image

image

Jürgen Thiem, Jahrgang 1959, ist von Kindesbeinen an Schalke-Fan. Fast alle wichtigen Spiele in den vergangenen 40 Jahren hat er im Stadion miterlebt. Nach einem Publizistikstudium begann er seine sportjournalistische Laufbahn bei Zeitung und Hörfunk. Anfang der Neunziger wechselte er zum DSF. Seit 1998 arbeitet er für den SWR. Der zweimalige Fernsehpreisträger des Verbandes Deutscher Sportjournalisten lebt in der Nähe von Mainz.

Jürgen Thiem

Helden

für einen Sommer

Die Geschichte

der besten Schalker Mannschaft

aller Zeiten

VERLAG DIE WERKSTATT

Fotos: firo sportphoto: 251 (1); Fotoagentur Horst Müller: 19, 22, 34, 49, 71, 96, 140, 152/53, 175, 182/83, 185, 203, 235, 250 (3), 251 (3), 252 (3), 253 (3); Imago Sportfoto: 57, 147, 217; picture alliance / dpa: 85, 122, 199; privat: 253 (1); Privatarchiv Lütkebohmert: 27, 28, 113, 157, 239, 248, 252 (1); Jürgen Thiem: 250 (3), 251 (2), 252 (2), 253 (1)

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Lotzestraße 22a, D-37083 Göttingen

www.werkstatt-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Satz und Gestaltung: Verlag Die Werkstatt

Druck und Bindung: Westermann Druck Zwickau

Inhalt

Vorwort

Die Diagnose

Oskar, der Baumeister

Aufbau West

Ein Dorf im Münsterland

Ungewohnte Höhenluft

Wiedersehen mit Europa

Jugend forsch

Drohendes Ungemach

17. April 1971

Der gute Mann aus Sisak

Die beste Hinrunde aller Zeiten

Ein besonders heiliger Abend

Schattenspiele

Das Jahrhundertspiel

Happy End in Hannover

Die Schatzinsel

Schwarzer Sonntag

Wundersame Rettung

Die Rückkehr der Sünder

Merkel, Meineid und noch mehr Malessen

Buß- und Bettage

Noch einmal dicht dran

Der langsame Abstieg

Die Strafe Gottes

Die Helden

Dank

Vorwort

10. Oktober 1970. Ein warmer, sonniger Herbsttag in Ostwestfalen. Volksfeststimmung auf der Bielefelder Alm. Wie immer, wenn Schalke kommt. Es ist Stan Libudas 27. Geburtstag. Und ich werde ihm, meinem Idol, dessen Kicker-Starschnitt die Raufaserwand über meinem Bett ziert, erstmals nahe sein. Näher, als ich jemals zu hoffen gewagt habe.

Seit Wochen fiebere ich diesem Tag entgegen. Mein Vater hat die Karten besorgt. Bei Arminia sitzen wir in der ersten Reihe, direkt hinter der Trainerbank. Es ist mein erstes Bundesligaspiel im Stadion. Ich weiß kaum, wohin mit meiner Nervosität. Bisher habe ich mit meiner Mannschaft immer nur am Radio mitgefiebert. Wenn ich Glück hatte, haben Ernst Huberty und Kollegen mir anschließend in der Sportschau noch mal die wichtigsten Szenen vor Augen geführt. Königsblau in Schwarz und Weiß.

Gewonnen habe ich diesmal schon vorm Anpfiff: den Schalke-Wimpel, den mein Vater mir am Fanartikelstand vorm Stadion gekauft hat. Den kann mir keiner mehr nehmen. Oder doch? Als wir endlich unsere Plätze auf den Holzbänken gefunden haben, ist mein Platz bereits besetzt. Ein Knappen-Fan hat sich darauf breitgemacht. Eine Karte hat er nicht. Dafür wirkt er ziemlich betrunken. Und verjagen lässt er sich auch nicht mehr.

Mein Vater wird immer lauter. Die Menschen um uns herum beginnen dem öffentlichen Disput mit Interesse zu folgen, als sich plötzlich Arminias Vorstandsmann Pieper zu uns umdreht und vorschlägt, ich könne mich doch mit auf die Arminen-Bank setzen. Auf der Ecke sei doch noch Platz für mich. Ich sei ja schließlich nur eine halbe Portion.

