Christian F. Hoffstadt,

Franz Peschke, Andreas Schulz-Buchta,

Michael Nagenborg (Hrsg.)

Dekadenzen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind

im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISSN 1610 - 1693

ISBN 978-3-89733-304-8

8 2007 projekt verlag, Bochum/​Freiburg

Vertrieb@projektverlag.de

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Umschlaggestaltung: punkt Komma Strich, Freiburg

www.punkt-komma-strich.de

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

INHALTSVERZEICHNIS

Cover

Titel

Impressum

Christian Hoffstadt/Franz Peschke/Andreas Schulz-Buchta/ Michael Nagenborg

VORWORT

Christian Hoffstadt/Franz Peschke/Andreas Schulz-Buchta/ Michael Nagenborg

EINLEITUNG

Sabine Müller

LUXUS, SITTENVERFALL, VERWEICHLICHUNG UND KRIEGSUNTÜCHTIGKEIT

Die Codes der Dekadenz in den antiken Quellen

Andrea Kottow

DIALEKTIK DER DEKADENZ

Verlust des Ideals und Präsenz der Abweichung

Miriam Ommeln

DIE ANFÄNGE DER MODERNEN MEDIZINPHILOSOPHIE UND IHRE ETHISCHEN ASPEKTE: AUFGEZEIGT ANHAND DES PHILOSOPHEN FRIEDRICH NIETZSCHE

Michael Nagenborg

„DAS WORT HYSTERIE SAGT GAR NICHTS“

Vom unmäßigen Medienkonsum in Gegen den Strich

Daniel Lutz

DIE NERVEN IM TREIBHAUS

Grenzphänomene dekadenten Schreibens an den Schwellen zum 20. und 21. Jahrhundert bei Joris-Karl Huysmans, Richard Beer-Hofmann und Christian Kracht

Knut Martin Stünkel

VERFALL DES KÖRPERS UND DEKADENZ DER ZEIT

Über Franz Rosenzweigs leibliches Lehren

Remo Bernasconi

ESSEN UND DEKADENZ

Anmerkungen

Christian F. Hoffstadt

APOKALYPTISCHE FIGUREN

Sebastian Lerch

MACHBARKEIT UND ZEITKNAPPHEIT

Grenzen medizinischer Professionalität

Roland Kipke

MEDIZINISCHE OPTIMIERUNG UND MENTALER RÜCKSCHRITT

Florian Mildenberger

DIE UTOPIEN VON VERJÜNGUNG UND UNSTERBLICHEN GENEN IN DER SOZIALISTISCHEN EUGENIK IN DEUTSCHLAND

Bernhard Schär

ZAHNHEILKUNDE UND DAS UNBEHAGEN IN DER ZIVILISATION

Zahnärztliche Deutungen des „Zahn-“ und „Kulturzerfalls“ in der Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert

Hans Lenk

DOPINGDEKADENZ: DOPINGSPORT IST DEKADENT

Franz Peschke

FORTSCHRITT ODER DEKADENZ?

Tendenzen im flexiblen Kapitalismus und im Zeitalter der Globalisierung

AUTORENANGABEN

Weitere Titel aus dem Bereich Kultur- und Geisteswissenschaften im projektverlag.

Fußnoten

Vorwort

Christian Hoffstadt/​Franz Peschke/​Andreas Schulz-Buchta/​Michael Nagenborg

In der Reihe Aspekte der Medizinphilosophie sollen Vertreter unterschiedlicher wissenschaftlicher Richtungen zu Wort kommen, die den Verknüpfungen medizinischer Fragestellungen mit unserem Alltag, unserem Denken und unserer Kultur nachgehen. Unser Ziel ist eine Erweiterung der Fächergrenzen und -abgrenzungen, eine produktive Wechselwirkung der verschiedenen Betrachtungsweisen. Der Titel „Medizin-Philosophie“ soll andeuten, dass die Medizin nicht zum reinen Untersuchungsobjekt geistes- und kulturwissenschaftlicher Analyse gemacht werden soll, vielmehr soll der Raum zwischen den Fächern gleichberechtigt erhellt werden, da wir der Ansicht sind, dass gerade in diesen „Zwischenräumen“ die eigentlich wichtigen Vernetzungen stattfinden. Wir wenden uns damit weder gegen medizinischnaturwissenschaftliche oder medizinhistorische Betrachtungsweisen, noch gegen das Verständnis der Medizinphilosophie als „alternative Medizin“ – doch wir nehmen uns heraus, diesen überaus gut bearbeiteten Gebieten auf unseren Veranstaltungen und in unseren Publikationen nicht das Hauptaugenmerk zu schenken.

Mit unseren Veranstaltungen wollen wir einen Raum eröffnen, in dem Vertreter der Medizin, der Psychologie, der Psychoanalyse und der im weitesten Sinne geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächer in einen inter- und transdisziplinären Dialog eintreten können. Die ausgearbeiteten Vorträge der Symposien bilden die Grundlage für die Bücher in dieser Reihe. Diese werden um weitere Beiträge ergänzt, die weitere Aspekte und Facetten des Tagungsgegenstandes erhellen.

Die Grundlage dieses Bandes bilden die Vorträge auf dem Symposium zum Thema „Dekadenz“, das im Herbst 2006 in Kooperation mit dem Institut für Philosophie der Universität Karlsruhe (TH) stattgefunden hat.

Wir freuen uns, dass ab sofort Michael Nagenborg, der seit 2005 in der Redaktion mitarbeitet, nun auch das Herausgeberteam bereichert.

Weitere aktuelle Informationen zur Reihe und unseren Veranstaltungen finden Sie auf unserer Webseite unter: www.medizin-philosophie.de

Einleitung

Christian Hoffstadt/​Franz Peschke/​Andreas Schulz-Buchta/​Michael Nagenborg

Der fünfte Band der Reihe Aspekte der Medizinphilosophie beschäftigt sich mit verschiedenen Aspekten des Begriffs „Dekadenz“ (lat. de-cadere = absteigen) und der Dekadenz als geschichtlichem Phänomen (namentlich der notorischen Décadence um 1900). Der Begriff meint im Allgemeinen eine Verschlechterung eines Zustandes, den Verfall von Sitten, gesellschaftlichen Zuständen oder einer ganzen Kultur. Zugrunde gelegt wird dabei ein Kulturmodell, das aus mindestens zwei Phasen besteht: Aufstieg aus der Barbarei und Abstieg (in die Barbarei, die Auslöschung usw.). „Barbarei denken wir als lebenstrotzende, aber ungeschlachte Frühphase, Dekadenz als übermüdete, überfeinerte Spätstufe.“1 Ein derartiger Begriff der Dekadenz ist zumeist normativ: Denn „Verfall“ bezieht sich auf einen ausgewählten „Höhepunkt“ einer Kultur und beleuchtet bestimmte Aspekte einer kulturellen Entwicklung pessimistisch/​kritisch.

