Helle Helle

Färseninsel

Roman

Aus dem Dänischen
von Flora Fink

DÖRLEMANN

Die Originalausgabe
»Ned til hundene« erschien 2008
bei Samleren in Kopenhagen.

Die Publikation des vorliegenden Romans wurde
großzügig vom Danish Arts Council unterstützt.
Der Verlag bedankt sich herzlich hierfür.

eBook Ausagbe 2017
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Copyright © 2008 Samleren, Kopenhagen
Copyright © 2015 Dörlemann Verlag AG, Zürich
Satz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-908778-64-6
www.doerlemann.com

1

Ich suche einen guten Ort, um zu weinen. Einen solchen zu finden ist gar nicht leicht. Ich bin mehrere Stunden mit dem Bus gefahren, jetzt sitze ich auf einer wackeligen Bank draußen an der Küste. Hier gibt es keine Fähren. Nur einen Kahn, der Vieh zu einer unbewohnten Insel befördert, hin und zurück.

Ich wohne in einem Einfamilienhaus mit vielen Fenstern in Richtung Straße. Vielleicht hätte es auch schon geholfen, ein paar Fenster zu putzen. Andererseits kann man vor lauter immergrünem Gestrüpp sowieso nicht hinaussehen. Der letzte Sommer ist feucht gewesen, das Gestrüpp wie wahnsinnig gewachsen. Jetzt ist es Winter, und ich werde nicht mehr nach Hause zurückkehren. Um diese Zeit schlafe ich gewöhnlich ein wenig auf dem Sofa. Bjørnvig vereist eine Warze.

Es windet kräftig. Als ich mit meinem Rollkoffer aus dem Bus stieg, schlug mir der Wind ins Gesicht. Der Himmel über dem Meer ist dunkelgrau. Auf dem Weg unten am Wasser kommt ein Mann mit sichtlich großer Mühe auf einem Rad von rechts angefahren. Er trägt einen Arbeitsoverall. Jedes Mal, wenn er das Pedal nach unten drückt, beugt er sich tief über den Lenker. So fahre ich auch Rad, deshalb lasse ich es lieber sein. Er hält an und steigt ab. Blickt auf das Meer hinaus, stemmt die Hände in die Seiten. Er weiß natürlich, dass ich hier sitze. Ich sehe hinunter auf meine Hände in den Schweinslederhandschuhen.

Er hat sich wieder auf das Rad gesetzt und folgt weiter dem Küstenweg. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis er wendet und vom Weg abfährt, an dem kleinen Schuppen vorbei und zu mir herunter. Er schiebt das letzte Stück. Er hat dunkles und dünnes Haar. Aber er ist gar nicht so alt, ein paar Jahre jünger als ich.

– Da sitzt es sich gut, sagt er.

– Ja.

– Sie werden wohl noch lange da sitzen.

– Ich weiß, sage ich aus meinem Schal heraus.

Wir schauen beide zu dem Fahrplan und danach auf den Rollkoffer.

– Naja, dann viel Vergnügen, sagt er und steigt auf sein Rad. Er fährt im Sitzen los, hebt zwei Finger zu einem Gruß, auf und ab. Jetzt hat er den Wind im Rücken, er ist schnell fort.

Ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe, ein Croissant mit Geflügelsalat. Beim Essen behalte ich die Handschuhe an, die Teigflocken fallen mir auf den Schoß, auf meinen Mantel. Ich bin 42 Jahre alt und noch immer nicht in der Lage, aus Fehlern zu lernen. Ich beiße gleich in den dicken Mittelteil, und Servietten habe ich auch keine mitgenommen. Ich stehe auf und fege die Brösel vom Mantel, habe schließlich an beiden Ärmeln Mayonnaise. Meine Beine sind ganz steif, und ich setze mich wieder. Es wird langsam dunkel, der Wind rüttelt am Dach des Wartehäuschens.

Er kommt zurück, jetzt mit einer Frau, beide zu Fuß. Wie er trägt auch sie einen Overall. Sie halten einander an der Hand und lassen erst los, als sie vor mir stehen.

