Verzeichnis der Herausgeber und Autoren

Herausgeber

Prof. Dr.phil. Dr. rer. medic. Silvia Hedenigg

Theologische Hochschule Friedensau

Studiengangsleiterin Sozial- und Gesundheitsmanagement (M.A.)

An der Ihle 5a

39291 Friedensau

Tel.: 03921 / 916-144

E-Mail: silvia.hedenigg@thh-friedensau.de

Prof. (em.) Dr. med. Dr. h.c. Günter Henze

Pädiatrische Onkologie und Hämatologie

Charité CVK, Universitätsmedizin Berlin

Augustenburger Platz 1

13353 Berlin

E-Mail: Guenter.Henze@charite.de oder ghr.henze@web.de

Autoren

Prof. Dr. med. Christoph Bührer

Klinik für Neonatologie

Charité Universitätsmedizin Berlin

Augustenburger Platz 1

13353 Berlin

Tel.: 030 / 45 05-66 122

E-Mail: christoph.buehrer@charite.de

Prof. Dr. med. Dr. phil. Klaus Dörner

Nissenstraße 3

20251 Hamburg

Tel.: 040 / 46 77 40 42

Prof. Dr. med. Hans Gutzmann

Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik

Krankenhaus Hedwigshöhe

Höhensteig 1

12526 Berlin

Tel.: 030 / 67 41-30 01

E-Mail: h.gutzmann@alexius.de

Dr. med. Ellen Neubauer

Klinik für Gynäkologie, gynäkol. Onkologie und Endokrinologie

Universitätsklinikum Marburg Gießen

Baldingerstrasse 1

35033 Marburg

Tel.: 06421 / 58-64 450

E-Mail: manne@staff.uni-marburg.de

Prof. Dr. Rainer Patjens

Lehrgebiet Recht der Sozialen Arbeit

Duale Hochschule Baden-Württemberg Stuttgart

Fakultät Sozialwesen

Herdweg 29

70174 Stuttgart

Tel.: 0711 / 18 49-621

E-Mail: patjens@dhbw-stuttgart.de

Bernd Quoß

Geschäftsführer

Krankenhaus Waldfriede e.V.

Argentinische Allee 40

14163 Berlin

Tel.: 030 / 81 810-02 13

E-Mail: B.Quoss@waldfriede.de

Prof. Dr. phil. Margarete Reinhart

Diplom-Pädagogin GuK

Theologische Hochschule Friedensau

Studiengang Gesundheits- und Pflegewissenschaft

An der Ihle 19

39291 Möckern-Friedensau

Tel.: 03921 / 916-0

E-Mail: margarete.reinhart@thh-friedensau.de

Dr. med. Bernhard Röhrich

St. Joseph Krankenhaus

Wüsthoffstr. 15

12101 Berlin

Tel.: 030 / 78 82-28 30

E-Mail: consultation@sjk.de

Katja Schreyer

Diplom-Sozialarbeiterin

Klinische Sozialarbeit

Zum Steinhof 9

472459 Duisburg

Tel.: 0203 / 31 71 744

E-Mail: schreyerberatung@googlemail.com

www.katjaschreyer.de

Christoph von Mohl

Rechtsanwalt

Kanzlei für generationenübergreifende Lebensvorsorge

Wallgässchen 2/2a

01097 Dresden

Tel.: 0172 / 99 94 433.

E-Mail: christoph.mohl@googlemail.com

Dr. med. Edgar Voltmer

Theologische Hochschule Friedensau

Gesundheitswissenschaften und Sozialmanagement

An der Ihle 19

39291 Möckern-Friedensau

Tel.: 03921 / 916-203

E-Mail: edgar.voltmer@thh-friedensau.de

Vorwort

Dieser Band hat eine Geschichte. Seit mehreren Jahren beobachten wir die Entwicklung im Gesundheitssystem mit Besorgnis, steigendem Unmut – und zunehmendem Gefühl der Ohnmacht. Mit diesem Eindruck sind wir nicht allein, wie wir in vielfältigen beruflichen und privaten Gesprächen festgestellt haben. Im Jahre 2009 wollten wir unseren Wahrnehmungen konzentrierter, systematischer und mit mehr Ruhe nachgehen. Unter dem Titel »In Sorge um das Gesundheitssystem« haben wir in einer interdisziplinären Fachtagung in Kooperation mit dem Krankenhaus Waldfriede an der Theologischen Hochschule Friedensau Aspekte der Ökonomisierung, der zunehmenden Technologisierung der Medizin und denkbarer Implikationen im gesellschaftlichen Wandel der soziodemographischen Veränderungen diskutiert. Neben einer für alle Beteiligten überraschend dichten, persönlichen und unprätentiösen Atmosphäre eines anregenden, fachübergreifenden Austauschs kamen wir bei nahezu allen Vorträgen an den Punkt, zu sagen: »Das ist eigentlich eine ethische Fragstellung«, »das müsste man noch einmal unter ethischen Gesichtspunkten diskutieren«, und es kristallisierte sich bei den Referenten und Teilnehmern der Wunsch heraus, eine Ethiktagung zu veranstalten. Zusammen mit denselben Referenten der ersten Runde – bis auf eine – konnten wir dann auch in der gleichen Besetzung das Thema Ethik in der Medizin vertiefen. Bereichert wurde die Tagung insbesondere durch Klaus Dörner als neuen Referenten dieser 2. Friedensauer Fachtagung am Masterstudiengang »Sozial- und Gesundheitsmanagement«.

