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Die Herausgeber

Impressum

Inhalt

Robert S. Hichens

DIE RÜCKKEHR DER SEELE

I

II

III

IV

R. Murray Gilchrist

DER BASILISK

DIE HEXE

Ronald Firbank

EINE TRAGÖDIE IN GRÜN

I

II

III

Emilia (Emily) Francis Dilke

DER SCHREIN DES TODES

Barry Pain

SKLAVIN DES MONDES

Vernon Lee

DER GEKREUZIGTE

I

II

III

DIE GNADENREICHE MADONNA

I

II

III

IV

V

VI

VII

DIE PUPPE

Arthur Machen

EIN IDEALIST

DER KLUB, DEN ES NICHT GIBT

DIE TÜR ÖFFNET SICH …

Matthew Phipps Shiel

HUGUENINS WEIB

VAILA

TULSA

DIE ÜBERSETZER

EDITORISCHE NOTIZ

 

MEISTERWERKE DER DUNKLEN PHANTASTIK

Herausgegeben von Frank Rainer Scheck

 

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ALS ICH TOT WAR

 

Dunkle Phantastik der britischen Dekadenzzeit

 

 

BAND 2

 

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Herausgegeben von

Frank Rainer Scheck & Erik Hauser

 

 

 

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Frank Rainer Scheck, geboren 1948, Studium der Germanistik, Philosophie und Theaterwissenschaften. Seit 1976 Lektor, seit 1979 Cheflektor in einem deutschen Verlag, seit 1993 freier Schriftsteller. Veröffentlichung etlicher Sachbücher. Langjährige Beschäftigung mit der Literatur des Phantastischen; diverse Publikationen, zuletzt (mit Erik Hauser) die Anthologie Berührungen der Nacht (Leipzig 2002).

 

Erik Hauser, geboren 1962, Studium der Anglistik, Germanistik sowie der Vergleichenden und Allgemeinen Literaturwissenschaft. Magister und Staatsexamen. 1997 Promotion mit einer Dissertation über den Traum in der phantastischen Literatur (Passau 2005). Gymnasiallehrer in Mannheim und Lehrbeauftragter an der Universität Heidelberg.

Gesetzt in alter Rechtschreibung.

© 2008 dieser Ausgabe: BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 Windeck

© der Übersetzungen: bei den jeweiligen Übersetzern, s. Editorische Notiz

© der editorischen Beiträge (Vorwort, Einleitung, Autorenporträts, Editorische Notiz) bei den Herausgebern

Titelbildgestaltung: Mark Freier, München

Satz: Winfried Brand

Alle Rechte vorbehalten

www.BLITZ-Verlag.de

ISBN 978-3-95719-904-1

Inhalt

 

Robert Hichens

DIE RÜCKKEHR DER SEELE

 

R. Murray Gilchrist

DER BASILISK

DIE HEXE

 

Ronald Firbank

EINE TRAGÖDIE IN GRÜN

 

Lady Dilke

DER SCHREIN DES TODES

 

Barry Pain

SKLAVIN DES MONDES

 

Vernon Lee

DER GEKREUZIGTE

DIE GNADENREICHE MADONNA

DIE PUPPE

 

Arthur Machen

EIN IDEALIST

DER CLUB, DEN ES NICHT GIBT

DIE TÜR ÖFFNET SICH …

 

M.P. Shiel

HUGUENINS WEIB

VAILA

TULSA

 

Die Übersetzer

Editorische Notiz

 

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Robert S. Hichens

(1864 – 1950)

 

Der zeitweilige Vertraute Oscar Wildes ist der Nachwelt vor allem durch The Green Carnation, einen Schlüsselroman der Dekadenz, in Erinnerung geblieben. Als der Roman – anonym – im Jahre 1894 bei Heinemann in London erschien, ahnten wohl weder der Autor noch die davon Betroffenen, welche Gefahr von dem schmalen Werk ausgehen würde. Das zeitgenössische Lesepublikum erkannte in den Protagonisten Esmé Amarinth und Lord Reggie Hastings ohne Schwierigkeiten Oscar Wilde und seinen Liebhaber Lord Alfred Douglas, genannt Bosie. Als es im Jahre 1895 zum Prozeß gegen Wilde kam, erhielt The Green Carnation zweifelhaften Stellenwert als Beweismittel, war man doch allenthalben davon überzeugt, daß das meiste, was darin beschrieben wurde, sich so oder so ähnlich tatsächlich zugetragen habe.

Wilde, der sich anfangs noch amüsiert über die Satire zeigte, fühlte sich schon bald bemüßigt, einen Leserbrief an das Pall Mall Magazine zu schreiben und sich von der ›grünen Nelke‹ [the green carnation als Einsteckblume fürs Revers] zu distanzieren. »Mit dem durch und durch bürgerlichen und mittelmäßigen Buch, welches ihren [der Nelke] eigenartig faszinierenden Namen im Titel führt, habe ich, unnötig es noch zu betonen, nichts zu schaffen. Die Blume ist ein Kunstwerk. Das Buch ist es nicht.«

Robert Smythe Hichens wurde am 14. November 1864 in Speldhurst/Kent als Sohn eines Geistlichen geboren. Die Familie war begütert, der Großvater hatte als Börsenmakler ein Vermögen gemacht, und Robert, ein Einzelkind, wuchs wohlsituiert in einem ländlichen Umfeld mit Haustieren aller Art auf. Im übrigen galt die Leidenschaft des jungen Hichens der Musik. Als er später in Bristol das Clifton College besuchte, nahm er Orgelunterricht, und auch nachdem er sich 1886 mit dem Abenteuerroman The Coastguard’s Secret erste literarische Meriten erwarb, stand die Musik für ihn weiter im Vordergrund. In London, wo Hichens auf das Royal College of Music ging, schrieb er zahlreiche Texte für zeitgenössische Kabarettsongs, mußte aber erkennen, daß sein musikalisches Talent für eine professionelle Karriere nicht ausreichte. Über die London School of Journalism fand er zurück zum Schreiben und im renommierten Pall Mall Magazine ein publizistisches Forum für seine Erzählungen, zu denen von Anfang an auch Phantastika gehörten. Eine Reihe von Auftragsartikeln, die Hichens über okkultistische Zirkel und spiritistische Séancen im fin-de-siècle-London schrieb, ließen damals modische Ideen (Seelenwanderung, Präkognition, Reinkarnation) in diese frühen literarischen Versuche einfließen. Nebenher blieb die Musik sein Steckenpferd, und als George Bernard Shaw diese Nebentätigkeit aus Zeitgründen aufgeben mußte, wurde Hichens an seiner Statt Musikkritiker der Zeitung World.

Anfang der 1890er etablierte sich der homosexuelle Hichens in den Kreisen der Londoner Boheme. Apropos Geschlechterpräferenz: In seiner Autobiographie Yesterday (1947) erzählt er von seiner tiefen Liebe zu einer jungen Violinistin, die aber durch Machinationen der Brauteltern durchkreuzt worden sei, und stellt es so dar, als habe er, damals zwanzig Jahre alt, nach diesem erotischen Fehlschlag das ›Ewig-Weibliche‹ nur noch platonisch umworben. Nun, gar so keusch hat sich der gut aussehende Hichens unter der einschlägigen Männlichkeit der Hauptstadt nicht aufgeführt.

