Vorwort

Spiritualität von Kindern und Jugendlichen – manche Leser mögen über den Titel und Inhalt dieses Buches erstaunt sein. Gibt es das überhaupt? Und wenn ja, sind es nicht nur wenige, besonders empfindliche und gestörte Kinder, die es betrifft? Sind nicht andere Aspekte der kindlichen Entwicklung heutzutage viel wichtiger? Warum sollte man sich mit so flüchtigen Erlebnissen beschäftigen, die vielleicht nur eingebildet sind, rasch vergehen und keine Bedeutung haben? Ist das Ganze nicht esoterisch und pseudowissenschaftlich? Mit dieser Publikation möchte ich Schritt für Schritt aufzeigen, dass die

Einwände nicht berechtigt sind. Spirituelle Erfahrungen bei Kindern und Jugendlichen …

Wenn spirituelle Erfahrungen so häufig und bedeutsam sind, warum wird darüber nicht gesprochen? Spiritualität hat in wissenschaftlichen Kreisen immer noch etwas Anrüchiges an sich und wird schnell der Esoterik gleichgestellt. Der australische Jungianer David Tacey kritisiert eben diese Missverständnisse und die Abwehrhaltung in weiten Teilen der akademischen Welt: »Intellektuell läutet das Wort Geist/Seele [›Spirit‹] die Alarmglocken in den akademischen Hallen. Das Problem ist, dass viele Akademiker und Wissenschaftler keinen Begriff von Geist/Seele [›Spirit‹] haben, außer in seinen prämodernen und altertümlichen Ausdrücken. Sie sehen jedes Gespräch über Spiritualität als rückwärts gewandt und regressiv, als eine Rückkehr zu den dunklen Zeiten«1. Bis auf wenige Ausnahmen wird Spiritualität in der akademischen Kinder- und Jugendpsychiatrie nicht thematisiert und vom »Mainstream« der Forschung und Praxis ausgegrenzt.2

Die Idee zu diesem Buch entstand im Sommer 2006. Obwohl Spiritualität in der Psychotherapie von Kindern und Jugendlichen eine wichtige Rolle spielt, ist sie sehr viel mehr als ein therapeutisch verwertbares Phänomen. Oft ausgelöst in der Natur oder in Krisen können spirituelle Erlebnisse in der Psychotherapie ihren Platz finden und in sie integriert werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie außerhalb der formalen Psychotherapiestunden auftreten, ist allerdings sehr viel größer – bei einer Therapiefrequenz von einer Stunde pro Woche verbringt ein Kind immerhin 167 Stunden pro Woche außerhalb der Psychotherapie. Neben dieser zeitlichen und räumlichen thematischen Ausweitung war es andererseits aber auch nötig, eine klare thematische Grenze zu ziehen: Das Buch beschäftigt sich mit Spiritualität – und nicht mit Religiosität und theologischen Fragestellungen. Spiritualität wird als intrinsische Eigenschaft jedes Menschen verstanden, sich transzendenten Erfahrungen, die über die eigene Person hinausweisen, zu öffnen. Im Gegensatz zur Religiosität, die historischen und gesellschaftlichen Einflüssen unterliegt, ist Spiritualität ubiquitär, als Potenzial in jedem Menschen angelegt und für jeden Menschen erfahrbar. Spiritualität und Religiosität schließen einander dabei nicht aus: Tiefe spirituelle Erfahrungen sind innerhalb eines etablierten religiösen Rahmens möglich und können zu einer Vertiefung des Glaubens führen. Religiosität ist allerdings keine Voraussetzung für Spiritualität – und natürlich kann Religiosität für viele Menschen hilfreich sein, ohne eine spirituelle Dimension zu haben.

Ein weiteres Ziel war es, eine Idealisierung der kindlichen Spiritualität zu vermeiden. Statt zu spekulieren habe ich mich an Fakten orientiert und dazu quantitative und qualitative Studien sowie klinische Fallberichte verwendet, aber auch auf Beispiele aus historischen Dokumenten, Autobiografien und der Literatur zurückgegriffen.