Zögernd, mit pochendem Herzen, ducke ich mich hindurch unter dem angerosteten Handlauf – das Einzige, was mich noch von der großen weiten Fußballwelt trennt, von Bandenwerbung noch keine Spur. Schüchtern hocke ich mich auf die linke Ecke der hölzernen Trainerbank. Herr Pieper neben mir, daneben Arminias verletzter Torjäger Ernst „Johnny“ Kuster, wiederum daneben Trainer Egon Piechaczek. Nervosität allerorten. Ich passe – trotz allem – gut ins Bild.

Geredet wird nicht viel während der nächsten 90 Minuten. Jedenfalls nicht mit mir. Was mir ganz recht ist. Schließlich versuche ich meinen Schalke-Wimpel, zwischen beide Hände und die Knie geklemmt, so gut es geht zu verstecken. In dieser verkrampften Haltung verberge ich auch meine Begeisterung vor meinen „feindlichen“ Sitznachbarn. Eine schwierige Übung.

Schalke, allen voran Libuda, bietet eine Gala-Vorstellung. Der Nationalspieler wirbelt häufig wenige Zentimeter vor mir die Kreidelinie entlang, bereitet den Schalker Führungstreffer durch Klaus Fischer vor. Am Ende steht es 0:3, ohne dass ich auch nur ein einziges Mal aus meiner Deckung gegangen wäre.

Vielleicht war’s einfach nur anerzogene Höflichkeit. Respekt gegenüber – in jeder Hinsicht – großzügigen Gastgebern. Mit einem Schalke-Wimpel im Anschlag ausgelassen vor Menschen herumzuhüpfen, für die gerade ein nicht unerheblicher Teil ihrer Fußballwelt zusammengebrochen ist – nein, das macht ein anständiger Schalker nicht.

Das Rückspiel, ein halbes Jahr später, verliert Schalke in der Glückauf-Kampfbahn mit 0:1. Diesmal geht es nicht mit rechten Dingen zu. Man könnte auch sagen, es ist eine linke Sache. Doch ist es noch viel mehr. Der tragische Beginn einer Ära, die nur in Ansätzen eine wurde. Der Anfang vom Ende einer großen Mannschaft, die zerfällt, bevor sie ihre wahre Größe auch nur annähernd erreicht hat. Übrig bleibt ein beinahe läppischer Pokalsieg. Genau 40 Jahre ist das jetzt her. Es ist der einzige Titel einer Mannschaft, die, gespickt mit genialen und technisch brillanten Fußballern, das Zeug hatte, langfristig in die Phalanx der großen zwei, Bayern und Mönchengladbach, einzudringen.

Warum hat dieser großartigen Mannschaft eigentlich noch keiner ein Buch gewidmet? Dieser wohl besten Schalker Mannschaft aller Zeiten, von der die Fans fünf Spieler allein in die Elf des Jahrhunderts gewählt haben. Dieser Mannschaft, mit der sich noch heute jeder königsblaue Fan meines Jahrgangs und noch reiferer Jahrgänge identifiziert. Eine Frage, die ich mir lange gestellt habe. Eine Antwort habe ich nie erhalten, stattdessen den wachsenden Wunsch in mir gespürt, es selbst zu tun.

Der Aufhänger für ein solches Werk spukte mir schon seit Jahren im Kopf herum. Es ist die persönliche Geschichte von Herbert „Aki“ Lütkebohmert. Jenes Spielers, der mit eben dieser Saison 1971/72 zu meinem großen, alleinigen Idol wurde und damit Stan Libuda ablöste. Ab diesem Zeitpunkt trug ich nur noch die Nummer 6, krempelte meine Ärmel auf wie er, ließ die Stutzen rutschen. So wie er. Auch seine Spielweise versuchte ich zu kopieren. Laufen ohne Ende, Pässe über 30, 40 Meter, Schüsse aus der Distanz. Alles gebettet auf einer feinen Technik.