Seine finanziellen Möglichkeiten, die es ihm wenig später erlaubten, eine lukrative Anstellung beim Daily Telegraph auszuschlagen, brachten ihn in den ›richtigen‹ Restaurants und Clubs, aber auch beim Tennis oder beim Golfspiel, das er tagsüber pflegte (er schrieb nur frühmorgens und spätabends), mit den literati der dekadenten britischen Avantgarde zusammen. In den Olymp dieser Clique war er indessen noch nicht aufgestiegen. Dies geschah auf orientalischen Umwegen:

Als er 1893 von einer lebensgefährlichen Bauchfellentzündung genas, riet ihm der behandelnde Arzt zu einer Ägyptenreise. Am Nil lernte Hichens dann u.a. E.F. Benson kennen, Autor geistreicher Gesellschaftsromane (Dodo, 1893) und zahlreicher Geistergeschichten. Vor allem aber kam er Lord Alfred Douglas näher (wie nahe, sei dahingestellt) und über Douglas, nach der Rückkehr, auch Oscar Wilde.

In der prekären Zeit ›nach Wilde‹ vermochte sich Hichens, mit Verstellung, in der Riege der ›Guten‹ zu behaupten, galt er durch seinen roman à clef doch als verdienstvoller Aufklärer gegen das leibliche ebenso wie gegen das literarische ›Sodomitentum‹. Zugleich wußte er, sich durch lange Auslandsaufenthalte (u.a. Marokko, Algerien, Sizilien, Rom, Lago di Como) allzu scharfer sozialer Kontrolle zu entziehen. Überhaupt sollte Hichens’ Glückslauf nie abreißen, und seine Produktivität, dokumentiert durch etwa fünfzig Romane, zehn Erzählungssammlungen und vier Reisebücher, blieb bis zu seinem Tod am 20. Juli 1950 ungebrochen.

1897 wurde der melodramatische Seelentausch-Roman Flames. A London Phantasy, geschrieben in einem atemlosen, von M.P. Shiel (s. II, S. 231ff) beeinflußten Stil, ein erster großer Erfolg. In einem weiteren, literarisch disziplinierteren phantastischen Roman, The Dweller on the Threshold (1911), sind es zwei befreundete Geistliche, die ihre Beziehung wiederum durch Persönlichkeitstausch vertiefen wollen – die homoerotische Komponente beider Romane ist codiert, bleibt aber unverkennbar.

Daneben gelangen Hichens drei Bestseller, der in Algerien spielende The Garden of Allah (1904), Bella Donna (1909) und The Paradine Case (1933). Gelesen werden diese Bestseller heute kaum noch, jedoch wurden zwei von ihnen verfilmt: The Garden of Allah sogar dreimal, zuletzt 1936 mit Charles Boyer und Marlene Dietrich in den Hauptrollen. Der Kriminalroman The Paradine Case diente 1947 als Vorlage für einen der Thriller Alfred Hitchcocks; Gregory Peck und Charles Laughton gaben ihm schauspielerisches Profil.

Unter Hichens’ unzähligen Kurzgeschichten und Novellen, die in mehreren Sammlungen veröffentlicht wurden (u.a. The Black Spaniel and Other Stories, 1905), ist »How Love Came to Professor Guildea« aus dem Band Tongues of Conscience (1900) sicherlich die bekannteste und gelungenste. Dorothy L. Sayers wählte sie für ihre einflußreiche Anthologie Omnibus of Crime (1929) aus, und seither ist die originelle Geschichte um ein geistesgestörtes Gespenst, das aus Liebe den Professor Guildea ›heimsucht‹, vielfach anthologisiert und nachgedruckt worden; gleich dreimal wurde sie seit 1959 ins Deutsche übersetzt.

Die von uns ausgewählte Erzählung »The Return of the Soul« stammt aus dem Band The Folly of Eustace and Other Stories von 1896. Man mag kritisieren, daß Hichens den Ausgang der Erzählung bereits zu Beginn vorwegnimmt. Auch das Gespräch im Mittelteil zwischen dem Erzähler und dem Professor, dessen Steckenpferd die Seelenwanderung ist, dient eigentlich nur dazu, die Vermutungen, die sich der Leser zu diesem Zeitpunkt bereits gebildet hat, zu bestätigen.

Doch kann man das Psychogramm eines Mannes, der an seiner Persönlichkeit leidet und diese vergeblich zu unterdrücken sucht, der sich lange über die wahren Zusammenhänge hinwegzutäuschen sucht und das Offensichtliche nicht wahrhaben will, auch anders lesen: als eine griechische Tragödie nämlich, bei der das Ende schon vorgezeichnet ist und in der alles unaufhaltsam der sich ankündigenden Klimax zustrebt.

Der einst gefeierte Hichens, der u.a. mit F. Marion Crawford und Edith Wharton, mit Somerset Maugham, Joseph Conrad und Edgar Wallace befreundet war, ist heute – wohl zu Unrecht – fast vollkommen vergessen.

Es dürfte sich lohnen, sein Werk genauer zu untersuchen, zumal darin auch das Phantastische immer wieder eine Nebenrolle gespielt hat: nicht nur in der kurzen Form, sondern auch in Romanen wie Daughters of Babylon (1899), The Prophet of Berkeley Square (1901), The Call of the Blood (1905) und Dr. Artz (1929).

Robert Hichens

DIE RÜCKKEHR DER SEELE

 

»Ich war schon einmal hier

Doch wann und wie, das weiß ich nicht!«

ROSSETTI

 

I

 

Dienstagnacht, 3. November

 

Theorien! Welchen Nutzen haben Theorien? Sie sind die Geißeln der modernen Zeit, die unseren Geist quälen; sie quälen ihn, bis wir verwirrt und verzweifelt sind. Doch noch nie haben sie mich bislang in Unruhe versetzt. Warum also sollte ich mich nun von ihnen aus der Bahn werfen lassen? Zumal die Absurdität jener Theorie, die Professor Black vertritt, offensichtlich ist. Sogar ein Kind würde sie belächeln! Ja, ein Kind! Ich habe bislang nie Tagebuch geführt, habe nie verstanden, daß man Freude daran haben kann, sich spätabends hinzusetzen und minutiös jedes armselige Ereignis des verstrichenen armseligen Tags in irgendein geheimgehaltenes Buch zu kritzeln. Die Leute sagen, es sei überaus interessant, die Einträge Jahre später erneut zu lesen. Als erwachsener Mann über die Mahlzeiten zu lesen, die man als Junge einmal zu sich genommen hat, über die Liebesgeschichte, in die man verstrickt war, über die Tragödie, die man verursacht hat, oder über eine Schuld, für die man nie bezahlt hat – welchen Nutzen soll das haben? Ein Tagebuch zu führen, das schien mir immer zu den selbstauferlegten Lebensplagen zu gehören. Und doch besitze auch ich nun – wie offenbar alle Welt – ein solches geheimes Buch und schreibe darin herum. Ja, so ist es – doch ich habe gute Gründe!