Im vorliegenden Band stellt Sabine Müller in ihrem Aufsatz über das Verhältnis des alten Griechenlands zu seinen asiatischen Feinden die Ursprünge unseres heutigen Dekadenzbegriffs dar. Wie er von den Protagonisten der Décadence am Ende des 19. Jahrhunderts und um die Jahrhundertwende zu seiner endgültigen Form verfeinert wurde, schildern Andrea Kottow, die sich mit Max Nordau, Otto Weininger, Thomas Mann und anderen befasst, sowie Miriam Ommeln in ihrem Aufsatz über Nietzsche.

Mit dem negativ konnotierten Adjektiv „dekadent“ werden auch Personen etikettiert, deren Verhalten als typisch für eine Zeit des Niedergangs angesehen wird: Einer solchen Person wird vorgeworfen, nicht Maß zu halten und sich im Luxus zu ergehen, während doch eigentlich gerade jetzt tatkräftige Menschen gefragt wären, um den Fortbestand der von inneren und äußeren Feinden gefährdeten Kultur zu sichern. Auch heute noch wird „Dekadenz“ alltagssprachlich im Sinne von ungesundem Luxus und Übermaß verstanden (wie der Sinnspruch „Dekadenz = dicker Benz“ in humoriger Weise deutlich macht). Im 19. Jahrhundert wurde so den überzivilisierten Menschen nachgesagt, dass ihre Nerven zu zart seien – was wiederum von den Vertretern der „Dekadenz“-Literatur zum Ausgangspunkt genommen wurde, um gerade diesen zarten Geschöpfen ein besonderes Erkenntnisvermögen zuzuschreiben. Gerade der blasse Geistesadel wurde so zu einem Gegenentwurf zu einem Leben, in dem alle Bereiche allein nach ökonomischen Maßstäben gestaltet werden sollten. Mit Joris Karl Huysmans wird eine der Hauptfiguren dieser Denkrichtung gleich von zwei Autoren dieses Bandes beleuchtet: Michael Nagenborg verbindet Huysmans’ Romanfigur Des Esseintes mit der heutigen Erscheinung der in Japan aufgekommenen „Otakos“, Daniel Lutz verfolgt die Ideen Huysmans bis in Werke der Popliteratur hinein.

Wie „Dekadenz“, zwar durchaus unter dem Einfluss kultureller Tendenzen, aber im Wesentlichen auf das Individuum einwirkt, zeigt Knut Martin Stünkel in seinem Text über den körperlichen Verfall und die damit einhergehende Idealisierung des jüdischen Philosophen Franz Rosenzweig; Remo Bernasconi widmet sich in einem kurzen Traktat der heute stetig von Dekadenz bedrohten Nahrungsaufnahme, und Christian Hoffstadt geht in seinem Aufsatz über „apokalyptische Körper“ dem magersüchtigen Leib und der scheinbaren Sehnsucht des Menschen nach sublimierter Apokalypse oder nach ihren Surrogaten in Gestalt des modernen Horrorfilms auf den Grund.

Heute ist „Dekadenz“ ein „Plastikwort“ (Kurt Lenk), von dem man oft Gebrauch macht, obwohl es nicht eindeutig definiert ist. Dies mag unter anderem daran liegen, dass die Klassifikation eines (kulturellen) Verfalls voraussetzt, dass von einem bestimmten Standpunkt aus mit einer besseren Zeit bzw. einem besseren Zustand verglichen wird. Obwohl das Dekadenzdenken mit postmodernem, wertfreiem Relativismus nicht vereinbar zu sein scheint, begegnen uns genug Beispiele aus der Gegenwart, in denen „Dekadenz“ eine große Rolle spielt, z. B. in den aktuellen Diagnosen zur Medizin und dem Gesundheitswesen: „Die [Mediziner] verfügen zwar über Methoden und Beweise für ihr Tun, verlieren aber immer mehr den Zugang zu den Menschen; die anderen besitzen diesen Zugang, aber nur vage Techniken und Therapieformen.“2 Im einen Fall verzeichnet und diskutiert der öffentliche sowie auch der Fachdiskurs einen Verfall der Menschlichkeit, im anderen Fall führt die Fixierung auf den Menschen zu einem Verfall der Wissenschaftlichkeit, der Nachweisbarkeit von Wirkungen (von Behandlungen usw.).

Der Aspekt des „Luxus“ tritt dort zutage, wo es um Ökonomisierung des Gesundheitssystems geht – also praktisch überall. Die Ökonomisierung des Gesundheitssystems, deren Vertreter mit dem Ziel angetreten sind, die Verschwendung (d. h. den „dekadenten“ Umgang mit Mitteln aller Art) im Medizinsystem zu stoppen und ihr nachhaltig vorzubeugen, produziert bei genauerer Betrachtung eine weitere Art des Verfalls. Es regt sich Protest, das Gesundheitssystem rehabilitiere sich auf Kosten der Ärzte und der Patienten, die Versorgung sei vielerorts nicht mehr gewährleistet, der Mensch wäre nur noch ein Faktor einer ökonomischen Rechnung, die aufgehen müsse.3

Der technische Fortschritt bzw. die zunehmende Machbarkeit in der Medizin bergen zusätzliches Potenzial für Perspektivierungen des „Verfalls“. Zum einen ist eine technische Verbesserung in der subjektiven Sichtweise der Patienten häufig eine Verschlechterung im Bereich der Menschlichkeit – die moderne Apparatemedizin birgt tatsächlich das Risiko, dass nur noch „Leib“, nicht mehr „Seele“ behandelt wird. Oder weniger altmodisch formuliert: Die Menschlichkeit kann unter den Faktoren Technisierung und Einsparung von Personal/​Mitteln/​Infrastruktur enorm leiden.

Zum anderen ist die Machbarkeit wiederum an natürliche Faktoren, besonders aber auch an ökonomische Faktoren gebunden: Behandlungstechnisch ist mittlerweile vieles möglich, im Kurzschluss mit den Gesundheitsreformen ist es aber mittlerweile eine große Frage, was Krankenkassen bezahlen müssen/​sollten bzw. im Extremfall, wie viel Geld es kosten dürfe, ein Leben zu erhalten bzw. zu verlängern. Nicht zuletzt ist es auch die Frage danach, wer sich „Gesundheit“ kaufen kann und wer nicht – auch wenn dies eine mediale Dramatisierung ist.

Die „Entsolidarisierung“ des Gesundheitssystems, die Rückverlagerung des ökonomischen Risikos einer Erkrankung auf den einzelnen Betroffenen, ist aus der Sicht der Betroffenen und der betreuenden Ärzte ein Verfall der bestehenden bzw. ehemaligen Werte.4

In dieser Debatte schwingt durchaus mit, dass mit den ökonomisch motivierten Reformen die Rolle des Arztes vom „Halbgott in Weiß“ zum schlecht bezahlten „Monteur“ verkommt. „Eine Medizin ohne Utopie und Ideale verkommt zu einem technischen, zu einem technisierten Reparaturbetrieb. Die Medizin muß sich an einer Theorie, an einer Leitidee orientieren, sonst ist es sinnlos, sie gegen Zerstörungstendenzen zu verteidigen.“5

Die Dekadenz tritt aber auch im viel kleineren Maßstab, auf der Ebene der Patienten, aber auch der Ärzte auf.