»Wie viel Ethik gestattet sich die Medizin?« – der Titel war provokant, und das sollte er auch sein. Er spiegelt unser Empfinden einem Gesundheitssystem gegenüber wider, das fast ausschließlich von einem Mechanismus »gesteuert« erscheint, den wir als systemfremd betrachten, nämlich dem der Finanzierbarkeit. Was auch immer das Regulativ der Finanzierbarkeit steuert, Ethik in der Medizin wird damit zumindest in wesentlichen Teilaspekten konterkariert. Exemplarisch seien nachfolgend einige der Auswirkungen dieser Entwicklung dargestellt:

Die Liste ließe sich verlängern.

Das Entgeltsystem wurde eingeführt mit dem Ziel, die Kosten im Gesundheitssystem zu begrenzen. Genau dieser Effekt ist aber bisher nicht eingetreten. Was als »Ökonomisierung« im Gesundheitswesen begründet wurde, stellt vielmehr eine Kommerzialisierung dar.

Wie viel Ethik gestattet sich die Medizin dabei (noch)? Soll Ethik innerhalb des bestehenden Gesundheitssystems gewissermaßen als Trostpflaster die ausufernden Folgen der Ökonomisierung/Kommerzialisierung kompensieren? Oder wollen wir uns erlauben, das Gesundheitssystem anders zu denken? Mit »Ethik« als Steuerungsmechanismus? Wenn ja, was könnte das bedeuten? Haben wir Anhaltspunkte dafür, worauf können wir zurückgreifen, was müssten wir neu erfinden? Wem käme eine Steuerungshoheit zu? Gibt es überhaupt eine? Woran würden wir erkennen, dass Ethik eine Rolle spielt? – Dieser Band versucht darauf Antworten zu finden. Vielfältige: vertraute, überraschende, schneidend logische.

Wir wollten mit der Tagung und dem thematisch erweiterten Sammelband das Thema Ethik und ihre potenzielle Bedeutung für die Zukunft der Medizin interdisziplinär aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchten und dabei sowohl Fachvertreter als auch Betroffene zu Wort kommen lassen. Wir haben Vertreter der Medizin und Pflege, aber auch Juristen, Ökonomen und Sozialwissenschaftler eingeladen, mit uns gemeinsam über diese Fragen nachzudenken. Unsere Vorstellung war, ein Mosaik aus vielen Teilbereichen zu entwerfen, das es uns in der Gesamtheit erlaubt, einen Eindruck zu gewinnen, ob ein »Mehr an Ethik« die Medizin der Zukunft besser gestalten ließe? Wir glauben, ja. Bestärkt werden wir diesbezüglich insbesondere durch die Erfahrungsberichte Betroffener. Ihre Offenheit, ihre Schonungslosigkeit in der Darstellung ihrer Erlebnisse, das Ausmaß an möglicher Verletzung und die Wahrnehmung tiefen Trostes selbst in schwersten Momenten sprechen dafür, dass unser Gesundheitssystem eines »Mehr an Ethik« bedarf.

Systematisiert haben wir unser Anliegen einerseits unter einem kurzen Impuls zur »Kybernethik« von Heinz von Foerster und seinem kreativen Denkpotenzial (Silvia Hedenigg) sowie der Einstiegsfrage, ob Ethik als Steuerungsprinzip zur Finanzierung des Gesundheitssystems herangezogen werden könnte (Bernd Quoß).

Im zweiten Teil wollen wir mosaikartig ein Bild zeichnen, ob und wenn ja welche Rolle Ethik in den Teilbereichen der Medizin spielt bzw. spielen könnte: in der Psychiatrie – und darüber hinausweisend (Klaus Dörner), der Pädiatrischen Onkologie (Günter Henze), der Neonatologie (Christoph Bührer), der Geriatrie und Gerontopsychiatrie (Hans Gutzmann) sowie in der Pflege (Margarete Reinhart). Unser Anliegen war es dabei, nicht nur Fachvertreter aus ihrer professionellen Perspektive zu Wort kommen, sondern insbesondere auch Erfahrungsberichte von Patienten einfließen zu lassen (Katja Schreyer, Bernhard Röhrich, Ellen Neubauer). Das Gesamtbild, das wir damit zeichnen konnten, ist ein sehr differenziertes, eines das weder beschönigend idealistisch noch resignativ desillusionierend ist. Die Argumente der Fachvertreter basieren auf aktuellen Faktenlagen, nehmen Bezug auf medizinisch-juristische Dilemmata und sind gekennzeichnet durch eine empathische Anwaltschaftlichkeit für ihre jeweiligen Patientengruppen. Die Erfahrungsberichte von Betroffenen beschreiben zum Teil anhand einer Krankengeschichte, dass abhängig von der Einrichtung und unter Umständen der darin gelebten Medizinkultur frustrierende, entmutigende Erfahrungen möglich sind, an anderer Stelle Menschlichkeit, Empathie, Zuwendung, ernsthafte Einbeziehung des Patientenwillens und aller Ressourcen des Patienten erlebbar waren.

Im dritten Teil unseres Bandes wollen wir untersuchen, ob abstrakte Prinzipien wie sie in der Ethik allgemein, der Medizinethik im Besonderen, zugrunde gelegt werden, operationalisierbar sind. Dazu wurden Beziehungsstrukturen und Kommunikationskulturen (Silvia Hedenigg), der Umgang mit Behandlungsfehlern und deren Reflexion in der Fehlerkultur des Gesundheitssystems (Edgar Voltmer) einbezogen und letztlich vor der Frage des Spannungsfeldes von Medizin, Recht und Ethik (Rainer Patjens) diskutiert, um abschließend das Prinzip der Menschenwürde in Bezug zur Patientenverfügung zu betrachten (Christoph v. Mohl). Dieser dritte Teil öffnet die Perspektiven noch einmal über die engen Grenzen der Medizin hinaus, um sozialwissenschaftliche, juristische und philosophische Aspekte einfließen zu lassen. Dass die Gesellschaft die Lösung dieser komplexen Fragen nicht an das Gesundheitssystem und schon gar nicht an die Politik allein delegieren darf, kann Rainer Patjens mit seiner sachlich-logisch juristischen Auslegung des Beziehungsgeflechts von Medizin, Ethik und Recht erörtern:

»Ethik bewegt sich […] nicht im juristischen Spannungsfeld der Medizin, sondern prägt von außerhalb das Spannungsfeld zwischen Recht und Medizin. Da weder Recht noch Medizin Selbstzweck sind, sondern eine gesellschaftliche Aufgabe wahrzunehmen haben, muss die Entscheidung was zulässig, gewollt und ethisch vertretbar ist, noch immer von der Gesellschaft beantwortet werden

Wir hoffen, dass wir mit unserem Band einen kleinen Beitrag zu dieser Diskussion leisten können, und wünschen den Lesern und uns weiterhin vielfältige Anregungen und Denkanstöße zum Weiter- und Andersdenken über ein Gesundheitssystem der Zukunft.

Berlin, im März 2013

Die Herausgeber

1 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in diesem Text auf die ausdrückliche Nennung der weiblichen Form verzichtet.

1 Impulse

Silvia Hedenigg

Wenn es darum geht, darüber nachzudenken, wie viel Ethik sich die Medizin gestattet und welche Implikationen dies für das Gesundheitssystem haben könnte, zeichnet sich der Expertenkreis, der sich in diesem Band um eine Annäherung an diese Frage bemüht, durch ein hohes Maß an Gestaltungswillen und Gestaltungskraft aus: Es handelt sich um Vertreter ihrer jeweiligen Fachdisziplinen, die sich nicht abgefunden haben mit den Ist-Situationen ihrer Zeit, sondern die ihre jeweiligen Bereiche aktiv gestaltet, verändert, geprägt haben und dies noch immer tun. In diesem Sinne steht der Band unter folgendem Motto:

»Ich möchte nicht die Trends, die da sind, extrapolieren, sondern von einer Zukunft sprechen, die ich haben möchte: Das heißt, ich sage nicht, wie die Zukunft sein wird, sondern wie die Zukunft sein soll. […] Wenn ich in die Zukunft schaue, möchte ich gerne eine Zukunft haben, die so und so ist, nicht warten, bis mir ein anderer die Zukunft macht. […] Ich möchte mir zum Beispiel nicht vom Markt vorschreiben lassen, was ich tun soll, sondern ich möchte dem Markt vorschreiben, was er für mich tun soll« (von Foerster 2007, S. 326).2

Die Realität im Alltag der Medizin sowie gesundheitspolitische Lösungsstrategien legen nahe, dass das Gesundheitssystem gegenwärtig maßgeblich von zwei Motivationsgrößen bestimmt wird: den biomedizinisch-technischen Fortschrittsbemühungen und der Finanzierbarkeit von Gesundheit. Geleitet von M. Foucaults (1986, S. 15) Postulat, dass es »[…] im Leben Augenblicke [gibt], da die Frage, ob man anders denken kann, als man denkt, und anders wahrnehmen kann, als man sieht, zum Weiterschauen und Weiterdenken unentbehrlich ist«, stellt sich für die vorliegende Themenstellung die Frage: Gibt es eine Möglichkeit über Ethik in der Medizin nachzudenken, die uns anregt, anders zu denken und wahrzunehmen – um zu einer Zukunft zu gelangen, deren Akteure wir sind? Andererseits aber auch dem berechtigten Einspruch nachzugehen: bedarf es denn notwendigerweise immer eines »Weiters« – oder nicht eher der Gelassenheit?

Auf der Suche nach Anregungen zu diesem »Anders-Denken«, ist es die »Kybernethik« des österreichischen Physikers, Philosophen und Konstruktivisten Heinz von Foerster, die interessante Impulse zu beinhalten scheint. Der Leitgedanke ist dabei, das Gesundheitssystem als Regelkreis zu verstehen, dessen Funktionsweise dem kybernetischen Steuerungsprinzip folgt, sich über einen Sensor selbst zu regulieren. Man kann sich die Frage stellen, welcher »Sensor« für die Steuerung des Systems aktuell wirksam ist. Eine Hypothese könnte sein, dass der maßgebliche Sensor, der das Gesundheitssystem steuert, in der Finanzierbarkeit zu sehen ist. Die vielerorts festgestellte Unter-, Über- und Fehlversorgung sowie unzählige ableitbare Dysfunktionalitäten könnten darauf hinweisen, dass die Finanzierung als maßgeblicher Steuerungsmechanismus im Gesundheitssystem nicht (mehr) funktionsfähig ist. Folgt man dieser Annahme, wäre es unter Umständen ein möglicher innovativer Impuls, »Ethik« und die ihr zugrunde liegenden Prinzipien der Würde des Menschen und die daraus stringent abzuleitenden Argumente und Handlungsstrukturen als Regulativ in die »Kybernetik« des Gesundheitssystems zu integrieren, wie es das sprachliche Konstrukt der Kybernethik Foersters nahelegt.

Wie aber sind selbstreferenzielle Systeme, die sich selbst steuern, beeinflussbar – fehlt uns doch die Möglichkeit einer Steuerung von außen (vgl. z. B. Luhmann 1984)? Die Kybernetik hat darauf eigentlich nur eine Antwort: gar nicht. Selbstreferenzielle Systeme funktionieren zirkulär und beeinflussen sich selbst.