Ich möchte mir nämlich gewisse Dinge vor Augen führen, und – wie viele andere vor mir – habe ich herausgefunden, daß mein Geist mit einer Schreibfeder in der Hand einfach besser arbeitet. Das ›Zu-Papier-Bringen‹ der Worte vertreibt die Wolken, die sich drückend über meine Gedanken legen. Ich will mir verschiedene Ereignisse ins Gedächtnis rufen, um dadurch geistige Ruhe zu gewinnen und mir selbst zu beweisen, wie absurd es wäre, an Professor Blacks Ideen zu glauben. Früher einmal habe ich ihn übrigens ›Professor Staubtrocken‹ genannt. Trocken? Ganz im Gegenteil, er steckt voll wilder Romantik, voller Schwachsinn, dem selbst ein Schulmädchen keinen Glauben schenken würde. Gleichzeitig ist er freilich ein über die Maßen kluger Zeitgenosse; allein seine Karriere beweist das. Dennoch, es gilt das alte Sprichwort, daß sich gerade kluge Menschen in die Irre führen lassen. Wer sucht, ist für Irrlichter besonders empfänglich und sagt Dinge, die einfach nicht wahr sein können. Sobald ich diese Seiten geschrieben habe und im nachhinein mit der gebotenen Distanz lesen werde, was ich da zu Papier gebracht habe – nicht anders, als ein Außenstehender es lesen würde –, werde ich endgültig abgeschlossen haben mit den Hirngespinsten, die mir mein Leben allgemach zu einer Last werden lassen. Meine Gedanken zu ordnen, das wird Balsam für meine Seele sein. Der böse Geist, der sich bei mir eingenistet hat, wird schläfrig werden und ersterben. Ich werde geheilt sein. Es MUSS so sein – es WIRD so sein.

Aber zurück zum Anfang! Ach! Wie lange das schon her ist! Ich war ein grausam veranlagtes Kind. Nun, die meisten Jungen sind wohl grausam in ihrer Art. Meine Schulkameraden waren jedenfalls eine gnadenlose Bande – gnadenlos zueinander, gnadenlos – wann immer sich die Gelegenheit bot – zu den Lehrkräften, und gnadenlos natürlich auch zu den Tieren, speziell den Vögeln. Das Verlangen danach, zu foltern und zu quälen, fand sich in fast allen von ihnen. Sie ergötzten sich daran, andere herumzuschubsen, und wenn sie diese anderen nur ein klein wenig herumstießen, dann allein aus Angst vor möglichen Folgen für sie, nicht aus Nächstenliebe. Sie wollten nicht, daß der von ihnen geworfene Bumerang zu ihnen zurückkehre und sie erschlüge. War ein Junge verunstaltet, so hänselten sie ihn. War ein Lehrer freundlich oder sanftmütig oder schüchtern, machten sie ihm das Leben so schwer wie nur möglich. Brachten sie ein Tier oder ein Vogel in ihre Gewalt, zeigten sie keinerlei Mitleid. Und ich war nicht besser als der Rest. Um ehrlich zu sein: Ich glaube, ich war der schlimmste von allen. Grausamkeit ist etwas Schreckliches. Ich weiß es nur allzu gut – und ich habe genug Vorstellungskraft, es zu empfinden.

Einige meinen, es sei Mangel an Phantasie, der Jungen und Mädchen zu Unmenschen werden läßt. Aber ist es nicht vielleicht eher ein Übermaß an Phantasie? Das Interesse daran zu foltern, wird geringer, geht fast verloren, wenn wir nicht neben dem Folterer auch der Gefolterte sein können.

Als Kind war ich von Natur aus grausam, gehorchte meinen Instinkten. Ich war ein hübscher, wohlerzogener, sanft wirkender kleiner Unmensch. Meine Eltern vergötterten mich, und ich war gut zu ihnen. Sie waren so nett zu mir, daß ich sie fast lieb hatte. Warum auch nicht? Es schien mir zweckmäßig, sie gern zu haben. Ich machte, was ich wollte, aber ich habe es sie nicht immer wissen lassen; auf diese Weise stellte ich sie zufrieden. Ein kluges Kind wird darauf achten, seine Eltern über vieles im dunkeln zu lassen. Meine Eltern waren ziemlich gut situiert, und ich war ihr einziges Kind. Aber das große Los auf ein zukünftiges sorgenfreies Leben winkte mir durch meine Großmutter mütterlicherseits. Sie war immens reich, und sie lebte hier in diesem Haus. Das Zimmer, in dem ich diese Zeilen schreibe, war ihr bevorzugter Aufenthaltsraum. Und dort an dem Kamin, bei einem Holzfeuer, wie es auch im Moment gerade brennt, saß diese wundervolle Katze, die sie hatte – diese furchtbare Katze! Warum habe ich bloß meine Vorteile als Kind ausgespielt, um dieses Haus, dies alles hier zu gewinnen? Seit kurzem habe ich manchmal darüber nachgedacht, törichterweise vielleicht. Aber würde Professor Black es töricht finden?

Ich erinnere mich, ich war gerade sechzehn, als ich hier Großmutter meinen letzten Besuch abstattete. Ich fand es langweilig herzukommen, aber es hieß, daß sie dem Tode nahe sei, und der Tod hinterläßt leere, große Häuser, in die dann andere einziehen können. Als meine Mutter also sagte, ich ginge besser hin, und mein Vater hinzufügte, er glaube, meine Großmutter habe mich inniger ins Herz geschlossen als meine anderen Verwandten, da gab ich all meine jungenhaften Pläne für die Ferien scheinbar bereitwillig auf. Obwohl fast noch ein Kind, war ich nicht kurzsichtig. Ich wußte, daß jeder Junge nicht nur eine Gegenwart, sondern auch eine Zukunft hat. Ich gab meine Pläne auf und kam hierher mit einem Lächeln; aber tief in meinem Herzen habe ich meine Großmutter für ihre Macht gehaßt – eine Macht, die mich zwang, Vergnügen gegen Langeweile einzutauschen. Ich haßte sie, und ich ging zu ihr, gab ihr einen Kuß, sah ihre hübsche weiße Perserkatze in diesem Zimmer vor dem Feuer sitzen und dachte an den Jungen, der mein bester Freund war und mit dem ich jetzt gerne zusammen gewesen wäre, um zu schießen, zu fischen, zu reiten. Und ich sah wieder zu der Katze hinüber. Ich erinnere mich, daß sie zu schnurren begann, als ich näher kam. Sie saß ruhig da, ihre blauen Augen fixierten das Feuer, und als ich sie erreichte, fing sie an, selbstgefällig zu schnurren. Ich hätte sie am liebsten getreten. Sie hatte sich voller Zufriedenheit innerhalb der Grenzen ihrer lächerlichen Existenz eingerichtet. Auf eine absurde, reduzierte Weise schien sie meine Großmutter mit ihrer weißen Spitzenhaube, dem weißen Gesicht und den weißen Händen nachzuahmen. Die saß den ganzen Tag in ihrem Sessel und schaute ins Feuer. Die Katze saß auf der Kaminmatte und tat das gleiche. Sie erschien mir als die tiergewordene Verkörperung jenes menschlichen Wesens, das mich angekettet hielt, fern von all dem Spaß und dem Vergnügen, die ich mir von den Ferien versprochen hatte. Als ich in die Nähe der Katze kam und hörte, wie sie mich leise anschnurrte, verspürte ich das Bedürfnis, ihr etwas anzutun. Ich hatte den Eindruck, als würde sie verstehen, was meine Großmutter nicht verstand, und als würde sie selbstgefällig über meine freiwillige Gefangenschaft, meine Unterwerfung unter die Wünsche einer Greisin triumphieren, und in sich hineinlachen ob der Qualen, die ein Erwachsener – oder auch ein junger Bursche – des Geldes wegen auf sich nimmt. Verfluchte Bestie! Ich hatte für meine Großmutter nichts übrig, aber sie hatte Geld. Ich habe die Katze abgrundtief gehaßt. Und sie hatte nichts zu vererben, nicht einen Penny!