Für die einen ist es dekadent, „Falten, Glatzen, veränderte Fettverteilung, Menopause und schwindende Potenz“6 rückgängig machen zu wollen (man könnte sie als „Naturalisten“ bezeichnen); für die andere Extremposition ist es dekadent und unverständlich, die Hände in den Schoß zu legen, wenn Linderung und Abhilfe doch technisch machbar scheinen.7

Diesem explizit medizinischen Problemkomplex, insbesondere der auch hier vielzitierten „Machbarkeit“ widmen sich im vorliegenden Band mehrere Autoren. Sebastian Lerch beleuchtet den Begriff der medizinischen Machbarkeit grundlegend philosophisch und bezieht wesentliche Aspekte des „Fortschritts“ in seine Analyse ein, Roland Kipke wägt die Möglichkeiten medizinischen „Enhancements“, d. h. der (Selbst-)verbesserung ab, Florian Mildenberger schildert historische sozialistische Eugenik-Phantasien und weist deren Verbindungslinien über die DDR bis zur Gegenwart auf. Zudem macht Bernhard Schär am Beispiel des schweizerischen Diskurses im 19. und 20. Jahrhundert über Zahnzerfall exemplarisch deutlich, wie eine ideologische Parallelisierung von medizinischem und gesellschaftlichem Wertezerfall funktioniert. Hans Lenk, gleichermaßen Philosoph wie Sportler, führt mit dem Doping im modernen Sport einen „dekadenten“ Auswuchs eines medizinischen Randbereichs vor Augen, und Franz Peschke schließlich testet die Möglichkeiten einer Dekadenzmetaphorik in seiner eingehenden Analyse der fortschrittsorientierten Kultur des gegenwärtigen Kapitalismus.

Der vorliegende Band versucht also, die verschiedenen Konnotationen und Konzepte des Begriffs „Dekadenz“ auf synchroner wie diachroner Ebene sichtbar zu machen und gegenüberzustellen. Dem Leser sei es überlassen, ob am Ende die „Dekadenz“ eine leere Worthülse, ein zu reanimierender Begriff oder gar ein paradoxer Terminus sei, der widersprüchliche Konzepte vereint.

Luxus, Sittenverfall, Verweichlichung und Kriegsuntüchtigkeit

Die Codes der Dekadenz in den antiken Quellen

Sabine Müller (Hannover)

Einleitung

Imperare sibi maximum imperium est“ – „sich selbst zu beherrschen ist die höchste Herrschaft“8, schrieb der Stoiker Seneca. Diejenigen, die den Grundsatz missachteten und das rechte Maß nicht einhielten, wurden in der antiken Überlieferung mit diversen Codes geschildert. In den römischen Quellen findet man Termini wie cupido (Begierde), avaritia (Habgier), luxuria (Üppigkeit), copia (Überfluss), superbia (Hochmut) und inmoderatio (Unmäßigkeit). Im Griechischen sind moralische Verfallserscheinungen vor allem mit einem Begriff verbunden: der tryphe, dem Überfluss, in diesem Fall in seiner negativen Konnotation. Die tryphe figurierte als Gegenpol zur Tugend der sophrosyne (Mäßigung). Von der tryphe war es nur ein kleiner Schritt zur hybris, dem anmaßenden Hochmut, der in den meisten Fällen auch eine Verletzung göttlichen Rechts implizierte.9

Die antiken Vorgaben stellen den theoretischen Grundstein für die Entwicklung des heutigen Dekadenzverständnisses dar. Es wurden Vorstellungsmuster konstruiert, die sich im Diskurs hielten und die Definition von Dekadenz bis in die Moderne prägten. Anhand von mehreren Fallbeispielen wird im Folgenden untersucht, wie sich die Topik der Dekadenz in der griechischrömischen Antike entwickelte, und aufgezeigt, vor welchem politischen und mentalitätsgeschichtlichen Hintergrund diese Entwicklung in ihren verschiedenen Stufen verortet werden muss. Im Mittelpunkt steht dabei die Rolle der Körperlichkeit in den antiken Dekadenztheorien. Zu analysieren ist, inwiefern und aufgrund welcher Überlegungen Symptome der Dekadenz mit phänotypischen Merkmalen in Zusammenhang gebracht wurden. Dabei wird deutlich, dass die antiken Dekadenzdiskurse einen stark politischen Charakter entwickelten und somit der Konstruktion von Gegenbildern und Gegenwelten, zugleich als Folie für positive Autodefinitionen, Identifikations- und Legitimationsmodelle dienten. Die Prämisse für die Untersuchung des antiken Diskursprodukts der Dekadenz lautet demnach: „Ausgangspunkt ist immer ein Konzept von sich selbst“.10

Der Hellenen-Barbaren-Gegensatz

Von zentraler Bedeutung in den antiken Dekadenztheorien ist der konstruierte Gegensatz zwischen Ost und West. Den entscheidenden Anstoß zu der Konstruktion einer negativen Gegenwelt hatten die Perserkriege des 5. Jahrhunderts v. Chr. gegeben.11 In der griechischen Rezeption des Kriegsgeschehens wurde in zunehmend politischer Weise der barbarische Fremde von dem Hellenen abgesetzt.12 Aus dem ursprünglich auf die nicht-griechische Sprache und Herkunft gemünzten barbaros13 im Sinne eines fremdartigen „Nachbarn“ ohne negative Konnotation14 wurde ein schablonenhaftes Feindbild, das „sozialnormativ aufgeladen“ war.15

Vorauszuschicken ist, dass für Xerxes der gescheiterte Feldzug nach Griechenland sicherlich nicht die Katastrophe war, als die sie die griechischen Sieger beschrieben. Jack Martin Balcer merkt zu Recht an: „The Persians lost their wars in Greece, in part, because the triumphant Greeks wrote their histories and other texts that survive“.16 So spricht Aischylos in seiner – kurze Zeit nach der Begründung des attischen Seebundes, 472 v. Chr., in Athen uraufgeführten und preisgekrönten – Tragödie Persai davon,17 dass ganz Asien in den Krieg gezogen sei und dann ruiniert am Boden gelegen hätte.18 Auch wenn man die unmäßigen persischen Truppenzahlen in Herodots Historien betrachtet,19 erhält man den Eindruck, als wäre im Achaimenidenreich keine männliche Bevölkerung im waffenfähigen Alter mehr übrig geblieben.20 Edith Hall überschreibt daher ihre Studie zu Aischylos’ Persai mit der Frage: „Asia unmanned?“.21