Meine unzulänglichen Kopiervorgänge haben mir gerade mal für ein Jahr in den Kader der A-Jugend von Arminia Bielefeld verholfen. Ausgerechnet Bielefeld. O. k., Jugend-Westfalen-Liga, höchste Spielklasse. Zeigen konnte ich meine unvollendete Fußballkunst selten. Ich war nur verletzt, was den Vorteil hatte, dass ich zum Beispiel auf der Auswärtsfahrt nach Schalke im kleinen Mannschaftsbus ausgeruht königsblaues Liedgut anstimmen konnte. Was die Mannschaftskameraden bereitwillig mitträllerten. Woraufhin unser wenig verständnisvoller Trainer mir mit Rausschmiss drohte. Nicht nur aus dem Bus.

Dennoch: Die Zeiten, dass ich in Bielefeld meine Schalke-Liebe verheimlichte, waren endgültig vorbei. Meine kurze Zeit bei Arminia bald ebenso. Gegner Schalke gewann am Ende jener Saison die Deutsche A-Jugend-Meisterschaft. Wieder schien eine goldene Generation heranzureifen. Es blieb beim Konjunktiv. Ein Jahr später kratzte die fast noch komplette 72er-Mannschaft ein letztes Mal an der Meisterschale. Es folgte der schleichende Niedergang. Auch der des großartigen Menschen Lütkebohmert.

Aus den Augen verloren habe ich ihn nie. Auch nicht nach dem Ende seiner Profikarriere. Seine unvollendete Geschichte, seine Schicksalsschläge: Das alles birgt Pathos und Mythos in sich. Zwei große Begriffe, die zu Schalke passen. Und ganz besonders zu dieser einmaligen Mannschaft. Lütkebohmerts Geschichte könnte also stellvertretend sein. Für die einer ganzen „verlorenen“ Generation. So viel war mir klar. Es wurde mir noch viel klarer, als ich Anfang 2010 meinen ganzen Mut zusammennahm, um zu seiner Familie Kontakt aufzunehmen. In vielen, oft stundenlangen Gesprächen verfestigte sich mein Eindruck, vervollständigte sich das Bild.

Die Recherche für dieses Buch wurde zu einer aufregenden Reise zurück in meine Jugend. Ich habe dabei alle noch lebenden Spieler der Mannschaft getroffen, den Glanz in ihren Augen gesehen, wenn sie von dieser Zeit erzählen. Ihren Stolz, ein Teil davon gewesen zu sein. Aber auch ihren Schmerz, nicht wenigstens ein einziges Mal die Schale in Händen gehalten zu haben. Bei allen hat die Tragik dieser Geschichte eine spürbare Narbe hinterlassen. Und doch wirkten sie alle irgendwie dankbar, darüber erzählen zu können.

Es sind ihre zahlreichen kleinen Geschichten, Anekdoten und Randnotizen, die mir die an Leid und Liebe reiche Vergangenheit nahegebracht haben. Auf ihnen beruht dieses Buch. Auf persönlichen Erinnerungen und subjektiven Erzählungen. Möglich also, dass nicht jedes wiedergegebene Erlebnis hundertprozentig der tatsächlichen Begebenheit entspricht. Eine ausführliche Auflistung der Geschichten und ihrer „Urheber“ finden Sie in der Danksagung am Ende des Buchs. Dennoch gab es für mich beim Schreiben keine Alternative zur Gegenwartsform, weil sie die Geschehnisse dieser Zeit einfach lebendiger erscheinen lässt. So habe ich beim Hören und Notieren manches wieder und vieles völlig neu erlebt. Ich hoffe und wünsche mir, dass es Ihnen beim Lesen ähnlich ergeht.

Jürgen Thiem, im Winter 2012

Die Diagnose

Da ist er wieder, dieser stechende Schmerz. Aki rappelt sich auf. Der Versuch eines Lächelns. Bloß keine Müdigkeit zeigen. Auch jetzt, mit 44, hat er noch einen Ruf zu verteidigen. Er, den sie Zeit seines Fußballerlebens „Pferdelunge“ genannt haben. Noch immer rennt er allen davon. Hier auf dem Trainingsplatz am Lohrheidestadion, in der Altherrenmannschaft des Wattenscheider Textil-Moguls Klaus Steilmann.