Bei der Auseinandersetzung mit dem Phänomen Spiritualität ist es wichtig, eine Orientierung und Richtung auf der Reise nach innen zu haben. Vor fünf Jahren, als die Anfänge dieses Buches in mir zu gären begannen, stieß ich zufällig und fasziniert auf die Beschreibung einer äußeren Reise: Ryszard Kapuscinski war jahrzehntelang als Reporter in den Krisenregionen unserer Erde unterwegs. Selbst in extremen Situationen wurde er dabei von einem Autor begleitet, der 2500 Jahre vorher gelebt hatte: Überall auf der Welt nahm sich Kapuscinski Zeit für die Lektüre des griechischen Historikers Herodot und seine Sichtweise der modernen Welt wurde durch diesen idealistischen, revolutionären Empiriker und Abenteurer geschärft und geprägt. Für Kapuscinski war Herodot ein Idealist – er wollte das gesamte Wissen seiner Zeit sammeln und weitergeben. Es war nicht die Aussicht auf einen kurzfristigen materiellen Gewinn, die ihn antrieb. Herodot war Empiriker – er beobachtete genau und machte sich die Mühe, Angaben zu überprüfen, zu verifizieren und Gesagtes nicht einfach zu übernehmen. Herodot war ein wissenschaftlicher Revolutionär – er stellte viele für wahr gehaltene Thesen in Frage undschreckte nicht davor zurück, sich gegen die gängigen Lehrmeinungen zu stellen. Und nicht zuletzt war Herodot auch ein Abenteurer, der keine Mühen scheute, auch in sehr entlegene Regionen zu reisen. Die Seelenverwandtschaft dieser beiden durch Jahrhunderte getrennten Personen hatte die Qualität einer tiefen, persönlichen Freundschaft: »Ich stellte mir vor«, schreibt Kapuscinski, »er käme auf mich zu, wenn ich am Strand war, lege seinen Stock weg, schüttelte den Sand von den Sandalen und knüpfte sogleich ein Gespräch mit mir an.«3

Welche Reisebegleiter waren beim Schreiben dieses Buches zugegen? Zunächst William James (1842–1910), dem ich ebenfalls vor fünf Jahren das erste Mal »begegnete«. Dieser große amerikanische Psychologe hat mit seinem klassischen Werk »Die Vielfalt religiöser Erfahrung« die Grundlagen der modernen Psychologie der Spiritualität und Religiosität gelegt. Wie klar, wie präzise, wie modern wirkt seine Sprache selbst 100 Jahre später (das Werk erschien erstmals 1902). Pragmatisch und phänomenologisch blieb die Erfahrung die Grundlage für James Erkundigungen und Suche.4 Damit reiht er sich in die empirische Tradition moderner Forschung ein, die mit einer Fragestellung beginnt, die Methodik erläutert, beobachtet, misst, diskutiert und neue Fragen entwickelt. James wäre heutzutage bestimmt erfreut über die vielfältigen Weiterentwicklungen seiner Beobachtungen – auch über die Diskussion zur kindlichen Spiritualität.

Der zweite Wegbegleiter ist der schweizer Tiefenpsychologe C. G. Jung, dessen Schriften ich zum ersten Mal im Alter von 16 Jahren begegnete und dessen Einsichten ich durch eine eigene Analyse erfahren durfte. In der analytischen Psychologie C. G. Jungs erfährt die spirituelle Erfahrung eine besondere Wertschätzung. Jung wählte als Bezeichnung für die Spiritualität den Begriff des Numinosen. Die besondere Qualität der numinosen (oder spirituellen) Erfahrung deutet nach C. G. Jung darauf hin, dass überpersönliche, d. h. »autonome« Bereiche der Psyche angesprochen werden, die sich dem Ich und dem Willen nicht unterordnen lassen. Auch C. G. Jung sah sich als Empiriker, der sich auf die Phänomenologie der spirituellen Erfahrung beschränkt. Er machte »weder Aussagen über metaphysische Gegebenheiten, noch gibt er theologische bzw. religionswissenschaftliche Interpretationen, meint eben so wenig bestimmte Glaubensformen oder Bekenntnisse.«5 Wie Kapuscinski Herodot, »höre« ich beim Lesen seiner Schriften C. G. Jung zu mir sprechen. Als ich zum ersten Mal diesen weisen alten Mann in Interviews in einem schweizer-deutsch eingefärbten Englisch hörte, kam er mir ganz vertraut vor.