Dass die Schilderung der Perserkriege von der Perspektive des Siegers dominiert wird, liegt unter anderem daran, dass keine persische Historiographie, die uns ihre Sicht der Dinge schildern würde, existiert. Auch achaimenidische Quellen wie die königlichen Inschriften erwähnen diese Kriege nicht. Der Gedanke, dass dies nicht zuletzt darin begründet sein mag, dass sie nicht als zentral eingestuft wurden, erscheint nicht ganz abwegig.22 Betrachtet man die achaimenidischen politischen Strukturen, nahm Griechenland nicht den Stellenwert im Reichskonzept des Großkönigs ein, den sich die Griechen selbst darin zumaßen. Der Feldzug war für die Achaimenidenpolitik eher eine Marginalie, wichtiger waren die Konsolidierung innerhalb des Perserreichs und die Kontrolle über das reiche Ägypten.23

Die griechische Überlieferung stilisierte die Perserkriege jedoch zum Freiheitskampf gegen das Joch der Sklaverei hoch.24 Besonders Athen schrieb sich eine Hauptrolle im Sieg zu und proklamierte sich als Retter von Hellas.25 Damit wurde der athenische Hegemonialanspruch gerechtfertigt und vertuscht, dass die Polis sich 507/​6 v. Chr. freiwillig der persischen Oberhoheit unterworfen und den symbolischen Akt der Übergabe von Erde und Wasser geleistet hatte, um vom Großkönig Hilfe gegen Sparta und seine Verbündeten zu erhalten.26 Im Ionischen Aufstand hatte Athen sich als treuloser Vasall gezeigt und zwanzig Schiffe zur Unterstützung der kleinasiatischen Griechen gegen den Perserkönig gesandt27 – entgegen älterer Thesen keine halbherzige Aktion, sondern die Sendung eines beträchtlichen Teils der damals noch nicht durch Themistokles aufgerüsteten Flotte.28 Damit war Athen zum Rebellen gegen die persische Herrschaft geworden.29 Der Großkönig musste diesen Widerstand strafen, der Krieg war somit unvermeidlich gewesen. Gerold Walser weist zu Recht darauf hin, dass die Griechen die eigentlichen Aggressoren gewesen seien.30 Die Kriegsbedrohung durch die Perser und Athens Rolle als Haupt der Abwehr spielten in der athenischen Politik auch nach dem Abzug der persischen Truppen eine zentrale Rolle. Um die Bündner im delisch-attischen Seebund bei der Stange zu halten und ihnen die Notwendigkeit der Tributentrichtung zu verdeutlichen, war Athen darauf angewiesen, die Vorstellung, dass Gefahr von Osten drohte, aufrechtzuerhalten. Die Furcht vor einer persischen Invasion war daher ein Grundstein der athenischen Hegemonialstellung.

Der Hellenen-Barbaren-Gegensatz als eine griechische Selbstdefinition vor einem Gegenhorizont bedeutete inhaltlich, dass das persische Königtum als „barbarische“ Zwangsherrschaft eines Despoten über Untertanen mit Sklavencharakter abgestempelt und mit der freiheitlichen athenischen Demokratie kontrastiert wurde:31 „Autocracy as a polarity to self-rule violates the norm developed in Hellenic communities“.32 Die Verbindung und Gleichsetzung von Tyrannis mit dem Großkönigtum hatte wiederum seine Wurzeln in der persischen Förderung von Tyrannen in den kleinasiatischen Städten, die in den Zeiten des Ionischen Aufstands von griechischer Seite als Symptom von Unterdrückung und Unterjochung charakterisiert worden war.33

Der Umschwung im Perserbild, der die negative und oft verächtliche Note ins Spiel brachte und zu einem pejorativen Barbarenbild führte, setzte nicht unmittelbar ein, sondern gestaltete sich als ein Prozess. So stellt Aischylos, selbst Teilnehmer der Seeschlacht bei Salamis 480 v. Chr., zwar den Unterschied zwischen hellenischer Freiheit und persischer Autokratie dar, zeigt seine persischen Hauptfiguren jedoch nicht in einem diskreditierenden Licht.34 Wohl waren die Klischees der luxuriösen Hofhaltung in Persien, des großen Einflusses der persischen Königin auf die Politik und der geographischen Trennung der zwei Welten Asien und Hellas vorhanden, doch befand sich die Hellenen-Barbaren-Antithese bei Aischylos noch in einem Frühstadium, das eine differenzierte Darstellung zuließ.35 Xerxes betritt am Schluss des Stücks als Verlierer die Szene und muss sich für seine Hybris, die von den Göttern mit der Niederlage bestraft worden war, vor dem Chor der Ältesten verantworten.36 Seine Fehler waren die Verletzung der in griechischer Auffassung gottbestimmten Grenze zwischen Asien und Europa und die Zerstörung griechischer Heiligtümer gewesen.37 Aischylos’ Darstellung zufolge hatte Zeus den Persern Asien als Herrschaftsgebiet zugewiesen, während sie an Europa keinen Anteil gehabt hatten. Zur Kennzeichnung dieser Grenze hatte die göttliche Weltschöpfung das Meer zwischen sie gelegt. Durch die Überquerung des Hellesponts, deren Brücken zum Symbol für Xerxes’ Hybris wurden,38 hatte er sich über den Willen der Götter hinweggesetzt und dafür die Quittung erhalten.39 Die Königswürde hat er dennoch nicht verloren und auch die persischen Ältesten als Repräsentanten der Untertanen halten loyal zu ihm und klagen gemeinsam mit ihm.40 Aischylos’ Xerxes steht in der Tradition des tragischen Helden, der auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn von den Göttern zu einem Fehler verleitet wird und ihn bitter zu büßen hat, wie es die mythische Gestalt des Ödipus als Archetypus versinnbildlicht.41 In den Persai ist es nunmehr Xerxes, mit dem die höheren Mächte ihr perfides Spiel treiben, das Aischylos aufgrund seines düsteren Götterbildes in besonders dunklen Farben malt.

Auch Herodot, der seine Darstellung der Perserkriege und ihrer Vorgeschichte mindestens eine Generation nach den Kriegsereignissen konzipierte, konstruiert nicht etwa ein Modell „how to be a barbarian“,42 sondern thematisiert mit großem wissenschaftlichen und kulturellen Interesse sowie breiter Kenntnis nicht-griechischer Quellen die Perser und ihre Könige, ohne sie stereotyp und pauschalisierend zu verdammen.43 Sicherlich sind die Codes des Hellenen-Barbaren-Gegensatzes in den Historien vorhanden und treten insbesondere gegen Ende des Werks deutlich hervor.44 Offenbar empfand Herodot die Notwendigkeit, das Perserbild seiner griechischen Zeitgenossen zu thematisieren und bediente sich dessen Negativtopoi, um Xerxes zum Sinnbild von Hybris und Dekadenz zu stilisieren, getreu dem Modell des missratenen Sohns eines guten Königs.45 Ein Gradmesser ist insbesondere Xerxes’ übertriebener Luxus, der wiederholt thematisiert wird. Dieser Topos erfährt in dem Vergleich zwischen einem aufwändigen persischen und einem kargen spartanischen Mahl, das der Spartaner Pausanias nach der Schlacht von Plataiai bereiten lässt, weitere Konturierung: „Xerxes ließ dem Mardonios bei seiner Flucht aus Griechenland seine ganze Feldausrüstung zurück.46 Als Pausanias die Ausstattung des Mardonios, die aus Gold, Silber und goldenen Teppichen bestand, erblickte, befahl er den Bäckern und Köchen, ein Mahl zu richten gerade wie für Mardonios … Da sah Pausanias die goldenen und silbernen Liegen mit schönen Decken, die goldenen und silbernen Tische und die großartige Zubereitung des Mahls. Tief beeindruckt von all den vor ihm liegenden Kostbarkeiten befahl er seinen Dienern zum Spott, ein lakonisches Mahl zuzubereiten. Als die Tische gedeckt waren, zeigte sich der große Unterschied zwischen den beiden Mählern. Lachend rief Pausanias die griechischen Feldherrn herbei … und sagte: ‚Griechen, ich habe euch rufen lassen, um euch die Torheit des Meders zu beweisen, der so üppig lebt und doch zu uns kam, uns bei unserer jammervollen Lebensweise zu berauben.“47