Doch jetzt ist etwas anders als sonst. Das spürt er. Klar, es ist ein harter Zweikampf um den Ball gewesen. Er war wieder mal einen Schritt schneller, der Gegenspieler hat ihn zu Fall gebracht. Alles kein Problem. Tausendmal berührt, tausendmal ist nichts passiert. Und die Schmerzen in der Hüfte, nichts Neues. Die hat er ja schon über ein Jahr. Ein Hämatom, keine Frage. So etwas kommt selbst bei besten Fußballrentnern vor. Nicht der Rede wert. Und erst recht keinen Arztbesuch. Da hat er schon ganz andere Probleme gelöst. Oder besser, verdrängt.

Diesmal aber fällt es ihm schwer, das Verdrängen. Mit zusammengepressten Lippen quält er sich über die letzten Minuten. Vorzeitig vom Platz gehen, das war noch nie sein Ding. Unter der Dusche vermissen die Mitspieler seine lockeren Sprüche. Erst in der Vereinsgaststätte, beim zweiten Bier, findet er seine Sprache wieder. Die Schmerzen aber bleiben. In der Leiste, in der Hüfte, im Rücken, im Gesäß.

Seine Schwester Luzie, gelernte Krankenschwester, bedrängt ihn, endlich zum Arzt zu gehen. Aki winkt ab: „Das wird schon wieder!“ Drei Monate später, im Urlaub auf Ameland, zwingen ihn die Schmerzen buchstäblich in die Knie. Sein Kreislauf spielt nicht mehr mit. Auch eine Folge der starken Schmerztabletten, die er sich inzwischen wie Halsbonbons einwirft. Es geht nicht mehr anders. Aki muss den Platz, in dem Fall sein geliebtes Eiland, vorzeitig verlassen.

Daheim in Borken veranlasst sein Hausarzt eine Blutuntersuchung. Das Ergebnis ist alarmierend. Noch am selben Tag wird er ins örtliche Marienhospital eingewiesen. Sein Zustand verschlechtert sich stündlich. Eine schwere Lungenentzündung gesellt sich hinzu. In Borken fühlen sich die Ärzte überfordert. Mit Blaulicht wird Aki nach Essen gefahren, in die Uniklinik. Seine Frau Christa hält ihm die Hand, als er, schweißnass im Bett liegend, ins Röntgenzentrum geschoben wird.

Zwei Monate lang hängt er am Tropf, kann keine feste Nahrung zu sich nehmen. Vom einstigen Helden der Nordkurve, dem durchtrainierten Laufwunder und Frauenschwarm, bleibt nur ein schwindender Rest. Dreimal rufen die Ärzte Christa Lütkebohmert in Borken an. Dreimal versuchen sie ihr schonend beizubringen, dass das Ende naht. Sie will es nicht wahrhaben. Nächtelang wacht sie an seinem Bett im Zimmer 205 auf der Station M4. Auf jedes noch so kleine Hoffnungszeichen wartend. Sie redet leise und behutsam auf ihn ein, fordert ihn immer wieder auf, durchzuhalten.

Als sich keine Besserung einstellt, sitzt sie apathisch neben ihm, schaut an ihm vorbei, über ihn hinweg. Sie will bei ihm sein und kann sein Leiden doch nicht mehr mit ansehen. Er habe bisher nur dank seines starken Herzens überlebt, versichern ihr die Fachleute in weißen Kitteln.

Es ist Weihnachten 1992. Und noch keine Zeit zum Sterben. Noch einmal trägt Aki den Sieg davon, noch einmal entscheidet er den Zweikampf für sich. Wenn es auch ein ungleicher ist und der Gegner sich nur vorübergehend geschlagen gibt.

Im Februar 1993 ist Aki stark genug für die Chemotherapie. Auch die setzt ihm mächtig zu. Doch er hat wieder ein Ziel vor Augen, so wie einst bei seinen unzähligen Läufen zuhause in Borken, den Lünsberg rauf und runter, nach dem Training, wenn die anderen längst schon auf der weichen Couch lagen.