Der letzte Reisebegleiter ist Siddharta Gautama, der später der Buddha genannt wurde und wie Herodot vor 2500 Jahren lebte. Buddha, eine historische Person, zeigte einen Weg der inneren Entwicklung auf, der von allen Menschen zu allen Zeiten bestritten werden kann. Der Buddhismus wurde als die »psychologischste der Religionen und die spirituellste der Psychologien« beschrieben.6 Ebenfalls als radikaler Empirist erklärte er, nur der Erfahrung zu vertrauten, jede Lehrmeinung in Frage zu stellen und nur das zu akzeptieren, was von der Erfahrung und subjektiv als wahr erkannt wird. Als er gefragt wurde: »Woher weiß man, wenn jemand die Wahrheit sagt?«, antwortete er: »Akzeptiere nichts nur aufgrund von Traditionen, Lehrmeinungen, Büchern, Logik, einer plausiblen Theorie, der anscheinenden Kompetenzen eines Redners oder Respekt vor einem Lehrer …«7. Zu Fragen der Religion und der Metaphysik schwieg Buddha weise. Diese Fragen sind für die innere Entdeckungsreise nicht von Bedeutung. Obwohl Buddhas Worte leider nicht in Filmen (wie bei C. G. Jung) zu hören sind, klingen seine Worte in seinen Lehrreden so lebendig, als ob er sie direkt gesprochen hätte.8 Vierzig Jahre wanderte er umher in Nordindien an Stätten, die auch heutzutage vorhanden sind. Man kann sich gut vorstellen, wie er von Ort zu Ort pilgerte, bereit auf jede Frage zu antworten und mit jedem, der ihn ansprach in einen Dialog zu treten.9

Zuletzt möchte ich all Denjenigen danken, die bei der Entstehung des Buches unterstützend mitgewirkt arbeiten. Mein Dank gilt zunächst Herrn Ruprecht Poensgen vom Kohlhammer Verlag, der die Idee zu diesem Buch sofort positiv begrüßte und dafür sorgte, dass sie verwirklicht werden konnte. Ich danke auch Kollegen, denen ich in Seminaren einige Ideen und Beobachtungen zugemutet habe bevor sie ganz ausgereift waren. Ihre kritischen Anregungen und Diskussionsbeiträge waren sehr hilfreich für den Klärungsprozess. Interessanterweise gab es zwei Gruppen von Teilnehmern, denen ich begegnet bin: Solche, die die Ausführungen nicht verstanden und die mir dabei halfen, Ideen und Formulierungen zu präzisieren und zu einer einfachen Sprache zu finden. Bei der zweiten Gruppe traf das Thema der Spiritualität auf eine sofortige emotionale Resonanz und viele teilten Erinnerungen aus ihrer eigenen Kindheit mit, die sie zum Teil noch nie erzählt hatten. Beiden danke ich sehr.

Danken möchte ich auch Freunden, die mir in Diskussionen wertvolle Rückmeldungen gaben. Insbesondere danke ich Charlotte Keller, die mir mit ihrer großen Belesenheit so viele Hinweise schickte, dass sie in dieser Ausgabe gar nicht alle verwertet werden konnten. Von Roger Freeman erhielt ich nach einem sehr intensiven Gespräch ein plötzliches Überraschungspaket aus Vancouver mit vier Büchern zur kindlichen Spiritualität und eines zu den Bildern des kanadischen Malers Tom Thomson, der seine Naturspiritualität in Bildern mit leuchtenden Farben weitergab. Danken möchte ich auch meiner Frau Frigga von Gontard, die mich wie immer in diesem Unterfangen unterstütze und viele Literaturhinweise gab. Beim Schreiben des ersten Manuskriptes erhielt ich eine große Unterstützung von Frau Birgit Weber und Frau Vincenza Iacolino, die das Diktierte mit viel Arbeit in die erste Textfassung transformierten.