Indes qualifiziert Herodot Xerxes’ achaimenidische Vorgänger nicht alle nach dem Schema des dekadenten Tyrannen ab. Diese teils differenziertere Betrachtungsweise entwickelte sich jedoch hin zu der simplifizierten, überakzentuierten Schwarzweißmalerei des 4. Jahrhunderts.

Die Dekadenztheorie

Gemäß der platonischen Dekadenztheorie, die den angeblichen Niedergang des Achaimenidenreichs beschrieb,48 erlebte Persien unter seinem Reichsgründer, Kyros dem Großen, seine Blütezeit.49 Unmittelbar nach seinem Tod setzte dann ein rapider Verfall ein, der sich in den Schlachtenverlusten gegen die Griechen manifestierte.50 Platon zufolge war der Grund die falsche Erziehung der Thronfolger: Im Harem von den königlichen Frauen und Eunuchen auf „medische Art“ – die in griechischer Sicht eine besonders luxuriöse Lebensweise im Gegensatz zur schlichteren persischen bezeichnete51 – erzogen, seien Kyros’ Erben zu verweichlichten, zügellosen Tyrannen entartet.52 Vom Wohlleben verdorben, kriegsuntauglich und hybrisbesessen verkörperten sie den Niedergang des gesamten Reichs. In summa hieß es, eine „Frauenerziehung“, wie sie die persischen Prinzen genossen hatten, führte dazu, dass die Männer selbst weibisch wurden.53 Betrachtet man weitere griechische literarische Quellen des 4. Jahrhunderts wie Ktesias’ Persika, entsteht der Eindruck, dass entweder effeminierte Könige oder Frauen als mächtige graue Eminenzen am Hof das Reich regierten.54 Mit achaimenidischen Realien hat dies wenig zu tun. So fällt auf, dass die Reliefs in Persepolis und die Münzbilder keine Darstellung der Königin zeigen, obwohl sie durchaus ein öffentliches Profil hatte, an höfischen Banketten und Audienzen teilnahm, den König zu seinen Schlachten begleitete und durch das Land reiste, um ihre eigenen Güter zu kontrollieren, wie die fortification tablets, „Walltäfelchen“, aus Persepolis belegen.55 Die dominierende Rolle in der persischen Politik, die ihr die griechischen Quellen zuschrieben, war indes eine Fiktion, um den Kontrast zur griechischen Staatenwelt stärker hervorzuheben.56

Will man die Frage beantworten, welche tieferen Gründe zu diesem Zerrbild in den literarischen Quellen führten, muss man sich vergegenwärtigen, dass im stadtstaatlichen Griechenland keine Handlungsräume für einen autokratischen Herrscher und sein dynastisches Image existierten. Das Königtum war in Hellas längst Vergangenheit; ein Alleinherrscher wie der Achaimenidenkönig mit seiner distanzierten und überhöhten Repräsentation, dem aufwändigen Zeremoniell und der eindrucksvollen Hofhaltung wurde daher in rein gräkozentrischer Sicht als luxussüchtiger, von Hybris geschlagener Tyrann abgeurteilt. Reichtum, Luxus, Prunk und lose Sitten gingen im Perserklischee der Griechen mit Gewaltherrschaft einher; der Verfassungsunterschied als zentrales Kriterium wurde mit kulturellen Vorurteilen kombiniert. „Luxus galt als weiblich und wurde von den Vertretern der traditionellen Ideale männlicher Arete als Gefahr der Verweichlichung angesehen.“57 Heleen Sancisi-Weerdenburg überschrieb in diesem Sinne eine ihrer Studien mit dem Titel: „Decadence in the empire or decadence in the sources?” und legte dar, dass es sich um Letzteres gehandelt habe.58

Klimatheorie

Die angebliche Feigheit und Kriegsuntüchtigkeit der Perser wurde in Griechenland auch naturwissenschaftlich erklärt. Ein Ansatz ist die Klimatheorie, wie sie in der hippokratischen Schrift Peri aeron hydaton topon (Über die Umwelt) dargelegt wird. Demnach prägten die Wetterverhältnisse die Natur des Menschen. Ein sanftes, gleichmäßiges und ausgeglichenes Klima wie in Asien schuf feige, sanfte, schlaffe und unkriegerische Einwohner.59 So werden etwa die Skythen in Peri aeron hydaton topon als ein schlaffer, krummbeiniger und aufgedunsener Menschenschlag mit breitem Hinterteil und rötlicher Hautfarbe geschildert,60 deren männliche Vertreter den Speer nicht richtig werfen konnten und auch zu faul waren, um häufig Geschlechtsverkehr zu haben.61 Mit dieser „Eunuchie skythischer Männer“62 wird die Kinderarmut bei den Skythenvölkern erklärt, die ewig im Winter lebten.63 Wilhelm Backhaus vermutet, dass im Gegensatz dazu in einer verlorenen Passage der Kinderreichtum der Ägypter mit dem sengend heißen afrikanischen Klima begründet wurde, das zu einem sexuell hemmungslosen Verhalten bei Tier und Mensch geführt habe.64 Ein Vergleich mit frühneuzeitlichen europäischen kulturellen Vorurteilen über die lateinamerikanische und afrikanische Urbevölkerung zeigt, dass diese stereotypen Klischees auch in der Beurteilung der Indianer auftauchten, die als effeminiert, faul und von verkümmertem Geschlechtstrieb galten, während die Afrikaner gemäß europäischer Vorstellung sexuell überaktiv waren.65 Eben dieser Vorwurf wird in Peri aeron hydaton topon auch den Ägyptern gemacht.66