»Da soziale Systeme also prinzipiell nicht steuerbar sind, kann man über Bedingungen in ihrer Umwelt lediglich Impulse geben, damit das System sich selbst verändert. ›Steuerung kann nur so greifen, dass die Umweltbedingungen bzw. der Verhaltenskontext des Systems gezielt verändert wird, dadurch für die Reproduktion des Systems andere Ausgangsbedingungen hergestellt werden und somit eine Verhaltensänderung in eine bestimmte Richtung – vielleicht – erreicht werden kann‹ […]« (Reis, Schulze-Böing 1998, zit. nach Wansing 2005, S. 173).

Greifen könnte somit der Mechanismus der Kontextsteuerung personenbezogener Dienstleitungen, zu denen auch gesundheitsbezogene Leistungen zählen. Dabei gilt es, »als wichtigsten ›Kontext‹ […] bei der Steuerung der Sozialleistungen die Nutzer zu berücksichtigen«. Die Voraussetzung dafür ist jedoch die Bereitschaft zur Partizipation: »Auf jeden Fall gilt, dass in diesem Bereich der Inanspruchnahmemotivation bzw. der Mitwirkungsbereitschaft der Klientel entscheidende Bedeutung für den Erfolg der Maßnahmen zukommt« (Kaufmann 1982, zit. nach Wansing 2005, S. 173).

Folgt man dieser These, so wäre auszuloten, wie stark der Kontext der Nutzer, die Partizipation der Patienten gestärkt werden müsste, um die Zukunft des Gesundheitssystems so zu gestalten, wie es aus unserer Sicht wünschenswert wäre: Mit einem etwas Mehr an Reflexion darüber, was man will, ehe man es kann und tut, sowie der aktiven Vergewisserung der Würde des Menschen als Ausgangslage und Zielsetzung medizinischer Maßnahmen und personenbezogener Dienstleistungen im Gesundheits- und Sozialsystem.

Ein weiterer und daran anschließender Impuls aus Försters Kybernethik könnte in seinem »kategorischen Imperativ« liegen, so zu handeln, dass sich die Wahlmöglichkeiten erweitern, wobei von Foerster von dem jüdisch-christlichen Tragikerleben geprägt ist, das zu der schicksalsschweren Entscheidung von Pontius Pilatus führt3. Hier findet sich eine Argumentationsfigur, nämlich die, keine andere Wahl gehabt zu haben, die den Neoliberalismus Thatchers ebenso kennzeichnete wie die »Alternativlosigkeit« der Merkel-Regierung. Nicht zuletzt wegen des massiven Einsatzes wurde die »Alternativlosigkeit« zum »Unwort des Jahres 2010« gekürt. So befand die Jury:

»Das Wort suggeriert sachlich unangemessen, dass es bei einem Entscheidungsprozess von vornherein keine Alternativen und damit auch keine Notwendigkeit der Diskussion und Argumentation gebe« (Klassen 2011).

Mit der Frage nach Alternativen und von Foersters Forderung nach einem Ausbau derselben ist ein Konstrukt impliziert, das konsequent durchdacht, eine Reihe aktueller Anregungen auf allen Ebenen des Gesundheitssystems bietet: auf der Systemebene, der personalen Ebene der Verantwortungs- und Handlungsebene. So ergibt sich die Frage, welche Rückkoppelung eine Erweiterung der Wahlmöglichkeiten auf die Finanzierbarkeit des Systems hätte? Würde es notwendigerweise bedeuten, dass es implodiert oder dadurch entschärft wird, dass beispielsweise eine breite Bevölkerungsschicht ein technologiegeleitetes Ausklingen des Lebens ablehnt und somit Alternativen schafft?

Der Anspruch, Ethik in der und für die Medizin noch einmal – und immer wieder – zu durchdenken ist aber auch im Sinne Försters nicht gebunden an die hier angeführten Facetten. Je vielfältiger, kontrastreicher, kreativer wir gemeinsam nach den Impulsen der Ethik für die Medizin fragen und unterschiedlichste Disziplinen zur Sprache kommen, desto eher können wir die Ethik in der Medizin auch mit erfinden. Ich lade Sie herzlich ein, mit aller Muße über die angeschnittenen Fragen nachzudenken – und erneut in einen kreativen, konstruktiven interdisziplinären Austausch zu treten.

Erlauben Sie mir dazu abschließend noch eine kleine Anekdote: Von Foerster leitete das Department of Electrical Engineering an der University of Illinois und wollte einen Logiker einladen, der sich mit Hegel und fernöstlicher Philosophie auskennt:

»Dann hat natürlich der Vorsitzende meiner Abteilung, meiner Lehrkanzel gesagt: ›Der ist doch ein Logiker, der beschäftigt sich mit Hegel. Der vertritt fernöstliche Philosophie. Wir sind eine Lehrkanzel für electrical Engineering‹. Ich habe gesagt: ›Deswegen brauchen wir einen Logiker, der mit fernöstlicher Philosophie vertraut ist‹ (v. Foerster 2007, S. 237).

Literatur

Foucault M (1986) Sexualität und Wahrheit 2. Der Gebrauch der Lüste. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Luhmann N (1984) Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Kaufmann F-X (1982) Elemente einer soziologischen Theorie sozialpolitischer Interventionen. In: Kaufmann F-X (Hrsg.): Staatliche Sozialpolitik und Familie. München, Wien: Oldenbourg. S. 49-86.

Klassen R (2011) »Alternativlos« ist das »Unwort des Jahres«: Das Basta für Softies. Stern (http://www.stern.de/panorama/alternativlos-ist-das-unwort-des-jahres-das-basta-fuer-softies-1644487.html; Zugriff am 10.12.2012).

