjubelt hatten und jedenfalls bald wieder erwerben würden; sie gossen ein Glas nach dem andern hinunter, und als Mutter Tick sie Mahnte, langsamer zu trinken, wurden sie grob und drohten, vom Büffett Besitz zu nehmen und sich selbst zu bedienen.

"Das würde ich mir verbitten," antwortete die mutige Wirtin. "Da liegt der Revolver; der erste, der sich an meinem Eigentum vergriffe, würde eine Kugel bekommen!"

"Von dir etwa?" lachte der Bullenbeißer.

"Ja, von mir!"

"Mach dich nicht lächerlich! In solche Hände gehört eine Nähnadel, aber kein Revolver. Glaubst du wirklich, uns zum Fürchten zu bringen?"

"Was ich glaube oder nicht, das geht Euch nichts an. Jedenfalls bin ich es nicht, die sich fürchtet, und wenn es an einer Hilfe fehlen sollte, so sind Gentleman genug da, welche sich einer wehrlosen Witfrau annehmen würden!"

"Gentleman genug?" wiederholte er ihre Worte höhnisch lachend, indem er von seinem Stuhle aufstand und seinen Blick herausfordernd rundum laufen ließ. "Sie mögen herkommen und probieren, wer den Kürzeren zieht, sie oder ich!"

Es antwortete ihm kein Mensch, ich natürlich auch nicht. Auf einen Widerstand meinerseits schien er überhaupt gar nicht gerechnet zu haben, denn er hatte sie alle angesehen, mich aber nicht. Vielleicht kam ihm mein ruhiges Gesicht so zahm vor, daß er es nicht der Mühe wert hielt, mich überhaupt zu addieren. Ich gehöre nämlich zu denjenigen Menschen, deren Züge gerade dann einen recht bescheidenen Ausdruck annehmen können, wenn es in ihrem Innern arbeitet. Einer, der sich für einen großen Psychologen hielt, erklärte mir das einmal mit den Worten: Wenn der Geist sich nach innen zieht, muß außen das Gesicht dumm aussehen; das ist doch selbstverständlich.

Als der Bulldogge sah, daß niemand seiner Aufforderung folgte, wurde er noch kühner als vorher.

"Dachte es mir; es wagt sich keiner her!" lachte er. "Möchte auch den sehen, der es wagte, einen Gang mit Toby Spencer zu machen! Ich drehte dem Kerl das Gesicht auf den Rücken! Toby Spencer ist nämlich mein Name, und wer wissen will, was für ein Kerl dieser Toby ist, der mag kommen!"

Er streckte die geballten Fäuste aus und ließ den Blick noch einmal herausfordernd um die Runde schweifen. War es wirklich Furcht vor ihm oder nur der Ekel vor einem solchen Menschen, es rührte sich auch jetzt niemand. Da lachte er noch lauter als vorher und rief:

"Seht ihr es, Boys, wie ihnen die Herzen in die Schuhe und Stiefel fallen, wenn Toby Spencer nur ein Wort von sich hören läßt. Es ist wirklich keiner, aber auch kein einziger unter ihnen, der es wagt, nur einen Mucks zu tun. Und das wollen Gentleman sein!"

Da stand doch einer auf, nämlich derjenige, der die erste Geschichte erzählt und sich für Tim Kroner, den Colorado-Mann ausgegeben hatte. Es war jedenfalls nicht eigentlicher Mut, sondern nur die Absicht, sich als einen tüchtigen Kerl aufzuspielen, was ihn veranlaßte, das Wort zu ergreifen. Er kam einige Schritte näher und sagte:

"Ihr irrt Euch sehr, Toby Spencer, wenn Ihr glaubt, es gebe niemand, der sich an Euch wagt. Das mag bei allen Anwesenden stimmen, aber nicht bei mir."

"Bei Euch also nicht? So, so!" antwortete der Rowdy in verächtlichem Tone. "Warum bleibt Ihr denn stehen, wenn Ihr solchen Mut habt? Warum kommt Ihr nicht näher?"

"Ich komme ja schon!" sprach der andre, indem er noch einige langsame, zögernde Schritte machte und dann wieder halten blieb. Seine Stimme klang aber gar nicht so zuversichtlich wie vorhin, als er an meinen Tisch gekommen war, um mit mir anzubinden. Da Toby Spencer auch etwas vorgetreten war, standen sie nun in ganz geringer Entfernung von einander.

"Well! Also Ihr seid der Mann, der sich nicht fürchtet?" fragte der letztere. "So ein Kerlchen, welches ich mit einem einzigen Finger aus der Balance hebe! Da möchte ich wahrhaftig, ehe ich Euch auffresse, wissen, wie Ihr heißt!"

"Das könnt Ihr erfahren. Ich heiße Tim Kroner."

"Tim Kroner? Da habt Ihr Euch ja einen recht berühmten Namen zugelegt!"

"Zugelegt? Es ist der meinige!"

"Das mögt Ihr andern weiß machen, aber nur nicht mir!"

"Es ist mein Name, sage ich Euch!"

"Hm! Vielleicht ist's möglich, daß Ihr so heißt, aber Ihr wollt doch nicht etwa behaupten, der Colorado-Mann zu sein?"

"Grad das behaupte ich!"

"Alle Wetter, wie kommt denn so ein Karnickel, wie Ihr seid, dazu, sich mit dem Namen eines Löwen zu schmücken! ich sage Euch, daß dieser Name Euch nicht gehört, daß Ihr ein Betrüger seid!"

"Oho! Ein Betrüger? Wahrt Eure Zunge, Sir! Man weiß, daß der Colorado-Mann nicht in dieser Weise mit sich sprechen läßt! Soll ich Euch das beweisen?"

"Knirps, beweise es!"

Bei dieser Aufforderung trat Spencer drohend zwei Schritte auf ihn zu; er wich vorsichtig ebenso weit zurück und antwortete:

"Das habe ich gar nicht nötig. Was alle Welt weiß, das brauche ich nicht zu beweisen!"

"Eigentlich richtig, denn der wirkliche Tim Kroner ist ein Kerl, der Haare auf den Zähnen hat; da du aber dieser echte nicht bist, hast du zu zeigen, ob dein Mut wirklich bis her zu mir reicht. Also, go on!"

Er machte wieder zwei Schritte vorwärts.

"Ja, come on!" rief der andre, indem er aber zwei Schritte rückwärts machte.

"So bleib doch stehn, du großer Held mit dem Maule! Warum retirierst du denn? Gibt sich dieser Mensch für den Colorado-Mann aus, den ich so gut kenne wie mich selbst! Diesem Übermute muß ein Dämpfer aufgesetzt werden. Also halte stand, und faß an, sonst nagele ich dich an die Wand, daß du daran kleben bleibst."

Er ging abermals vorwärts; der falsche Tim Kroner wich auch jetzt wieder zurück, indem er sich auf die Verteidigung durch das Mundwerk legte:

"Ich bin der echte Colorado-Mann! Wenn ein andrer sich für mich ausgibt, ist er ein Lügner!"