Dieses schöne Haus ist noch gar nicht so alt. Mein Großvater hat es selbst gebaut. Er hatte wohl nichts übrig fürs Stadtleben, war überaus naturverbunden. Als junger Mann hatte er eine eigentümliche Rundreise durch England unternommen. Sein Ziel war es, das perfekte Panorama zu finden und sich dann an diesem Aussichtspunkt ein Haus zu bauen. Fast ein Jahr, so jedenfalls hat man es mir erzählt, durchstreifte er Schottland und England, bis er schließlich hier nach Cumberland gelangte, zu diesem Ort, zu genau diesem Grundstück. Hier fand seine Wanderschaft ein Ende. Als er auf der Geländeterrasse stand – damals erhob sich hier verwilderter Wald –, die vor diesen Fenstern verläuft, glaubte er endlich gefunden zu haben, wonach er gesucht hatte. Er kaufte das Waldstück. Er kaufte den mäandrierenden Fluß, die Felder entlang seiner Ufer, und am äußersten Rand der steilen Flußschlucht ließ er diesen Prachtbau errichten, der jetzt mir gehört.

Der Bauplatz ist kein gewöhnlicher. Vielmehr besitzt er ganz besondere Eigenart. Das Haus ist traumhaft gelegen: an einem Steilabfall zum Fluß, der sich fast wie ein Hufeisen um diesen Abbruch legt. Die Wälder sind bezaubernd. Der Garten, der von seltsamer Wildheit ist, gleicht keinem anderen, den ich je gesehen habe. Und das Haus, obwohl nicht alt, ist voller kleiner Überraschungen: eigentümlich geschnittene Räume, auffällige Treppen, kuriose Nischen und Alkoven. Hat man diese eigenwillige Architektur einmal gesehen, vergißt man sie nicht wieder. Nein, dieses Haus bleibt einem im Gedächtnis haften. Wer auch immer hier gelebt hat, könnte nie zurückkehren, ohne sich daran zu erinnern, schon einmal hier gewesen zu sein. Nicht einmal ein Tier – ja, nicht einmal ein Tier.

Ich wünschte, ich hätte die Einladung zum Essen nie angenommen und den Professor niemals kennengelernt. Damals rührte sich in mir so etwas wie Grauen. Er hat dessen Nahen beschleunigt. Er hat meinen Ängsten Form gegeben, meinen vagen Vermutungen Worte. Warum können die Menschen das Leben nicht einfach so hinnehmen, wie es ist? Warum gehen sie ihm an die Kehle, um ihm seine Geheimnisse abzuringen? Zurückhaltung zu üben ist eine der ersten Eigenschaften eines Ehrenmannes; und das Leben verdient alle Zurückhaltung.

Langsam wird es spät, sehr spät sogar. Gerade glaubte ich, Schritte im Haus zu hören. Ich frage mich – ich frage mich, ob sie wohl schläft. Ich wünschte, ich wüßte es.

Tag um Tag verstrich. Meine Großmutter schien schwächer zu werden, allerdings war der Niedergang kaum merklich. Offensichtlich suchte sie meine Nähe. Wie die meisten alten, sterbenden Leute klammerte sie sich innerlich verzweifelt ans Leben, auch wenn es nichts mehr für sie bereit hielt. Ich bin davon überzeugt, daß sie mich zunehmend als die Verkörperung all dessen betrachtete, was ihr entglitt. Meine Lebenskraft wärmte sie. Sie streckte ihre Hände nach dem lodernden Herdfeuer meiner Vitalität aus. Sie schien sich durch mich ans Leben klammern zu wollen und bekam schließlich Angst, mich auch nur für Stunden aus dem Blick zu lassen. Eines Tages sagte sie zu mir mit ihrer zitternden, häßlichen Stimme – alte Stimmen sind so häßlich, klingen wie schrecklich verzerrte Echos: »Ronald, wenn du bei mir bist, könnte ich niemals sterben. So lange du im Zimmer bist und ich dich berühren kann, so lange werde ich am Leben bleiben.«

Und sie streckte ihre weiße Runzelhand aus und liebkoste meine warme junge Hand.

Ach, wie ich mich danach sehnte, diese Hand wegzustoßen und nach draußen ins Sonnenlicht und in die frische Luft zu stürmen und junge Stimmen zu hören, die Stimmen des Morgens, nicht die der Abenddämmerung, und fortzukommen vom faltigen Tod, der auf der Türschwelle dieses Hauses zu sitzen schien, in sich gekrümmt wie ein Bettler, der darauf wartet, daß sich die Tür auftut!

Die Langeweile weckte allmählich – ich muß es zugeben – meine Boshaftigkeit. Und die Boshaftigkeit in mir verlangte mit Macht nach der Freiheit, sich an jemandem oder an etwas vergreifen zu können. Mein Blick wanderte zu jener Katze, die, wie immer, vor dem Feuer saß.

Tiere haben eine ebenso scharfe Intuition wie Frauen, schärfer ausgeprägt als die eines Mannes. Eine lange Reihe von Vorfahren, die unter den Händen grausamer Menschen zu leiden hatte, hat ihr Blut mit Angstinstinkten gegenüber möglichen Übeltätern versetzt. An einem Blick, an einer Bewegung, am Tonfall einer Stimme vermögen sie zu erkennen, ob sie von jemandem Freundlichkeit oder Gemeinheit zu erwarten haben. Am Tag meiner Ankunft hatte die Katze noch selbstzufrieden geschnurrt, ihr weißes Rückenfell meiner Hand entgegengereckt, und um ihre ruhigen, hellblauen Augen stand damals ein Lächeln. Wenn ich mich ihr aber jetzt näherte, schien sie in sich zusammenzusinken und kleiner zu werden. Sie versuchte, mir auszuweichen, und in ihren blauen Augen zeichnete sich – zumindest bildete ich mir das ein – ein wachsendes Begreifen, ein wachsender Schrecken ab. Sie hielt sich jetzt immer ganz nah bei meiner Großmutter, so als ob sie dort Schutz suche, und sie beobachtete mich, als ob ihr die Absicht, die sie in mir heranreifen sah, bedrohlich vor Augen stünde.

Und jene Absicht wurde tatsächlich immer stärker in mir.

Denn während die Tage verstrichen und meine Großmutter einfach nicht sterben wollte, begann mich Verzweiflung zu überwältigen. Meine Ferienzeit ging zu Ende, aber meine Eltern schrieben mir, ich solle trotzdem bleiben und mir keine Gedanken über die Schule machen. Meine Großmutter hatte ihnen in einem Brief berichtet, daß sie sich nicht von mir trennen könne, und hinzugefügt, daß meine Eltern es keinen Moment bereuen würden, meine Ausbildung für eine Weile unterbrochen zu haben. »Er wird für jeden Augenblick, den er verliert, angemessen entschädigt werden«, schrieb sie in bezug auf mich.