Aki will noch einmal nach Hause. Und wer weiß, wenn er dann schon mal raus ist, vielleicht kriegt er die Geschichte ja doch noch in den Griff. So leicht jedenfalls wird er sich auch diesmal nicht besiegen lassen. Es ist ein irrationaler Kampf. Ein Kampf wider besseres Wissen. Ein Kampf, den er nicht gewinnen kann. Er weiß es. Er hat Bücher gewälzt, er hat mit Ärzten gesprochen. Das Urteil war immer das gleiche: ein Todesurteil.

Als es ihm eine Woche nach seiner Einlieferung in Essen erstmals verkündet wird, reagiert er wie immer, wenn es eine schlechte Nachricht zu verarbeiten gilt. Äußerlich gefasst. Mit schwacher, aber ruhiger Stimme schildert er seiner Frau, deren Schwester Marlene und ihrem Mann Jürgen den Befund: Knochenkrebs, Teufelszeug. Als Marlene und Jürgen das Zimmer verlassen haben, zieht er Christa zu sich auf die Bettkante. Sie zittert, schüttelt unentwegt den Kopf. Ihre schönen Augen ertrinken in einem salzigen Meer. Sie hört kaum, was er sagt, vor sich hin stammelt. Es ist mehr ein Selbstgespräch. Allein die Worte sind immer die gleichen: „Das ist die Strafe Gottes für den Mist, den ich gemacht habe!“

Die tragische Geschichte der Mannschaft, die auszog, die Fußballwelt zu erobern, am Ende aber nahezu ungekrönt in ihre Einzelteile zerfällt, beginnt früher. Viel früher. Um genau zu sein, 25 Jahre früher.

Oskar, der Baumeister

Es ist schwül an diesem Abend des 28. Juli 1967. Im Erler Schützenhaus Holz steht die Luft. Draußen sorgt Petrus für die passende Choreografie. Es blitzt und donnert. Auch drinnen rumort es kräftig, bis Oberbürgermeister Scharley zu vorgerückter Stunde ans Mikrofon tritt und einen Kompromissvorschlag unterbreitet. Einstimmig wird die Wahl des neuen Vorstands vertagt. Zuvor hat die große Mehrheit der knapp 400 Mitglieder Präsident Fritz Szepan ihr Misstrauen bekundet. Unter Tränen hatte sich die Schalker Vereinsikone gegen die Vorwürfe gewehrt. Dies ist der Moment, auf den Günter Siebert so sehnsüchtig gewartet hat. Er springt auf die Bühne, legt seinen Arm um Szepan und ruft der aufgebrachten Menge entgegen: „Pfui, so lasse ich diesen Mann hier nicht behandeln!“

Was kaum einer weiß: Siebert selbst war drei Tage vor der Mitgliederversammlung in der Sportredaktion des Düsseldorfer Mittag erschienen, um die Vorwürfe gegen Szepan zu lancieren. Dieser lasse eine Ladenhilfe und die Sekretärin seines Textilwarengeschäfts am Schalker Markt vom Verein bezahlen. Der Wahrheitsgehalt dieser Behauptung wird nie mehr überprüft. Für Siebert aber, seit einem Jahr Vizepräsident und zuvor Schriftführer, ist der Boden bereitet. Für die von ihm geleitete Opposition der jüngeren Generation ist der Weg frei.

Zwei Monate später, am 27. September 1967, steigt die Neuauflage der Mitgliederversammlung im Hans-Sachs-Haus. Schnell wird Siebert von nunmehr 600 Mitgliedern zum Versammlungsleiter bestellt. Als er um Vorschläge zur Wahl des Präsidenten bittet, fällt immer wieder sein Name: „Oskar!“ Sein Spitzname, den er seinem früheren Mannschaftskameraden Berni Klodt verdankt. Der taufte ihn nach dem Hauptdarsteller einer Cartoon-Serie in der Zeitschrift HörZu. Es handelt sich um den Igel Oskar mit sieben Kindern. Siebert hat zu dem Zeitpunkt gerade mal drei. Es werden später tatsächlich sieben. Der Name also passt. So oder so. Er hat schließlich auch etwas Volkstümliches, Hemdsärmliges. Genau das, was Schalke jetzt braucht.