"Pshaw! Möchte den vernünftigen Mann sehen, dem es einfallen könnte, sich für dich auszugeben! Wenn du geglaubt hast, es bedürfe nur dieses Namens, mich zurückzuschrecken, so hast du dich nicht nur geirrt, sondern dich so verrechnet, daß das ganz entgegengesetzte Resultat herauskommt: Ich werde dich ein wenig höher hängen, damit die Leute sehen, was für ein berühmter und mutiger Colorado-Tim du bist. Komm also her, mein Bürschchen, nur her zu mir!"

Er gab ihm zwei blitzschnelle, gewaltige Hiebe auf die Achseln, nahm ihn dann bei den Oberarmen, drückte sie ihm an den Leib, schob ihn an die Wand und hob ihn so empor, daß er mit dem Kragen an einem Kleiderhaken hängen blieb. Das war kein ganz gewöhnliches Kraftstück, und er führte es aus, ohne daß man ihm dabei eine Anstrengung anmerkte. Der andre begann, als er an der Wand hing, zu schreien und zu zappeln, was bei seiner langen, dürren Gestalt sehr wunderlich aussah, bis der Kragen seines Büffellederrockes zerriß und er zu Boden fiel. Spencer lachte aus vollem Halse; seine Gefährten stimmten ein, und auch die andern konnten nicht ganz ernst dabei bleiben, obgleich der Rowdy gar nicht ihren Beifall hatte. Dieser schickte dem still auf seinen Platz zurückkehrenden "Colorado-Mann" sein Gelächter nach und schien dadurch in friedliche Stimmung zu geraten, denn er sah von einer weiteren Herausforderung ab und setzte sich wieder nieder, um mit seinen Kameraden die lärmende Unterhaltung fortzusetzen. Dabei hatte ich das große Glück, daß er mich nun endlich seiner Aufmerksamkeit würdigte. Er fixierte mich mit neugierigem Blicke und richtete dann die etwas sonderbare Frage an mich:

"Seid wohl auch so ein Colorado-Mann wie der da drüben, he?"

"Glaube nicht, Sir," antwortete ich ruhig.

Man war an allen Tischen still, um zu hören, was nun kommen werde. Vielleicht gab es wieder etwas zum Lachen.

"Also nicht?" fuhr er fort. "Ihr scheint mir aber auch kein Held zu sein!"

"Gebe ich mich etwa für einen aus? Ich schmücke mich nicht mit falschen Federn."

"Das ist Euer Glück, sonst würde ich Euch auch an den Nagel hängen!"

Da ich hierauf schwieg, fuhr er mich an:

"Glaubt ihr es etwa nicht?".

"Hm! Ich glaube es ganz gern."

"Im Ernste? Toby Spencer ist nämlich nicht der Mann, mit dem man Späße treibt!"

Es war klar, daß er nun mit mir Streit suchte. Ich sah den besorgten Blick, den Mutter Tick auf mich warf, und tat ihr den Gefallen, sehr höflich zu antworten:

"Davon bin ich überzeugt, Sir. Wer die Körperstärke besitzt, einen so langen Menschen wie den da drüben an den Nagel zu hängen, der hat es gar nicht nötig, sich von andern Leuten foppen zu lassen."

Sein boshaft auf mich gerichteter Blick wurde milder, und sein Gesicht nahm einen fast freundlichen Ausdruck an, als er jetzt in befriedigtem Tone sagte:

"Habt recht, Sir. Ihr scheint kein ganz unrechter Kerl zu sein. Wollt Ihr mir sagen, was für eine Art von Metier Ihr habt?"

"Hm! Eigentlich keins."

"Wie meint Ihr das?"

"Weil ich gerade jetzt gar nichts betreibe."

"So habt Ihr wohl Ferien?"

"Yes."

"Und viel Zeit übrig?"

"Sehr viel."

"Was tut Ihr denn aber, wenn Ihr keine Ferien habt? Ihr müßt doch irgend etwas sein oder irgend etwas machen. Oder nicht?"

"Freilich wohl."

"Nun, was?"

"Ich habe mich schon in verschiedenen Branchen versucht."

"Es aber zu nichts gebracht?"

"Leider!"

"Was waret Ihr zuletzt?"

"Zuletzt bin ich in der Prärie gewesen."

"In der Prärie? Also Jäger?"

"So ähnlich."

"Könnt Ihr denn schießen?"

"So leidlich."

"Und reiten?"

"So, daß ich nicht gerade herunterfalle."

"Ihr scheint mir aber von etwas ängstlicher Natur zu sein!"

"Wirklich?"

"Ja."

"Hm! Es kommt auf die Verhältnisse an. Mut soll man nur zeigen, wenn es nötig ist, sonst ist es Prahlerei."

"Das ist sehr richtig! Hört, Ihr beginnt, mir zu gefallen. Ihr seid ein bescheidener Boy, der zu brauchen ist. Ein großer Westmann seid Ihr freilich nicht; das sieht man Euch mit jedem Blicke an; aber wenn ich wüßte, daß Ihr nicht gerade ein ausgemachtes Greenhorn wäret, so ..."

"So ...?" fragte ich, weil er den Satz nicht ganz aussprach.

"So würde ich fragen, ob Ihr Lust habt, mit uns zu gehen."

"Wohin?"

"Nach dem Westen."

"Der ist groß. Es wäre mir lieber, eine bestimmte Gegend zu hören."

"Die kann ich Euch sagen. Also Ihr habt Zeit, und es hält Euch nichts hier zurück?"

"Gar nichts."

"So sagt, ob Ihr mit wollt!"

"Ehe ich das sagen kann, muß ich doch erst wissen, wohin Ihr gehen und was Ihr dort treiben wollt."

"Well, auch das ist richtig und vernünftig. Wir wollen ein wenig ins Colorado hinauf, nach dem Parke von San Louis so ungefähr. Seid Ihr vielleicht schon einmal da oben gewesen?"

"Ja."

"Was? So weit? Das hätte ich Euch nicht zugetraut! Ist Euch die Gegend der foam-cascade, bekannt?"

"Nein."

"So! Dahin wollen wir. Dort oben in den Parks wird in neuerer Zeit wieder eine solche Menge von Gold gefunden, daß man die Gelegenheit nicht versäumen darf."

"Ihr wollt graben?"

"Hm ... jaaa ... aaa!" dehnte er.

"Und wenn Ihr nichts findet?"

"So finden andre etwas," antwortete er mit einem bezeichnenden Achselzucken. "Man braucht nicht gerade Digger zu sein, um in den Diggins etwas zu verdienen."

Es konnte ihm nicht einfallen, sich deutlich auszudrücken; ich wußte trotzdem, was er meinte. Er wollte ernten, wo er nicht gesät hatte.

"Daß wir nichts finden, darüber braucht Ihr Euch nicht zu sorgen," fuhr er fort, um mir Lust zu machen.