Der Klimatheorie zufolge erzeugte nur der ständige Witterungswechsel einen regen, wachen Geist und kriegstüchtigen Körper.67 Das war in Europa der Fall, wo das Klima zwischen Gluthitze und Eiseskälte, Regen und Dürre schwankte. Damit brachte es mutige, willensstarke, kriegerische und arbeitstüchtige Menschen hervor, die von einem agonalen Geist beseelt waren.68 Dazu gesellte sich aber noch ein zweiter Faktor, der von gleichrangiger Bedeutung war: die Verfassungsordnung.69 Denn die Bewohner Asiens wurden von einem despotischen Großkönig versklavt. Klima und Verfassungsordnung ergänzten sich somit und schufen mutlose, schlaffe und kriegsuntaugliche Menschen. Ganz im Gegensatz dazu blühten unter der freiheitlichen Demokratie der Griechen Mut und körperliche Exzellenz auf.70

Einen Sonderfall stellten die ionischen Städte dar. In Kleinasien gelegen, waren sie zwar auch dem angeblich verweichlichenden Klima ausgesetzt, wurden aber von Griechen bevölkert, die unter persischer Hoheit in stadtstaatlichen Strukturen lebten. Diese griechischen Mikrokosmen im Achaimenidenreich wurden in der hippokratischen Schrift gesondert behandelt.71 Wie ambivalent das Ionierbild in der griechischen Literatur ausfiel, wird schon daran deutlich, dass Aischylos die kleinasiatischen Griechenstädte dem persischen Hoheitsbereich Asien zurechnet, Herodot hingegen dem Hellenikum.72 Die „traditionelle Antinomie zwischen Ionern und Dorern“73 wurde durch die Perserkriege aktualisiert und fand ihren Widerhall in den Historien,74 wenngleich Herodots Stellungnahme – er beschuldigt die Ionier der Kriegsuntüchtigkeit und Faulheit und führt das Scheitern der Ionischen Revolte darauf zurück75 – noch als verhältnismäßig milde bewertet wird.76 Anhänger der Klimatheorie konnten allerdings darüber spekulieren, ob die asiatische Witterung und die persische Hoheit nicht spurlos an den Ioniern vorübergegangen waren, sondern sie dem griechischen Geist des Mutterlandes entfremdet hatten. Dabei spielte für Herodot die ionische Gewöhnung an den persischen Herrn eine größere Rolle als das Klima, das bei seiner Weltsicht kaum ins Gewicht fällt: Er wirft den Ioniern vor, ihr Freiheitswille sei nicht stark genug gewesen und sie hätten lieber die Freiheit aufgegeben als ihre asiatische Heimat.77

Vor diesem theoretischen Hintergrund wird klar, weshalb zwei griechische Philosophen am Hof Alexanders des Großen in einen Streit über das Klima in Persien gerieten. Der Hofhistoriograph Kallisthenes hatte festgestellt, dass die Witterung viel kälter und rauer sei als in Griechenland. Sein Opponent Anaxarchos bestritt dies hartnäckig, worauf Kallisthenes ihn mit dem Argument widerlegte, dass er im Winter in Griechenland nur mit einem dünnen Mantel bekleidet draußen herumliefe, während er sich in Persien sogar zum Tafeln in drei Decken hülle.78 Was auf den ersten Blick wie eine Zänkerei um eine Lappalie aussieht, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als eine Grundsatzdiskussion um die Klimatheorie zwischen zwei Angehörigen verschiedener Philosophenschulen. Anaxarchos, dessen philosophische Zugehörigkeit aufgrund der spärlichen Quellen zu seiner Person nicht eindeutig geklärt werden kann,79 vertrat anscheinend die hippokratische Theorie und konnte daher nicht zugeben, dass auch die Perser einem wechselhaften und teilweise rauen Klima ausgesetzt waren. Damit hätte er das Klischee des durch die klimatischen Bedingungen verweichlichten Barbaren torpediert und sich in den Fallstricken einer Theorie verfangen, die der Realität nicht standhielt. Kallisthenes erachtete nun die Perser nicht minder als Barbaren und wollte sie durch seinen Widerspruch auch nicht in Schutz nehmen,80 machte ihr „Barbarentum“ jedoch nicht primär von den klimatischen Bedingungen abhängig. Als Angehöriger der peripatetischen Schule seines Verwandten Aristoteles, bei dem er aufgewachsen war,81 vertrat er einen anderen Ansatz als Anaxarchos: Der Gegensatz zum freien Hellenen war der „Sklave per Natur“, bestimmt durch den Faktor des logos (Wort, Verstand), der zugleich die Verfassungsordnung widerspiegelte, unter der man lebte.82

Aristoteles’ Theorie des „Sklaven per Natur“

Gemäß Aristoteles’ Theorie, die er in seiner Politik niederlegt, gab es Menschen, die zum Herrschen bestimmt waren – die Hellenen – und Menschen, die keinen logos besaßen, nur Befehlen gehorchen konnten, ohne sie wirklich zu verstehen,83 und daher zum Beherrschtwerden geboren waren: die Sklaven per Natur, physei douloi.84 Sie waren für die körperliche Arbeit geschaffen, während der Freie mit dem Verstand arbeitete.85 Mit diesen Sklaven ohne eigenständigen logos waren die „barbarischen“ Fremdvölker und insbesondere die Perser gemeint.86 Die politische Brisanz und die Möglichkeit der Instrumentalisierung, die dieser Theorie innewohnen, sind nicht zu verkennen. In einer Zeit, in der eine aktualisierte intellektuelle panhellenische Strömung, wie sie Isokrates vertrat, als Lösung für innergriechische Probleme den Krieg gegen den äußeren Feind Persien predigte, und Philipp II., in dessen Dienst Aristoteles stand, zum Persienfeldzug rüstete, konnte die Theorie vom Sklaven per Natur als ideologisch rechtfertigender Unterbau genutzt werden. Tatsächlich soll Aristoteles auf dieser theoretischen Grundlage seinem Schüler Alexander geraten haben, die Perser der makedonischen Herrschaft zu unterwerfen.87 Alexander war jedoch aus Gründen der Staatsräson gezwungen gewesen, die Herrschaftstraditionen seiner neuen Untertanen zu respektieren und teilweise auch zu adaptieren, um sein riesiges erobertes Vielvölkerreich überhaupt zusammenhalten zu können.

In der Politik geht Aristoteles auch auf körperliche Erkennungsmerkmale ein: „Die Natur hat außerdem die Tendenz, auch die Körper der Freien und der Sklaven verschieden zu gestalten …“88 Er spricht wohlgemerkt von der „Tendenz“ der Natur und setzt hinzu, dass sie durchaus trügerisch vorgehen und man nicht immer vom Aussehen auf den logos des Menschen schließen könne. Ein wichtigerer, untrüglicher Indikator als der Körper sei daher die Seele. Dennoch stellt gerade die in Aristoteles’ peripatetischer Schule entwickelte Physiognomie eine elementare Grundlage dar, um Dekadenz auch an phänotypischen Merkmalen festzumachen. In der gesamten Antike wirkte diese Lehre prägend. Herrscherporträts wie das Alexanders wurden danach ausgerichtet,89 Plutarch gestaltete seine Biographien berühmter Griechen und Römer entsprechend.90 Auf eine Formel gebracht lautete der Inhalt der peripatetischen Physiognomie: Der Charakter manifestiert sich im körperlichen Erscheinungsbild. Dass die Vorstellung von einer Wechselwirkung zwischen Aussehen, inneren Eigenschaften und Lebenswandel eine Tradition hatte, beweist ein Blick auf eine Passage der Hellenika des Sokratesschülers Xenophon aus dem frühen 4. Jh. v. Chr., in der die Hautfarbe als äußeres Symptom für einen dekadenten Lebenswandel behandelt wird.