Siebert lässt die Mitglieder noch ein bisschen zappeln, spielt mit der Stimmung im Saal, weidet sich an der breiten Zuneigung. Mehrfach versichert er den Schalkern, er könne sich nicht wählen lassen, er habe es seiner Frau versprochen. Als die „Oskar“-Rufe immer lauter werden, übernimmt der Vorsitzende des Verwaltungsrats Hermann Kerl die Versammlungsleitung. Minuten später ist Günter Siebert mit einer überwältigenden Mehrheit von 98 Prozent zum neuen Präsidenten gewählt. Mit 36 Jahren ist er der jüngste Vereinsboss in der Bundesliga. An der Spitze einer jungen Vorstandsmannschaft. Schatzmeister Heinz Aldenhoven ist sogar noch drei Jahre jünger.

Aber nur mit jungen Leuten in diesem vor Tradition triefenden Verein, da würde ihnen alles gleich um die Ohren fliegen, wenn es nicht so läuft. Siebert weiß das nur allzu gut und zieht sein nächstes Register. Als Vertreter der Szepan-und-Kuzorra-Generation will er den beliebten Heinrich Orzewalla, von den Schalkern liebevoll „Onkel Heini“ gerufen“, zum Vizepräsidenten machen. Der aber ziert sich, ist kein Mann großer Worte.

Siebert versucht ihn zu überzeugen. Am Ende der kurzen Unterredung lenkt Orzewalla ein: „O. k., ich mach’s, wenn du mir versprichst, dass ich nie eine Rede halten muss …“ Orzewallas „Erpressungsversuch“ ist im ganzen Saal zu hören, weil Siebert kurz zuvor das Mikrofon eingeschaltet hat, und wird mit freudvollen „Heini, Heini“-Sprechchören quittiert. Orzewalla wird gewählt, die Rede aber hält Siebert.

Es ist die Geburtsstunde eines glänzenden Rhetorikers und Volkstribuns. In 30 Minuten verzaubert er die blau-weiße Glaubensgemeinschaft. Mit Vorstellungen, Illusionen und Träumen, die so ganz nach dem Geschmack der nach Erfolgen dürstenden Schalker Seele sind. Es könne nicht länger sein, dass die A-Jugend des STV Horst-Emscher in der Tabelle vorm Schalker Nachwuchs stehe. Siebert spricht von notwendigen Investitionen in die Zukunft und nennt als Beispiele die Freikarten für Schulkinder und die Rückholaktion von Reinhard Libuda.

Als die bierselige Stimmung ihrem Höhepunkt entgegenschwappt, inszeniert der neue Vereinsführer einen gekonnten verbalen Doppelpass mit dem Stadtoberhaupt. Die Stadt plane doch ein Großstadion für die WM 74? In vier Monaten werde der Stadtrat darüber beschließen, entgegnet Hubert Scharley. Wie groß es denn werde, suggeriert Siebert den Zuhörern völlige Unkenntnis. 70.000 Zuschauer solle es fassen, so der OB.

Das Stichwort für Siebert. Er setzt an zum großen Finale. „Wir haben sieben Jahre Zeit. In diesen sieben Jahren baue ich eine Mannschaft auf, die das Stadion füllt und wieder um den Meistertitel spielt!“ Seine letzten Worte gehen beinahe unter im aufbrausenden Jubel der Wir-werden-wieder-wer-Gesalbten. Als kurz vor Mitternacht die Vereinshymne „Blau und Weiß“ intoniert wird, steht nicht wenigen altgedienten Königsblauen das Weihwasser in den Augen.