– Hallo, sagt sie. Sie wissen, dass erst morgen wieder ein Bus fährt, oder? Hier kommt nur einer am Tag.

– Ja. Ich habe es gesehen.

– Sie warten vielleicht auf jemanden?

– Nein, eigentlich nicht.

– Möchten Sie telefonieren?

– Nein, danke, das ist nicht nötig.

– Wir heißen Putte und John, sagt sie. Sie können nicht einfach hier sitzen bleiben. Es soll einen kleinen Orkan geben.

– Das können wir nicht zulassen, sagt er.

Sie hieven mich hoch, halten mich jeweils an einem Arm. Er greift nach dem Handgriff des Koffers und zieht ihn hinter uns her. Die Rollen lärmen auf dem Asphalt. Sie wohnen in einem kleinen Haus ohne Vorgarten, der Putz sieht ganz frisch aus. In jedem Fenster ein runder Efeu und ein Windlicht. Sie öffnet die Haustür. Der Flur ist schmal, mit einer Kiefernholztreppe am hinteren Ende. Sie ziehen ihre Schuhe aus, und wir gehen ins Wohnzimmer. Im Kamin brennt ein Feuer. Ich bleibe mitten im Raum stehen. Sie geht hinaus und kommt kurz darauf mit einem Glas Wasser zurück, drückt es mir in die Hand.

– Warum habt ihr Overalls an?, frage ich.

– Wir kommen gerade von den Hunden, sagt sie.

Er hat den Fernseher angeschaltet und sitzt jetzt auf dem Sofa. Gerade kommt der Wetterbericht, er beugt sich weit nach vorne.

– Glaubst du, der Zaun hält?, fragt sie.

– Sonst lassen wir uns was einfallen, sagt er, und zu mir: Setz dich doch.

Ich trinke mein Wasser, während sie sich über dies und jenes unterhalten. Ich kriege nicht wirklich mit, was sie sagen. Putte steht auf und holt eine Lokalzeitung. Sie blättert darin, die Beine hochgelegt, sie hat etwas kräftige Oberschenkel. John sieht ihr dabei über die Schulter und brummt.

– Das hätten sie schon letztes Jahr tun sollen, sagt Putte und schüttelt den Kopf.

– Klar, aber naja, du weißt doch, sagt John.

– Trotzdem.

Sie sehen auf diese Weise die gesamte Zeitung durch. Dann faltet sie sie zusammen und schlägt ihm damit leicht aufs Knie:

– Und, was gibt’s heute?, fragt sie.

– Con Carne.

John schneidet Zwiebeln und schnieft aus der offenen Küche herüber, Putte knöpft ihren Overall auf und wirft ihn über einen Stuhl. Darunter trägt sie Leggings und ein weites kariertes Hemd. Skisocken über den Leggings. Sie nimmt eine Zigarette aus einer Schachtel auf dem Regal, zündet sie an und geht damit zu John, steckt ihm die Zigarette in den Mund.

– So heult man nicht, sagt sie zu mir.

Sie setzt sich und schaut zum Fernseher. Gähnt ein wenig. Legt sich halb aufs Sofa, greift nach einer Decke und zieht sie über sich. Wir sehen Regionalnachrichten. Sie schläft ein. Ich betrachte ihr Gesicht, sie ist vielleicht nur halb so alt wie ich.

Auch ich schlafe auf meinem Stuhl ein. Als ich aufwache, deckt John gerade den Esstisch. Er stellt Salz und Pfeffer bereit und faltet die Servietten ordentlich einmal in der Mitte. Er weckt Putte, indem er mit zwei Fingern an ihre Stirn klopft.

– Willst du nicht das warme Zeug ausziehen? Den Schal, zum Beispiel?, sagt er zu mir.

– Hmja.

Ich sehe an mir herunter: An meinem Mantel sind nicht nur Knöpfe, sondern auch ein Reißverschluss. Im Reißverschluss sitzen ein paar Fransen des Schals fest.

– Darf ich die Toilette benutzen?, frage ich.

– Nur zu.