Es erschien etwas merkwürdig, daß sie sich mit solcher Macht an einen Halbwüchsigen klammerte; freilich war sie mit Frauen nie gut zurechtgekommen, und ich war ein hübscher junger Bursche – sie mochte hübsche Gesichter. Die Brutalität meines Wesens war meinen Zügen nicht abzulesen. Ich hatte lachende, offene Augen, eine geschmeidige Knabenfigur, eine fröhliche junge Stimme. Meine Bewegungen waren flink, und man hat mir immer nachgesagt, daß meine Gestik niemals unbeholfen, mein Benehmen nie ungehobelt war, wie das bei Schulbengeln so oft der Fall ist. Ich besaß ein gefälliges Äußeres, und die alte Dame, die zwei Ehemänner nur wegen ihres gutes Aussehens geheiratet hatte, schwelgte in dem Machtgefühl, mich an ihre Seite bannen zu können, obwohl Jungen in meinen Jahren alte Leute sonst wie die Pest meiden.

Zudem gab ich vor, sie zu lieben, und erfüllte jeden ihrer unerträglich ermüdenden Wünsche. Gleichwohl dürstete ich danach, mich grausam an ihr zu rächen. Mein bester Freund, der Junge, mit dem ich eigentlich meine Ferien hatte verbringen sollen, würde am Ende dieses Schulhalbjahres, das für mich ja nun ausfiel, von der Schule abgehen. Er schrieb mir wütende Briefe, in denen er mich drängte zurückzukommen und mir wegen meiner Selbstsucht und meines Mangels an Zuneigung Vorwürfe machte.

Jedes Mal, wenn ich einen dieser Briefe erhielt, sah ich die Katze an, und diese drückte sich näher an den Stuhl meiner Großmutter. Sie schnurrte jetzt nicht mehr, nicht ein einziges Mal mehr, und nichts konnte sie dazu bewegen, den Raum zu verlassen, in dem meine Großmutter thronte. Eines Tages sagte das Dienstmädchen zu mir: »Ich glaube, das arme Luder weiß, daß es die Herrin nicht mehr lange machen wird, Sir. Die Art, wie die Katze zu ihr aufschaut, treibt mir die Tränen in die Augen. Ach, solche Viecher verstehen von diesen Dingen genauso viel wie wir – mein’ ich.«

In der Tat, die Katze wußte offenbar, wie es um meine Großmutter stand, und beobachtete sie auf eine merkwürdige Art und Weise, sie starrte hoch in ihr Gesicht, wie um die sich verändernden Konturen zu prüfen, die tiefer werdenden Linien, das Einsinken der Gesichtszüge, die das allmähliche Nahen des Todes anzeigten. Sie lauschte der Stimme ihrer Herrin; und da diese Stimme von Tag zu Tag undeutlicher, schwächer und tonloser wurde, wuchs in ihr die Furcht und setzte sich tief in ihren blauen Augen fest – eine Furcht, die mich insgeheim jubeln ließ. So jedenfalls habe ich es in Erinnerung.

Ich war damals mit viel morbider Vorstellungskraft ausgestattet und ergötzte mich daran, ein Netz aus Phantasien, überwiegend schrecklichen, zu weben und um alles zu legen, was zu meinem Leben gehörte. Ich stellte mir mit Vergnügen vor, daß die Katze jeden neuen Plan, der mir in den Sinn kam, verstünde – still von ihrem Platz nahe dem Kamin aus in meinem Gesicht las, meine Gedanken ergründete und, sie begreifend, von Schrecken erfüllt wurde, während ich mich auf ein bestimmtes Vorhaben konzentrierte, auf einen Plan, der sich von Tag zu Tag weiter festigte. Sagte ich schon, daß ich mir das mit Vergnügen vorstellte? Ich glaubte wirklich und glaube auch heute noch, daß die Katze all und jedes begriff und sich in Angst verzehrte, zumal meine Großmutter augenscheinlich immer schwächer wurde. Denn sie wußte, was deren Ende für sie bedeutete.

Am Tag meiner Ankunft, als ich meine Großmutter mit ihrer weißen Haube, ihrem weißen Gesicht und den weißen Händen erstmals erblickte, die große weiße Katze in ihrer Nähe, fand ich, daß sich die beiden sehr ähnlich seien. Diese Ähnlichkeit wurde immer augenfälliger für mich, je länger ich in dem Haus weilte, bis das Tier mir fast wie eine Kopie der Frau erschien, und nach jedem Brief meines Freundes nahm mein Haß auf beide zu. Aber der Haß auf meine Großmutter blieb ohnmächtig und würde es immer sein. Nein, ich würde ihr niemals das tiefe Empfinden von ennui heimzahlen können, dieser ins Mark gehenden, erzwungenen Untätigkeit, die mir das Leben zur Qual machte und meine schlechtesten Charakterzüge hervortreten ließ: eine Niedertracht, die indes in schrecklicher, erzwungener Ruhe gehalten wurde und den vorgegebenen Sachverhalt nicht zu ändern vermochte.

Aber ich konnte es ihrem Liebling heimzahlen, der Kreatur, die sie immer über alles geschätzt hatte, ihrer Katzenvertrauten, die unter ihrem Schutz Sicherheit genoß. An ihr würde ich meinen Furor auslassen können, wenn dieser Schutz zu guter Letzt, so wie es unausweichlich war, wegfallen würde. Es erschien meinem brutalen, einfallsreichen, unfertigen Jungenhirn so, als ob der Mord ihres Lieblingstieres meine Großmutter sogar nach ihrem Tod noch treffen und ihr wehtun könne. Dann, wenn sie nicht mehr in der Lage war, Rache an mir zu nehmen, wollte ich sie leiden lassen. Ich würde die Katze töten.

Die Katze kannte meinen Entschluß von dem Tag an, als ich ihn faßte – ich würde sogar sagen, sie hatte ihn erwartet. Wie ich so Tag für Tag in dem dämmrigem Raum neben dem Ohrensessel meiner Großmutter saß – die Jalousien waren heruntergelassen, um die Sommersonne auszusperren – und in gedämpftem, ehrfürchtigem Ton mit ihr sprach, all ihren gestammelten alten Banalitäten zustimmend und all den absurden Meinungen, die sie umständlich darlegte, starrte ich an ihr vorbei die Katze an – das Geschöpf wirkte von schlimmen Ahnungen inzwischen geradezu abgehärmt.

Sie wußte so gut wie ich, daß ihre Stunde schlagen würde. Manchmal beugte ich mich hinunter, nahm sie auf den Schoß, um mich bei meiner Großmutter einzuschmeicheln, und pries die Schönheit und Sanftheit des Tiers. Und die ganze Zeit über spürte ich den warmen Fellkörper in meinen Händen vor Entsetzen zittern. Das gefiel mir, und ich gab vor, nur glücklich und zufrieden zu sein, wenn die Katze auf meinem Schoß saß. Dort hielt ich sie stundenlang fest, streichelte sie zärtlich, glättete ihr weißes Fell, das stets höchst gepflegt war, redete mit ihr und liebkoste sie.

Und manchmal nahm ich ihren Kopf zwischen meine Hände, drehte ihr Gesicht zu mir hin und starrte in ihre großen, blauen Augen. Und in diesen Augen konnte ich dann all ihre Pein lesen, all ihre quälenden Ängste, und trotz der Briefe meines Freundes und der Eintönigkeit meiner Tage war ich für Momente nahezu glücklich.