Es war ihm Ernst damit, mich mitzunehmen, denn je zahlreicher seine Gesellschaft war, desto bessere Geschäfte mußte sie machen, und mich hielt er für einen Mann, den man ausnutzen und dann fortjagen, wenn nicht noch schlimmeres, konnte. "Wir sind alle überzeugt, daß wir gute Ausbeute machen werden, denn wir haben einen Mann bei uns, der sich darauf versteht."

"Einen Geologen?"

"Er ist noch mehr als Geologe; er besitzt alle Kenntnisse und Erfahrungen, die in den Diggins nötig sind. Ihr werdet nicht daran zweifeln, wenn ich Euch sage, daß er ein Offizier von höchstem Range ist, nämlich General."

"General?" fragte ich, indem mir ein Gedanke kam. "Wie heißt der Gentleman?"

"Douglas. Er hat eine Menge Schlachten mitgemacht und dann in den Bergen sehr eingehende wissenschaftliche Forschungen angestellt, deren Ergebnis die Überzeugung ist, daß wir Gold, sehr viel Gold finden werden. Nun, habt Ihr Lust?"

Wenn es wirklich seine Absicht gewesen wäre, nach Gold zu graben, so hätte er sich sehr gehütet, hier, vor so vielen Zeugen, davon zu sprechen; er hatte also etwas ganz andres vor, und daß dies nichts Gutes war, erhellte daraus, daß der Quasi-General zu der Gesellschaft gehörte. Daß dieser sich noch Douglas nannte und keinen andern Namen angenommen hatte, war von ihm eine Unvorsichtigkeit, die ich kaum begreifen konnte.

"Nein, Sir, ich habe keine Lust," antwortete ich.

"Warum nicht?"

"Sehr einfach, weil mir die Sache nicht gefällt."

"Und warum gefällt sie Euch nicht?"

Seine vorher freundlichen Züge verfinsterten sich mehr und mehr und wurden schließlich drohend.

"Weil sie nicht nach meinem Geschmacke ist."

"Und was für eine Art von Geschmack habt Ihr, Sir?"

"Die Art, welche es mit der Ehrlichkeit hält."

Dann sprang er auf und schrie mich an:

"Alle Teufel! Wollt Ihr etwa sagen, daß ich nicht ehrlich bin?"

Auch einige von den andern Gästen standen auf. Sie wollten die Szene genau sehen, welche jetzt unbedingt erfolgen mußte.

"Ich habe mich um Eure Ehrlichkeit eben sowenig zu bekümmern wie Ihr Euch um meinen Geschmack," antwortete ich, indem ich ruhig sitzen blieb, ihn aber scharf im Auge behielt. "Wir gehen einander nichts an und werden uns in Ruhe lassen!"

"In Ruhe lassen? Das bildet Euch nur ja nicht ein! Ihr habt mich beleidigt, und zwar in einer Weise, daß ich Euch zeigen muß, wer Toby Spencer eigentlich ist."

"Das braucht Ihr mir nicht erst zu zeigen."

"So? Ihr wißt es wohl schon?"

"Ja."

"Nun, was bin ich denn?"

"Grad das, was ich auch bin, nämlich Gast bei Mutter Tick, und als Gast hat man sich anständig zu betragen, wenn man anständig behandelt sein will."

"Ah! Und wie wollt Ihr mich denn behandeln?"

"So, wie Ihr es verdient. Ich habe Euch nicht aufgefordert, Euch zu mir zu setzen; es waren genug andre Plätze da. Ich habe auch nicht von Euch verlangt, mit mir zu sprechen. Und nachdem ich von Euch ins Gespräch gezogen worden bin, habe ich höflich und sachgemäß geantwortet. Eure Pläne und Absichten sind mir vollständig gleichgültig; da Ihr mich aber fragtet, ob ich mit Euch nach Colorado wolle, habe ich Euch ruhig gesagt, daß ich keine Lust habe. Wie Euch das in Zorn versetzen kann, begreife ich nicht!"

"Ihr habt von Ehrlichkeit gesprochen, Boy! Das dulde ich nicht!"

"Nicht? Hm! Ich denke, ein ehrlicher Mann kann ruhig von Ehrlichkeit sprechen hören, ohne darüber in solchen Grimm zu geraten."

"Mann, nehmt Euch in acht! Das ist wieder eine Beleidigung, die ich mir sehr stark ..."

Er wurde von der Wirtin unterbrochen, welche ihn aufforderte, Ruhe zu halten; er hob den Arm gegen sie.

"Begebt Euch nicht in Gefahr, Mutter Tick!" bat ich sie. "Ich bin gewöhnt, für mich selbst zu sorgen, und pflege stets mein eigener Schutz zu sein."

Das brachte den Rowdy in noch größere Wut. Er schrie mich an:

"Dein eigener Schutz? Nun, so schütze dich! Hier, das ist für die Beleidigung!"

Er holte mit der Faust zum Schlage aus; darauf war ich gefaßt. Ich hatte im Nu das Bierglas ergriffen und parierte mit ihm den Hieb. Anstatt daß dieser mich traf, wurde er von dem Glase aufgefangen, welches sogleich in Stücke ging. Zugleich sprang ich auf und stieß dem Kerl die Faust mit solcher Gewalt von unten herauf unter das Kinn, daß seine Gestalt, so stark und schwer sie war, hintenüberflog und, einen Tisch und mehrere Stühle umreißend, zur Erde stürzte.

Der war besorgt, und ich hatte zunächst meine Augen auf seine Genossen zu richten, denn daß diese seinen Fall rächen würden, das war sicher. Sie drangen auch sofort mit wildem Geschrei auf mich ein. Zwei Fausthiebe von mir, und zwei von ihnen flogen, der eine nach rechts und der andre nach links auseinander; dem dritten fuhr ich mit beiden Fäusten gegen die Magengrube, daß er mit einem überschnappenden Schrei zusammenknickte; die beiden letzten wichen bestürzt zurück.

Jetzt aber hatte sich Spencer wieder aufgerafft; seine Hand blutete vom Glase, und noch mehr Blut floß ihm aus dem Munde; er hatte sich bei meinem Fausthiebe unter das Kinn in die Zunge gebissen. Mir das Blut entgegenspuckend, brüllte er:

"Hund, das ist dein Tod! So ein Kerl, der nicht einmal weiß, was für ein Metier er hat, wagt es, sich an Toby Spencer zu vergreifen! Ich werde ..."

"Halt! Augenblicklich die Hand vom Gürtel!" unterbrach ich ihn, denn er griff nach dem Revolver; zugleich zog ich den meinigen und richtete den Lauf auf ihn.

"Nein, sondern die Hand in den Gürtel!" schäumte er. "Meine Kugel soll dich ..."

"Noch einmal, fort mit der Waffe, sonst schieße ich!" fiel ich ihm wieder in die Rede.

Er zog sie dennoch. Ich zielte auf seine Hand; er stieß einen Schrei aus, ließ sie sinken, und der Revolver fiel zu Boden.

"Hände hoch! Augenblicklich ihr alle, Hände hoch! Wer nicht gehorcht, bekommt die Kugel!" befahl ich nun.