Das Kriterium der Hautfarbe

Xenophon berichtet, dass der spartanische König Agesilaos während seines Persienfeldzugs seine Soldaten für die bevorstehenden Kämpfe motivieren wollte und dazu die Methode wählte, den persischen Feind verächtlich zu machen, um ihre Bedenken zu zerstreuen. Er zwang gefangene Perser, die als Sklaven verkauft werden sollten, sich vor seinen Truppen nackt auszuziehen. „Als die Soldaten nun sahen, dass ihre Haut weiß war, weil sie sich niemals auszogen, und ihr Körper weichlich und schlaff, weil sie immer im Wagen fuhren, kamen sie zu der Ansicht, der Krieg werde für sie nicht mehr bedeuten, als wenn sie mit Weibern zu kämpfen hatten.“91 Diese Passage der Hellenika vereint mehrere typisch griechische Denkweisen. Erstens signalisierte der Hinweis, dass die persischen Gefangenen sich niemals auszogen, dem hellenischen Publikum, dass sie keinen Sport trieben, da Griechen nackt zu trainieren pflegten.92 Sportliches Training gehörte aber unbedingt zur militärischen Übung, wie auch Platon forderte.93 Xenophon schildert die Begebenheit entsprechend im Kontext der sportlichen Exerzitien von Agesilaos’ Truppen in Ephesos und einer Prozession zu den Sportplätzen, wo sie eine Weihung an Artemis vornahmen.94

Zweitens stellte der Wagen, auf dem sich die Perser nach griechischer Vorstellung ständig herumfahren ließen, ein verbreitetes Symbol für den Orient dar, das vor allem in der bildlichen Kunst und auf der Theaterbühne eingesetzt wurde.95 Der Streitwagen war bei Griechen und Makedonen nicht gebräuchlich und wurde daher als Sinnbild der Fremdheit und östlichen Dekadenz bewertet: Statt zu reiten, ließen sich die persischen Adligen und ihr König fahren.

Drittens ist die weiße Haut Ausdruck eines geradezu universalen Klischees des „barbarischen“ Orientalen: die Effeminierung. Weiße Haut bürgte dafür, dass eine Person nicht Tag für Tag als Krieger und Athlet der Sonne ausgesetzt gewesen war. Die persischen Soldaten waren unter ihren Hosen und langen Ärmeln weiß geblieben. In der griechischen Vasenmalerei war weiße Haut ein farblicher Code zur Differenzierung zwischen den Geschlechtern: Die archaische schwarzfigurige Vasenmalerei stellte Frauen gemeinhin mit weißer Haut dar.96 In der späteren rotfigurigen Vasenmalerei war dies keine Regel mehr, doch wurden teilweise die Gesichter der Frauengestalten noch weiß gemalt.97 Vor diesem Hintergrund wird deutlich, weshalb der Hofmaler Alexanders des Großen, Apelles, ihn im Gegensatz zu seinem natürlichen, sehr hellen Teint mit dunklerer, bräunlicher Haut darstellte, wie Plutarch anmerkt.98 Apelles konnte seinen Auftraggeber, der sich als Kriegsheld und neuer Achilles profilieren wollte,99 schlecht mit einem Code der Effeminierung versehen. Alexanders Porträt war auf den leoninen Typus als viriles Ideal des Kriegerkönigs zugeschnitten, dessen Haupteigenschaften Jugendlichkeit, Tapferkeit, Energie, Willenskraft und militärische Exzellenz waren.

Die physische Gegensätzlichkeit von Hellenen und Barbaren wurde in der griechischen Vasenmalerei veranschaulicht und zugleich mit der Dichotomie von männlich und weiblich verknüpft. Der schön gestaltete, durchtrainierte, agonale, leistungsfähige nackte Körper des Griechen wurde mit dem verweichlichten, effeminierten Körper des Orientalen in langen Kleidern kontrastiert.100 Um es auf eine Formel zu bringen: „Greek culture was male, oriental culture was female.“101

Auch in der griechischen Dichtung zählte die symbolische Verknüpfung von weißer Haut und Verweiblichung zu den Standardelementen. Im 5. Jh. v. Chr. beschreibt Euripides den jungen Gott Dionysos folgendermaßen:102 „Du bist nicht hässlich, doch ein halbes Weib … Die Locken lang und nicht nach Ringerart, auf Wangen hingegossen, sehnsuchtsvoll, die weiße Haut seit langem wohlgepflegt, im Schatten, ohne jeden Sonnenstrahl …“103 Ein „halbes Weib“ zu sein fiel in das Schema der Dekadenztheorie und entsprach Dionysos’ Image in seinem Aspekt als Gott des Weins und seligen Überflusses. Als Sohn des obersten griechischen Gottes Zeus besaß er jedoch auch eine virile Seite. Seine Androgynität schwand, wenn er in Kriegszeiten ein Leoparden- oder Pantherfell anlegte und in den Kampf zog.104 Im Mythos bewährte er sich als erster Eroberer des Ostens.105 Die Kombination dieser Aspekte – der wohltätige Überfluss und die kriegerischen Erfolge in der Ostexpansion – gestalteten Dionysos daher zu einer idealen Leitfigur der hellenistischen Herrscher, die ihn häufig in ihre mythischen Genealogien eingliederten.106

In der griechischen bildlichen Darstellung spielte der Topos der effeminierten persischen Gegner ebenfalls eine Rolle. Ein berühmtes Beispiel ist die sogenannte Eurymedon-Kanne.107