Reis C, Schulze-Böing M (Hrsg.) (1998) Planung und Produktion sozialer Dienstleistungen. Die Herausforderungen »neuer Steuerungsmodelle« (= Modernisierung des öffentlichen Sektors: Sonderband 9). Berlin: Edition Sigma.

von Förster H (1993) Kybernethik. Berlin: Merve.

von Förster H, Bröcker M (2007) Teil der Welt Fraktale einer Ethik – oder Heinz von Foersters Tanz mit der Welt. 2. Aufl. Heidelberg: Carl-Auer.

Wansing G (2005) Teilhabe an der Gesellschaft: Menschen mit Behinderung zwischen Inklusion und Exklusion. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

2 Ethik als Steuerungsprinzip zur Finanzierung des Gesundheitssystems?

Bernd Quoß

Die nachstehende Abhandlung war Teilinhalt meines Vortrages anlässlich der Friedensauer Fachtagung im Mai 2011 zu dem Thema »Wie viel Ethik gestattet sich die Medizin«? Vorwiegend wurde der betriebswirtschaftliche und gesundheitsökonomische Aspekt – in Abgrenzung zur Ethik – eines Krankenhausbetriebes beleuchtet. Der Anstieg der Beschäftigungszahlen im Gesundheitswesen ist arbeitsmarktpolitisch durchaus bemerkenswert. Zwischenzeitlich ist jeder neunte Erwerbstätige im Gesundheitswesen tätig, mit steigender Tendenz. Doch der zu verteilende »Finanzkuchen« ist dabei nicht in dem Maße mitgewachsen, sondern muss auf immer mehr Leistungsanbieter aufgeteilt werden. In der Hinsicht ist und bleibt die Frage aktuell: Wie viel Platz bleibt hier noch für Ethik in der Medizin?

1 Allgemeine Ausführungen zum Thema medizinische Ethik

1.1 These

Um Gesundheitseinrichtungen in Deutschland gewinnbringend zu finanzieren und eine Wertschöpfung (= jede weitere Gesundheitsleistung gewinnt finanziell an Wert hinzu) für alle am Gesundheitswesen beteiligten Personen und Einrichtungen zu erzielen, »dürfte« auf Ethik keinerlei Rücksicht genommen werden.

Haben Sie sich schon einmal die Frage gestellt, welche Gesundheitseinrichtungen noch etwas verdienen würden, wenn die Menschen zu gesund sind oder die bestehende Krankheit gar nicht so schwerwiegend ist, wie ihnen vermittelt wird? Ethik als Steuerungsinstrument ist daher im heutigen Verdrängungswettbewerb hinderlich, zumindest wenn Gewinne erzielt werden müssen. Dazu wiederum ist aber jede Gesundheitseinrichtung gezwungen, um am Markt zu überleben sowie die Gehälter ihrer Mitarbeiter zu finanzieren.

1.2 Aktuelle Situation

Durch nicht-ethisches Handeln würde das Krankenhaus Waldfriede (freigemeinnütziges Akutkrankenhaus der Grund- und Regelversorgung in Berlin) nach einer vorsichtigen Schätzung ca. 800.000 bis 1.000.000 € jährlich zusätzlich einnehmen können. Durch nachstehende beispielhafte Maßnahmen könnte dies relativ einfach und schnell realisiert werden:

Viele Leitbilder von Krankenhäusern, u. a. des Krankenhauses Waldfriede (Quoß 2009), zur Ethik stehen diesen »Praktiken« entgegen:

»Der Mensch steht mit seinen Bedürfnissen, Sorgen und Nöten im Mittelpunkt unseres Handelns.

… wir kümmern uns um das Wohl von Körper, Geist und Seele und lassen uns dabei von der christlichen Ethik leiten.

… durch hochwertige medizinische und pflegerische Maßnahmen unterstützen wir den Patienten.

… menschliche Zuwendung, Patientenorientierung und die Achtung der Würde sind unsere Maßstäbe.

… wir respektieren im Rahmen unserer christlichen Verantwortung die persönliche Entscheidung des Patienten ... bei ärztlichen und therapeutischen Maßnahmen« (Auszug aus dem Leitbild des Krankenhauses Waldfriede).

1.3 Definition »Medizinische Ethik« und ihre vier Prinzipien

1.3.1 Was bedeutet medizinische Ethik?

Vorläufer der medizinischen Ethik ist die ärztliche Ethik. Ihre Kernthemen sind sittliche Normsetzungen für das Gesundheitssystem. Dies schließt alle im Gesundheitswesen tätigen Personen, Institutionen und Organisationen und auch die Patienten ein. Es gibt auch keinen markanten Unterschied zwischen der medizinischen Ethik und der Ethik im allgemeinen Gesellschafts- und Geschäftsleben (z. B. für die Gestaltung von Kaufverträgen, Verhandlungen, den Umgang miteinander). Lediglich den, dass sich die medizinische Ethik mit ethischen Problemen auf dem Gebiet der Krankenversorgung befasst.

1.3.2 Die vier Prinzipien der medizinischen Ethik

Krankenhäuser müssen die Anforderung von Wirtschaftlichkeit und Ethik miteinander in Einklang bringen und sich – nach Möglichkeit – auf die vier Grundprinzipien der medizinischen Ethik stützen (vgl. Beauchamp, Childress 1989; Dörner 2001):

1.4 Grundlagen für ethisch-medizinische Behandlungen

Als Ursprung gilt der Eid des Hippokrates, der aus dem 4. Jahrhundert vor Chr. stammt. Jüngeren Datums sind der Nürnberger Codex (hervorgegangen aus dem Nürnberger Ärzteprozess 1947), das Genfer Ärztegelöbnis (1948, mit aktualisierten Fassungen 1968 und 1983) sowie die Deklaration von Helsinki des Weltärztebundes, die seit 1964 mehrfach revidiert wurde. Grundlagen sind weiter Ethikkommissionen, z. B. bei der Bundesärztekammer 1975 eingerichtet, sowie verschiedene Ethik-Räte und die Einrichtung von Ethik-Komitees in den Krankenhäusern.