Er zeigt über seine Schulter aus der Küche hinaus und macht mit den Zähnen ein zischendes Geräusch.

– Tsch. Dahinten.

Beim Essen erzählt Putte eine lange Geschichte von ihrem Vater, der offenbar in Næstved wohnt. Er hatte versucht, ein Medikament für Puttes Bruder zu besorgen, ohne dass der davon wusste, unter den Umständen wollte die Ärztin natürlich kein Rezept ausstellen, und da klagte der Vater über Atemnot und Kribbeln in den Fingern und musste gleich ein Glas kaltes Wasser haben, aber als die Ärztin ihm dann noch eine Plastiktüte von Lidl hinhielt, durch die der Vater Luft holen sollte, schlug er ihre Hand weg und sagte:

– Kommen Sie mir bloß nicht mit so einem Scheiß.

Putte schämt sich für ihren Vater, sie findet, dass er sich wie in kleines Kind aufführt. John verteidigt ihn:

– Und sie kennt doch Eskild.

– Ja, aber trotzdem. Ibber ist so was peinlich.

Ibber ist der Bruder, so viel verstehe ich. Putte schüttelt den Kopf und trinkt einen Schluck Milch. John trinkt Wasser, wie ich.

– Schmeckt es dir? Du musst nicht aufessen, sagt Putte zu mir, und einen Augenblick später:

– John ist unser bester Koch. Einen besseren Schweinebraten als seinen bekommst du hier in der ganzen Gegend nicht.

– Ach, ich weiß ja nicht, sagt er.

Die Schüssel ist leer. Putte wischt sie mit dem Finger sauber und steckt ihn in den Mund. Es sieht nicht so aus, als würden sie nach dem Essen rauchen. John steht auf und kocht Kaffee. Putte betrachtet seinen Rücken und spielt an ihrem Zopf herum. Ich sehe auf meine Hände, ich weiß nicht, was das ist mit diesen Händen.

– Wir gehen früh ins Bett, sagt Putte. Du kannst auf dem Sofa schlafen. Da liegt man gut.

– Wir holen gleich die Decke vom Speicher, sagt John aus der Küche. Dann können wir sie noch ein bisschen vor den Kamin hängen.

– Jetzt wäre es wohl angebracht zu sagen, dass ihr euch nicht zu viel Mühe machen sollt.

Putte verzieht keine Miene:

– Ach, wir haben sowieso nichts zu tun. Wir pflegen nur unsere Schleudertraumen.

– Wir freuen uns doch, wenn wir noch was anderes im Leben haben, sagt John, und dann lachen sie beide herzlich. John stellt eine Tasse vor mich hin, er legt einen Doppelkeks auf das Platzdeckchen und noch einen obendrauf und noch einen und noch einen. Jetzt zieht Putte ihn auf:

– Noch einen, John. Dann können wir Jenga spielen.

– Ich möchte gerne rüber auf die Insel, sage ich.

– Welche Insel denn?, fragt Putte und nimmt den obersten Keks.

– Die hier draußen?

– Die kleine gleich dort drüben.

– Das ist die Färseninsel, sagt John.

– Jetzt?, fragt Putte.

– Die wird als Viehweide genutzt. Sie gehört Pilegård.

– Da ist eine kleine Hütte hinter den Bäumen.

John nimmt einen Doppelkeks und noch einen und spricht mit Keks im Mund:

– Das ist ein hübsches Fleckchen.

– Nicht, wenn gerade Vieh drüben ist, sagt Putte.

– Kann man die Hütte vielleicht mieten?, frage ich.

John lacht, es staubt ein wenig aus seinem Mund.

– Pilegård vermietet auch seine alte Mutter, wenn einer sie haben will.

– In der einen Richtung ist Pilegårds Geldbeutel immer offen, sagt Putte, jetzt staubt auch sie.

– Willst du keinen Keks? Du bist mir vielleicht eine Dame.

– Ich gehe jetzt die Decke holen, sagt Putte und steht auf, der Zopf schwingt hin und her.