Die Eurymedon-Kanne

Auf einer attischen rotfigurigen Weinkanne aus dem 5. Jh. v. Chr., die wohl im Jahrzehnt nach Aischylos’ Persai entstand,108 ist auf der einen Seite ein persischer Bogenschütze zu erkennen, der in gebückter Haltung steht und kapitulierend die Hände hebt. Wie in Aischylos’ Drama trägt auch er einen leeren Köcher als Symbol seiner Niederlage bei sich. In diesem Fall handelt es sich vermutlich aber nicht nur um ein Sinnbild des verlorenen Krieges und der Wehrlosigkeit, sondern auch um ein Symbol der persischen Dekadenz, da er anzeigte, dass der Perser mit Pfeil und Bogen gekämpft hatte. In griechischer Perspektive stellte der Bogen die charakteristische persische Waffe dar und war negativ konnotiert, da es sich um eine Fernwaffe handelte. Nicht das Kriterium des technischen Könnens der Bogenschützen stand in griechischer Sicht im Vordergrund, sondern die angebliche Feigheit der orientalischen Kämpfer, die nicht Mann gegen Mann mit dem Speer antraten, wie es das griechische Heldenideal vorschrieb.109 Die Argumentationskette, die sich daraus ergibt, lautet: Aus Dekadenz resultiert Kriegsuntüchtigkeit, die sich in der Verwendung „unmännlicher“ Waffen manifestiert und zur prompten Niederlage gegen „männliche“ Kämpfer wie die Hellenen führt. Dieses Bild ist ebenso platt wie plakativ. Dreht man die Kanne, sieht man die „Pointe“ auf der anderen Seite: Hinter dem Perser befindet sich ein Grieche, der unter seinem Mantel in heroischer Nacktheit präsentiert ist und seinen Phallos wie eine Waffe in der Hand hält. „His lack of underclothing is probably intended to contrast Greek virility with Oriental effeminacy.“110 Er bewegt sich auf den Perser zu und steht offensichtlich im Begriff, ihn zu penetrieren.111 Die Inschrift zwischen den Figuren macht zusätzlich deutlich, was geschehen wird. Der Grieche, der wohl als eine Personifikation des hellenischen Sieges unter Führung Kimons über die Perser um 465 v. Chr. am kleinasiatischen Fluss Eurymedon – also in ihrem eigenen Herrschaftsgebiet – zu betrachten ist,112 verkündet: „Eurymedon eimi“ („Ich heiße Eurymedon“). Der Perser erläutert seine Haltung: „kybade hesteka“ („Ich stehe vornüber gebeugt“).113

Abb. 1: Eurymedon-Kanne mit der sexualisierten Darstellung eines besiegten „Barbaren“

Der Topos des weibischen persischen Gegners, der als erniedrigt und hoffnungslos unterlegen erscheint, wird hier auf die Spitze getrieben,114 die militärische Unterwerfung mittels sexueller Termini ausgedrückt. Schon im alten Ägypten ist diese Art der Abwertung bezeugt. So ließ Amenophis II. verkünden, er habe die gegnerischen Könige vergewaltigt.115 Herodot berichtet von Pharao Sesostris, er habe in kampflos eingenommenen Städten bei seinen Siegesdarstellungen auf Stelen das Zeichen einer Vagina hinzugesetzt, um die Gegner als feige zu etikettieren.116 Dieser Kommentar reflektiert allerdings griechische Vorstellungswelten und gilt nicht als ägyptische Realie.117 Hypervirilität in der Autodefinition stand dem konstruierten Gegenbild des effeminierten Feindes gegenüber. Die Diskreditierung des Gegners als effeminiert und kriegsuntüchtig blieb ein fester Bestandteil der antiken östlichen Barbarentopik und zog sich wie ein roter Faden durch die literarischen Quellen. So verunglimpft der athenische Redner Isokrates im 4. Jahrhundert in seinem Aufruf zum Persienkrieg die Gegner als „Barbaren, die wir als unmännlich und unerfahren im Krieg und vollkommen entartet durch ihr luxuriöses Leben anschauen“.118

Auch in Rom war die Anschuldigung, dem Feind mangele es an Virilität, eine gängige Waffe im rhetorischen Arsenal, etwa wenn der augusteische Geschichtsschreiber Livius spottet, Alexander habe im „unkriegerischen Asien“ gleichsam gegen Weiber gekämpft.119 Dass sich der Topos auch in der Innenpolitik einsetzen ließ, zeigt sich an der Polemik gegen Marcus Antonius, der in den politischen Konflikten nach Caesars Tod von seinen Gegnern als dekadent und verweiblicht an den Pranger gestellt wurde. Cicero beschimpft ihn, er habe die Toga als Lustknabe zum Weiberrock gemacht und sich von seinem Gönner das Gewand einer Ehefrau anziehen lassen.120 Octavian, der spätere Kaiser Augustus, nahm Marcus’ Antonius Ostpolitik und seine Verbindung mit Kleopatra VII. als Steilvorlage, um ihn in einer Hetzkampagne als einen weibischen, unter dem Diktat einer Frau stehenden, von östlichen Lastern korrumpierten Tyrannen zu verunglimpfen.121

Kleidung als Code der Dekadenz

Die Eurymedon-Kanne ist auch ein Beispiel dafür, dass die Kleidung einen Teil der Dekadenz-Codierung ausmachte. Während der Grieche nur einen Mantel trägt, der ihn in Kriegsmetaphorik als Jäger ausweist,122 ist sein Gegenüber in ein aus Tierhaut gefertigtes Gewand gehüllt, das seine Arme und Beine bedeckt. Da die von den Medern übernommenen Beinkleider der Perser den Griechen als weibisch galten,123 ist die symbolische Funktion von Textilien in der bildlichen und literarischen Überlieferung nicht zu unterschätzen und spiegelt kulturelle Vorurteile wider. Da die Körperlichkeit einen bedeutenden Faktor in der griechischen Dekadenztheorie darstellte, war auch entscheidend, was auf dem Körper getragen wurde. Kleidung galt als ein Gradmesser von Dekadenz und war fester Bestandteil der griechischen Barbarentopik. Dafür lassen sich viele Beispiele finden.

So beschreibt Xenophon, wie Kyros die medische Tracht anlegte und damit Prunk und Pracht adaptierte, die er zuvor gemieden hatte.124 Neben der Proskynese, der kniefälligen Verbeugung vor dem Großkönig als Bestandteil des achaimenidischen Hofzeremoniells,125 welche die Griechen irrtümlich für die göttliche Verehrung des Herrschers durch seine devoten Untertanen hielten, war die Königstracht in griechischen Augen ein signifikantes Merkmal des Perserkönigs, das seinen verderblichen Hang zu Luxus, Prunk und Gold deutlich zeigte. Geht man von den persischen politischen Strukturen aus, stellt sich die Prachtentfaltung als Repräsentationstechnik zur Stärkung der königlichen Autorität dar.126 Dieser Aspekt der Königstracht wurde von der moralisierenden griechischen und lateinischen Geschichtsschreibung jedoch im Wesentlichen ausgeblendet. Curtius Rufus, der Verfasser der einzigen römischen Alexandergeschichte, tradiert den in der griechischen Tradition entwickelten Topos, dass ein prunkvolles persisches Königsgewand ein äußerliches Zeichen von Dekadenz und Verweichlichung darstellt. Er beschreibt detailliert das Erscheinungsbild Dareios’ III., des letzten Achaimenidenherrschers, dem er immerhin zubilligt, von Natur aus milde und umgänglich gewesen zu sein, bis er von der Fortuna korrumpiert wurde,127 und betont den unbeschreiblichen Luxus seiner Aufmachung: Er trug eine purpurgesäumte weiße Tunika, einen goldenen Mantel mit goldgestickten Falken und einem goldenen Gürtel, den er laut Curtius’ polemischer Schilderung „wie eine Frau“, muliebriter, umgelegt hatte.128 Auch der Streitwagen des Königs wird als Prunkstück aus Gold und Silber mit aufwändiger Ornamentik und einem mit funkelnden Gemmen verzierten Joch dargestellt.129130131