Obwohl es diese ethischen Grundlagen gab, wurde in der Vergangenheit vielfach unethisch gehandelt. Beispiele hierfür sind Euthanasie-Programme und Menschenversuche im Nationalsozialismus, Experimente mit Kriegsgefangenen in Japan und auch der Missbrauch der Psychiatrie in der Sowjetunion.

Forschungsexperimente zeigten, dass das ärztliche Ethos nicht ausreichte, um (kriminellen) Missbrauch ärztlichen Wissens und Ehrgeizes zu verhindern. Auch gegenwärtig stehen wir vor ethischen Herausforderungen in der Medizin, z. B.

2 Die zunehmende Bedeutung der medizinischen Ethik

Hauptursache für die zunehmende Bedeutung der medizinischen Ethik in den letzten dreißig Jahren sind, neben dem medizinisch-technischen Fortschritt, die immer knapper werdenden finanziellen Ressourcen (Finanzquellen) im Gesundheitswesen. Durch die Finanzknappheit ergeben sich vier wesentliche Tendenzen in unterschiedlichen Ausprägungen (Wissenschaftszentrum für Sozialforschung, Berlin):

2.1 Machtverschiebung und Risikoverlagerung im Gesundheitswesen

Es hat eine so genannte Machtverschiebung von der Leistungsanbieterseite (z. B. Arzt, Krankenhaus) zugunsten der Finanzierungsseite (z. B. Krankenkassen) stattgefunden. Dadurch wird das wirtschaftliche Risiko von der Politik als Gesamtkostenträger auf alle medizinischen Leistungsanbieter verlagert (Kühn 1996). Die Kostenträger verweisen immer auf § 12 SGB V (Sozialgesetzbuch), das so genannte »Wirtschaftlichkeitsgebot«, d. h. »die medizinischen Leistungen müssen wirtschaftlich, zweckmäßig und ausreichend […] zur Verfügung gestellt werden«. Die neuen Finanzierungsarten sind nicht einfache Techniken, sondern ein Ausdruck veränderter Machtverteilung und sozialer Beziehung. Mit ihnen wird das wirtschaftliche Risiko der Versorgung von den Versicherungen auf die Anbieter übertragen.

Früher gab es beispielsweise für die Krankenhäuser zum Erzielen von Budgets die sogenannte retrospektive (= rückblickende) Finanzierungsart. Es bestand der ökonomische Anreiz zu einer Überversorgung der Patienten durch lange Aufenthaltszeiten im Krankenhaus. Heute gibt es hingegen die prospektive (= vorausschauende) Finanzierungsart. Hier zeigt sich genau das Gegenteil zu früher. Der ökonomische Anreiz liegt in der Unterversorgung des Patienten, nämlich durch kurze Aufenthaltszeiten im Krankenhaus.

Dieser grafischen Darstellung (► Abb. 1) ist zu entnehmen, dass in der heutigen Krankenhauswelt Gewinne nur im Rahmen des »Dreiecks« erzielt werden können. Liegezeiten, die über der so genannten mittleren Verweildauer (hier drei Tage) liegen, erzeugen nur Kosten für das Krankenhaus, ohne dass diese durch die Kostenträger vergütet werden, d. h. der Patient wird zum »Minusgeschäft«.

img

Abb. 1: Grafische Übersicht einer beispielhaften Diagnose zu Liegedauer/Kosten hier: DRG (= Diagnosis Related Groups) G26Z aus dem Bereich Koloproktologie

2.2 »Verbetriebswirtschaftlichung« und »Verschlankung« in der Medizin

Die Medizin wird heutzutage entsprechend dem Diagnosebild oder den Prozeduren durch »Standards« und »Leitlinien«, die von den Fachgesellschaften vorgegeben werden, normiert (Kühn 1996). Dadurch werden neue medizinisch-betriebswirtschaftliche Daten produziert, aufbereitet und die betrieblichen Kosten für Ärzte, Patienten, »Fälle« oder Prozeduren werden transparent gemacht (Management-Informations-Systeme) und zur betriebswirtschaftlichen Steuerung bei der Diagnostik, Therapie und Pflege, Überweisung, Entlassung usw. herangezogen. Patienten- und arztbezogene Kostenrechnungen ermöglichen es nun, Patienten-/Diagnosegruppen sowie medizinische Abteilungen als Verlust- oder Gewinnfälle zu identifizieren und dadurch künftige Behandlungsstrategien für das Krankenhaus festzulegen, um das wirtschaftliche Überleben zu sichern. Es ist üblich, dass die ausgegebene Behandlungsstrategie eines Krankenhauses durchaus lautet, eine Patientenselektion vorzunehmen. Das heißt finanziell lukrative Patienten (hoher Erlös durch die Kostenträger bei wenig Ressourcenverbrauch im Krankenhaus) werden umworben, während weniger lukratives Patientenklientel den anderen Krankenhäusern zugewiesen wird. Natürlich wird dies nicht so offen kommuniziert, sondern mit einer besseren Versorgungsstufe zum Wohle des Patienten begründet.

2.3 Ökonomisierung der Arzt-Patienten-Beziehung

Das Management der medizinischen Versorgung von der Finanzierungsseite bedeutet einen Autonomieverlust der Ärzte. Die Tendenz geht dahin, die kostenrelevanten strategischen Entscheidungen aus dem individuellen Arzt-Patienten-Verhältnis auszulagern und auf die Organisation (z. B. Medizincontroller, Kaufmännische Leiter etc.) zu übertragen (Dargel, Krämer 2010). Ärzte und Pfleger werden so zu »Diener zweier Herren«. Auf der einen Seite steht der (meist) schutzbedürftige Patient mit seiner Loyalitätserwartung und auf der anderen Seite die Organisation mit ihren monetären Ansprüchen.