1951 ist Günter Siebert zum ersten Mal in Schalke aufgetaucht. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion. In der Walpurgisnacht, ein symbolträchtiger Zeitpunkt angesichts der Hexentänze, die er Jahrzehnte später auf Schalke veranstalten sollte. Vor seinem Fenster im Kasseler Elternhaus hat er eine Leiter aufgestellt. Als gelernter Zimmermann und Treppenbauer bewegt er sich traumwandlerisch auf den schmalen Sprossen. Als das verabredete Zeichen vom Straßenrand kommt, ist er Sekunden später unten, im Auto des wartenden Spielervermittlers. Im Morgengrauen führt die Fahrt an Dortmund vorbei. Hier könne er auch rausfahren, bekundet der Vermittler. Der 20-jährige Günter schüttelt den Kopf. Er hat sich für Schalke entschieden.

Neun Jahre zuvor, im Frühjahr 1942, hatte er erstmals Bekanntschaft mit dem Verein gemacht. Sein Vater, im Kriegsurlaub aus Frankreich nach Hause gekommen, fragte: „Willst du mal die beiden besten Fußballspieler Deutschlands sehen, Fritz Szepan und Ernst Kuzorra?“

Natürlich wollte er. Das Freundschaftsspiel gewann der Gaumeister Westfalens gegen den hessischen Gaumeister Kassel 03 3:1. Die Liebe des kleinen Günter zu den Königsblauen war entflammt. Fortan war er beim Straßenkick nur noch Fritz Szepan. Wo dieses geliebte Schalke lag, das allerdings entzog sich weiter seiner Kenntnis.

Das Vorbild gereichte ihm zum Vorteil. In der Jugend des CSC Kassel 03 reifte der flinke Günter zum veritablen Sturmtalent heran. Als er auch in der 1. Mannschaft reüssierte, wurde Schalke auf ihn aufmerksam.

Für zehn Uhr ist an diesem Maifeiertag das Probetraining in der Glückauf-Kampfbahn angesetzt. Der Spielervermittler hantiert mit einer Schuhbürste, will Sieberts Blut zum Zirkulieren bringen. „Ötte“ Tibulsky, Vereinswirt und Mitglied der legendären Kreisel-Mannschaft, schaltet sich ein: „Lass ma, der Junge macht auch so nen starken Eindruck.“

Womit er Recht behalten soll. Siebert haut sich vor den Augen seines Idols und Trainers Fritz Szepan mächtig ins Zeug, rasselt dabei auch mal mit Kapitän Hermann Eppenhoff zusammen. Statt böser Worte erntet er nur Anerkennung. Obmann Ernst Kuzorra nickt zustimmend vom Spielfeldrand: „Den nehmen wir!“

Doch als Fritz Szepan Siebert nach dem Duschen zur Vertragsunterschrift bittet, zögert dieser zur Überraschung aller. Er habe Sepp Herberger versprochen, bis zu den Olympischen Spielen in Helsinki im nächsten Jahr keinen Profivertrag zu unterschreiben. Szepan legt seinen Arm um Siebert und entgegnet: „Junge, was ist eine Olympiade, wenn du das königsblaue Trikot tragen darfst?“

Siebert willigt ein. Stunden später erfährt er wegen seines eigenmächtigen Handelns schmerzhafte Sanktionen. Seine Mutter begrüßt ihn daheim mit einer Ohrfeige. Anschließend bricht sie in Tränen aus, wohl wissend, dass ihr Günter nicht mehr zu halten ist.

Mit 50 Mark in der Tasche trifft Siebert sechs Wochen später in Gelsenkirchen ein. Vereinspräsident Albert Wildfang verschafft ihm eine zweite Lehre zum Großhandelskaufmann. Als er zwei Jahre später Schalke wieder den Rücken kehrt, ist die Ausbildung nicht das Einzige, was er mit nach Kassel zurücknimmt. Im zweiten Jahr gelingen ihm stattliche 15 Tore. Schalke hätte ihn gern behalten. Ihm bleibt aber keine Wahl.

In der Sommerpause 1952 heiratet er in Kassel seine Freundin Hanna, Tochter eines Lebensmittelhändlers. Der Schwiegervater, Fan und Funktionär von Hessen Kassel, bietet die Tochter unter der Voraussetzung feil, dass Siebert nach Ablauf seines Vertrages auf Schalke 1953 zu Hessen Kassel wechselt. Was tut man nicht alles für die Liebe!