Ganz besonders danken möchte ich meinen Patienten, die mich über viele Jahre in Spiel, Bildern und Worten an ihren inneren Erfahrungen haben teilnehmen lassen. Es ist ein großes Privileg jeden Tag mit jungen Menschen in den ersten Jahren ihres Lebens in Kontakt treten zu dürfen und gegenseitig von einander zu lernen.

Es wäre mir eine Freude, wenn dieses Buch zu einer Exploration und Wertschätzung der Spiritualität beitragen könnte – in der Arbeit mit Patienten (seien es Kinder, Jugendliche oder Erwachsene) und im eignen Erleben.

Homburg, Herbst 2012

Alexander von Gontard

1 Eigene Übersetzung nach Tacey 2004, S. 95: »Intellectually, the word ›spirit‹ raises the alarm bells in the halls of academe. The problem is that many academics and scholars have no concept of ›spirit‹ apart from its pre-modern and ancient expressions. They regard any talk about spirit as backward-looking and regressive, a return to the dark ages.«

2 Klosinski 1996, 2004.

3 Kapuscinski 2005, S. 345.

4 Ebenso Hart 2008, S. 520: »Während seines Lebens und seiner Arbeit war und blieb James ein radikaler Empirist.«

5 Müller und Müller 2003, S. 357.

6 Epstein 1998, S. 16: »The most psychological of the world’s religions, and the most spiritual of the world’s psychologies, Buddhism authenticates a feeling that nearly all Westerners seek to deny, that psychotherapy endeavors, unsuccessfully, to eradicate.«

7 Kalama Sutra, zitiert nach Titmuss 1989, S. XI.

8 Am lebendigsten und am wichtigsten sind die sog. »mittel-langen« Lehrreden, die in einer modernen englischen Übersetzung vorliegen (Bikkhu Nanmoli, Bikkhu Bodhi: The middle length discourses of the Buddha. Boston: Wisdom Publications 1995; noch leichter zugänglich sind die »Nacherzählungen« der Lehrreden von Paul Köppler 2001 und 2004.

9 Siehe auch Batchelor 2010.

1

Einleitυng

Spiritualität ist eine intrinsische Qualität aller Menschen, d. h. sie kommt bei Menschen jeden Geschlechts, jeder Altersgruppe und aus jedem Kulturkreis vor. Sie wird verstanden als individuelles Bedürfnis und Fähigkeit einer Person zur Transzendenz. Fast alle Erwachsenen können sich an spirituelle Erfahrungen als Kind und Jugendlicher erinnern. Wenn Kinder und Jugendliche direkt befragt werden, so können sie sehr klar über ihre eigene Spiritualität berichten.

Wenn die Spiritualität tatsächlich so häufig ist, warum wird sie nicht wahrgenommen? Hay und Nye10 bezeichnen die kindliche Spiritualität als ein verstecktes Phänomen, das vergessen und ignoriert wird. Die säkulare, materielle Welt der Erwachsenen sei nicht förderlich für die offene, aber verletzbare Spiritualität von Kindern, meinen Hay und Nye.11 Sie wird deshalb aus dem Bewusstsein der Einzelnen wie auch der Gesellschaft ausgeschlossen.

Auch wurde die Spiritualität von Kindern und Jugendlichen bisher in der Psychologie, Psychotherapie, Psychiatrie und Pädagogik wenig wahrgenommen. »Leider steckt eine Entwicklungspsychologie der Spiritualität noch ganz in den Kinderschuhen«, meint Utsch in seinem fundierten Buch zu religiösen Fragen in der Psychotherapie.12 In den letzten Jahren sind jedoch einige positive Entwicklungen zu verzeichnen. Ein Handbuch über spirituelle Entwicklung in der Kindheit und Jugend ist erschienen (»The Handbook of Spiritual Development in Childhood and Adolescence«13), eine Zeitschrift, die sich speziell diesem Thema widmet, wird regelmäßig publiziert (International Journal of Children’s Spirituality), multidisziplinäre, internationale Kongresse finden statt und eine zunehmende Zahl von qualitativen und quantitativen Studien wird durchgeführt14. Diese Entwicklung ist ausgesprochen begrüßenswert, denn sie zeigt, dass die Spiritualität auf realen, erfahrbaren Erlebnissen beruht, die innerhalb etablierter Religionssystemen auftreten können, aber nicht daran gebunden sind. Spirituelle Erfahrungen umfassen die ganze Bandbreite von leichten bis intensiven Erlebnissen, die sowohl positiv, wie auch negativ getönt sein können. Oft treten sie scheinbar zufällig im Alltag auf, aber auch in Krisen, Störungen und Krankheiten. In der Psychotherapie ist das Erkennen der Spiritualität wichtig, da sie sehr hilfreich sein kann, das persönliche Leid in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Der Begriff des Numinosen aus der analytischen Psychologie (C. G. Jung) hat sich dabei als sehr hilfreich erwiesen.