2.4 Kommerzialisierung

Durch die medizinisch-betriebswirtschaftliche Datenlage (= Kennzahlen) werden erstmals in der Geschichte der Medizin die medizinischen und pflegerischen Dienstleistungen transparent, kalkulier- und steuerbar und Kriterien für die Kapitalanleger (insbesondere bei Privatkliniken, die oftmals Aktionärsentscheidungen unterliegen) erfüllt. Vorreiter ist hier die börsenorientierte »Marseille-Kliniken AG« (dies ist ein mit 57 Pflegeeinrichtungen börsennotiertes Unternehmen der stationären Gesundheitsversorgung in Deutschland).

3 Ethische Aspekte bei der ökonomischen Ausrichtung von Krankenhäusern im Zeitalter von DRG

3.1 Entscheidungsfragen im Klinikalltag

Insbesondere in westlichen Ländern macht der massive Kostendruck im Gesundheitswesen Rationierungen, d. h. die Nicht-Übernahme von Kosten bestimmter Leistungen durch das Versicherungssystem, unumgänglich. Da Negativentscheidungen wie Rationierungen politisch unbeliebt sind, werden häufig Verfahren gewählt, die von der Öffentlichkeit wenig zu bemerken sind. Ein Beispiel sind die gedeckelten Erlösbudgets, die den Krankenhäusern von den Sozialversicherungsträgern zur Verfügung gestellt werden. Über Leistungskürzungen im Detail entscheidet somit nicht die Politik, sondern letztlich das behandelnde Krankenhaus/Arzt. Man spricht auch von »politischem Outsourcing«. Genau das stört aber das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient. Im Klinikalltag gibt es zahlreiche Entscheidungsfragen, die sich durch die stärkere ökonomische Orientierung ergeben. Nachstehende Beispiele aus den Bereichen Medizin, Pflege und Ökonomie sollen dies verdeutlichen.

Täglich müssen solche Fragen in Kliniken entschieden werden. Damit dies nicht nur zufällig erfolgt, sollte im Haus ein Bewusstsein über eine ethisch verantwortbare Ressourcen-Allokation (Verteilung besonders knapper Güter) vorhanden sein. Fragen nach der Angemessenheit von Leistungen und Kosten dürfen kein Tabu sein. Vielmehr müssen ethische Leitlinien oder zumindest Grundregeln der Entscheidungsfindung vorgegeben und klinische Ethik-Komitees gebildet werden, die in interdisziplinärer Besetzung das Ziel einer sorgfältigen ethischen Prüfung der relevanten Entscheidungen zu verfolgen haben. Im Klinikalltag hat sich dabei die Etablierung von Verfahren der ethischen Fallbesprechung in Kombination mit einem Ethik-Komitee für grundsätzliche Fragestellungen bewährt.

3.2 Spannungsfeld Ethik und Wirtschaftlichkeit

Neben der Rationierung (= Zuteilung nur beschränkt vorhandener Mittel) von Leistungen geht es im Klinikalltag vor allem um die Rationalisierung (= Optimierung von Prozessen jeglicher Art) der Leistungserbringung. Dabei stellt sich die Frage, ob Instrumente und Maßnahmen, die darauf abzielen, die Wirtschaftlichkeit eines Hauses zu erhöhen, aus ethischen Gründen abzulehnen sind. Mehr Wirtschaftlichkeit darf nicht durch weniger Humanität erkauft werden. So gibt es z. B. in der Stadt München mehr Computertomografien als in ganz Italien und in Berlin genauso viele wie in ganz Belgien. Ein einziges CT-Gerät kostet zwischen 250.000 und 2.000.000 €. Eine solche Investition muss sich natürlich amortisieren. Leerlauf darf es nicht geben, so dass häufig auch solche Patienten computertomografisch untersucht werden, bei denen eine herkömmliche Diagnostik sicher ausreichen würde. Ähnliches gilt auch für Links-Herz-Katheter-Untersuchungen, die in Deutschland so zahlreich durchgeführt werden wie sonst nirgends auf der Welt. So wird das Gesundheitssystem doppelt belastet, einerseits mit hohen Investitionskosten, andererseits mit den pro Fall abzurechnenden Behandlungskosten. Hier scheinen das Prestigedenken und Einkommen einzelner Kliniken und Ärzte und weniger die medizinische Notwendigkeit und das nachhaltige Wirtschaften im Vordergrund zu stehen.

Vielfach wird auch von einer »Zwei-Klassen-Medizin« gesprochen, wobei sich die gesetzlich Versicherten oft ungerecht behandelt fühlen. Doch dies ist nicht zwingend der Fall. Zum einen haben auch Patienten, die nicht Mitglied einer privaten Krankenversicherung werden können, die Möglichkeit, eine private Zusatzversicherung abzuschließen. Zum anderen beziehen sich Wahlleistungen – von der Chefarztbehandlung abgesehen – vor allem auf die Hotelleistungen des Krankenhauses. Die medizinisch-technischen Kernleistungen sind hingegen in aller Regel nahezu gleich. Solche Wahlleistungen als Klinik nicht anzubieten, würde bedeuten, Patienten davon abzuhalten, sich ein bestimmtes Unterbringungsniveau zu leisten. Schließlich stellen in der Perspektive der Klinikbetreiber die Wahlleistungsstationen in der Regel einen wichtigen finanziellen Beitrag zum Überleben eines Krankenhauses. Denn mit den Zusatzerlösen können andere möglicherweise defizitäre Bereiche quersubventioniert werden. Somit garantieren Wahlleistungsstationen oft sogar die medizinische Versorgung aller Klinikpatienten. Letztendlich haben alle Versicherten (selbst Pflichtversicherte) seit dem Jahr 2004 die Möglichkeit die so genannte Kostenerstattung zu wählen und haben somit auch den Status Privatpatient (s. § 13 SGB V Sozialgesetzbuch).