"Hände hoch!" ist im Westen ein gefährliches Wort. Wer zuerst die Waffe in der Hand hat, der befindet sich im Vorteile. Um sich selbst zu retten, darf er den Gegner nicht schonen. Wenn er "Hände hoch!" gebietet und es wird nicht augenblicklich gehorcht, so schießt er unbedingt; das weiß jedermann. Auch diese sechs Personen wußten es; ich hatte zu dem ersten schnell noch einen zweiten Revolver gespannt, und sie mußten überzeugt sein, daß ich meine Drohung wahr machen würde. Ich befand mich in Notwehr und konnte sie nach allem Rechte erschießen; darum fuhren, als ich den Befehl kaum ausgesprochen hatte, zehn Arme in die Höhe, diejenigen von Toby Spencer auch. Sie vor den Läufen der Revolver behaltend, warnte ich sie:

"Behaltet ja die Hände oben, bis wir miteinander fertig sind; ich habe noch elf Kugeln! Wie steht nun Toby Spencer da, der berühmte, große Held? Jetzt hat er es mit keinem falschen Coloradomann zu tun und wird wohl einsehen, daß ich mich auf mein Metier verstehe. Mutter Tick, nehmt den Kerls die Gewehre, Revolver und Messer weg, und schließt sie ein! Morgen früh mögen sie schicken oder selber kommen, um sie abzuholen. Und untersucht ihre Taschen nach dem Gelde! Ihr zieht ihnen die Zeche ab, die sie gemacht haben und den Preis des Glases, welches Spencer zerschlagen hat; dann mögen sie sich trollen."

Mutter Tick war schnell bei der Hand, diese Weisungen auszuführen, und es sah sich eigentlich komisch an, wie die sechs Menschen mit hoch erhobenen Armen um den Tisch standen und nicht wagten, sich zu bewegen. Zu welcher Sorte von Leuten sie gehörten, zeigte sich durch die Reichtümer, welche sie besaßen. Sie hatten zusammen nur wenige Cents über den Betrag der Zeche. Als die Wirtin dieses Geld eingesteckt hatte, sagte ich:

"Nun macht die Tür auf, Mutter Tick; sie mögen hin ausmarschieren. Draußen können sie die Arme sinken lassen, eher aber nicht, sonst schieße ich noch im letzten Augenblicke."

Die Tür wurde geöffnet.

"Hinaus mit euch! Jetzt wißt ihr nun, ob ich ängstlicher Natur bin oder nicht!"

Sie marschierten mit hoch erhobenen Händen einer hinter dem andern hinaus. Der letzte war Spencer. Ehe er den letzten Schritt tat, drehte er sich um und drohte, halb brüllend und halb zischend:

"Auf Wiedersehen! Dann aber hebst du die Arme in die Höhe, Hund!"

Als die Wirtin die Tür hinter ihnen zugemacht hatte, steckte ich die Revolver wieder ein, setzte mich nieder und bat um ein andres Glas. Die allgemeine Spannung löste sich in einem Hauche, der hörbar durch den Gastraum ging. So hatten sich die guten Gentleman das Ende nicht gedacht! Als Mutter Tick mir das Bier brachte, gab sie mir die Hand und sagte:

"Ich muß mich wieder bei Euch bedanken, Sir. Ihr habt mich von diesen Menschen befreit, die wer weiß was noch angefangen hätten. Und wie habt Ihr das fertig gebracht! Ich hatte wirklich Angst um Euch, als es losging, jetzt freilich weiß ich, daß Ihr keine Frau zu Eurem Schutze braucht. Ihr sollt das beste Zimmer bekommen, welches ich habe. Aber nehmt Euch ja vor diesen Leuten in acht! Sie fallen ganz gewiß bei der ersten Begegnung über Euch her."

"Pshaw! Ich fürchte mich nicht."

"Nehmt es nicht zu leicht! Derartige Halunken kommen nicht von vorn, sondern hinterrücks."

Ich sah dann, daß sie nach mir gefragt wurde, doch konnte sie keine Auskunft geben. Man hätte wahrscheinlich gern gewußt, wer ich war, doch hatte ich keine Gründe, Bekanntschaften anzuknüpfen, die nur die Dauer von höchstens zwei oder drei Tagen haben konnten; länger wollte ich nicht in Jefferson bleiben.

Als ich mir dann meine Stube anweisen ließ, sah ich, daß Mutter Tick Wort gehalten hatte; ich wohnte so gut und sauber, wie ich es nur wünschen konnte, und schlief weit besser, als ich vorher vermutet hatte; denn wenn der Westmann zum ersten mal in einem geschlossenen Raum schläft, pflegt er gewöhnlich kein Auge zu zutun.

Am nächsten Morgen sorgte ich dafür, daß mein äußerer Mensch ein besseres Aussehen erhielt, und dann suchte ich das Bankhaus Wallace und Co. auf, um mich nach Old Surehand zu erkundigen. Ich war höchst neugierig auf das Verhältnis, in welchem Old Surehand zu diesem Hause stand, und auf den Bescheid, den man mir geben würde.

Ich hatte von Mutter Tick aus nicht weit zu gehen, denn das Geschäft lag in derselben Straße. Als ich in der Office nach Mr. Wallace fragte, sollte ich meinen Namen nennen; aber weil ich nicht wußte, wie die Verhältnisse standen, verschwieg ich ihn lieber. Es ist oft gut, wenn man nicht gekannt wird, und ich hatte viele Vorteile, die ich auf meinen Wanderungen errang, nur dem Umstande zu verdanken, daß man nicht wußte, wer ich war.

"Sagt Mr. Wallace, ich sei ein Bekannter von Old Surehand," sagte ich.

Kaum hatte ich diesen Namen ausgesprochen, so fuhren die Köpfe sämtlicher Clercs nach mir herum. Ich wurde in der erbetenen Weise angemeldet und dann in ein Zimmer geführt, in welchem ein einzelner Herr am Schreibtische saß und sich bei meinem Eintritte schnell erhob. Er war ein Yankee mit einem recht sympathischen Gesicht und stand in den mittleren Lebensjahren. Den Blick forschend und erwartungsvoll auf mich gerichtet, stellte er sich vor:

"Ich heiße Wallace, Sir."

"Und mich nennt man Old Shatterhand. Ich weiß nicht, ob Ihr diesen Namen schon einmal gehört habt."

"Oft, sehr oft, und zwar in einer Weise, die es mir zur Ehre macht, Euch bei mir zu sehen. Seid mir herzlich willkommen und nehmt hier nahe Platz, Mr. Shatterhand! Ihr seid natürlich soeben erst in Jefferson-City angekommen?"

"Nein, ich bin seit gestern hier."

"Was? Ohne mich sofort aufzusuchen? Wo habt Ihr gewohnt, Sir?"

"Bei Mutter Tick, hier in derselben Straße."

"Kenne sie; eine brave, ehrliche Frau, aber keine Wirtin für einen Gentleman wie Old Shatterhand!"

"O, ich wohne da vortrefflich und bin ganz zufrieden."

"Ja, weil Ihr das Lagern im Freien bei jeder Witterung gewöhnt seid; darum sind Eure Ansprüche so bescheiden. Aber wenn Ihr Euch einmal an einem zivilisierten Orte befindet, müßt Ihr Euch erholen und Euch bieten, was Ihr Euch bieten könnt; das seid Ihr Eurer körperlichen und auch geistigen Gesundheit schuldig."

"Grad dieser Gesundheit wegen will ich keine großen Unterschiede, Sir."

"Mag sein! Aber ich hoffe, daß Ihr meine Einladung annehmt und während Eures hiesigen Aufenthaltes bei mir wohnt!"

"Verzeiht es mir, daß ich mit bestem Danke ablehnen muß! Ich gehe wahrscheinlich schon morgen von hier fort; ferner liebe ich es, vollständig unabhängig zu sein und unabhängig handeln zu können, was aber nicht der Fall sein würde, wenn ich bei Euch wohnte. Und sodann bin ich es Mr. Surehand schuldig, Euch nicht zu belästigen."

"Wie so?"

"Ihr kennt ihn gut?"

"Ja."

"Vielleicht sogar genau?"

"Genauer als jeder andre Mensch; ich will Euch sogar aufrichtig sagen, daß wir verwandt miteinander sind."

"Well! Er hat mich gebeten, nicht nach seinen Verhältnissen zu forschen. Wenn ich bei Euch wohnte, würde mir wahrscheinlich manches nicht entgehen oder ich würde manches erraten, was ich nicht zu wissen brauche."

"Hm!" nickte er nachdenklich. "Diesen Grund und auch den von Eurer Selbständigkeit muß ich freilich gelten lassen; ich will also nicht in Euch dringen; aber willkommen, höchst willkommen würdet Ihr mir sein; das will ich Euch aufrichtig sagen."

"Danke, Mr. Wallace! Der Grund meines Besuches ist nur der, zu fragen, ob Ihr wißt, wo er sich jetzt ungefähr befindet."

"Er ist hinauf in die Parks."

"Nach welchem?"

"Zunächst nach dem von San Louis."

"Ah! Wann ist er fort von hier?"

"Vor drei Tagen erst."

"Da kann ich ihn ja einholen."

"Ihr wollt hinauf? Ihr wollt zu ihm?"

"Ja. Winnetou reitet mit."

"Auch Winnetou? Das freut mich; das freut mich ungemein! Wir stehen immerfort so große Sorge um ihn aus; die Gründe kann ich nicht sagen. Wenn wir da zwei solche Männer bei ihm wissen, können wir viel ruhiger sein. Ihr habt ihm schon einmal das Leben gerettet; darum denke ich, daß ..."

"O bitte!" schnitt ich ihm das Lob ab. "Ich will, wie gesagt, nicht in seine Geheimnisse dringen; aber kann ich vielleicht erfahren, ob er damals in Fort Terrel den gesuchten Dan Etters gefunden hat?"

"Nein. Etters ist gar nicht da gewesen."

"Also war es eine Lüge des Generals?"

"Ja."

In diesem Augenblicke kam ein Clerc herein und zeigte ein Papier mit der Frage vor, ob es honoriert werden solle.

"Ein Check über fünftausend Dollars von Grey und Wood in Little Rock," las Wallace. "Ist gut und wird ausgezahlt."

Der Clerc entfernte sich. Nach einiger Zeit ging ein Mann an unserm Fenster vorüber; ich sah ihn und der Bankier auch.

"Himmel!" rief ich aus. "Das war der General!"

"Wie? Meint Ihr den General, der Old Surehand so unnötigerweise nach Fort Terrel geschickt hat?"

"Ja."

"Er ging hier vorbei, muß also in meiner Office gewesen sein. Erlaubt mir, einmal nachzufragen, was er gewollt hat!"

"Und ich muß sehen, wohin er geht!"

Ich eilte hinaus, aber er war verschwunden. Ich ging bis zur nächsten Straßenkreuzung, sah ihn aber auch da nicht. Das konnte mich freilich nicht enttäuschen, denn ich hatte ja nichts mehr mit ihm zu tun. Nur hatte ich mich, falls er mich sah, vor einem hinterlistigen Angriffe zu hüten. Als ich zu Wallace zurückkehrte, erfuhr ich, daß der General es gewesen war, der den Check präsentiert hatte. Natürlich hatte ihn niemand gekannt.

Wallace lud mich, da ich nicht bei ihm logieren wollte, wenigstens zum Frühstück ein. Ich wurde von den Seinen so aufgenommen, daß ich mich bewegen ließ, bis zum Diner zu bleiben, und als dies vorüber war, wurde ich noch so lange festgehalten, daß das Souper beinahe schon serviert wurde. Es war also fast neun Uhr, als ich den Rückzug zu Mutter Tick antrat. Vorher mußte ich Wallace versprechen, ihn, wenn es mir möglich sei, vor meiner Abreise noch einmal zu besuchen.

Die Wirtin hatte Lust, mit mir zu schmollen, weil ich so lange weggeblieben war. Sie gestand mir, heute 'was ganz Besonderes für mich gebraten zu haben, was aber, weil ich nicht gekommen sei, Mr. Treskow gegessen habe. Die gestrigen Gäste waren wieder da, und es gab da eine Unterhaltung, welche der gestrigen ähnlich war.

Auf mein Befragen erfuhr ich, daß Toby Spencer gleich nach meinem Fortgange die konfiszierten Waffen hatte holen lassen. Ich hatte mich so gesetzt, daß ich den Eingang sehen konnte; darum war ich einer der ersten, welcher zwei Männer eintreten sah, auf die sich bald die Blicke aller Anwesenden richteten. Ihre äußere Erscheinung war freilich ganz geeignet, die größte Aufmerksamkeit zu erregen.

Der eine war kurz und dick, der andre lang und dünn. Der Dicke hatte ein bartloses, sonnverbranntes Gesicht; dasjenige des Langen war ebenso von der Sonne gefärbt, welche ihm aber fast die ganze Fruchtbarkeit entzogen zu haben schien, denn der Bart, den er trug, bestand aus nur wenigen Haaren, die von den Wangen, dem Kinn und der Oberlippe fast bis auf die Brust herniederhingen und ihm ganz das Aussehen gaben, als ob er von den Motten zerfressen und gelichtet worden sei. Sah man es diesen beiden Männern schon in Beziehung auf ihre Persönlichkeiten an, daß sie keine gewöhnlichen Leute waren, so mußten sie durch die Art, wie sie sich gekleidet hatten, doppelt auffällig werden. Sie trugen sich nämlich von den Köpfen bis zu den Füßen herunter zeisiggrün. Kurze, weite, zeisiggrüne Jacken, kurze, weite, zeisiggrüne Hosen, zeisiggrüne Gamaschen, zeisiggrüne Schlipse, zeisiggrüne Handschuhe und zeisiggrüne Mützen mit zwei Schirmen, hinten einen und vorn einen, ganz nach Art der Orienthelme. Es fehlte ihnen nur noch das Monocle in das Auge, so hätten sie für die Erfinder oder ersten Repräsentanten des heutigen Gigerltums erklärt werden können, zumal sie auch sehr dicke und unförmliche zeisiggrüne Regenschirme in den Händen hatten.

Es lenkten sich natürlich aller Augen auf sie. Ich erkannte sie trotz ihrer Kleidung, die man besser eine Maskerade hätte nennen können, sofort, und da ich mir den Spaß machen wollte, sie zu Überraschen, so drehte ich mich mit meinem Stuhle so um, daß sie mein Gesicht nicht sehen konnten. Es fiel ihnen nicht ein, zu grüßen; sie fühlten sich als Leute, die es nicht nötig hatten, sich dazu herabzulassen. Auch hielten sie es nicht für notwendig, leise zu sprechen. Sie sahen sich kurz um, dann blieb der Dicke vor einem leeren Tische stehen und fragte den Dünnen, der ihm langsam und bedächtig gefolgt war:

"Was meinst du, Pitt, altes Coon, ob wir hier an diesem vierbeinigen Dinge Lager machen?"

"Wenn du denkst, daß es da für uns passend ist, so habe ich nichts dagegen, alter Dick," antwortete der Lange.

"Well! Setzen wir uns also her!"

Sie nahmen Platz. Die Wirtin kam zu ihnen und fragte nach ihren Wünschen.

"Seid Ihr die Wirtin dieses Trink- und Logierpalastes, Ma'am?" erkundigte sich Dick Hammerdull.

"Yes. Wollt Ihr vielleicht bei mir logieren, Sir?"

"Ob wir da logieren wollen oder nicht, das bleibt sich gleich; wir haben schon eine Hütte, in der wir wohnen. Was habt Ihr zu trinken?"

"Alle Sorten von Brandy. Besonders kann ich euch meinen Mint- und Carawayjulep empfehlen, der ganz vorzüglich ist."

"Julep hin und Julep her, wir trinken keinen Schnaps. Habt Ihr denn kein Bier?"

"Sehr gutes sogar."

"So bringt zwei Töpfe voll; aber groß müssen sie sein!"

Sie bekamen das Verlangte. Hammerdull setzte das Glas an und trank es in einem Zuge aus. Als Pitt Holbers dies sah, leerte er das seinige auch bis auf die Nagelprobe.

"Was meinst du, Pitt, wollen wir nochmals eingießen lassen?"

"Wenn du denkst, Dick, daß wir nicht daran ersaufen, so habe ich nichts dagegen. Es schmeckt besser als Savannenwasser."

Sie bekamen ihre Krüge wieder gefüllt und nahmen sich erst nun die Zeit, das Lokal und die darin befindlichen Gäste in Augenschein zu nehmen. Dabei fiel das Auge des Dicken zunächst auf den früheren Indianeragenten, der ebenso wie der auch anwesende Treskow die beiden mit überraschten und erwartungsvollen Augen betrachtet hatte.

"Alle Donner!" rief er aus. "Pitt, altes Coon, schau doch einmal hinter nach der langen Tafel! Kennst du den Gentleman, der dort rechts in der Ecke sitzt und uns anlacht, als ob wir Schwiegerväter oder sonstige Verwandte von ihm wären?"

"Wenn du denkst, daß ich ihn kenne, lieber Dick, so will ich nichts dagegen haben."

"Ist's nicht der Agent, der damals ... Himmel!" unterbrach er sich selbst, denn sein Auge war nun auch auf Treskow gefallen ..."Pitt Holbers, schau einmal mehr nach rechts! Dort sitzt noch einer, den du schon einmal gesehen hast. Gehe in dein Inneres und besinne dich!"

"Hm! Wenn du denkst, daß es der Polizist ist, der es damals so auf Sanders abgesehen hatte, so ist's richtig. Was meinst du dazu, wollen wir ihnen die Vorderfüße schütteln?"

"Ob ich es meine oder nicht, das ist ganz egal, aber geschüttelt werden sie. Komm, altes Coon!"

Sie gingen nach der Tafel, von welcher ihnen die beiden Genannten nun hoch erfreut entgegen kamen; sie hatten die zwei Westmänner nicht zuerst begrüßen wollen, um zu sehen, ob sie von ihnen erkannt würden. Dick Hammerdull und Pitt Holbers, von denen gestern zweimal erzählt worden war, hier bei Mutter Tick! Das war natürlich ein großes, ein freudiges Ereignis. Es wurden ihnen von allen, die an der Tafel saßen, die Hände geschüttelt, und es verstand sich ganz von selbst, daß sie ihre jetzigen Plätze aufgeben und sich zu ihren alten und neuen Bekannten setzen mußten.

"Wir haben erst gestern von euch gesprochen," sagte Treskow. "Wir erzählten unsre damaligen Erlebnisse, und ihr dürft euch also nicht darüber wundern, daß ihr den Gentleman hier sehr liebe Bekannte seid. Dürfen wir wissen, wie es euch dann später ergangen ist? Ich mußte mich in New York von euch trennen, nachdem wir der Hinrichtung von Sanders, der "Miß Admiral" und ihrer Genossen beigewohnt hatten."

"Wie es uns ergangen ist? Sehr gut," antwortete Hammerdull. "Wir sind direkt nach dem Westen, wo wir natürlich sogleich unser hide-spot aufsuchten."

"Bestand das noch?"

"Yes. Warum sollte es nicht mehr bestanden haben?"

"Der Ogellallahs wegen, die es entdeckt hatten."

"Das schadete nichts, denn wir hatten sie ja alle ausgelöscht, und von den Kameraden, die wir dort zurückließen, als der Ritt nach San Francisco begann, waren alle Spuren vernichtet worden. Wißt Ihr noch, daß damals in San Francisco, als wir an Bord gingen, einige von uns am Lande blieben?"

"Ja, ich besinne mich."

"Ob Ihr Euch besinnt oder nicht, das bleibt sich gleich, das ist sogar ganz egal; aber diese Männer sind nicht in San Francisco geblieben, um dort auf uns zu warten, sondern nach dem hide-spot zurückgekehrt, so daß wir unsre Pferde vorfanden, als wir dort ankamen."

"Eure Stute auch?"

"Natürlich. Hei, das hat eine Freude gegeben! Das alte, gute Viehzeug ist vor Entzücken fast verrückt geworden, als sie ihren lieben Dick Hammerdull wieder sah. Auch Winnetou bekam seinen Rappen."

"Er ist also mit Euch hinauf zum hide-spot?"

"Yes"

"Habt Ihr ihn denn vielleicht wieder einmal getroffen?"

"Yes. Er kam mit Old Shatterhand zu uns."

"Old Shatterhand! Ah, den möchte ich auch gern einmal sehen. Ich beneide Euch darum, daß Ihr ihn kennt."

"Ob Ihr mich beneidet oder nicht, das bleibt sich gleich; ich beneide mich ja selber drum. Ich sage euch, Mesch'schurs, das ist ein Kerl! Ich habe mich stets für einen tüchtigen Westmann gehalten, und du doch auch, Pitt Holbers, altes Coon?"

"Hm, wenn du es denkst, lieber Dick, so kann ich nichts dagegen haben."

"Ja, es ist wahrhaftig so. Wir haben uns immer eingebildet, daß wir ganz vortreffliche Kerle seien, aber dieser Old Shatterhand hat uns eines ganz andern belehrt. Alles, was wir machten, war falsch und dumm; er hatte in allem eine ganz andre Art und Weise, und wie und wo er ein Ding anfing, da hatte es Erfolg. Er war mit Winnetou fast drei Monate bei uns, und ich sage Euch, daß wir in dieser Zeit zehnmal mehr Häute und Felle erbeutet haben als sonst in einem halben Jahre. Das gab dann später beim Verkaufe einen ganzen Klumpen Gold. Kurze Zeit, nachdem sie fort waren, lernten wir einen andern Westmann kennen, der fast auch so berühmt ist wie sie. Nicht wahr, Pitt Holbers, altes Coon?"

"Wenn du Old Surehand meinst, so kann es mir nicht einfallen, dir unrecht zu geben, lieber Dick."

"Ja, Old Surehand, den meine ich. Habt ihr von ihm schon gehört, Mesch'schurs?"

Sie bejahten alle diese Frage, und er fuhr fort:

"Das ist auch ein Mann, vor dem man Respekt haben muß. Leider hat er die Eigenheit, an keinem Orte lange zu bleiben. Er schießt nur so viel, wie er zum Leben braucht; darum ist er nicht eigentlich ein Jäger zu nennen, obgleich es aus seiner Büchse nie einen Fehlschuß gibt; er stellt keine Fallen; er sucht nicht nach Gold; man weiß gar nicht, weshalb und wozu er im wilden Westen lebt. Kaum hat man ihn gesehen, so ist er wieder verschwunden. Es ist, als ob er nach etwas suche, was er nicht finden kann. Also, Mr. Treskow, es ist uns immer gut ergangen; wir haben einträgliche Jagden gehabt und unsern Beutel so gefüllt, daß wir mit dem Gelde nicht wissen, wohin."

"Da seid Ihr ja zu beneiden, Mr. Hammerdull!"

"Zu beneiden? Schwatzt keine Dummheit! Was soll man mit dem vielen Gelde tun, wenn man nichts damit tun kann? Was kann ich mit meinen Goldstücken, mit meinen Checks und Anweisungen im wilden Westen machen, he?"

"Geht nach dem Osten und genießt da Euer Leben!"

"Danke! Was gibt's da zu genießen? Soll ich mich in ein Hotel setzen und eine Speisekarte herunteressen, von der nichts draußen am Lagerfeuer, sondern alles in der Ofenröhre gebraten ist? Soll ich mich im Menschengewühle eines Konzertsaales halb zerdrücken lassen, die schlechteste Luft des ganzen Erdballes verschlingen und meine guten Ohren in die Gefahr bringen, von Pauken und Trompeten vollständig ruiniert zu werden, während unser Herrgott da draußen im Rauschen des Urwaldes und in den geheimnisvollen Stimmen der Wildnis jedem, der einen Sinn dafür hat, ein Konzert bietet, gegen welches Eure Geigen und Trommeln nicht aufkommen können? Soll ich mich in ein Theater setzen, meine Nase in die dort herrschenden Moschus- und Patschulidüfte stecken und mir ein Stück vorspielen lassen, welches meine Gesundheit untergräbt, weil ich mich darüber entweder krank lachen oder krank ärgern muß? Soll ich mir eine Wohnung mieten, in welcher kein Wind wehen und kein Regentropfen fallen darf? Soll ich mich in ein Bett legen, über welchem es keinen freien Himmel, keine Sterne und keine Wolken gibt, und wo ich mich so in die Federn wickle, daß ich mir selbst wie ein halb gerupfter Vogel vorkomme? Nein! Geht mir mit Eurem Osten und seinen Genüssen! Die einzigen und wahren Genüsse finde ich im wilden Westen, und für die hat man nichts zu bezahlen. Darum braucht man dort weder Gold noch Geld, und Ihr könnt Euch denken, wie ärgerlich es ist, ein reicher Kerl zu sein, dem sein Reichtum aber nicht den geringsten Genuß oder Nutzen bringt. Da haben wir denn nachgedacht, was wir mit unsrem Gelde, welches wir nicht brauchen, machen sollen. Wir haben uns darüber monatelang den Kopf zerbrochen, bis Pitt Holbers endlich auf einen sehr guten, auf einen vortrefflichen Gedanken gekommen ist. Nicht wahr, Pitt, altes Coon?"

"Hm, wenn du wirklich denkst, daß er vortrefflich ist, so will ich dir beistimmen. Du meinst doch meine alte Tante?"

"Ob sie eine Tante ist oder nicht, das bleibt sich gleich; aber dieser Gedanke wird ausgeführt. Pitt Holbers hat nämlich schon als Kind seine Eltern verloren und wurde von einer alten Tante erzogen, der er aber davongelaufen ist, weil die Methode, mit der sie ihn erzog, für ihn sehr schmerzlich war. Es gibt, wie ihr alle zugeben werdet, Mesch'schurs, Gefühle, die man sich nicht abgewöhnen kann, besonders wenn sie von Tag zu Tag mit Hilfe von Stockhieben und Backpfeifen immer wieder von neuem aufgefrischt werden. Solche schmerzliche Gefühle waren es, denen sich Pitt Holbers durch die Flucht entzog. Er hielt nämlich in seiner jugendlichen Weisheit die Erziehungsmethode der alten Tante für zudringlicher, als sie in Beziehung auf gewisse, sehr empfindliche Körperteile eigentlich zu sein brauchte. Jetzt aber ist ihm der Verstand gekommen, und er hat eingesehen, daß er eigentlich noch viel mehr Hiebe hätte bekommen sollen. Die gute Tante erscheint ihm jetzt nicht mehr in der Gestalt eines alten Drachen, sondern als eine liebevolle Fee, die seinen äußern Menschen mit dem Stocke frottierte, um seinen innern glücklich zu machen. Diese Überzeugung hat in ihm das Gefühl der Dankbarkeit hervorgerufen und zugleich die Idee erweckt, nachzuforschen, ob die Tante noch am Leben ist. Ist sie tot, so leben wahrscheinlich Nachkommen von ihr, denn sie hatte neben dem Neffen selbst auch Kinder, welche ganz nach derselben Methode erzogen wurden und darum ganz gewiß verdienen, jetzt glückliche Menschen geworden zu sein. Zu diesem Glücke wollen wir ihnen verhelfen. Die Tante soll, wenn wir sie finden, unser Geld bekommen, auch das meinige, denn ich brauche es nicht, und es ist ganz egal, ob sie meine Tante oder seine Tante ist. Nun wißt ihr also, Mesch'schurs, warum ihr uns hier an der Grenze des Ostens seht. Wir wollen die gute Fee von Pitt Holbers aufsuchen, und weil man vor den Augen eines solchen Wesens unmöglich so erscheinen darf, wie wir im Urwald herumlaufen, haben wir unsre geflickten Leggins und Jagdröcke abgeworfen und uns diese schönen grünen Anzüge zugelegt, weil sie uns an die Farbe der Prärie und der grünenden Buschwoods erinnern."