Das Ziel dieses Buch ist es, einen lebendigen Einblick in die Spiritualität von Kindern und Jugendlichen zu vermitteln. Deshalb wurden neben Studien viele Beispiele aus Therapien, Literatur, historischen Berichten und (Auto-) Biografien herangezogen. Natürlich handelt es sich nicht um eine umfassende Darstellung des Themas, sondern beruht auf einer subjektiven Auswahl des Autors.

Das Buch gliedert sich in folgende Abschnitte: Im 2. Kapitel werden Spiritualität und Religiosität definiert. Die Häufigkeit dieser Phänomene wird anhand von Studien nachvollzogen. Wichtige Bücher zur Spiritualität bei Kindern und Jugendlichen werden vorgestellt. Die Phänomenologie der Spiritualität, das Thema des 3. Kapitels, zeigt sich in fünf Hauptformen: Wundern und Staunen, philosophische Fragen, Weisheit, Verbundenheit und Sehen des Unsichtbaren. Diese Erscheinungsformen werden anhand vieler Beispiele illustriert. Das 4. Kapitel widmet sich Entwicklungsaspekten von Kindheit zum Jugendalter. Die Spiritualität von sehr jungen Kindern kann nur beobachtet werden. Ab dem späten Vorschulalter sind Kinder fähig, ihre Erfahrungen in Worten oder nicht verbalen Medien mitzuteilen. Jugendliche entwickeln ihre eigenen Ausdrucksformen der Spiritualität, jedoch ist es erstaunlich, wie sich Grunderfahrungen vom Kindes- bis zum Jugendalter ähneln. Dagegen durchläuft die Religiosität klarere Stadien der Entwicklung. Die Spiritualität psychisch und körperlicher kranker Kinder und Jugendlicher wird im 5. Kapitel behandelt. Gerade in schweren psychischen Krisen und bei lebensbedrohlichen Krankheiten offenbaren sich die enormen Fähigkeiten junger Menschen, ihr Schicksal in einem größeren, überpersönlichen Zusammenhang zu verstehen. Das aktuelle Konstrukt des »posttraumatischen Wachstums« ist kompatibel mit dem der Spiritualität. Im 6. Kapitel wird ausführlich das Konstrukt des Numinosen behandelt, wie die Spiritualität in der analytischen Therapie C. G. Jungs genannt wird. Zum Verständnis spiritueller Phänomene eignet sich die Jung’sche Psychologie besonders, da das Numinose dort eine besondere Wertschätzung erhält. Dieses Kapitel vermittelt die theoretischen Grundlagen zum allgemeinen Verständnis spiritueller Phänomene. Die Bedeutung des Numinosen in der Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen wird anhand von Beispielen aus der verbalen Psychotherapie wie z. B. aus der Sandspieltherapie im 7. Kapitel dargestellt. Das 8. Kapitel bietet einen Ausblick auf die weitere Entwicklung des Forschungsgebietes.

10 Hay und Nye 2006, S. 9.

11 Hay und Nye 2006, S. 33.

12 Utsch 2005, S. 116.

13 Roehlkepartain et al. 2006.

14 Studien aus dieser Zeitschrift, dem »International Journal of Children’s Spirituality«, werden mehrfach in diesem Buch zitiert.