3.3 Beispiele

Nachstehende mögliche Beispiele machen deutlich, wie in der stationären Krankenhausmedizin nicht auf Basis einer medizinischen Indikation, sondern aus finanziellem Interesse Einnahmeerhöhungen gestaltet werden könnten.

Oftmals ist es hierbei sehr schwierig sich an die vier Grundprinzipien der medizinischen Ethik zu halten oder Rücksicht darauf zu nehmen. Nachstehende Erlösangaben orientieren sich beim Relativgewicht einer Diagnose auf das Jahr 2011, können aber bezüglich der Baserate (Betrag, der bei der Berechnung der DRG-Preise für die Krankenhausbehandlung zugrunde gelegt wird) je nach Bundesland unterschiedlich hoch sein. Daher sind die Preisangaben bundesweit nicht allgemeinverbindlich.

3.3.1 Operation an der Schilddrüse

Diese Operation wird dem Krankenhaus mit 2.894 €4 vergütet. Ein zusätzlicher kleiner Eingriff an der Nebenschilddrüse (diese wird herausgenommen und dann in den Muskel eingebettet) von nur einer Minute wird dem Krankenhaus mit weiteren 830 €5 vergütet, die der Patient im Rahmen des OP-Verfahrens nicht mitbekommt und auch keinerlei medizinische Gefahren bestehen. Neben den klassischen L-Thyroxin-Tabletten sind durch den Eingriff an der Nebenschilddrüse aber lebenslang Kalziumtabletten einzunehmen. Es entstehen Zusatzkosten für die Medikamente durch die Kostenträger. Nutznießer wären in diesem Fall das Krankenhaus mit einer erhöhten Einnahme und die Pharma-Industrie, aber nicht der Patient.

3.3.2 Hallux-valgus-Operation

Diese Operation an der Großzehe wird mit 2.301 € vergütet. Würde man während des Operationsverfahrens in geeigneten Fällen eine so genannte Verschieberotations-Lappenplastik durchführen, ergäbe sich eine Vergütung von 5.005 €. Durch einen zusätzlichen operativen Aufwand könnte somit mehr als das Zweifache erzielt werden.

3.3.3 Langzeitbeatmung (künstliches Koma)

Bis zu 250 Stunden (10 Tage)

= 11.126 €

bis 500 Stunden (21 Tage)

= 35.889 €

bis 1.000 Stunden

= 66.577 €

bis 1.800 Stunden (75 Tage)

= 136.002 €

Diese Beatmungszeiten und die damit verbundene Vergütung machen deutlich, dass es für ein Krankenhaus finanziell lukrativ ist, den Patienten solange wie möglich künstlich zu beatmen. Dies ist mit ein wirtschaftlicher Hintergrund, warum Patienten oftmals in ein künstliches Koma gelegt oder länger als erforderlich darin gehalten werden.

3.3.4 Kaiserschnitt statt normaler Entbindung

In den letzten zehn Jahren ist die Kaiserschnittrate von 12 % auf ca. 31 % angestiegen, d. h. fast jede dritte Geburt ist eine Kaiserschnittentbindung. Als Begründung dafür wird oftmals angeführt, dass Frauen an einem Wunschtag gebären möchten und dass Frauen oftmals bei der Geburt des ersten Kindes schon älter sind (in unserem Krankenhaus ist es keine Seltenheit, dass 40-jährige Frauen ihr erstes Kind bekommen). Während eine normale Entbindung lediglich mit 1.064 € (ohne Anwesenheit einer Hebamme) vergütet wird, erhalten Krankenhäuser für Kaiserschnitte 2.312 € (Steigerung auf 220 %) und für Not-Kaiserschnitte gar 2.871 € (Steigerung auf 270 %). Allein schon materielle Gründe führen – neben den medizinischen – unweigerlich zu einer Erhöhung der Kaiserschnittrate.

3.3.5 Frühgeburten

Aktuelle Trends der Jahre 2010/2011 zeigen laut Krankenkassenberichten einen deutlichen Anstieg von Frühgeburten (Geburtsgewicht weniger als 750 Gramm). Aussagekräftige Statistiken liegen offiziell noch nicht vor. Hier ist es finanziell höchst attraktiv statt 57.000 € (bis 749 Gramm) vielleicht den höheren Betrag von 80.000 € (ab 750 Gramm) zu erzielen. Die Begehrlichkeit liegt ja nur bei einem Gramm.

3.3.6 Abrechnung von Herz-Stents (Sachkosten)

Das Einsetzen von Herz-Stents statt einer aufwendigen Bypass-Operation ist heute gängiges medizinisches Verfahren und für den Patienten relativ ungefährlich. Die Stents sind aber unterschiedlich teuer. Während medikamentenbeschichtete Stents bei 2.100 €/Stück liegen, kosten nicht-medikamentenbeschichtete Stents nur 700 €. Es gab in Deutschland in den Krankenhäusern zahlreiche Vorfälle, wo nicht-medikamentenbeschichtete Stents implantiert wurden, aber die teureren medikamentenbeschichteten Stents abgerechnet wurden.

3.3.7 Links-Katheter-Herzuntersuchung

Diese Untersuchung wird mit 2.365