– Nein, das bin ich leider nicht. Und nein, danke, sage ich.

– Na, dann ist das wohl so, sagt John und kratzt sich unter dem Overall an der Brust.

2

Ich liege auf ihrem Ecksofa, mit den Füßen zur Ecke hin. Es bläst kräftig draußen, der Wind pfeift um das Haus, und das Licht der Straßenlaterne bewegt sich unregelmäßig durchs Wohnzimmer. Die Bettwäsche riecht nach Weichspüler. Von oben kommen jetzt keine Geräusche mehr. Zuerst hörte ich noch ihre Stimmen wie zwei verschiedene Tonarten, ohne Wörter ausmachen zu können. Sie haben lange gesprochen, einmal gelacht. Nach und nach wurden die Pausen zwischen den Sätzen dann immer länger. Ein Satz und eine Antwort und eine kurze Antwort. Pause. Ein kurzer Satz. Pause. Antwort.

Ich schalte die Wandleuchte über dem Sofa an und setze mich halb auf. Strecke mich nach dem Rollkoffer, ziehe ihn zu mir und öffne ihn. Ich habe meine wollene Unterwäsche mitgenommen, wusste ich es doch. Und ich habe auch ein paar Halstücher eingepackt. Ich kann mich nicht erinnern, fünf Fusselrollen in den Koffer gelegt zu haben, aber irgendetwas habe ich mir dabei wohl gedacht. Ich betrachte eine Weile meine Kniestrümpfe. Vier Paar. Und auch ein Paar von Bjørnvigs langen Strümpfen, sie sind ein bisschen schmutzig. Er trägt sie in seinen Gummistiefeln, sonst hat er meistens weiße Sandalen an.

Ich höre Schritte im Schlafzimmer. Danach auf der Treppe, dann wird die Tür zum Wohnzimmer vorsichtig geöffnet. Es ist Putte, im Nachthemd und mit offenen Haaren.

– Wollen wir vielleicht Uno spielen?, fragt sie. Da kann ja kein Mensch schlafen.

Sie weist mit einem Nicken nach draußen, der Sturm fegt jetzt durch die Straße.

– Können wir.

Ich schiebe den Koffer wieder zurück und setze mich jetzt ganz auf. Putte rückt den Tisch näher zum Sofa und zündet Teelichter an. Die Karten liegen ganz oben in der großen grüngestrichenen Truhe.

– Da drin sind unsere ganzen Spiele, sagt Putte. Insgesamt 72. Die meisten sind Puzzles, die wir schon zusammengebaut und wieder auseinandergenommen haben, aber wir haben auch viele Brettspiele.

– Ich weiß nicht, wie man Uno spielt.

– Hast du keine Kinder?

– Keine eigenen.

– Aber im Bekanntenkreis?

– Was?

– Na, Kinder.

– Ein paar.

– Und die spielen doch sicher auch Spiele, oder?

– Manchmal spielen sie wohl schon irgend so was.

– Das ist dann sicher Uno. Das ist ein richtiges Kinderspiel.

– Sie sind fast keine Kinder mehr.

– Ach so. Sie sind also schon groß.

– Ja.

– Dann spielen sie wohl eher nicht Uno.

Sie erklärt mir die Regeln, die sich mir aber so gar nicht erschließen wollen. Und so fangen wir einfach an und besprechen jeweils, welche Karte ich als Nächstes ausspielen soll:

– Jetzt kannst du eine grüne oder eine Sechs drauflegen, sagt sie.

– Jetzt kannst du eine blaue drauflegen, oder du wünschst dir eine andere Farbe.

Draußen poltert es. Putte sagt, das seien die Weinfässer, in denen sie Regenwasser sammeln. Das eine ist beinahe leer und mit einem Deckel verschlossen, es schlägt jetzt gegen das andere. Die Fässer sind weitgereist, aus Ungarn. Die Frau, die hier einen Gemischtwarenladen hat, in einer alten Tankstelle, importiert sie direkt, Putte arbeitet für sie. Zuerst hatten sie auch Dauerwürste und geräucherten Aal im Sortiment, aber die Leute beklagten sich über den Beigeschmack von Motoröl. Jetzt verkaufen sie Sachen aus der ganzen Welt und Fuglebjerg. Gebrauchtes Geschirr und Bettwäsche. Das ganze Jahr über Gartenzwerge. Kleine Gegenstände aus Blech.

– Das ist wohl eher nichts für dich, sagt sie.

– Ich mag Gartenzwerge sehr gerne, sage ich.

– Um diese Jahreszeit haben wir nur Freitag-Samstag-Sonntag geöffnet. Aber jetzt weißt du es, nur für den Fall. Es ist neun Kilometer die Landstraße runter. An der Kreuzung hinter dem Kreisverkehr.

– Das werde ich mir merken.

Irgendwann schlafe ich fast ein, während Putte die Karten mischt. Sie sieht auf, zu mir und danach hinüber zur Wanduhr, es ist Viertel nach zwei.

– Jetzt wird es wohl wirklich Zeit, sagt sie und sammelt die Karten ein, legt sie in die Schachtel und diese dann ganz oben in die Truhe.

– Wir müssen schlafen. Hoffen wir, dass das Haus morgen noch steht. Gute Nacht.

– Gute Nacht.

– Ja, also, dann gute Nacht.

– Gute Nacht.

Sie bleibt in der Tür stehen und schaut mich an. Hebt schließlich ihre Hand zu einem Gruß und schaltet auch die letzte Lampe auf dem kleinen Ausziehtisch aus. Ich lege mich auf die Seite und ziehe mir die Decke ganz über den Kopf, der Sturm ist eine ferne Unruhe, ein gutes Stück weit weg, die Beine werden schwer.

Hier bin ich nun also. In einem kleinen frisch verputzten Haus an der Küste, bei zwei hilfsbereiten Menschen auf einem Ecksofa. Neben einer alten grüngestrichenen Truhe. Es wäre doch eine Möglichkeit, die Truhe zu leeren und den eigenen Körper hineinzulegen, bis die Atmung zum Stillstand käme, aber andererseits, was für ein Aufwand mit all den Brett- und Kartenspielen. Das Dach ächzt unter dem Orkan. Ich will das ja auch gar nicht. Ich drehe mich auf dem Sofa um. Der starke Geruch von Weichspüler. Freundliche Fremde. Die Möglichkeit, in einen Bus zu steigen und später in einen anderen. Hinterher bin ich auch nicht schlauer, das kommt noch.

3

Wenn Bjørnvig sich konzentriert, kommt tief aus seiner Kehle ein leiser brummender Laut. So schlägt er in einem Telefonbuch nach oder wählt ein Steak aus. Ich stelle mir den Laut vor, wenn er die Auswüchse und Muttermale der Patienten betrachtet. Die Praxis liegt hinter dem Marktplatz und besteht aus zwei Räumen. Wartezimmer und Behandlungszimmer. Im Wartezimmer sitzt Anja mit ihren Extensions hinter der Empfangstheke. Wenn sie krank ist oder einen Tag freinehmen will, kommt Gitte. Auch sie hat Extensions. Sie sind beide 29 und hatten früher mit widerspenstigen Fußwarzen zu kämpfen. Zehn Jahre lang waren sie zusammen in einer Klasse, nach der Schule ging Anja bei einem Buchdrucker in die Lehre, vertrug aber die Druckerschwärze nicht. Und so war es Glück im Unglück, dass sie diese Warzen bekam und Bjørnvig kennenlernte. Sie ist sehr glücklich mit ihrer Arbeit. Sie hat eine lächelnde Stimme, ist am Telefon immer gut gelaunt. Das ist mehr, als man von mir sagen kann. Manchmal rufe ich an, um Bjørnvig zu bitten, mir vom Einkaufen etwas mitzubringen. Schokolade oder Gesichtswasser. Zigaretten, als ich noch rauchte.

Anja und Gitte haben schon ausführlichst über ihre bevorstehenden dreißigsten Geburtstage gesprochen. Sie sind Teil einer Kultur, die einen gewissen Alte-Jungfern-Spott wie als dicke Damen verkleidete Öltonnen inkludiert. Keine von beiden ist verheiratet. Gitte hatte immerhin acht Jahre lang eine Beziehung. Sie hat zusammengerechnet, wie oft sie und ihr Freund sich in dieser Zeit küssten, und kam auf knapp über fünftausend Mal. Das berichtete Bjørnvig bei belegten Broten am Couchtisch, im Durchschnitt weniger als zwei Küsse täglich. Wir hatten beide Roastbeef auf dem Brot, Bjørnvig mag seines ohne Röstzwiebeln. Ihn stört der Nachgeschmack, an Röstzwiebeln habe man noch den ganzen restlichen Tag seine Freude, sagt er so vollkommen ohne Freude.

Ich hatte selbst für kurze Zeit Extensions. Das war gebleichtes Naturhaar aus Indien, ich bekam es innerhalb einer Woche eingearbeitet und auch wieder entfernt, es kostete beinahe viertausend Kronen. Zuerst lag ich ein paar Tage wie eine wallende Meerjungfrau auf dem Sofa. Am Donnerstag fuhr ich dann nach Fünen und hielt in meinem Hosenanzug einen Vortrag, wobei ich, mitten in meinen Ausführungen über Botschaft und Stilmittel, versehentlich indisches Haar im Wert von mindestens fünfhundert Kronen von meinem Hinterkopf zupfte. Danach gab es Kaffee, die Muffins waren reichlich pappig.

Bjørnvig und ich sind nicht verheiratet. In dem Punkt habe ich zum Glück nicht meinen Willen bekommen, und er macht auch noch immer sein brummendes, kehliges Geräusch. Ich kann doch nicht steuern, was ich selbst nicht in der Hand habe, sagte er, als ich mich zuletzt beklagte. Er war gerade mit einem Geschenk für mich nach Hause gekommen, einer Gedichtsammlung aus den Achtzigern, deren Seiten noch nicht einmal aufgeschnitten waren, er saß am Couchtisch und trennte die Blätter, damit ich mich zumindest darum nicht kümmern musste, ich habe im Moment ja so viel um die Ohren.

4

Am Morgen poltern die Fässer wie verrückt. Oben im Schlafzimmer hören sie Radionachrichten. Es ist jetzt kalt im Wohnzimmer, das Feuer ist längst ausgegangen. Das ganze Haus riecht nach Kaffee, was mir ein Rätsel ist, bis John mit einer Tasse für mich in der Tür steht:

– Wir haben eine extra Kaffeemaschine im Schlafzimmer. Hier. So kann der Tag ordentlich starten.

– Beginnen heißt das, ruft Putte von oben.

– Wegen dem Orkan fährt der Bus bis auf weiteres nicht, sagt er. Sie raten sogar davon ab, unnötig das Haus zu verlassen. Magst du Toast?

– Ist es so schlimm?

Er nickt. Er trägt Thermokleidung. Er kniet sich vor den Kaminofen und macht Feuer. Stellt zwei Briketts hochkant und legt ein drittes darüber. Knüllt drei Seiten Zeitungspapier zusammen und steckt es in den Hohlraum zwischen den Briketts, zündet ein Streichholz an, verstellt den Schieber. Es lodert gewaltig, der Sturm zerrt an den Flammen. Dann steht er auf und wischt sich die Hände ab. Die Bartstoppeln sind im Laufe der Nacht etwas gewachsen.

Schnelle Schritte kommen die Treppe herunter, Putte schlägt die Tür auf und geht zu meinem Fußende, schlüpft unter die Decke und lächelt:

– Guten Morgen.

Sie schüttelt sich. Sie beginnt, ihre Haare zu flechten, am Handgelenk hat sie einen Haargummi.

– Wie sehen denn deine Pläne aus?, fragt sie mich. Fürs Erste kommst du wohl nirgendwo hin.

– Naja, Pläne.

– Was die Insel angeht, können wir ja wirklich schauen, dass wir bald mit Pilegård reden, aber bei dem Wetter kannst du unmöglich da rüber.

– Wir müssen auch dafür sorgen, dass man die Hütte irgendwie heizen kann, sagt John.

– Da muss es schon irgendeinen Ofen geben, glaube ich. Kannst du dich nicht mehr erinnern, dass wir damals Rauch von drüben gesehen haben?

– Das kann auch einfach ein Feuer draußen im Freien gewesen sein.

– Ich bin mir sicher, dass es da einen kleinen Kachelofen gibt, sagt Putte.

Wir essen am Couchtisch, Putte und ich noch immer halb unter der Decke. Ich trage den Hausanzug, in dem ich auch geschlafen habe. Ich habe zwei, aber nur den einen mitgenommen, er war eigentlich einmal weiß. Ich habe diese Anzüge recht häufig an, ich weiß nicht, was so schwer daran sein soll, aus so einem Hausanzug zu schlüpfen. Putte hat reichlich Appetit. Sie hält sich beim Essen eine Serviette unters Kinn, die Brösel rieseln darauf herab:

»So sparen wir uns einen Teller.«

Es gibt frisch gerösteten Toast. Es ist lange her, dass ich Toast gegessen habe. Jeden zweiten Tag holt Bjørnvig morgens ein großes Kastenweißbrot ohne Mohn. Es ist so voller Luft, dass er es beim Schneiden auf dem Brett ganz flachdrücken kann. Wenn ich schon auf bin, setze ich mich zu ihm und schaue zu. Wenn eine Scheibe geschnitten ist, dehnt sie sich wieder zu normaler Scheibengröße aus. Er isst sein Brot mit einer dicken Schicht Apfelgelee, ich weiß nicht, woher er das hat. Er geht ein paarmal in der Woche einkaufen und kommt dann am späten Nachmittag mit vollen Tüten nach Hause. Er packt aus und räumt ein. Ich kann ihn von meinem Sofa aus sehen. Ich mag mein Sofa sehr, auch wenn unten die Federn hervorgucken. Bjørnvig hat sich an ihnen gestochen, als er nach dem Tortenheber von den Herrschaften in Slagelse suchte. Unglücklicherweise atmete er dort unten ein, danach musste er sich von irgendjemandem einen Inhalator leihen.

– Ich habe schon manchmal einen ganzen Abwasch weggeworfen, sage ich.

Sie essen beide weiter, Johns Zähne knirschen ein wenig. Dabei erfordert das Toastbrot nicht viel Kaukraft, und er taucht es zudem noch in seinen Kaffee. In seiner Tasse schwimmen ein paar Brösel auf der Oberfläche.

– Das ist doch nur vernünftig, sagt er und lacht.

– Wieso das denn?, fragt Putte.

– Naja, so musste sie immerhin nicht abspülen.

Er lacht weiter, und Putte lacht mit, sie knüllt die Serviette zusammen und wirft sie in Richtung Kamin, sie landet im Korb mit den Briketts. Eine starke, trockene Hitze erfüllt das Wohnzimmer, beinahe ein Geruch von Sauna, das Feuer brennt ordentlich.

– Man kann aber nicht von jemandem, der im Raum ist, als sie sprechen, sagt Putte.

– Naja, nein. Schon richtig.

– Das macht doch nichts, wirklich, sage ich.

Als wir den Tisch abgeräumt haben, schlüpft John mit seiner Thermokleidung in den Overall. Er setzt eine Pelzmütze mit Ohrenklappen auf, zieht sie tief herunter und schneidet eine Grimasse, Putte klopft ihm oben auf die Mütze.

– Ich komme mit, sagt sie, und zu mir:

– Du auch? Willst du dir eine Mütze leihen?

– Wo soll es denn hingehen?

– Raus zu den Hunden.

– Dann würde ich mir gerne eine Mütze leihen.

– Gib mir doch die Schlauchmütze, John. Da unten. Ja, die.

Sie reicht sie mir, betrachtet mein Gesicht, während ich auf die Mütze in meinen Händen blicke, dann ziehe ich sie mir über den Kopf.