2

Spiritualität

2.1 Definition

Es gibt viele verschiedene Definitionen der Spiritualität, über die Roehlkepartain et al. einen sehr guten Überblick geben.15 Allen Definitionen gemeinsam ist die Annahme, dass die Spiritualität intrinsisch ist. Das bedeutet, dass sie nicht im Laufe des Lebens erworben wird, sondern als Fähigkeit von Anfang an vorhanden ist. Sie wird somit als biologisch angelegter Aspekt der menschlichen Entwicklung angesehen. Auch sind keinerlei Voraussetzungen für die Spiritualität notwendig. Weder ein hoher Intelligenzquotient noch sonstige kognitive emotionale Fähigkeiten sind erforderlich. Auch ist eine psychische und körperliche Gesundheit keine Vorbedingung, sondern im Gegenteil, die Erfahrung von Spiritualität scheint in Zeiten der Belastung und Krisen besonders häufig zu sein.

Intrinsisch bedeutet auch, dass Spiritualität kein Privileg des Erwachsenenalters ist, sondern schon bei sehr jungen Kindern angelegt ist. Autoren wie Hay und Nye und Hart argumentieren, dass Kinder und Jugendliche, im Gegenteil, besonders offen für Spiritualität seien.16 Diese Offenheit nimmt trotz gleichbleibender Anlage im Laufe der Zeit bei manchen Erwachsenen sogar ab.

Ferner ist Spiritualität etwas sehr Individuelles und personengebundenes, eher etwas Privates als Öffentliches und eine Gruppenzugehörigkeit ist keine Bedingung für spirituelle Erlebnisse.

Spiritualität ist demnach eine Fähigkeit, über die alle Menschen verfügen und die sie unterschiedlich kultivieren. Sie ist nicht nur eine potenzielle Möglichkeit, sondern spiegelt ein tiefes Bedürfnis der meisten Menschen wieder, da sie eine hohe subjektive Bedeutung hat und eine emotionale Sehnsucht erfüllt. Viele Menschen suchen nach Spiritualität, die sich jedoch nicht willentlich herbeirufen, aufrechterhalten oder abstellen lässt. Dies liegt daran, dass das wesentliche Merkmal von Spiritualität die überpersönliche Transzendenz ist, d. h. im Erleben wird auf etwas Größeres hingewiesen, als man selbst ist. Diese Erfahrungen entziehen sich nicht nur dem Willen, sondern oft auch den Worten, da sie die persönliche Existenz transzendieren. Insofern sind andere Synonyme für »spirituell« möglich: transzendent (in der eigentlichen Bedeutung: hinübersteigend), transpersonal (überpersönlich, existenziell, das eigene Dasein betreffend) oder numinos (Walten einer höheren Macht). Bei Spiritualität klingt ferner die Suche nach Sinn und Bedeutung an, sie ist eine »persönliche sinnstiftende Grundeinstellung«17.

Spiritualität ist eine phänomenologisch erfahrbare, subjektive Realität der Psyche, an der es für das Individuum keinen Zweifel gibt. Spekulationen über Ursprünge der Spiritualität sind nicht entscheidend, da unabhängig von den möglichen Ursachen die psychischen Phänomene der Spiritualität gleich sind. Daher haben viele Psychologen der Spiritualität wie C.G. Jung und William James (aber auch Buddha) zu diesem Thema geschwiegen und sich gegen metaphysische Spekulationen gewehrt. Diese Fragen zu beantworten, ist Aufgabe der Religion, aber nicht der Psychologie. Deshalb wird in auch in diesem Buch die Spiritualität als existenzielle psychische Erfahrung allgemein, ohne weitergehende kausale Implikationen behandelt.

Im Gegensatz zur Spiritualität wird Religiosität als Einstellung definiert, die formal durch religiöse Institutionen, Glauben, Theologien und Rituale strukturiert ist.18 Religiosität ist demnach ein überindividuelles System, deren Werte von den Mitgliedern einer Religion geteilt werden. Die Zugehörigkeit und Auseinandersetzung mit der Religiosität stellen für viele Kinder und Jugendliche wichtige Entwicklungsschritte dar ( img Kap. 4).19 Die Stadien der Religiosität sind klarer vom Kindes- zum Jugendalter zu verfolgen als die der Spiritualität. Trotz der enormen Entwicklungsschritte ist es erstaunlich, wie sich Berichte zu spirituellen Erfahrungen bei Kindern und Jugendlichen gleichen.