"Und wenn Ihr nun die Tante nicht findet, Sir?" fragte Treskow.

"So suchen wir ihre Kinder und geben ihnen das Geld."

"Und wenn nun die auch tot sind?"

"Tot? Unsinn! Die leben noch! Kinder, welche nach einer solchen Methode erzogen werden, die haben ein zähes Leben und sterben nicht so leicht."

"So habt Ihr wohl Euer Geld mit?"

"Yes."

"Aber doch wohl gut verwahrt, Mr. Hammerdull? Ich frage das nämlich, weil ich weiß, daß es Westmänner gibt, welche in Beziehung auf das Geld eine oft geradezu naive Arglosigkeit zeigen."

"Ob arglos oder nicht, das bleibt sich gleich; wir haben es so gut verwahrt, daß es auch dem pfiffigsten Spitzbuben unmöglich ist, es zu bekommen."

Er hatte ebenso wie Pitt Holbers eine auch zeisiggrüne Tasche umhängen, schlug mit der Hand an sie und sagte:

"Wir tragen es stets bei uns; hier in dieser Tasche steckt's, und des Nachts legen wir es unter den Kopf. Wir haben unser Vermögen in schöne, gute Anweisungen und Checks verwandelt, ausgestellt von Gray und Wood in Little Rock; jedes Bankhaus zahlt die volle Summe aus. Da, seht her; ich will's Euch zeigen!"

Als er die Firma Gray und Wood in Little Rock nannte, dachte ich sogleich an den "General", welcher heute bei Wallace und Co. einen Check von diesem Bankhause präsentiert hatte. Dick Hammerdull schnallte die Tasche auf, griff hinein und nahm eine lederne Brieftasche heraus, die er mit einem kleinen Schlüssel öffnete.

"Hier steckt das Geld, Mesch'schurs," sagte er; "also in zwei Taschen doppelt verwahrt, so daß kein Mensch dazukommen kann. Wenn ihr diese Checks ..."

Er hielt inne. Die Rede schien ihm nicht bloß im Munde, sondern hinten im Halse stecken zu bleiben. Er hatte Checks aus der Tasche nehmen und vorzeigen wollen; ich sah von weitem, daß er ein kleines, helles Päckchen in der Hand hielt; sein Gesicht hatte den Ausdruck des Erstaunens, ja der Bestürzung.

"Was ist das?" fragte er. "Habe ich die Checks dann in eine Zeitung gewickelt, als ich sie gestern in den Händen hatte? Weißt du das, Pitt Holbers?"

"Ich weiß nichts von einer Zeitung," antwortete Pitt.

"Ich auch nicht, und doch ist das ein Zeitungspapier, in welches sie eingeschlagen sind. Sonderbar, höchst sonderbar!"

Er faltete das Papier auseinander und rief, indem sein Gesicht erbleichte, erschrocken aus:

"Alle Teufel! Die Checks sind nicht da! Die Zeitung ist leer!" Er griff in die andern Fächer der Brieftasche; sie waren leer. "Die Checks sind fort! Sie sind nicht hier ... nicht hier ... und auch nicht hier. Sieh gleich einmal nach, wo die deinigen sind, Pitt Holbers, altes Coon! Hoffentlich hast du sie noch!"

Holbers schnallte seine Tasche auf und antwortete:

"Wenn du etwa meinst, daß sie verschwunden sind, lieber Dick, so wüßte ich nicht, auf welche Weise das geschehen sein sollte."

Es zeigte sich bald, daß sie auch fort waren. Die beiden Westmänner waren aufgesprungen und starrten einander rat- und fassungslos an. Das schon so sehr schmale und lange Gesicht von Pitt Holbers war um die Hälfte länger geworden, und Dick Hammerdull hatte vergessen, nach seinen letzten Worten den Mund zu schließen; er stand ihm weit offen.

Nicht nur die um die Tafel sitzenden, sondern auch alle andern Gäste nahmen teil an dem Schrecke der Bestohlenen, denn daß ein Diebstahl vorlag, das war allen und auch mir sofort klar; speziell ich glaubte sogar, den Dieb zu erraten. Man sprach von allen Seiten auf Hammerdull und Holbers ein, welche die an sie gerichteten Fragen gar nicht beantworten konnten, bis Treskow mit lauter Stimme in diesen Wirrwarr hineinrief:

"Still, Gent's! Mit diesem Lärm erreichen wir nichts. Die Sache muß anders angefaßt werden; sie schlägt in mein Fach, und so bitte ich Euch, Mr. Hammerdull, mir einige Fragen ruhig und mit Überlegung zu beantworten. Seid Ihr fest überzeugt, daß die Wertpapiere sich in dieser Brieftasche befunden haben?"

"Genau so fest, wie ich überzeugt bin, daß ich Dick Hammerdull heiße!"

"Und diese Zeitung war nicht drin?"

"Nein."

"So hat der Dieb die Papiere herausgenommen und die zusammengefaltete Zeitung an ihre Stelle gelegt, um Euch möglichst lange in der Meinung zu halten, daß die ersteren noch da seien. Die Brieftasche war so dick wie vorher, und wenn Ihr sie in die Hand nahmt, so mußtet Ihr denken, sie sei nicht geöffnet worden. Wer aber ist der Dieb?"

"Ja, wer ... ist ... der ... Dieb?" dehnte Hammerdull in großer Aufregung.

"Habt Ihr keine Ahnung?"

"Nicht die geringste! Und du, Pitt?"

"Ich auch nicht, lieber Dick," antwortete Holbers.

"So müssen wir nach ihm forschen," meinte Treskow. "Gibt es irgend wen, der es wußte, daß Ihr Geld oder Geldeswert hier in der Tasche hattet?"

"Nein," antwortete der Dicke.

"Wirklich nicht?" "Keinen Menschen!"

"Seit wann steckten die Papiere drin?"

"Seit vorgestern."

"Wann habt Ihr die Brieftasche zum letztenmal geöffnet?"

"Gestern, als wir uns schlafen legten."

"Da waren sie noch drin?"

"Ja."

"Wo habt ihr logiert?"

"Im Boardinghouse von Hilley, Waterstreet."

"Dieser Wirt ist ein ehrlicher Mann; auf ihn kann kein Verdacht fallen. Aber er hat keine einzelnen Zimmer, sondern nur einen großen, gemeinschaftlichen Schlafraum?"

"Ja; da standen unsre Betten."

"Ah! Und in diesem Raume habt ihr die Taschen aufgemacht?"

"Nein, sondern unten in der Gaststube."

"Man hat euch dabei beobachtet?"

"Nein. Wir waren in dem betreffenden Augenblicke die einzigen Gäste, und es gab kein Auge, welches uns zusehen konnte. Dann sind wir schlafen gegangen und haben die Taschen unter die Kopfkissen gelegt."