Der Sommer nahm seinen Lauf, die Rosen leuchteten glutvoll über den Gartenpfaden, und der Himmel über Scawfell war wolkenlos, als schließlich das Ende kam. Das Gesicht meiner Großmutter war kaum noch wiederzuerkennen. Ihre Augen waren tief eingefallen. Jeder Ausdruck schien allmählich zu verblassen. Ihre Wangen waren nicht länger von ehrwürdigem Elfenbeinweiß; vielmehr überzog eine trübe, kranke, gelbe Blässe sie. Nur noch selten sah sie mich an, vielmehr saß sie eingegraben in ihrem Sessel, und ihre geschrumpften Glieder schienen zu Boden gleiten zu wollen, um dort den Tod zu empfangen. Ihre dünnen Lippen waren ausgetrocknet, bewegten sich aber unablässig, freilich ohne einen Laut hervorzubringen – so als ob sich ihr Geist zwar noch zu äußern wünsche, die Stimme aber versage. Die Lebensflut zog sich aus ihrem Körper zurück; fast sichtbar verebbte sie. Die kaum noch merklichen Wellen am Ufer verursachten kein Geräusch. Der Tod ist unheimlich – so wie alle sprachlosen Dinge.

Ihr Dienstmädchen drängte darauf, sie möge im Bett bleiben, aber mit den gemurmelten Worten, es gehe ihr gut, stand sie dennoch auf. Der Arzt meinte, es sei zwecklos, sie davon abhalten zu wollen. Meine Großmutter litt an keiner bestimmten Krankheit. Einzig die Last der Jahre erheischte ihren Tribut. Also wurde sie jeden Tag in ihren Sessel beim Feuer gesetzt, und dort blieb sie bis zum Abend sitzen, mit trocken-gesprungenen Lippen vor sich hin brabbelnd. Die steifen Falten ihrer seidenen Röcke schufen am Fuß des Stuhls eine Art Nische, und die Katze verkroch sich dort Stunde um Stunde – still, weiß und wartend.

Und die Lebenswellen ebbten ab und verebbten – und so wie die Katze wartete auch ich.

Eines Nachmittags, als ich wieder einmal bei meiner Großmutter saß, trat das Mädchen ein und brachte mir einen Brief, der gerade mit der Post eingetroffen war. Ich öffnete ihn. Willoughby, mein alter Schulfreund, hatte ihn mir gesandt. Er schrieb, daß seine Schulzeit abgelaufen sei, daß er die Schule verlasse und daß sein Vater beschlossen habe, ihn nach Amerika zu schicken, damit er dort, in New York, ins Geschäftsleben eintrete – anstatt nach Oxford zu gehen, wie er selbst es sich gewünscht hatte. Er sagte mir Lebewohl und meinte, wir würden uns wohl auf Jahre nicht mehr sehen. »Aber«, fügte er hinzu, »wahrscheinlich kümmert dich das nicht einen Deut, denn dir geht es ja nur um das gottverdammte Geld, hinter dem Du unerbittlich her bist. Ja, Du hast mir eine Lektion fürs Leben erteilt, Ronald. Sie lautet: glaube niemals an so etwas wie Freundschaft.«

Während ich diesen Brief las, knirschte ich mit den Zähnen. Alles Gute in mir war auf Willoughby gerichtet. Er war ein wirklich netter Kerl. Ich mochte ihn ehrlich und aufrichtig. Was er mir mitteilte, versetzte mich in eine Art Schock und zerschmolz mein Herz in glühendes Eisen. Vielleicht würde ich ihn nie wiedersehen; und selbst, wenn dies doch irgendwann geschähe, würde die Zeit ihn mir als einen anderen präsentieren, ihn gleichsam verzehrt haben – nein, seine Jugendfrische, den Morgen in seinen Augen würde ich nie mehr sehen.

In diesem Moment haßte ich mich dafür, daß ich geblieben war; aber noch mehr haßte ich die alte Frau, die mich hier festgehalten hatte. Einen Moment lang war ich nicht mehr ganz ich selbst. Ich zerknüllte den Brief mit fiebriger Hand, und mit aufgewühlten Gefühlen wandte ich mich der gelben, rätselhaften, todgeweihten Gestalt in ihrem immer geräumiger werdenden Ohrensessel zu. Mein ganzer Zorn, der so lange schon in meinem Herzen schwärte, stieg an die Oberfläche und rückte meine Selbstsucht, die Hoffnung auf ein reiches Erbe ins zweite Glied. Mit stechenden Augen und bebenden Gliedern wandte ich mich meiner Großmutter zu. Mein Mund öffnete sich zu Strömen von Vorwürfen – aber was war da mittlerweile geschehen, welch tiefgreifende Veränderung hatte sich in dieses runzelige, gelbe Gesicht gestohlen? Ich beugte mich über die Großmutter. Ihre Augen starrten mich an – aber auf welch fürchterliche Art und Weise! Sie war so tief in ihren Sessel eingesunken, sie sah so schrecklich, so unglaublich fremd aus. Ich legte meine Finger auf ihre Augenlider. Ich zog sie über die Augäpfel. Sie öffneten sich nicht wieder. Ich fühlte ihre verdorrten Hände – sie waren eiskalt. Da wußte ich, was geschehen war, und ich spürte, daß sich ein Lächeln auf meinem Gesicht ausbreitete. Ich beugte mich über die Tote. Auf der anderen Seite des Sessels kauerte die Katze. Ihr weißes Fell war gesträubt; ihre blauen Augen weit aufgerissen; sie hatte Schaum vor dem Mund.

Über den Leichnam hinweg griff ich nach dem Tier.

All das ist nun fast zwanzig Jahre her; dennoch erfüllt die Erinnerung an dieses Erlebnis und das, was dann folgte, auch heute noch, ja gerade heute nacht, mein Herz mit einer Angst, die ich bekämpfen muß. Ich habe von Menschen gelesen, die über lange Zeiträume hinweg von den Dämonen ihrer Einbildungskraft verfolgt wurden, und ich habe über sie gelacht oder sie bemitleidet. Ganz gewiß werde ich mich nicht von Torheit und Wahnsinn überwältigen und auf den Flügeln meiner Phantasie durch die Tore des Schreckens tragen lassen, auch wenn die beiläufige Bemerkung eines dünkelhaften Professors – ein Mann der Wissenschaft zwar, aber auch ein Mann schrulliger Überzeugungen – meine Ängste halb zu bestätigen scheinen.

Zwanzig Jahre ist das her, und wenn die heutige Nacht verstrichen ist, will ich es auf immer vergessen. Sagte ich: heute nacht? Aber es ist unüberhörbar: Draußen zwitschern die Vögel schon im Tau – und die ersten fahlen Sonnenstrahlen berühren das Moor. Ich bin müde. Nicht heute mehr, aber morgen nacht werde ich dieses Ringen mit meiner eigenen Torheit endlich beenden und meiner Einbildungskraft den Gnadenstoß versetzen. Für jetzt indessen genug! Mein Geist ist voller Unruhe, und in diesem aufgewühlten Zustand will ich nicht weiterschreiben.

II

 

Mittwochnacht, 4. November

 

Margot ist endlich zu Bett gegangen, und ich bin allein. Es war ein schrecklicher Tag – ja, schrecklich; aber ich will mich damit jetzt nicht länger aufhalten.