Religiosität und Spiritualität müssen sich nicht ausschließen. Spirituelle Erfahrungen sind sehr gut innerhalb eines Religionssystems möglich, jedoch nicht darauf angewiesen. Spiritualität ist demnach die übergeordnetere Fähigkeit von Kinder und Jugendlichen (die sich mit und ohne Religiosität zeigen kann). Andererseits kann Religiosität formal im Rahmen von Ritualen und Regeln praktiziert werden, ohne dass Spirituelles mitschwingt. Zudem wird Religiosität deutlich beeinflusst durch soziale und historische Faktoren. Dies sieht man z. B. im Ländervergleich der USA und Deutschland, wie in img Tabelle 1 dargestellt. Bei einer großen Befragung von 20 000 jungen Erwachsenen im Alter von 18–24 Jahren gaben in den USA 47 % an, dass Religion sehr wichtig für sie sei – in Deutschland waren es nur 6 %.20 Noch deutlicher war der Unterschied bei der Frage nach dem Glauben an Gott, der in den USA von 93 % bejaht wurde, in Deutschland nur von 55 %. Man mag über die möglichen Gründe für diese Unterschiede spekulieren. Eindeutig sind Deutschland wie auch andere europäische Länder viel stärker säkularisierte Gesellschaften als die USA. Diese Unterschiede sind zu beachten, wenn man Studien aus den USA liest, die sich bezüglich der Religiosität (nicht jedoch der Spiritualität) nicht unbedingt auf europäische Verhältnisse übertragen lassen.

Tab. 1: Unterschiede in der Religiosität: Vergleich USA – Deutschland (Quelle: World Values Study of 20 000 young adults aged 18 to 24 years in 41 countries, zitiert nach Lippman und Keith 2006, S. 111 ff.)

USA

Deutschland

Religion ist mir sehr wichtig

47 %

6 %

Ich Glaube an Gott

93 %

55 %

Spiritualität ist bei jungen Menschen häufiger als die tatsächlich praktizierte Religiosität (img Tab. 2). In einer großen Studie mit 9400 Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Alter von 15–24 wurde offener nach Glauben allgemein (und nicht speziell nach Gott) gefragt, sodass diese Fragestellung auch Rückschlüsse auf die Spiritualität der Befragten zulässt.21 Auch wurde nach der religiösen Praxis gefragt. In Deutschland gaben 17,2 % an, dass sie gläubig seien und ihren Glauben praktizierten (d. h. spirituell und religiös waren), und sogar 32,9 %, dass sie nur gläubig seien (d. h. spirituell waren). Rein religiös, ohne Spiritualität waren 12,2 %. Wie in Tabelle 2 weiter zu sehen ist, variieren die Angaben zwischen alten und neuen Bundesländern gravierend, als Folge der kulturellen Einflüsse der ehemaligen DDR. 55,6 % der Jugendlichen in den neuen Bundesländern gaben an, dass sie atheistisch seien, 14,2 % in den alten Bundesländern. Die Angaben dieser Tabelle sind mit Vorsicht zu interpretieren, da die Fragen sehr einfach und offen gestellt waren und auf Fragebögen (und nicht auf Interviews) basieren.

Tab. 2: Unterschiede zwischen Spiritualität und Religiosität in Deutschland (Quelle: Young European Study of 9400 15 to 24 year olds in 15 countries, zitiert nach Lippman und Keith 2006, S. 114 ff.)

Gesamt

West

Ost

Glauben und praktizieren

17,2 %

19,6 %

7,3 %

Glauben

32,9 %

38,4 %

13,8 %

Praktizieren

12,2 %

13,8 %

5,4 %

Atheistisch

22,2 %

14,2 %

55,6 %

Agnostisch

7,5 %

6,3 %

12,4 %

Weiß nicht

6,4 %

6,3 %

7,2 %

Mitglied spiritueller Gruppe

0,5 %

0,5 %

0,5 %

Zusammengefasst lässt sich in diesem Kontext vereinfachend festhalten:

2.2 Häufigkeit

Spiritualität ist ein häufiges Phänomen. Eine zunehmende Zahl von qualitativen und quantitativen Studien zeigt eindeutig, dass spirituelle Erlebnisse im Kinder- und Jugendalter sehr häufig sind, dass sie weltweit vorkommen und auch langfristige Auswirkungen haben können. Sie können als Wendepunkte mit positiven und negativen Auswirkungen fungieren – je nachdem, ob sie als subjektiv sinnvoll und bereichernd integriert oder verleugnet werden. Studien, in denen Kinder direkt über Interviews befragt wurden, legen nahe, dass alle Kinder solche Erfahrungen haben oder hatten. Zudem sind die Erfahrungen subjektiv nicht gleichgültig, sondern emotional wertvoll und bedeutsam. Wenn Spiritualität so häufig und wichtig für Kinder und Jugendliche ist, kann man sich mit Hay und Nye fragen, warum das Thema in der Öffentlichkeit, in der Pädagogik, Psychologie und Psychotherapie keine größere Rolle spielt.22 Auch kennen fast alle Erwachsenen spirituelle Erfahrungen und können sich rückblickend daran erinnern, als Kinder und Jugendliche solche gehabt zu haben. Darin sind nicht eingeschlossen spätere Erfahrungen und Erlebnisse als Erwachsene. Es sollen deshalb zunächst diese wichtigen Studien von Erwachsenen über ihre Erfahrungen als Kinder referiert werden.

2.3 Retrospektive Studien von Erwachsenen

Ein wichtiger Zugang sind rückblickende Berichte und Interviews von Erwachsenen über spirituelle Erfahrungen als Kinder und Jugendliche. Obwohl die Angaben durchaus durch Erinnerungsverzerrungen beeinflusst sein könnten, zeigen Studien eindeutig, dass solche Erfahrungen weltweit vorkommen, weit verbreitet sind und langfristige Auswirkungen haben können – wenn sie in die persönliche Biografie integriert werden.

So haben Scott und Evans weltweit mehrere hundert Berichte über sogenannte Gipfelerfahrungen der Kindheit (Childhood peak experience, CPE) gesammelt.23 Sie konnten 13 verschiedene Kategorien von CPEs unterscheiden, die einerseits spirituelle Erfahrungen, andererseits bedeutende andere Wendepunkte der Kindheit darstellen. Zu diesen CPEs zählen die Autoren, basierend auf internationalen Studien: interpersonelle Freude; Natur; Ästhetik; externe Leistungen; Kunstfertigkeiten meistern; Gebet; Traum; philosophische Fragen; unheimliche Wahrnehmungen; Nahtod-Erfahrungen; Gesundung nach Erkrankungen; Materialismus (materiality); Etwicklungsmeilensteine. Das Konstrukt der CPEs ist somit weiter gefasst als das der Spiritualität.

Spirituelle Erfahrungen sind so häufig, dass sie eher die Regel als die Ausnahme darstellen. Insgesamt gaben in der Erhebung von Scott und Evans 90 % der Erwachsenen an, dass sie spirituelle oder nicht alltägliche Erfahrungen gehabt hatten. 24–40 % gaben sogar an, dass diese erstmals in der Kindheit – vor der Adoleszenz – aufgetreten seien. Bei Befragungen speziell von Kindern und Jugendlichen gaben über 80 % spirituelle Erfahrungen oder Erfahrungen von Transzendenz an.24

Schlarb führte semistrukturierte Interviews mit Erwachsenen im Alter von 24–57 Jahren durch. Alle Befragten hatten ihr erstes Erlebnis vor der Adoleszenz im Schnitt im Alter von fünf Jahren. Für drei der Befragten war es die erste Erinnerung überhaupt. Diese besonderen Erlebnisse wurden üblicherweise spontan ausgelöst, wobei sie anschließend kurzfristig wieder neu induziert werden konnten.25 Ganz typisch ist es, dass diese Erlebnisse in neun von zwölf Interviews in der und durch die Natur ausgelöst wurden.26 Auch Krisen, Konflikte und Alleinsein scheinen das Auftreten zu prädisponieren.27 Das Erlebte war sehr vielgestaltig, wie von Schlarb zusammengefasst wird.28 Typische Erfahrungen sind: