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Frederik Hetmann

Der Mann der sich verbarg

Nachforschungen über B. Traven

FUEGO

– Über dieses Buch –

Bücher über den Abenteuerautor B. Traven sind bisher zumeist mit der Aufklärung des Verwirrspiels mit Namen beschäftigt gewesen, das dieser Schriftsteller zeit seines Lebens betrieb. B. Traven, dessen Werke weltweit in einer Auflage von über 30 Millionen gedruckten Exemplaren kursieren und der zu späteren Ruhmeszeiten 1948 auch als Drehbuchautor bei der Verfilmung seines Romans »Der Schatz der Sierra Madre« in Hollywood auftauchte und dessen Sympathien mit den proletarischen Revolutionen des 20. Jahrhunderts in fortgesetztem politischem Engagement mündeten, hatte mit dem Verwirrspiel um seine Person ein emsiges Beschäftigungsfeld.

Frederik Hetmann setzt sich in seinem Buch nun vor allem mit der Frage auseinander, was einen Menschen dazu brachte, auf diese Weise seine Identität zu verschleiern.

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Vorrede

... Heiratsdokumente, Sterberegister, Geburtsbücher, Verkaufsregister, Steuerlisten, überhaupt alles, was Papier ist mit Stempel und Schreiberei. Wenn das alles einmal verbrannt ist, dann weiß niemand mehr, wer er ist, wie er heißt, wer sein Vater war und was seinem Vater gehörte. Dann kommen keine Erben mehr angelaufen, die mit Papieren in der Luft herumwedeln. Dann seid ihr die einzigen Erben, und dann bleibt ihr die einzigen Erben, weil niemand mehr etwas beweisen kann. Wozu braucht ihr denn Geburtsregister? Ihr habt Hunger, und das ist Beweis genug, dass geboren wurdet und dass ihr lebt. Und wozu braucht denn die Welt Heiratsregister? Du lebst mit der Frau, die dich gern hat, und machst ihr Kinder, und dann seid ihr eben verheiratet. Was braucht ihr denn da noch Papiere, damit ihr es wisst. Die Papiere sind nur da, damit man euch die Erde, die ihr bebaut, wieder wegnehmen kann. Wer die Erde bebaut, dem gehört sie ...

B. Traven, Die Rebellion der Gehenkten

 

Wer war dieser Mann, dem wir es verdanken, wenn wir in unserer Jugend eine Ahnung davon bekamen, wie die Wirklichkeit dieser Welt aussieht?

Wer war er?

Ich kann mich noch genau daran erinnern, was damals seine Bücher für mich bedeuteten: mit dabei zu sein auf dem Totenschiff, über dessen Mannschaftsquartier der Spruch stand, ähnlich dem, den Dante schrieb für das Tor der Hölle:

 

Wer hier eingeht,

Des Nam' und Sein ist ausgelöscht.

Er ist verweht,

Von ihm ist nicht ein Hauch erhalten

In der weiten, weiten Welt

Er kann zurück nicht gehn,

Nicht vorwärts schreiten,

Da, wo er steht, ist er gebannt.

Ihn kennt nicht Gott und keine Hölle.

Er ist nicht Tag, er ist nicht Nacht.

Er ist das Nichts, das Nie, das Nimmer.

Er ist zu groß für die Unendlichkeit

Und ist zu winzig für das Sandkörnlein,

Das seine Ziele hat im Weltenall

Er ist das Niegewesen

Und das Niegedacht!

 

... mit dabei zu sein, als sie herumgingen, gestrandet, arbeitslos, nur noch ein paar Cents in der Hosentasche, im Hafen von Tampico.

... mit dabei zu sein, als sie sich gegenseitig an die Kehle sprangen in wahnwitziger Gier.

... mit dabei zu sein, wenn schließlich der Goldstaub in alle Winde verweht wird;

... mit dabei gewesen zu sein,

als der General aus dem Dschungel kam,

die alte Ordnung abgeschafft wurde,

und die Revolutionsverfassung in Kraft trat,

Viva la Rebelion! Tierra y Libertad!

als Land an die besitzlosen Campesinos gratis verteilt wurde. –

 

Wer war dieser Mann,

der uns auf all diese Reisen und Wege mitnahm,

der unser soziales Gewissen

mit nichts als Wirklichkeit und noch einmal Wirklichkeit

vielleicht noch mehr aufstachelte als die Verse der Bergpredigt?

Wer war dieser Mann, der uns bestätigte,

es gäbe Menschen, die seien schon bei lebendigem

Leibe gestorben, ohne es zu merken,

wer aber der Not ins Gesicht sehe,

wer bereit sei, sich auf die Seite derer zu stellen,

die elend sind,

rechtlos,

ausgebeutet,

betrogen,

getreten,

hungernd, nicht nur nach Brot,

sondern auch nach Wissen und Würde,

der bleibe lebendig, überlebe seinen Tod?

Wer war dieser Mann,

der Gespenster einsetzte in unsere Herzen?

Gespenster, die mein Bewusstsein seit damals

nie mehr völlig verließen.

Gespenster, die immer wieder aufschreien, toben,

kreischen, randalieren und rebellieren,

die umgehen in meinen Träumen

unter Zähneknirschen,

wenn ich höre von

Mordtaten und abermals Mordtaten

im Auftrag einer christlich-demokratischen Junta

in El Salvador,

von der Enteignung arabischer Bauern auf der Westbank,

wenn ich lese über die Folterungen

von Leningrad bis Santiago de Chile;

von Vietnamesen, die auf löchrigen Planken treiben,

unter die Seeräuber fallen

und denen kein Hafen sich öffnet

zwischen Formosa und Singapur;

wenn ich mich erinnere

an die Gesichter der lebendigen Hungerleichen

von Kindern in den Versorgungsstellen für hungernde und kranke Kinder des nigerianischen Urwaldes in einem der vielen Kriege ums Erdöl,

wenn das Bild des Türken

mich von der letzten Seite der Zeitung aus anspringt,

illegal eingereist

in unsere wunderstrahlende Republik

und abgeschoben in seine Heimat

vor die Läufe der Erschießungskommandos.

Wer war dieser Mann,

der die Macht besaß, Trägheit und Gleichgültigkeit

in unseren Seelen nie ganz obsiegen zu lassen?

Wer?

Ein desertierter amerikanischer Matrose?

Ein vor den Bolschewisten1 geflüchteter Großfürst?

Ein Farbiger, der es gewagt hatte,

in den Südstaaten der USA eine weiße Frau zu lieben?

Ein deutscher Offizier aus dem Kapp-Putsch?

Ein Leprakranker,

so entstellt im Gesicht,

dass er sich niemandem mehr zeigen wollte?

Jack London,

der eingesehen hat, dass nichts erfolgloser ist

als Erfolg,

der Selbstmord vortäuschte,

in Yukatan untertauchte,

weiterlebte und weiterschrieb?

 

Die Frage: Wer war der Mann, der sich Traven nannte? haben die Detektive der Literatur weitgehend gelöst. Es war ein mühsames, langwieriges, kostenaufwendiges Geduldsspiel.

Am Ende steht das Bild des Mannes, der sich Anonymität wünschte, der vergessen zu werden wünschte.

Die Stationen seines Lebens sind nun genau bekannt. Er ist seiner Tarnung entkleidet. Als ob man jemandem die Kleider vom Leib gerissen hätte.

Wissensdurst Neugier, Scharfsinn, Sensationslust haben triumphiert.

Man kann über das Leben dieses Mannes einen Dokumentarfilm drehen. Jeder Fakt, jede Aussage ist mit Dokumenten belegbar. Aber wissen wir damit mehr über diesen Menschen? Wir kennen die Situation, scheinen außerordentlich genau informiert zu sein und wissen doch das Entscheidende nicht.

Eine Frage ist verlorengegangen im Eifer der detektivischen Ermittlungen. Es wird jetzt Zeit, sie zu stellen. Die Frage lautet: Warum versucht jemand mit aller Gewalt, die Welt den Namen, unter dem er geboren worden ist, vergessen zu lassen?

Warum versucht jemand unter soviel Eifer, Phantasie und Aufwand, in der Anonymität unterzutauchen?

Diese Frage ist die Frage meines Buches. Die Antwort, so behaupte ich, besagt nicht nur etwas über das Wesen dieses Mannes und über seine Zeit. Sie besagt etwas über uns.

 

In dem Zimmer, in dem ich schreibe, hängt ein Jutesack an der Wand, ein alter Kaffeesack aus Mexiko, auf dem steht in blauer Farbe, anzusehen wie eine Tätowierung,

CAFÉ ALTAMIRA

und darüber in verwaschenem Rot

ALTURA CHIAPAS.

Wer ist der Mann, der sich Traven nannte?

Schon längst habe ich mir vorgenommen,

diesen Sack mit Geschichten zu stopfen.

Was erlebte dieser Mann, der sich Traven nannte?

Was hat er gedacht, gefürchtet gewünscht?

Ich habe ihn für Euch ausgegraben.

Kommt her und beseht sein Leben.

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Geburt

»Sie sollten aber Papiere haben, damit Sie mir beweisen können, wer sie sind«, sagte der Polizeioffizier.

»Ich brauche keine Papiere; ich weiß, wer ich bin«, sagte ich.

B. Traven, Das Totenschiff

 

 

Am 23. Februar 1882 gegen 10 Uhr morgens bringt in der damals zum Deutschen Reich, heute zur Volksrepublik Polen gehörenden Kleinstadt Schwiebus (Świebodzin) die 23jährige Textilarbeiterin Hormina Wienecke ein Kind männlichen Geschlechts zur Welt, das die Vornamen Hermann Albert Otto Maximilian erhält. Als Kindsvater gibt die Geburtsurkunde einen Adolf Rudolf Feige an, dessen Beruf mit »Töpfer« bezeichnet wird. Der Standesbeamte könnte aber stattdessen wohl auch Ziegelei-Arbeiter geschrieben haben.

Dieser Adolf Rudolf Feige ist der Sohn eines Webers aus Finsterwalde. Er ist um ein Jahr älter als die Kindsmutter. Er erkennt, was ja nicht selbstverständlich ist, die Vaterschaft am 30. Mai 1882 noch einmal ausdrücklich an. An eben diesem 30. Mai heiraten Adolf Rudolf Feige und Hormina Wienecke.

Zu diesen Fakten, die herausgefunden zu haben das Verdienst Will Wyatts ist, muss noch einiges angemerkt werden.

Mit ihren 23 Jahren ist Hormina oder Hermine, wie die deutsche Schreibweise dieses Vornamens lautet, nicht mehr gerade jung. Dass Mädchen vor der Ehe schwanger werden und darauf erst heiraten, war in der sozialen Gruppe, aus der Hormina kommt, so selten nicht. Die Moralvorstellungen in diesem Punkt sind im Bürgertum damals gewiss strikter als heute gewesen, in der Unterschicht war das nicht unbedingt so. Zu heiraten, das kostete Geld, und wer am Rande des Existenzminimums lebt, der ist gezwungen, sich unter Umständen über die Moral hinwegzusetzen. Der Grund dieser verspäteten Heirat kann ganz einfach gewesen sein.

Adolf Feige leistet zu dieser Zeit seinen Militärdienst ab, der im Deutschen Kaiserreich zwei Jahre dauert. Urlaub zu bekommen, um noch rasch zu heiraten, ehe das Kind geboren wurde, scheint damals nicht ohne Weiteres möglich gewesen zu sein. Adolf hat Hormina geheiratet, sofort, nachdem der Militärdienst beendet war.

 

Auch eine dritte Möglichkeit kann nicht ausgeschlossen werden, und es gibt zumindest einige nicht unwesentliche Indizien, die es nahelegen, diese Situation mit zu bedenken.

Hormina könnte ein Kind von einem anderen Mann erwartet haben. Der zahlt ihr eine Abfindung, mit diesem Geld wird ein Bräutigam gekauft, ein Mann, der etwas Geld gut gebrauchen kann. Später heiratet er die Kindsmutter.

Es gibt Gerüchte, denen zufolge der tatsächliche Vater des als Otto Feige ins Geburtsregister eingetragenen Kindes niemand anders gewesen sei als der spätere letzte deutsche Kaiser, Wilhelm II.

Wenn man Fotografien von Otto Feige als erwachsener Mann mit denen Wilhelm II. vergleicht, ist eine gewisse Ähnlichkeit vorhanden. Das allein ist natürlich kein hinreichender Beweis für die Vaterschaft des hohen Herren.

Andererseits ist auch der Umstand, dass der damalige Kronprinz Wilhelm um die Zeit der Zeugung des Kindes, genau am 26. Februar 1881, die Prinzessin Auguste Victoria von Schleswig-Holstein geheiratet hat und danach mit seiner jungen Frau als Offizier in Potsdam lebte, kein letztgültiger Beweis gegen den Wahrheitsgehalt solcher Gerüchte.

Mehr dagegen besagen schon die Meinungen seriöser Biographen, Wilhelm sei alles andere als ein Frauenheld gewesen, ja, er habe sich überhaupt zeit seines Lebens mehr zu Männern als zu Frauen hingezogen gefühlt.

Bei genauerer Betrachtung scheint an den Gerüchten betreffend die Vaterschaft Wilhelms II. kein wahres Wort. Wie sie entstanden sind, ist hingegen leicht erklärbar.

Die Schadenfreude und der Klatsch, als sich Horminas Schwangerschaft herausstellte. Getuschel hinter vorgehaltener Hand. So vielleicht:

»Ein hoher Herr soll's gewesen sein ... ein Adeliger, was Besseres eben, du verstehst schon, und der gutmütige Adolf hat sich's dann anhängen lassen müssen. Da sieht man's ja wieder mal. Mit Geld ist eben alles zu machen. Wer genug Geld hat, der kann sich sogar einen Vater für das Kind kaufen, das er so einem armen Ding anhängt.«

Die Phantasie der Menschen setzt sich selten enge Grenzen. Das Kitschig-Sensationelle ist manchem Arbeiter und Kleinbürger eine wunderbare Möglichkeit, sich aus der eigenen Bedürftigkeit und dem grauen und monotonen Alltag in das Märchendasein der Prinzen und Könige hineinzuträumen.

Wenn der Erste, der ein solches Gerücht aufbrachte, vielleicht noch von irgendeinem vornehmen, adligen Herrn gesprochen hat, wurde beim Zweiten, der das Gerücht weitererzählte, schon ein Herzog und beim Dritten schon ein Prinz daraus.

Auch die Vorbilder für solche Phantasien lassen sich benennen. Die Romane der Marlitt oder andere Trivialromane aus dieser Zeit gegen Ende des 19. Jahrhunderts sind Beispiele. Der Traum vom armen Kind, dessen wirklicher Vater lange verborgen bleibt, und dessen Auftritt mit einem Donnerschlag alle Probleme löst, gehört schon zu den klischeehaften Mustern in der Handlung solcher Romane.

Es ist die Zeit der Gründerjahre, des Imperialismus, eines Deutschen Reiches, das als Weltmacht ernst genommen werden will, eine Zeit, in der das Männliche und das Militärische hoch im Kurs stehen. Die Kehrseite einer solchen Verherrlichung und Bewunderung enthält Suche und Unsicherheit.

Wer die Mutter eines Kindes ist, wird sich zumeist mit großer Sicherheit sagen lassen. Wer der Vater eines Kindes ist, nicht. In Gerüchten, in Tagträumen, in den Handlungen der Geschichten von Trivialliteratur werden Wunschvorstellungen befriedigt, reagieren sich Ängste ab. Wunsch vieler Armer war es, plötzlich ganz reich zu sein. Geheime Angst vieler, mit militaristischem Männlichkeitswahn auftrumpfender Helden ist es vielleicht gewesen, von ihren Frauen hintergangen zu werden. Man fürchtet sich selbst vor dererlei, aber das darf man nicht zugeben. Also überträgt man solche Ängste auf andere: »Dieser Rudolf soll gar nicht der Vater des kleinen Otto sein, hab ich gehört!«

Kindheit

Eine Geschichte, die nicht wahr ist, gut zu erzählen, ist eine Gabe, my boy.

Sie sind ein Künstler, wissen Sie das?

B. Traven, Das Totenschiff

 

 

Es gibt eine merkwürdige Tatsache, die auch dazu beigetragen haben mag, dass solche Gerüchte entstanden und fortlebten. Adolf hat Hormina geheiratet und ihr seinen ehrlichen Namen gegeben. Das Kind aber, das sie schon vor der Eheschließung zur Welt gebracht hat, der kleine Otto, bleibt bei ihren Eltern.

Otto muss zunächst seine Großeltern als Eltern erlebt haben. Sie haben ihn ausgesprochen verwöhnt Gerade, weil die Großeltern so liebevoll mit dem kleinen Otto umgegangen sind, ist die Bindung an sie stark, wird er sie gar nicht als Großeltern, sondern als Eltern kennengelernt haben.

Der Aufenthalt bei den Großeltern endet, als Otto etwa sechs Jahre alt ist. Um das Jahr 1888 wird der Großvater krank, und Hormina setzt durch, dass sie ihr erstgeborenes Kind zu sich nehmen darf. Sie hat inzwischen zwei weitere Kinder zur Welt gebracht, Willi Ende des Jahres 1884 und Gertrud im Mai 1888. Otto verträgt diese Verpflanzung in die andere Familie schlecht. Außerdem protestieren die bisherigen Pflegeeltern. Großmutter und Großvater fällt es schwer, sich ein Leben ohne ihr Ottochen vorzustellen. Hormina verspricht, den Jungen zurückzubringen, sobald es ihrem Vater bessergehe. Aber es wird nicht mehr besser mit dem Alten, und Otto bleibt bei seinen Eltern.

Es gibt einen naheliegenden Grund, weshalb das Kind in den ersten Lebensjahren bei den Großeltern untergebracht worden ist: Die finanzielle Lage des Ehepaars Feige scheint in diesen Jahren nicht allzu rosig gewesen zu sein. Die Feiges übersiedeln zunächst in Adolfs Heimatort Finsterwalde, in den nächsten Jahren ziehen sie nach Grünberg. Dort werden ihnen weitere drei Kinder geboren. Als Otto zehn ist, geht es wieder nach Schwiebus zurück. 1893 kommt seine Schwester Margarethe zur Welt 1895 sein Bruder Ernst. Damit hat nun der reichliche Kindersegen sein Ende.

Die Mutter ist eine regsame Frau. Sie schreibt die Briefe für andere Leute, die nie schreiben gelernt haben. Sie ist geschickt in Handarbeiten. Sie spielt mit den Kindern Theater, und die Amateurgruppe reist mit den einstudierten Stücken sogar zu Gastspielen in die Ortschaften der Umgebung. In der Familie gibt sie den Ton an. Wenn sie sagt, wir müssen dies oder jenes tun, heißt das, ihr Mann hat das zu erledigen.

Ottos Situation in dieser Familie hat seine bis 1981 lebende Schwester mit dem Satz umschrieben:

»Er fühlte sich nie bei uns zu Hause.«

Rückschauend schildert sie ihn als »eigenwilligen Einzelgänger«, der sehr stark auf seine Kleidung achtete und sein Eigentum behütete. »Er zog sich fast immer von den anderen zurück, las sehr viel.« Sein jüngster Bruder Ernst hat es nicht viel anders dargestellt: »Er war ein eigenartiger, seltsamer Junge, der ganz in seiner eigenen Welt lebte, in einer Welt, in der es für andere keinen Platz gab.« Otto Feige ist ein guter Schüler. Er möchte aufs Gymnasium, später dann Theologie studieren, um Pfarrer werden. Für den Sohn eines Ziegelei-Arbeiters ist das nur möglich, wenn er ein Stipendium bekommt. Aussichten darauf hat Otto in Schwiebus, allerdings unter der Voraussetzung, dass die Eltern für den Lebensunterhalt des Gymnasiasten und späteren Studenten aufkommen. Genau daran aber scheitern Ottos hochfliegende Pläne.

Die Eltern, die insgesamt für sechs Kinder aufkommen müssen, bestehen darauf, dass der Älteste nach Abschluss der Volksschule abgeht und eine Schlosserlehre bei der Firma Meier in Schwiebus beginnt.

Inzwischen hat sich die Berufssituation des Vaters geändert. Adolf Feige hat in Schwiebus als Hausmeister gearbeitet. Er hat sich umschulen lassen, um in einer in der Nähe liegenden Brikettfabrik den Posten eines Vorarbeiters zu bekommen. 1900 – sein Sohn Otto ist jetzt 18 Jahre alt – hört Adolf Feige, dass eine andere Brikettfabrik in Wallensen, Niedersachsen, Arbeiter sucht. Dort gibt es Werkswohnungen, eine Betriebskrankenkasse, die Aussicht auf eine Altersrente. Also zieht Adolf mit der Familie nach Niedersachsen um.

Nur Otto und sein Bruder Willi bleiben in der Lehre in Schwiebus zurück.

Auch als Otto ausgelernt hat, hält er sich offenbar noch einige Zeit in der Stadt auf. Anfang des Jahres 1902 wird er, nun zwanzigjährig, zum Militär eingezogen und dient für zwei Jahre bei den Bückeburger Jägern. Die Geschwister erzählen später, dass Otto auf seine schmucke grüne Uniform stolz gewesen sei, und dass er in ihr bei den Mädchen Eindruck gemacht habe.

Bis dahin ist, was die äußeren Ereignisse angeht, das Leben des Otto Feige so verlaufen wie das vieler Jugendlicher aus jener sozialen Schicht, in die er hineingeboren worden ist: Volksschule, Handwerkslehre, Militärdienst

Aber es muss in diesen Jahren in Otto Feige noch anderes vor sich gegangen sein.

Er wirkt auf Menschen, die ihn näher kennen, als Außenseiter. So die Aussagen seiner Geschwister. Er erweist sich als intelligent, will höher hinaus als die Mehrzahl seiner Altersgenossen.

Wie kommt es, dass Otto als «anders« empfunden wird, es wohl tatsächlich auch ist?

Nicht ausgeschlossen, sogar wahrscheinlich, dass er sich diese Frage selbst auch gestellt hat, als es Konflikte gab zwischen seinem eigenen Berufswunsch und der Festsetzung der Eltern: »Du kommst in die Lehre zu Meier, Punktum!«

Es ist eine Zeit, in der gemeinhin keine langen Diskussionen zwischen Eltern und Kindern über solche Fragen stattfinden. Was der Vater festsetzt, hat zu geschehen. Die Großmutter, die nach dem Tod des Großvaters mit in der Familie Feige lebt, konnte ihm da wohl auch nicht helfen, wenn man auch weiß, dass sie ihn sonst verwöhnt und den anderen Enkelkindern vorgezogen hat. Die Entscheidung der Eltern ist vernünftig.

Trotzdem wird es heruntergewürgten Zorn bei Otto gegeben haben, vielleicht auch Pläne, wie er sich dem Willen der Eltern entziehen könnte. Einfach durchbrennen, zur See fahren. Aber durchgebrannt ist er nur in der Phantasie.

Genährt werden Phantasien und Tagträume durch die Bücher, die Otto liest, nämlich – und darin nun unterscheidet er sich durchaus nicht von vielen Jungen seines Alters – Coopers Der letzte Mohikaner und Hunderte von Seefahrergeschichten und Piratengarne.

Der Held in Coopers Buch ist das Waisenkind Natty Bumpo. Es wird von Missionaren gefunden und aufgezogen, aber zu seiner wahren Identität findet es erst, als es unter die Indianer gerät. Seine verschiedenen Namen »Lederstrumpf«, »Wildtöter«, »Falkenauge« und »La Longue Carabine« besagen etwas über die Achtung, die ihm die Indianer entgegenbringen.

Viel später wird der erwachsene Mann, der einmal Otto Feige geheißen hat, die Indianer der südlichsten Provinz Mexikos, Chiapas, kennenlernen, Indianer, die relativ unberührt von den Einflüssen westlicher Zivilisation leben. Indianer, bei denen ein Mensch nicht nach dem beurteilt wird, was in Papieren und offiziellen Dokumenten über ihn steht, sondern spontan, nach den Erfahrungen, die man hier und jetzt mit ihm macht.

 

Die Pubertät ist auch die Zeit, in der sich in der Auseinandersetzung mit den Eltern das Ich, das Selbst, das Eigenständige im Wesen eines Menschen entwickelt und ausprägt. Ich habe unterstellt, dass in Schwiebus bei Ottos Geburt Gerüchte herumerzählt worden sind. Eines Tages kommen sie Otto zu Ohren. Er muss sich mit der Vorstellung auseinandersetzen: Der Mann, an den ich mich als Kind mühsam genug gewöhnt habe, ist vielleicht gar nicht mein Vater. Mein Vater ist ein Adeliger, ein Prinz, der Kaiser. Toll!

Otto sagt sich: »Kein Wunder, dass ich anders bin als sie.«

Was als Klatsch, als Häme auf ihn zukommt, könnte er zur psychologischen Selbstverteidigung benutzt haben: »Ihr könnt mich demütigen, mich verständnislos behandeln. Eines Tages wird sich mein richtiger Vater zeigen. Dann wird sich alles ändern.«

Wenn Otto solche »Spinnereien« ausgesprochen hat, mag er von manch einem ausgelacht worden sein.

»Der Kaiser sein Vater ... lächerlich. Warum nicht gleich der liebe Gott!«

Wenn solche Tagträume als Trost, als Schutz gegen die Verletzungen durch eine raue Umwelt, der man sich nicht gewachsen fühlt, helfen sollen, muss ihre Glaubwürdigkeit verstärkt werden ... durch eine Geschichte. Sie muss so glaubwürdig klingen, dass sie auch andere überzeugt. Selbst dann, wenn ihr Wahrheitsgehalt gering ist. So könnte Otto begonnen haben, Geschichten zu erfinden.

Ich stelle mir vor, einmal erzählte er die unwahrscheinliche Geschichte vom anderen Vater, vom reichen, mächtigen Mann so gut, dass sie ihm einer glaubte, dass sie jemanden beeindruckt, dass sie Otto Ansehen verleiht.

So wird ihm etwas höchst Wunderbares klar: gut Geschichten zu erzählen bedeutet, etwas Wirklichkeit werden lassen, was es vorher nur als Phantasie gegeben hat. Gewöhnlich entsteht so Literatur. Aber diese Fähigkeit taugt unter Umständen auch noch zu etwas anderem. Man kann so das Leben Wirklichkeit werden lassen, das man sich wünscht. Man nimmt einen Namen. Man erfindet zu diesem Namen Erlebnisse, Daten, Ereignisse, die die Daten miteinander verbinden. Ein anderer Mensch ist geboren. Man kann sich selbst durch diesen Vorgang unsichtbar machen. Man kann so das schützen, worauf sonst alle herumtrampeln, was sie misshandeln, beleidigen, verletzen ... wozu man, allein aus sich selbst heraus, nicht stark genug ist, um es zu bewahren: das Selbst.

Es spielt keine Rolle, ob Otto bis zu seinem zwanzigsten Lebensjahr diese mit dem Geschichtenerfinden verbundene Eigenschaft schon genau erkannt hat. Solche Entdeckungen vollziehen sich unter vielen Proben und Rückschlägen. Man kann eine Begabung dazu haben, aber selbst dann baut sich die Fähigkeit dazu erst langsam auf. Man wird zuerst Aufschneider, Angeber, ja Lügner genannt. Daran erkennt man, dass die Zuhörer das, was Fiktion ist, noch als solches durchschauen, dass es einem noch nicht gelungen ist, sie davon zu überzeugen, hier sei von Wirklichkeit die Rede. Man muss seine Erfindung verbessern. Die Fakten müssen glaubwürdiger gewählt werden. Die Art des Erzählens ist noch nicht raffiniert genug. Bis man dann endlich einmal den Triumph erlebt: Sie haben es geglaubt. Es ist mir gelungen, aus der Möglichkeit Tatsächlichkeit werden zu lassen. Das ist wirklich ein Triumph.

Café Altamira: die Frühzeit Mexikos

Sehen Sie, Señor, unsere indianischen Götter sind nicht tot. Das wissen wir genau. Sie geben uns Regen und Sonnenlicht, sie geben uns Mais und Blumen, ein gesundes und langes Leben.

B. Traven, Land des Frühlings

 

Stellen wir uns vor: Es gibt einen Mann, der einen Wunsch solcher Art hat, wie wir ihn hin und wieder alle einmal haben. Er will fort von Allem. Fort ans Ende der Welt. Dort, so meint er, könne er allem Ärger, aller Angst, aller Bedrohung entgehen. Dort, so hofft er, werde sich das Paradies auf Erden finden lassen.

Für den Mann, der sich B. Traven nannte, liegt das Paradies auf Erden in Chiapas, dem südlichsten Bundesstaat von Mexiko. Er wird sich am Ende seines Lebens wünschen, dass die Asche seines Leichnams über diesem Land ausgestreut werden solle. Man hat diesem Wunsch entsprochen.

 

Über Chiapas hat B. Traven ein ungewöhnliches Reisetagebuch verfasst. Es heißt Land des Frühlings. Das Buch ist in Deutschland zum ersten Mal 1928 und danach in einer Prachtausgabe mit zahlreichen Originalfotos 1981 bei der Büchergilde Gutenberg, dem Stammverlag Travens, wiedererschienen. Auf den ersten Seiten dieses Buches wird Chiapas beschrieben, beschrieben, wie man nur ein Traumland schildern kann:

 

Die gewaltigen Ruinen von Palenque, mit ihren grandiosen Überresten von Palästen und Tempeln, die Ruinen anderer untergegangener, verlassener oder vergessener uralter indianischer Städte bei Tonala, bei Ocosingo und an vielen andern Plätzen sind ein Beweis dafür, dass in Chiapas einstmals eine hochentwickelte Kultur bestand, die keinen Einfluss von Asien oder Europas aufweist und die völlig auf eigener Erde gewachsen war. Was in den Dschungeln und Urwäldern von Chiapas, unter dem überwucherten Schutt von Erdbeben, Vulkanausbrüchen und Bergrutschen noch der Entdeckung wartet, kann vielleicht eines Tages zu der Erkenntnis führen, dass in Chiapas die Anfänge menschlicher Zivilisation und Kultur gesucht werden müssen.

 

Diese Ansicht Travens wird durch die wissenschaftlichen Forschungen nicht bestätigt. Hans Helfritz schreibt in seinem Buch Amerika – Inka, Maya und Azteken:

»Nach dem Stand der heutigen Forschung können wir mit einiger Bestimmtheit sagen, dass 20.000 bis 12.000 Jahre v. Chr. jagende Nomadenstämme von Asien nach Alaska eingewandert sind. Ihr Lebensunterhalt wurde durch die Jagd auf große Tiere des Pleistozän bestimmt. Kulturell standen die paläo-asiatischen Völker etwa auf derselben Stufe wie Gruppen des höheren Paläolithikums in der Alten Welt […]. Nach dieser ersten Einwanderungswelle erschienen auf dem ganzen amerikanischen Kontinent Gruppen von Völkern, die zwar auch noch der Jagd nachgingen, sich aber mehr und mehr mit dem Sammeln von Früchten und Muscheln beschäftigten. Ihre Vertreter könnte man mit den mesolithischen Gruppen der Alten Welt vergleichen. Sie erreichten Südamerika vielleicht zwischen dem 8. und 5. Jahrhundert v. Chr.

Von 5000 bis 3000 v. Chr. erschien eine dritte asiatische Einwanderungswelle in Nordamerika. Sie gehörte einer Zivilisation an, die man die zirkumpolare genannt hat. Man glaubt in diesen Stämmen die ursprünglichen Träger der sogenannten Eskimal-Alëuten-Kultur zu erkennen und stellt sie auf die Stufe des frühen Neolithikums. Am Ende dieser Periode können wir bei dieser Gruppe den Gebrauch des Kupfers, die Herstellung von Keramik, von Geweben und Lederarbeiten und das Halten von Hunden feststellen, die den Polarhunden verwandt sind.«

In der Einführung zu Land des Frühlings merkt man, dass es sich hier um das Loblied auf eine Wahlheimat handelt, um einen Bericht, in dem Wirklichkeit, die tatsächlich phantastische Züge hat, Wunsch und Traum sich überblenden.

Chiapas wird für Traven zum irdischen Paradies, wie es wohl alle Menschen im Stillen suchen und nur wenige es finden.

 

In seinen Tälern und Niederungen hat der Staat durchaus tropisches Klima. Auf dem Hochland der Sierra Madre, die in zwei Armen von Westen nach Osten und von Westen nach Südosten den ganzen Staat durchzieht, ist das Klima, ähnlich dem Spätfrühling in Mitteleuropa, ziemlich beständig das ganze Jahr hindurch. Es gibt auf der Erde keine Pflanze, keine Frucht und auch kein Tier, die nicht in einem Teil dieses Staates ebenso gut gedeihen wie in ihrer Urheimat …

 

Auch was die Bevölkerung angeht, so hat Chiapas für Traven eine besondere Bedeutung: Es ist das Land der Indianer schlechthin:

 

Der Staat hat [Mitte der Zwanziger Jahre] etwa vierhunderttausend Einwohner, von denen wenigstens dreihunderttausend reinblütige Indianer sind, die ihre eigene Sprache sprechen und die in ihren eigenen Städten, Dörfern und Siedlungen wohnen, wo sie nur ihren Caciquen, Häuptling, als Bürgermeister oder Ortsvorsteher haben. Diese Indianer haben nicht nur ihre eigene Sprache erhalten, sondern sie leben auch noch nach ihren eignen uralten Sitten und Gebräuchen, die sich von den unsrigen völlig unterscheiden und die durch die Europäer und durch die katholische Religion nur wenig und nur äußerlich beeinflusst worden sind.

Im Staat Chiapas finden wir den Indianer, den Ureinwohner des Kontinents, in allen Stufen der Zivilisation.

Die Lacandonen sind völlig unzivilisiert Sie leben auf der primitivsten Stufe, sie siedeln nicht in Dörfern, bauen entweder gar keine Wohnhütten oder nur solche aus Zweigen. Die Mehrzahl der Indianer im Staate darf als halbzivilisiert betrachtet werden. Es sind die Indianer, die als Kleinlandwirte und zumeist in ihren eigenen Kommunen leben …

 

Hier wird klar, weswegen Traven die Indianer bewundert: Die genossenschaftlichen Formen ihres Zusammenlebens sind dem Anarchisten2 sympathisch.

 

Soweit Traven selbst, und nun meine Vorstellung: Ich stelle mir vor, dass es in Chiapas ein Café Altamira gibt, eine armselige Herberge, ein Blockhaus mit Vordach. Der Busch beginnt gleich gegenüber. Es ist Regenzeit, die dort gewöhnlich, wie ich von Traven weiß, von Anfang bis Ende September dauert. Ich weiß aus seinen Aufzeichnungen weiterhin, dass es auch dann nur drei Stunden ununterbrochen regnet und höchstens gegen Abend noch einmal ein heftiger Regenschauer niedergeht. Aber in jenem Jahr – es könnte doch sein! – regnet es mehr als gewöhnlich. Es hat so heftig geregnet, dass sie ihre Reise haben unterbrechen müssen. Der weiße Mann und sein Begleiter, ein Indio, sitzen, zur Untätigkeit verurteilt, in dieser primitiven Herberge, liegen vielleicht auch tagsüber in Hängematten, die langsam schaukeln, wobei die Stricke ein knarrendes Geräusch von sich geben. Durch das Bewusstsein des Weißen, der vor seinen Augen Regen rinnen sieht und dessen Körper gleichmäßig hin- und herbewegt wird, zieht als ein breiter Strom von Bildern die Geschichte jenes Landes, in das es ihn verschlagen hat.

An die Azteken denkt er, jenes Volk, das Mexico City zum ersten Mal begründete, jenes Volk, für das die Begegnung mit den »weißen Göttern« zur Katastrophe wurde.

Was war, ehe die Weißen kamen?

Zuerst lebten die Azteken, wie ihre Annalen berichten, als ein wanderndes Volk. Nach ihrem Stammeshelden nannten sie sich Mexitli und gaben so diesem ganzen Land seinen späteren Namen. Um das Jahr 1090 brachen sie aus dem »Land der weißen Farbe«, Aztlan, auf. Ganz ähnlich wie das Volk Israel, dem sein Gott ein gelobtes Land versprochen hatte, vertrauten auch die Azteken auf das Wort ihres Gottes Huitzilopochtli, am Ende aller ihrer Irrfahrten würden sie in einer ihnen vorbestimmten Heimat glücklich werden.

In den Chroniken über die Züge der Azteken werden Namen von Städten und Landschaften erwähnt, die aber nichts anders bedeuten, als dass diese Suche in alle vier Himmelsrichtungen führte. Am Ende – so wieder die mythischen Berichte – kommen die Azteken nach Tollan oder Tula, zum Weltmittelpunkt, unter dem man sich realgeschichtlich das Zentrum des zu dieser Zeit schon bestehenden Toltekenreiches vorzustellen hat. Sie empfangen dort die Gaben der höheren Kultur.

 

Belegbar durch archäologische Funde ist, dass die Azteken an der Zerstörung Tollans beteiligt gewesen sind und etwa zwanzig Jahre dort gelebt haben. Dann aber setzten sie ihre Wanderung fort. Sie gelangten auf das Gebirgsplateau im Inneren Mexikos, in die Hochebene Anahuac, das »Land nahe dem Wasser«. Damit war die sich dort befindende Seenplatte gemeint.

Allerdings ist diese Namensgebung erst durch die europäischen Geographen viel später erfolgt. Sie nahmen das aztekische Wort für »Meeresküste« und ordneten es dieser Hochebene voller Seen zu. Über die Wanderungen der Azteken berichten alte Bilderschriften im Codex Boturini oder im Atlas Goupil-Boban, wie die fachmännischen Bezeichnungen für diese Manuskripte lauten. Sie beschreiben die Zeit von der letzten Sintflut bis zur Gründung der Hauptstadt des späteren Aztekenreiches in Tenochtitlan. In einer Schrift wird der Ort dieser Stadt als ein hoher Berg dargestellt, der aus dem Wasser aufragt. In einer anderen sieht man an diesem Ort einen Altar. In einer Höhle am Fuß des Berges gibt Huitzilopochtli Hinweise über den weiteren Verlauf der Reise. Und eine Zahl, die sich auf dem Bild findet, ermöglicht wieder eine historische Zuordnung dieses Ereignisses. Es könnte 1168 stattgefunden haben. Die Strapazen der Wandernden hatten zunächst noch kein Ende.

Am »Berg der Heuschrecken« liefern sie sich mit den Nachkommen der Tolteken eine Schlacht. Sie werden besiegt und danach versklavt. Da sie sich als Krieger Verdienste erwerben – man vermutet, dass sie eine ihren Herren unbekannte Kriegs- oder Waffentechnik gekannt haben –, erhalten sie schließlich die Freiheit zurück und nehmen danach ihre Wanderungen über die Hochebene wieder auf. Sie erreichen die Inseln der Seenplatte. Dann vollzieht sich auf einer Insel im Texcoco-See ein orakelhaftes Ereignis:

»Hier gewahrten sie einen Adler von außergewöhnlicher Größe und Schönheit, der auf einem Feigenkaktus saß. Seine Flügel waren gegen die aufgehende Sonne hin entfaltet, und in seinen Krallen hielt er eine Schlange. In dieser Erscheinung glaubten die Azteken das Zeichen des Himmels zu erblicken und legten daher dort den Grundstein zu ihrer künftigen Hauptstadt Tenochtitlan. Es ist derselbe Platz, den heute das Zentrum der Stadt Mexico einnimmt.«

Zunächst dürfte sich an der Stelle in den Jahren zwischen 1325 und 1370 ein recht bescheidener Altar aus Binsen und Blättern, geschmückt mit den Abzeichen des Schutzgottes Huitzilopochtli, gestanden haben.

Sehr schnell aber entwickelte sich eine blühende Stadt. Voraussetzung dazu war eine agrarkulturelle Großtat: die Anlage der »Chinampas« oder der »schwimmenden Gärten«.

»Zunächst wurden rechteckige Flöße aus Flechtwerk und Schilf gebaut, auf die man etwa 1 Meter hoch schwarze Erde häufte. Hierauf legte man wieder eine Schicht Flechtwerk und Schilf, dann wieder Erde und so fort, bis die Flöße eine Höhe von 3 bis 5 Metern erreicht hatten. Nun konnte man sie bepflanzen, zunächst mit Gras und Schilf und an den Rändern mit Weiden, die dem Ganzen Halt gaben. Nach etwa vier Jahren haben diese kleinen schwimmenden Inseln durch die ständige Berieselung und Düngung mit immer wieder neu aufgetragenem Schlamm so viel an Boden gewonnen, dass man auf ihnen alle Arten von Gemüse und Blumen ziehen und sogar leichte kleine Strohhütten, Chinanales, errichten konnte.«

Der kulturelle Sprung, den die Azteken taten, ist erstaunlich. Innerhalb von zwei oder drei Jahrhunderten scheinen sie von primitiven Jägern zu Ackerbauern und Stadtbewohnern geworden zu sein, wobei sie allerdings von früheren Kulturvölkern, den Teotihuakanern und den Tolteken viele Errungenschaften übernahmen, um aber danach alle Spuren dieser Einflüsse sorgfältig zu verwischen. Es wäre möglich, dass die Vernichtung der Staatsarchive unter dem Aztekenkönig Itzcoatl im 15. Jahrhundert eben zu diesem Zweck geschah.

Eine weitere wichtige, machtpolitische Grundlage für den raschen und strahlenden Aufstieg des Aztekenreiches war der Bund der Staaten von Mexiko (der Azteken), von Texcoco und Tlocopan. Sie hatten vereinbart, sich in Kriegen gegenseitig zu unterstützen, und die Beute jeweils gerecht untereinander aufzuteilen.

Recht bald führten Wohlstand, Sicherheit und kulturelle Fertigkeiten im Aztekenreich dazu, dass die Bevölkerung beträchtlich zunahm. Das Reich weitete sich bis zum Atlantischen und Stillen Ozean und bis in den Bereich der heutigen Länder Guatemala und Nicaragua hin aus. Die in Kriegen eroberten Gebiete wurden dem Kernland nie einverleibt, sondern mit Hilfe starker Garnisonen besetzt gehalten.

Im Reich selbst gab es einerseits eine kleine Elite, zu der Krieger, Priester und Beamte gehörten, die sehr aufwendig und komfortabel lebten. Im Schatten standen die Bauern, die in ihren Stroh- und Lehmhütten inmitten von Maisfeldern und Agavenpflanzungen auch damals ein eher bescheidenes Dasein führten, aber das anspruchsvolle Leben der Oberschicht möglich machten.

Allerdings war es auch genau diese Schicht der Bauern, die den Untergang des Reiches nach dem Eindringen der Spanier relativ unbehelligt überstand.

 

Es ist erstaunlich, dass ein so großes, kulturell differenziertes Reich wie das der Azteken praktisch ohne Geld auskam. Die Steuern wurden in Naturalien erhoben, über ihre Einziehung, die jährlich, in manchen Gegenden sogar alle 80 Tage stattfand, wachten an jedem Ort Beamte, über ein gutausgebautes Straßennetz liefen nicht nur diese Einnahmen ins Zentrum des Landes, über sie trugen Kuriere auch Nachrichten über alle wichtigen Vorkommnisse nach Tenochtitlan. »Alle zwei Meilen war eine Post-Station, Techialoyan genannt. Ein Eilbote lief mit seinen Depeschen, die in der Form von hieroglyphischen Bilderbogen angefertigt waren, bis zur ersten Station. Dort wurden sie von einem anderen Eilboten in Empfang genommen und von ihm zur nächsten Station weiterbefördert. Auf diese Weise durcheilten die Nachrichten mit unglaublicher Schnelligkeit das Land. Besonders gut scheint das Stafettensystem auf dem Weg von der atlantischen Küste zur Hauptstadt funktioniert zu haben, denn schon wenige Tage, nachdem die Schiffe des Cortes auf der Reede des heutigen Veracruz Anker geworfen hatten, traf die erste Gesandtschaft Moctezumas (Montezuma ist die spanische Schreibweise des Namens) aus der 450 Kilometer entfernt gelegenen Hauptstadt bei Cortes ein und überreichte ihm Gastgeschenke. Zusammen mit der Gesandtschaft kamen auch Leute, deren Aufgabe es war, von allem, was sie dort bei den fremden Ankömmlingen sahen, Bilderbogen anzufertigen; es waren die ›Bildreporter Moctezumas‹.«

 

Sehr leicht ist es den nach Amerika kommenden Spaniern gefallen, die Religion der Azteken und der mit ihnen in einem kulturellen Zusammenhang stehenden Nachbarvölker als unmenschlich und grausam in Verruf zu bringen und daraus eine Berechtigung für die Unterwerfung und Kolonialisierung dieser Gebiete abzuleiten. Betrachtet man die Religion der Azteken unvoreingenommen, so kommt man zu einem wesentlich anderen Bild. Bei allem, was man über diese Religion hört, und was einem zunächst vielleicht befremdlich erscheint, sollte man sich des Satzes von George C. Vaillant erinnern:

»Die aztekische Religion erwuchs aus der Begegnung mit den Naturkräften, aus der Furcht vor ihnen und aus dem Versuch, sie in Grenzen zu halten.«

Unser immer nur von der Sichtweite des Christentums und Europas als Mittelpunkt der Welt ausgehendes Denken macht in der Beurteilung dessen, was grausam und barbarisch sei, merkwürdige Unterschiede.

Die Menschenopfer der Azteken werden ohne weiteres als primitiv und barbarisch eingestuft. Wenn aber im Alten Testament in frühester Zeit ebenfalls von Menschenopfern die Rede ist (Abraham/Isaak), wird dies als besonders intensive Form der Gottesliebe interpretiert.

Eine besondere Bedeutung in den religiösen Vorstellungen der Azteken spielte der Mythos von der mehrmaligen Zerstörung und Neuschaffung der Welt, was bestimmt mit den in der Umwelt beobachteten Naturgewalten (Vulkane, Wirbelstürme etc.) zusammenhängt.

Dieser Mythos wiederum, der beispielsweise auch auf dem im Haupttempel Tenochtitlans gefundenen Kalenderstein angedeutet wird, führte zu einer besonderen Entwicklung der Astronomie und des Zahlenwesens.