Nach dem Tode meiner Großmutter kehrte ich in die Schule zurück. Aber Willoughby war nicht mehr da, und er konnte mir nicht verzeihen. Er schrieb mir ein, zwei Male aus New York, dann hörte ich nichts mehr von ihm. Seine Zuneigung zu mir hatte sich anscheinend verflüchtigt seit dem Tag, an dem er zu dem unumstößlichen Urteil gelangt war, daß ich, so wie all und jeder in dieser Welt, nur ein schäbiger Glücksritter sei, nur daß sich der Krämerinstinkt in mir schon in einem ungewöhnlich frühen Alter entwickelt habe. Ich ließ ihn seiner Wege gehen. Was tat es letztlich? Aber eins blieb doch: die Freude darüber, daß ich an dem Tag, an dem meine Großmutter starb, die lang schon geplante Untat beging. Ich habe niemals bereut, was ich tat – niemals. Hätte ich es getan, wäre ich jetzt vielleicht glücklicher.

Ich kehrte in die Schule zurück. Ich büffelte, spielte, handelte mir Ärger ein und wand mich aus Mißlichkeiten wieder heraus, so wie andere Jungen meines Alters auch. Doch schien über meinem Leben eine beständige Kälte zu liegen, vielleicht nur mir selbst bewußt. Meine Gewalttat, der brutale Racheakt an einem Wesen, das mir nie etwas getan hatte, hatte einen Abdruck auf meiner Seele hinterlassen. Ich bereute nicht, aber ich konnte auch nicht vergessen, und manchmal dachte ich – wie albern sich das ausnimmt, wenn man es zu Papier bringt! –, daß es da eine versteckte Kraft gäbe, die ebenfalls nicht vergessen könne und Buße von mir erwarte. Nur weil ein Geschöpf nicht vernunftbegabt ist – muß seine Seele deshalb mitsamt seinem Körper sterben? Ist die Seele nicht vielmehr – ganz wie er es behauptet hat – auf steter Wanderschaft durch viele Körper?

Wenn ich aber keine Seele tötete, als ich damals den Katzenkörper tötete, damals, an dem Tag, an dem Großmutter starb – wo befindet sich diese Seele nun? Das ist die Frage, auf die ich eine Antwort suche – ja, eine Antwort finden muß, wenn ich mein Lebensglück zurückgewinnen will.

Ich kehrte in meine Schule zurück und wechselte dann nach Oxford. Ich genoß die Kostproben des ebenso eigenwilligen wie eigentümlichen Studentenlebens, das beschränkt in seinem Gesichtskreis, aber vital und pulsierend ist – ein Dasein, mit dem sich eine unbedarfte, lebhafte Jugend für den Kampf rüstet mit jenen Waffen, die einst von den Toten geschmiedet und danach von den älteren unter den Lebenden gehärtet und geschliffen wurden.

Ich bewährte mich unter den Studenten und zog danach hinaus in die Welt. Um diese Zeit begann ich auch den Wert meines Erbes zu erfassen; denn all das, was einst meiner Großmutter gehört hatte, war nun mein eigen. Meine Familie wollte, daß ich heiratete, aber ich hatte nicht vor, mir Fesseln anlegen zu lassen. Also nahm ich den Schwamm meines Vermögens in meine beiden kräftigen Hände und versuchte ihn, so gut es ging, auszupressen. Dabei bemerkte ich nicht, wie traurig ich eigentlich war. Ich merkte es erst, als ich mit dreiunddreißig – siebzehn Jahre waren seit dem Tod meiner Großmutter vergangen – zu begreifen begann, was es eigentlich mit dem sogenannten Glück auf sich hat. Natürlich war es die Liebe, die mich klüger machte – man muß es nicht weiter erklären. Ich hatte oft mit der Liebe gespielt, nun spielte die Liebe mit mir … wie auf einem Instrument, und ich erzitterte unter den Harmonien, die sie mit ihren Griffen hervorbrachte.

Ich lernte ein junges Mädchen kennen, ein sehr junges Mädchen, das gerade am Anfang ihres Lebens und Frauseins stand. Sie war siebzehn, als ich sie das erste Mal sah. Damals tanzte sie Walzer auf einem großen Londoner Ball – ihrem allerersten Ball. In der Menge der Tanzenden flog sie an mir vorbei, und sie fiel mir auf. Da sie eine Debütantin war, war ihr Kleid natürlich schneeweiß. Kein einziger Farbtupfer hob sich von diesem Weiß ab, keine Blume, kein Schmuckstück. So hellblondes Haar wie das ihre hatte ich noch nie gesehen – es war von der Farbe einer frühen Primel. Naturkraus, verdeckte es fast die weiße Schleife darin, während sich in ihrem Nacken helle Löckchen ringelten. Ihre Haut – von einem klaren, strahlenden Weiß – schimmerte heller als Elfenbein. Ihre großen Augen waren porzellanblau.

Das junge Mädchen tanzte wieder und wieder an mir vorbei, und mein Blick ruhte müßig, fast ein wenig zynisch auf ihr. Denn sie schien so glücklich zu sein, und zu jener Zeit hatte ich für Glück, wenn es sich offen darbot, nur ein Achselzucken übrig. Glücklich zu sein, das schien mir fast dasselbe, wie geistlos zu sein. Aber nach und nach mußte ich feststellen, daß sich meine Augen nicht mehr von diesem Mädchen lösen wollten. Ein neuer Tanz begann. Sie reihte sich mit einem neuen Partner ein und schien mit ihm genau so zufrieden zu sein wie mit dem vorherigen. Sie gönnte ihm keine Pause, wollte keinen Tanz auslassen. Jugend und Frische sprachen aus diesem sanften Drängen. Ich begann mich für sie zu interessieren, sogar sehr. Sie erschien mir wie der Geist der Jugend, der über den Körper der Zeit tanzte. Ich faßte den Entschluß, sie kennenzulernen. Ich fühlte Überdruß in mir und meinte, sie könne mir vielleicht neue Lebenskraft verleihen. Der Tanz kam zu einem Ende, und ich trat zu meiner Gastgeberin, machte sie auf das Mädchen aufmerksam und fragte, ob sie uns bekannt machen könne. Wie sich erwies, war ihr Name Margot Magendie, und abgesehen davon, daß sie eine Schönheit war, galt sie als reiche Erbin, als gute Partie.

Darum ging es mir freilich nicht. Es war allein ihre menschliche Ausstrahlung, die mich anzog.

Dennoch, so merkwürdig es klingen mag, als ich Miss Magendie vorgestellt wurde und ihr von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand, da schreckte ich seltsamerweise vor ihr zurück. Ich habe das nie verstanden, aber das Blut gefror mir in den Adern, und mein Herzschlag stockte fast. Ich wäre ihr mit einem Mal lieber aus dem Weg gegangen, etwas in mir schien sich plötzlich instinktiv gegen sie aufzulehnen. Aber es war zu spät, schon hatte man uns miteinander bekannt gemacht, und ihre Hand legte sich auf meinen Arm.

Ich begann buchstäblich zu zittern. Doch sie schien es nicht zu bemerken. Die Kapelle spielte einen Walzer, und das unerklärliche Entsetzen, das mich gepackt hatte, verlor sich beim Klang der fröhlichen Musik. Vor kurzem ist es allerdings wieder zurückgekehrt.

Selten habe ich einen Walzer mehr genossen. Unsere Tanzschritte waren vollkommen aufeinander abgestimmt, und ihr augenscheinlich kindliches Vergnügen darüber ergriff auch von mir Besitz. Der Geist ihrer Jugend klopfte an mein schon abgestumpftes Herz, und ich öffnete. Es war schön und eigenartig. Ich unterhielt mich mit ihr und fühlte mich jünger – geistreich statt zynisch –, ja ich ließ mich sogar in einen überschwenglichen, wenn natürlich auch albernen Optimismus hineinziehen. Sie war sehr natürlich, überhaupt nicht mondän, voll von bruchstückhaften, aber entschiedenen Ansichten über das Leben – Ansichten, die sie ohne Scheu kundtat und die sie ohne großes Nachdenken auch bei mir voraussetzte.

Als wir kurz darauf plaudernd in einem Korridor unter einer rosaroten Hängeampel saßen und sie mich mit ihren großen blauen Augen anschaute, da regte sich eine schwache Erinnerung in mir und wühlte meine Gedanken auf.

»Bestimmt«, sagte ich zögernd, »bestimmt bin ich Ihnen schon einmal begegnet … Es kommt mir jedenfalls so vor, als hätte ich schon einmal in ihre Augen geblickt.«

Während ich das sagte, dachte ich scharf nach, versuchte eine vage Erinnerung zu erhaschen, die sich mir aber entzog.

Sie lächelte. »An mein Gesicht erinnern Sie sich aber nicht?«

»Nein, gar nicht.«

»Ich mich auch nicht an das Ihre. Wären wir uns schon einmal begegnet, hätten wir es sicher nicht vergessen.«

Sie wurde rot, als ihr plötzlich bewußt wurde, daß ihre Worte mehr andeuten mochten, als gemeint war. Ich machte ihr das naheliegende Kompliment nicht. Diese blauen Augen und der Ausdruck darin bewegten mich auf merkwürdige Weise, aber ich hätte den Grund dafür nicht nennen können. Als ich mich in jener Nacht von ihr verabschiedete, fragte ich sie, ob ich sie wiedersehen dürfe.

Sie war einverstanden.

Das war der Beginn eines wunderschönen Werbens um sie, das meinem Leben Farbe, meiner Existenz Musik und jeder Regung und Handlung eine besondere Bedeutung verlieh.

War es Liebe, die Schlaf über die Erinnerung legte, die dem sich regenden Entsetzen ein Wiegenlied sang und den Mohn des Vergessens darüber streute, bis die Erinnerung sich seufzend dem Schlummer ergab? War es Liebe, die meinen Geist in tiefe, verzauberte Wasser tauchte und die jedem Geist eigenen seltsamen Kräfte mit Blumengirlanden umwand, stärker als jede eiserne Kette? War es Liebe, die mich die Wirklichkeit nicht mehr wahrnehmen ließ, indem sie mir Träume vorgaukelte?

Ich habe keine Ahnung. Ich weiß nur, daß ich anfing, Margot zu lieben, und nur nach Liebe in ihren blauen Augen suchte, nicht nach irgendwelchen Geschehnissen der Vergangenheit, die sich darin spiegeln mochten.

Und es gelang mir, auch ihre Liebe zu erwecken.

Sie legte ihr Kinderherz mit solch vollkommenem Vertrauen in meine Hände, wie es nur tiefe Zuneigung hervorbringt. Damals liebte sie mich. Auch wenn es heute ganz anders ist, so können daran nachträglich keine ernsthaften Zweifel bestehen. Sie hat mich geliebt, und es ist gerade dieses Wissen, daß mir jetzt so große Angst bereitet.

Denn es ist furchtbar, wenn sich der menschliche Geist von Grund auf wandelt. In dem Maße, wie wir diese Wandlungen begreifen, begreifen wir auch die Unerschöpflichkeit des Bösen, das in jedem Menschen verborgen liegt. Ein kleines Mädchen, das seine Puppe herzt, kann zu einer heimtückischen Meuchelmörderin heranwachsen. Es ist grauenvoll!

Und vielleicht noch grauenvoller ist, daß die äußere Hülle völlig unverändert bleiben kann, während sich jedes Wort der Botschaft, welche in dieser Hülle verborgen liegt, wandelt und aus einer Friedensbotschaft heimlich ein Todesurteil wird.

Margots Gesicht ist heute immer noch dasselbe wie damals, als ich sie heiratete – kaum älter und sicher nicht weniger reizvoll. Nur der Ausdruck ihrer Augen hat sich verändert.

Denn wir heirateten. Nach einem Jahr des Turtelns – wir wurden darin beide niemals müde –, wollten wir uns fest aneinander binden und unsere zwei Leben gleichsam zu einem verschmelzen.

Die Hochzeitsreise führte uns ins Ausland, aber statt sie auf die üblichen vierzehn Tage zu beschränken, waren wir fast sechs Monate unterwegs, und die ganze Zeit über schwelgten wir in Glück. Nie wurde es uns langweilig. Margot besaß nicht nur ein attraktives Äußeres, sondern auch einen anziehenden Verstand. Meine Zuneigung zu ihr besänftigte mein ungestümes Wesen. Mein Leben begann in eine andere Richtung zu strömen. Bislang hatte ich in den Seiten eines Buches voll von Leid und Tod geblättert, wie die Feder eines Pierre Loti es bewegender nicht hätte schreiben können. Nun endlich hörte ich den Ruf der Zuneigung, der doch die Musik dieser eigenartigen, leidenden Welt ist; und als ich ihn hörte, hallte in meinem Herzen ein Echo wider. Die Grausamkeit in meinem Wesen schien abzusterben. Ich wurde sanfter, als ich es vorher gewesen war, sanfter, als ich es jemals für möglich gehalten hätte.

Als der Frühling zu Ende ging, machten wir uns schließlich auf den Heimweg. Eine Woche verbrachten wir in London, dann reisten wir in den Norden. Margot hatte ihr neues Zuhause zuvor nie gesehen, war überhaupt noch nie in Cumberland gewesen. Aufregung und Glück erfüllten sie. Was den unverhohlenen und leidenschaftlichen Ausdruck ihrer Gefühle anging, war sie wie ein großes Kind.

Die nächste Bahnstation befindet sich direkt am Meer, mehrere Meilen vom Haus entfernt. Als der Zug an dem Perron hielt, welcher der Straße zugewandt ist, ging gerade die Sonne unter, und die flachen Sandbänke des Strandes schimmerten in einem vollen, dahinströmenden, bernsteinfarbenen Licht. Im Hintergrund wogte und toste die See, von einer steifen Brise aufgeschäumt. In der Ferne sah man die Isle of Man – dunkel, mysteriös, unter einem Turm sich aufbäumender weißer Wolken, die sich langsam rosa zu färben begannen.

Margot fand diese Szenerie wunderschön, den Wind belebend, und die weiten Sandflächen, die schimmernden Höhenstufen, ja sogar das trockene, stachlige Gras, das sich im Luftzug wiegte, faszinierten und erfrischten sie.

»Hier fühlt man sich im Einklang mit der Natur«, sagte sie und schaute zu einer Möwe hoch, die über dem Bahnsteig schwebte und dem Wind, auf dem sie segelte, etwas zurief.