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www.langen-mueller-verlag.de

Ins Deutsche übertragen von
Friedrich Torberg
Ephraim Kishon
und Ursula Abrahamy
Redaktion: Brigitte Sinhuber-Harenberg

© für die Originalausgabe: 1999 LangenMüller in der
F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München
© für das eBook: 2015 LangenMüller in der
F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten
Schutzumschlagmotiv: Wolfgang Heinzel
Illustration: Rudolf Angerer
Satz: Filmsatz Schröter, München
eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-7844-8216-3

Mein Lebenswerk widme ich
meinen geduldigen Lesern.

Inhalt

Was tut ein Mensch,

den das Schicksal dazu bestimmt hat zu schreiben? Er schreibt. Aber wann hört er damit auf? Ja, das ist die Frage und gleichzeitig ein Paradebeispiel sozialer Ungerechtigkeit. Einen General schickt die Armee an seinem 50. Geburtstag nach Hause, eine Grundschullehrerin geht mit 60 in Pension, und sogar ein Regierungschef denkt mit 80 Jahren schon ans Aufhören.

Ein Schriftsteller hingegen ist bis zu seinem letzten Tag im aktiven Dienst, und doch erreicht er manchmal seine Leser erst nach seinem Ableben, wie Beispiele von Aristophanes bis Kafka zeigen. Der Mann der Feder kann sich also keineswegs auf eine sichere Altersversorgung freuen, keiner schickt ihn in den Ruhestand. Er muß ganz allein entscheiden, wann er seine Feder aus der Hand legt, nach bestem Wissen und Gewissen und nach Einschätzung seiner beruflichen Perspektive. In der Praxis heißt das – nie.

Was den Schreiber dieser Zeilen betrifft, so läßt er sich mit einem Kettenraucher vergleichen, der dank seiner vielen einschlägigen Versuche zum Meister im Aufhören geworden ist. Und so habe ich in diesem Jahr endlich beschlossen, nicht wieder zu beschließen, meine literarische Tätigkeit an den Nagel zu hängen. Ich werde diesmal nicht versuchen, die Sache objektiv und vernünftig zu betrachten – was, unter uns gesagt, in der Zunft der Schriftsteller ohnedies eine eher seltene Begabung ist. Ich gehe vielmehr zum Gegenangriff auf meine schriftstellerische Besessenheit über, die mich einst dazu brachte, meine Muttersprache gegen die Sprache meiner Vorväter zu tauschen und am Ende dieses Weges die deutsche Sprache aus meinen eigenen Büchern zu lernen.

Kurz und gut, ich habe beschlossen, diesmal zu lesen statt zu schreiben. Endlich jene Bücher zu lesen, die mich wirklich interessieren, jene Werke, zu deren Lektüre ich bis heute nicht gekommen bin. Womit sollte ich also beginnen? Nach kurzer, aber intensiver Überlegung fiel meine Wahl auf meine eigenen Satiren.

Zuerst las ich heimlich, denn ich schämte mich ein wenig. Ich holte aus meiner Bibliothek jene Bände hervor, die ich vor Jahrzehnten oder noch länger geschrieben hatte, und versenkte mich darin.

Während ich in meiner Vergangenheit wühlte, erinnerte ich mich an Molières berühmtes Stück »Der Bürger als Edelmann«, in dem der graphomanische Held mit offenem Mund vor seinem Werk steht und staunt: »Mon Dieu, ich habe gar nicht gewußt, daß ich Prosa schreibe.«

Ich hingegen habe nicht gewußt, daß ich so viel Prosa geschrieben habe. Ich habe es einfach nicht bemerkt. Ich war mit dem Schreiben beschäftigt.

Und somit waren die Würfel gefallen. Es sollte, so wollte es mein leichtsinniger Verleger, ein Jubiläumsband her, eine Monstersammlung all der Satiren, die ich während drei Viertel meines Lebens geschrieben habe. Immer wieder zwar resignierten wir vor der Sintflut von Wörtern, aber dann geschah etwas, das nur ein ganz schamloser Autor bereit wäre, öffentlich zu gestehen:

»Gott soll mir vergeben«, flüsterte ich bei meinem literarischen Spaziergang durch 40 Jahre, »es tut mir leid, aber ich finde das alles gar nicht so schlecht …«

Vielleicht ist es auch nicht so gut. Immerhin ist es recht viel. Und ich vertraue auf den guten alten Genossen Lenin. »Quantität erzeugt Qualität« behauptete er, auch wenn er dabei nicht gerade an mich gedacht hat …

Meinen Lesern, die mich auf dem langen Weg begleitet haben, gebührt mein aufrichtiger Dank für ihre Treue und ihre Langmut. Ich bitte sie nun um ihr Verständnis, auch was das Gewicht meines Jubiläumsbandes betrifft, der nicht unbedingt eine Bettlektüre ist. Aber es steckt immerhin ein ganzes Leben in dieser fröhlichen Enzyklopädie, die ganz nebenbei eine recht persönliche Abhandlung über das wertvollste Geschenk ist, mit dem die Natur den Menschen gesegnet hat – seine Fähigkeit zu lächeln.

1961

Jüdisches Poker

Jossele langweilte sich. »Weißt du was?« sagte er endlich. »Spielen wir Poker!«

»Nein«, sagte ich. »Ich hasse Karten. Ich verliere immer.«

»Wer spricht von Karten? Ich meine jüdisches Poker.«

Jossele erklärte mir kurz die Regeln. Jüdisches Poker wird ohne Karten gespielt, nur im Kopf, wie es sich für das Volk des Buches gehört.

»Du denkst dir eine Ziffer und ich denk mir eine Ziffer«, erklärte mir Jossele. »Wer sich die höhere Ziffer gedacht hat, gewinnt. Das klingt sehr leicht, hat aber viele Fallen. Nu?«

»Einverstanden«, sagte ich. »Spielen wir.«

Jeder von uns setzte fünf Pfund ein, dann lehnten wir uns zurück und dachten uns Ziffern aus. Jossele deutete mir durch eine Handbewegung an, daß er eine Ziffer hätte. Ich bestätigte, daß auch ich soweit sei.

»Gut«, sagte Jossele. »Laß hören.«

»11«, sagte ich.

»12«, sagte Jossele und steckte das Geld ein. Ich hätte mich ohrfeigen können. Denn ich hatte zuerst 14 gedacht und war im letzten Augenblick auf 11 heruntergegangen, ich weiß selbst nicht warum.

»Höre«, sagte ich zu Jossele. »Was wäre geschehen, wenn ich 14 gedacht hätte?«

»Dann hätte ich verloren. Das ist ja der Reiz des Pokerspiels, daß man nie wissen kann, wie es ausgeht. Aber wenn deine Nerven zu schwach dafür sind, dann sollten wir Schluß machen.«

Ohne ihn einer Antwort zu würdigen, legte ich zehn Pfund auf den Tisch. Jossele ebenso. Ich kam mit 18 heraus.

»Verdammt«, sagte Jossele. »Ich hab nur 17.«

Zufrieden strich ich das Geld ein. Jossele hatte sich wohl nicht träumen lassen, daß ich die Tricks des jüdischen Pokers so rasch begreifen würde. Er hatte vielleicht an 15 oder 16 gedacht, aber bestimmt nicht an 18. In seinem Ärger verdoppelte er seinen Einsatz.

»Wie du willst«, sagte ich und unterdrückte nur mühsam den Triumph in meiner Stimme, weil ich mittlerweile auf eine phantastische Ziffer gekommen war: 35!

»Komm heraus«, sagte Jossele.

»35!«

»43!«

Und nahm die vierzig Pfund. Ich fühlte, wie mir das Blut zu Kopf stieg. Meine Stimme zitterte.

»Warum hast du vorhin nicht 43 gesagt?«

»Weil ich mir 17 gedacht hatte«, antwortete Jossele entrüstet. »Das ist ja das Aufregende an diesem Spiel, daß man nie …«

»Fünfzig Pfund«, unterbrach ich trocken und warf die Banknote auf den Tisch. Jossele legte seine Pfundnote herausfordernd langsam daneben. Die Spannung wuchs ins Unerträgliche.

»54«, sagte ich mit gezwungener Gleichgültigkeit.

»Zu dumm«, fauchte Jossele. »Auch ich habe mir 54 gedacht. Wir müssen noch einmal spielen.«

In meinem Hirn arbeitete es blitzschnell. Du glaubst wahrscheinlich, daß ich wieder mit 11 oder etwas Ähnlichem herauskommen werde, mein Guter. Aber du wirst eine Überraschung erleben! Ich wählte die unschlagbare Ziffer 69 und sagte zu Jossele:

»Jetzt kommst einmal du als erster heraus, Jossele.«

»Bitte sehr.« Verdächtig rasch stimmte er zu. »Mir kann’s recht sein. 70.«

Ich mußte die Augen schließen. Meine Pulse hämmerten, wie sie seit der Belagerung von Jerusalem nicht mehr gehämmert hatten.

»Nun?« drängte Jossele. »Wo bleibt deine Ziffer?«

»Jossele«, flüsterte ich und senkte den Kopf. »Ob du’s glaubst oder nicht, ich hab sie vergessen.«

»Lügner«, fuhr Jossele auf. »Du hast sie nicht vergessen, ich weiß es. Du hast dir eine kleinere Ziffer gedacht und willst jetzt nicht damit herausrücken. Ein alter Trick. Schäm dich!«

Am liebsten hätte ich ihm die Faust in seine widerwärtige Fratze geschlagen. Aber ich beherrschte mich, erhöhte den Einsatz auf hundert Pfund und dachte im gleichen Augenblick »96«, eine wahrhaft mörderische Ziffer.

»Komm heraus, du Stinktier!« zischte ich.

Jossele zischte zurück: »1683!«

»1800«, flüsterte ich kaum hörbar.

»Gedoppelt«, rief Jossele und ließ die hundert Pfund in seiner Tasche verschwinden.

»Wieso gedoppelt? Was soll das heißen?!«

»Nur ruhig. Wenn du beim Poker die Selbstbeherrschung verlierst, verlierst du Hemd und Hosen«, sagte Jossele von oben herab. »Jedes Kind kann dir erklären, daß meine Ziffer als gedoppelte höher ist als deine.«

»So einer bist du also«, brachte ich mühsam hervor. »Mit solchen Mitteln versuchst du’s. Als hätte ich’s beim letzten Mal nicht genauso machen können.«

»Natürlich hättest du’s ganz genauso machen können«, bestätigte mir Jossele. »Es hat mich sogar überrascht, daß du es nicht gemacht hast. Aber so geht’s im Poker, mein Junge. Entweder kannst du’s, oder du kannst es nicht. Und wenn du es nicht kannst, dann laß die Finger davon.«

Der Einsatz betrug jetzt zweihundert Pfund.

»Deine Ansage«, knirschte ich.

Jossele lehnte sich ganz langsam zurück und sagte aufreizend ruhig: »4.«

»100000«, trompetete ich.

Ohne die geringste Erregung verkündete Jossele: »Ultimo!«

Und nahm die zweihundert Pfund.

Schluchzend brach ich zusammen. Jossele streichelte meine Hand und belehrte mich, daß nach dem sogenannten Hoyleschen Gesetz derjenige Spieler, der als erster »Ultimo« ansagt, auf jeden Fall und ohne Rücksicht auf die Ziffer gewinnt. Das sei ja gerade der Spaß beim Pokern, daß man innerhalb weniger Sekunden…

»Fünfhundert Pfund!«

Wimmernd legte ich mein letztes Geld in die Hände des Schicksals.

Josseles Pfunde lagen daneben. Auf meiner Stirn standen kalte Schweißperlen. Ich sah Jossele scharf an. Er wirkte völlig gelassen, aber seine Lippen zitterten ein wenig, als er fragte: »Wer sagt an?«

»Du«, antwortete ich lauernd. Und er ging mir in die Falle.

»Ultimo«, sagte er und streckte die Hand nach dem Geld aus.

»Einen Augenblick«, sagte ich eisig. »Ben Gurion.« Und schon hatte ich das Geld bei mir geborgen. »Ben Gurion ist noch stärker als Ultimo«, erläuterte ich. »Aber es wird spät. Wir sollten Schluß machen.«

Schweigend erhoben wir uns. Ehe wir gingen, unternahm Jossele einen kläglichen Versuch, sein Geld zurückzubekommen. Er behauptete, das mit Ben Gurion sei eine Erfindung von mir.

Ich widersprach ihm nicht.

»Schau«, sagte ich, »darin besteht ja gerade der Reiz des Pokerspiels, daß man gewonnenes Geld niemals zurückgibt.«

Unternehmen Babel

Es begann damit, daß ich zwecks Einfuhr eines Röntgenapparates bestimmte Schritte unternehmen mußte. Ich rief im Ministerium für Heilmittelinstrumente an und erkundigte mich, ob man für die Einfuhr eines Röntgenapparates eine Lizenz benötigte, auch wenn man den Apparat von Verwandten geschenkt bekommen hat und selbst kein Arzt ist, sondern nur an Bulbus duodenitis leidet und den Magen so oft wie möglich mit Röntgenstrahlen behandeln muß.

Im Ministerium ging alles glatt. Am Informationsschalter saß ein junger Mann, der seinen Onkel vertrat. Der Onkel war gerade zur Militärübung für Reservisten abkommandiert, und der junge Mann schickte mich zu Zimmer 1203, von wo man mich auf Nr. 4 umleitete. Nachdem ich noch die Nummern 17, 3, 2004, 81 und 95 absolviert hatte, erreichte ich endlich Nr. 604, das Büro von Dr. Bar Cyanid, Konsulent für externe Röntgenbestrahlung.

Vor Zimmer Nr. 604 stand niemand. Trotzdem wurde ich belehrt, daß man nur mit einem numerierten Passierschein eintreten dürfe, der auf Nr. 18 erhältlich sei. Diese Passierscheine sollten die lästige Schlangenbildung verhindern.

Vor Zimmer Nr. 18 stand eine entsetzlich lange Schlange. Ich rechnete blitzschnell: Selbst wenn niemand länger als 30 Sekunden bräuchte und jeder fünfte durch plötzlichen Tod ausfiele, käme ich frühestens in fünf bis sechs Jahren dran. Das ist, angesichts der schwierigen wirtschaftlichen Verhältnisse, unter denen wir leben, eine sehr lange Zeit.

Eine gewisse Selbstsucht, die mich immer wieder befällt, verleitete mich, Zimmer Nr. 17 zu betreten und von dort in Zimmer Nr. 18 vorzudringen, wo man die Nummernscheine zur Vermeidung von Schlangenbildung bekam. Das Zimmer war leer. Nur hinter dem Schreibtisch saß ein vierschrötiger Beamter, der mich durchdringend ansah und – vielleicht aus Schreck über mein Auftauchen – folgendes hervorstieß: »Eintritt durch den Nebenraum verboten. Wer durch die Seitentüre kommt, wird nicht abgefertigt. Haben Sie draußen keine Schlange gesehen? Auch Sie müssen sich anstellen, genau wie jeder andere!«

In solchen Situationen muß man sich etwas Ungewöhnliches einfallen lassen, sonst ist man verloren.

»Bulbus«, sagte ich mit Nachdruck. »Bulbus duodenitis.«

Der Beamte war offenbar ein medizinischer Laie. Er glotzte mich verständnislos an. »Was?« fragte er. »Wer? Wieso?«

Und in diesem Augenblick kam mir der erlösende Einfall, der sehr wohl zu einem epochalen Umschwung in der Geschichte des israelischen Schlangestehens führen könnte.

»Dvargitschoke plokay g’vivtschir?« äußerte ich in fragendem Tonfall und mit freundlichem Lächeln. »Schmusek groggy. Latiten?«

Das blieb nicht ohne Wirkung.

»Redste Jiddisch?« fragte der Beamte. »Odder vielleicht du redst Inglisch?«

»Dvargitschoke plokay.«

»Redste Fransoa?«

»G’vivtschir u mugvivtschir …«

Der Beamte erhob sich und rief seinen Kollegen aus dem Nebenzimmer.

»Der arme Kerl spricht nur Ungarisch«, informierte er ihn.

»Du stammst doch aus dieser Gegend. Vielleicht kommst du dahinter, was er will?«

»Chaweri«, sprach der andere mich an. »Te mit akarol mama?«

»Dvargitschoke plokay«, lautete meine prompte Antwort. »Latiten?«

»Wie bitte?«

Der Transsylvanier versuchte es noch mit Rumänisch und einem karpatho-ruthenischen Dialekt, zuckte die Achseln und ging. Als nächster kam ein hohlwangiger Kassierer aus der Abteilung für Kalorienforschung und unterzog mich einer arabischen, einer türkischen und einer holländischen Dvargitschok und hob bedauernd die Arme. Ein Ingenieur aus dem zweiten Stock ging mit mir fast alle slawischen Sprachen durch, das Ergebnis blieb negativ. Sodann wurde ein Botenjunge aufgetrieben, der Finnisch sprach. »Schmusek«, wiederholte ich verzweifelt. »Schmusek groggy.« Der Moderator für die Belebung toter Sprachen wollte mich in eine lateinische Konversation verwickeln, der Generaldirektor des Amtes in eine rhätoromanische. »G’vivtschir«, war alles, was sie aus mir herausbekamen. Eine unbekannte Dame erprobte an mir ihre italienischen, spanischen und japanischen Sprachkenntnisse, der Portier des Gebäudes, ein Immigrant aus Afghanistan, nahm mit Freuden die Gelegenheit wahr, einige Worte in seiner Muttersprache zu äußern, und gab freiwillig noch einige Brocken Amharisch drauf. Ein Buchhalter – Pygmäe und möglicherweise Kannibale – versuchte sein Glück mit dem Dialekt des Balu-Balu-Stammes. Um diese Zeit war bereits eine ansehnliche Menschenmenge um mich versammelt, und jeder entwickelte seine eigene Theorie, woher ich käme und was ich wollte. Die Schalterbeamten tippten darauf, daß ich der Mischling einer Mestizenmutter mit einem weißen Indianervater sei, die Buchhalter hielten mich für einen Eskimo, was jedoch vom Leiter der Osteuropa-Abteilung, der selbst ein Eskimo war, entschieden bestritten wurde. Der Chefkontrolleur des Amtes für verschwindende Vorräte, unternahm einen tapferen Klärungsversuch auf Siamesisch, scheiterte jedoch an meiner soliden Verteidigung mit Dvargitschoks. Nicht besser erging es dem Verwalter der Öffentlichen Illusionen auf Aramäisch. »Plokay.« Wallonisch. Baskisch. »Mugvivtschir.« Norwegisch, Papuanisch, Griechisch, Portugiesisch, Tibetanisch, Ladinisch, Litauisch, Suaheli, Esperanto, Volapük … nichts. Kein Wort.

Nach und nach brachen die um mich Stehenden erschöpft zusammen. Da machte ich ein paar rasche Schritte zum Schreibtisch des Beamten und riß – als hätte ich sie eben erst entdeckt – einen der dort liegenden Nummernscheine an mich.

»Er will eine Nummer!« Die frohe Botschaft verbreitete sich wie ein Lauffeuer durch die Büros und Gänge. »Eine Nummer will er haben! Endlich! Eine Nummer! Halleluja!«

Die Beamten zwangen mir zur Sicherheit einen zweiten Nummernzettel auf, klopften mir auf die Schultern, gratulierten mir, umarmten mich, und wenn ich nicht irre, küßte ein Kassierer sogar den Saum meines Gewandes. Tränen standen in aller Augen, und der Jubel war allgemein.

»Dvella«, murmelte ich und war selbst ein wenig bewegt. »Dvella.«

Zu Hause fand ich in meinen Jackentaschen noch weitere zwanzig Nummernzettel.

Ein Oldtimer

Neueinwanderer können im allgemeinen tun, was sie wollen. Im ersten Jahr ihrer Ansässigkeit brauchen sie nicht einmal Einkommensteuer zu zahlen. Manche unternehmungslustigen israelischen Bürger machen einen ganz anständigen Lebensunterhalt daraus, daß sie in bestimmten Zeitabständen das Land verlassen und als Neueinwanderer wiederkommen. Trotz dieser Vergünstigung gilt ein Neueinwanderer, der sich über nichts beklagt, entweder als Idiot oder als Großkapitalist. (Das gesamte Großkapital ist hierzulande in jüdischen Händen, ein Umstand, der allseits heftigen Unwillen erregt.)

Auch die Lage der mittellosen Neueinwanderer, die sich seltsamerweise in der Überzahl befinden, ist keineswegs hoffnungslos. Es gibt Leute, die vor zwanzig Jahren mit einem einzigen Koffer ins Land gekommen sind, und heute besitzen sie diesen Koffer noch immer. Sie sind die sogenannten »Oldtimer«, die um ihrer Ideale willen gelitten haben, als sie jung waren. Sie haben sich bis heute eine gesunde Feindseligkeit gegen alle jene bewahrt, die erst später gekommen sind und die – nach Meinung der Oldtimer – das reine Luxusleben führen.

Zorn und Abscheu spiegelten sich in den Gesichtszügen jenes älteren Herrn, der mich eines Tags vor dem Eingang zum Kino anhielt.

»Wohin so eilig, Jossele?«

Ich gestand ihm, daß ich mir eine Eintrittskarte fürs Kino gekauft hätte.

»Eintrittskarte fürs Kino?« wiederholte er voll Verachtung. »In deinem Alter war ich froh, wenn ich mir eine Gurke zum Nachtmahl kaufen konnte. Aber Kinokarten? Vor dreißig Jahren hat kein Mensch daran gedacht, ins Kino zu gehen. Damals sind hier noch die Tragkamele vorbeigezogen, und von den Boulevards konnte man aufs offene Meer hinaussehen.«

»Interessant«, sagte ich. »Aber jetzt muß ich nach Hause.«

»Nach Hause?« Er nickte bitter. »Wir hatten kein Zuhause. Wir pflegten ein paar Schachteln und Konservenbüchsen übereinander zu schichten, verklebten das Ganze mit Packpapier – und das war unser Zuhause. Hast du Möbel?«

»Nicht der Rede wert.« Ich wurde vorsichtig. »Meistens sitzen wir auf Ziegelsteinen.«

»Ziegelsteine?! Von Ziegelsteinen wagten wir nicht einmal zu träumen! Wo hätten wir das Geld für Ziegelsteine hernehmen sollen?«

»Ich weiß nicht«, gestand ich kleinlaut. »Um die Wahrheit zu sagen: Ich habe die Ziegelsteine nicht gekauft, sondern von einem unbewachten Bauplatz gestohlen.«

»Gestohlen!« Die Stimme des alten Herrn bebte vor Zorn. »Ich habe achtzehn Jahre lang hier gelebt, ehe ich es wagte, meinen ersten Ziegelstein zu stehlen! Wir hatten damals nicht einmal Sand, um darauf zu liegen. – Trinkst du Wasser?«

»Sehr selten. Vielleicht einmal in der Woche.«

»Einmal in der Woche?« Er packte mich an den Schultern und schüttelte mich, als ob er mich mixen wollte. »Bist du dir klar darüber, Bürschchen, daß man seinerzeit in Jerusalem für Wasser bares Geld zahlen mußte? Die Zunge klebte uns am Gaumen, aber wir konnten unseren Durst nicht löschen. Wir hatten nicht einmal den lumpigen Piaster, Jossele, um uns ein Glas Wasser zu kaufen!«

»Ich heiße nicht Jossele«, warf ich ein. »Und überhaupt, ich kenne Sie nicht, mein Herr.«

»Du kennst mich nicht?« brüllte mein Gesprächspartner. »Wenn wir in deinem Alter die Frechheit gehabt hätten, jemanden nicht zu kennen, hätte man uns windelweich geprügelt! Aber ihr jungen Grünschnäbel von heute könnt euch natürlich alles erlauben …«

Damit ließ er mich stehen und ging zornig seines Weges. Ich war niedergeschmettert. Der Boden schwankte unter meinen Füßen. Ich mußte mich hinlegen. Ein Taxi überfuhr mich. Früher einmal mußten die Pioniere achtzehn bis zwanzig Jahre warten, bevor sie zum ersten Mal von einem Taxi überfahren wurden. Die Zeiten haben sich geändert.

Brautkauf im Kibbuz

Mein langweiliger Cousin Schimon konnte sich vor Freude über meine Ankunft nicht fassen, als ich ihn damals im Kibbuz besuchte. Er war gerade an diesem Tag in ein neues Zimmer übersiedelt, sein kleiner Junge lag mit Masern im Bett, seine Frau spielte Hebamme bei einer widerstrebenden Kuh, und er selbst mußte dringend in den Speisesaal, wo eine Vollversammlung über den Fall eines Kibbuzmitgliedes beraten sollte. Dieses Mitglied hörte auf den Namen »Ricki der Verrückte« und verlangte aus der Kibbuzkasse schon seit Wochen eine Summe von 4400 Pfund.

»Wozu braucht ein Kibbuznik Geld?« fragte ich meinen Cousin, während ich hinter ihm zum Speisesaal rannte. Schimon, der Schatzmeister des Kibbuz war, antwortete:

»Er will eine Frau kaufen.«

Vor einiger Zeit war nämlich Ricki der Verrückte mit der Funktion eines »Einkäufers« betraut worden, hatte in einer von Jemeniten bewohnten Nachbarsiedlung zu tun gehabt und sich dort Hals über Kopf in ein jemenitisches Mädchen namens Chefzibah verliebt. Daß Rickis Familienname Kraus war und Chefzibas Familienname Habifel, störte ihn nicht.

Papa Habifel erteilte sofort seine Zustimmung. Mehr als das, wegen der Jugendlichkeit des Bräutigams verlangte er für seine Tochter nur 4400 Pfund in bar.

Herrn Habifels Forderung verblüffte Ricki, aber der alte Mann erklärte ihm mit patriarchalischer Geduld, daß er als Vater Anspruch darauf hätte, die in seine Tochter investierten Spesen zurückzubekommen. Ricki der Verrückte mußte einsehen, daß es sich hier um eine uralte, unabänderliche jüdische Sitte handle.

Was tut ein normaler Stadtbewohner unter solchen Umständen? Er nimmt ein Darlehen bei einer Bank auf, verkauft den Familienschmuck seiner Großmutter, veruntreut Firmengelder oder macht Überstunden. Ein Kibbuznik hat aber keine Großmutter mit Familienschmuck, keine Bank und keine Firmenkasse. Er hat nichts zu verkaufen, außer seinem reinen Gewissen, und dafür bekäme er höchstens fünfzig bis sechzig Pfund. Er kann also nur von der Kibbuzverwaltung das Geld zum Kauf einer Gattin verlangen.

Die Kibbuzverwaltung lehnte den Wunsch Rickis des Verrückten nach kurzer Debatte ab, und zwar aus drei Gründen: 1. Man kauft keine Frau für bares Geld. 2. Wir leben nicht mehr in der Steinzeit. 3. Hat man so etwas je gehört?

Das Sekretariat bot jedoch an, mit dem alten Herrn Habifel zu verhandeln. Und so begaben sich der Kibbuzsekretär und die Vorsitzende des Sozialausschusses in die jemenitische Nachbarsiedlung. Nach zwei Tagen kamen sie zurück und berichteten der Vollversammlung, daß schließlich und endlich, bei nüchterner Betrachtung der jemenitischen Lebensformen, daß also, kurz und gut und im Grunde, gegen die Forderung von Herrn Habifel nichts einzuwenden sei. 4400 Pfund sei aber ein exorbitant hoher Preis, den man unmöglich zahlen könne. Für 400 Pfund bekäme man ja schon eine Kuh oder eine Dieselpumpe.

Ricki der Verrückte schlug Krach, daß die Wände zitterten. Er verwahrte sich dagegen, daß man seine Chefzibah mit einer Kuh vergliche, und verlangte auf der Stelle das Geld, sonst würde er sofort aus dem Kibbuz austreten.