Immerhin schließt der Umworbene in den folgenden beiden Jahren seine dritte Lehre ab. Jetzt darf er sich auch Lebensmittelkaufmann nennen. Siebert, nach seinen ersten Jahren auf Schalke mit der Ungewissheit des Profigeschäfts vertraut, setzt zunehmend auf die Karriere außerhalb des Platzes. Mit 400 Mark Startkapital und einem Gebrauchtwagen eröffnet er in Kassel einen mobilen Getränkevertrieb.

1955 klopft sein Leib- und Seelenklub wieder an. Trainer Edi Frühwirth sucht einen Mittelstürmer seines Zuschnitts. Schalke zahlt stolze 35.000 Mark für den Rückkehrer. Ein zweites Mal packt Siebert seine Sachen, gereift und festen Willens, diesmal auf Schalke Großes zu erreichen. In jeder Hinsicht. Gleich nach seiner Ankunft gründet er einen Bierverlag, beliefert unter anderem 20 Trinkhallen, die er bald sein Eigen nennt. Weil er sich durch Fußball und Geschäft noch nicht ausgelastet fühlt, fährt er morgens um vier auch noch Zeitungen aus. Frisch aus der Druckerei in seine Trinkhallen und in den Bahnhof, wo er sie eigenhändig verkauft.

Gelsenkirchen – Wirtschaftswunderland. Und Günter Siebert ist mittendrin. Keine Frage, der Mann ist geschäftstüchtig, ja geradezu geschäftssüchtig. Mit seinem ersten 60 m² großen Discountladen an der Grenzstraße lässt er einen weiteren Versuchsballon steigen. Mit Dumpingpreisen sichert er sich seine Kundschaft. Eine Tafel Schokolade kostet im Großmarkt in Münster 1,30 Mark? Kein Problem, Siebert verkauft sie für 92 Pfennige. So werden aus einem Laden schnell zehn. Nach Heimspielen versammelt er die halbe Mannschaft in seiner Wohnung. Es wird gegessen, getrunken und gefeiert. Nicht selten bis Montag früh. Der Einzige, der bald wieder raus muss, ist Siebert.

Die gute Kameradschaft spiegelt sich auch auf dem Platz wider. 1958 gelingt der große Coup. Im Finale um die Deutsche Meisterschaft wird in Hannover der Hamburger SV 3:0 bezwungen. Auf der triumphalen Rückfahrt hält der Meisterzug auch kurz in Dortmund. Eine Abordnung des BVB steht am Bahngleis und gratuliert. Ein Bild, das sich bei Siebert tief einbrennt und ihn Jahre später zu einer spektakulären geheimen Hilfsaktion veranlasst. Als die Schwarz-Gelben 1973 kurz vorm wirtschaftlichen Aus stehen, springt Schalkes Präsident mal so nebenbei für vier Monate als Aushilfsmanager ein, organisiert unter anderem ein Benefizspiel zugunsten der Borussia. Außer BVB-Präsident Günther und S04-Schatzmeister Aldenhoven ist niemand eingeweiht.

Es sind aber noch andere Bilder, die sich ihm einprägen und die fortan zu Motiven seines präsidialen Tuns werden. Die 250.000 in der Gelsenkirchener Innenstadt, die die Meister 1958 immer wieder hochleben lassen. Und Wochen später die ersten Europapokalspiele der Schalker Vereinsgeschichte. Siebert selbst hat durch seine Tore entscheidenden Anteil am Einzug ins Viertelfinale. Hier allerdings ist Schluss gegen Atlético Madrid.

1959 zwingt ihn eine Knieverletzung, die Profilaufbahn zu beenden. Gedanklich ist er schon längst über seine aktive Fußballerzeit hinaus. Mit 32 erwirbt er die Edeka-Zentrale in Gelsenkirchen, für 900.000 Mark. Die dazugehörigen Filialen werden blau und weiß gestrichen. Siebert zögert nicht, mit großen Summen zu hantieren. Zumindest nimmt er sie in die Hand, wenn auch keines seiner Geschäfte von großer Dauer ist. Seine Beständigkeit liegt im Wechsel.

image

Günter Siebert 1956 in einem Spiel für Schalke 04.

Und doch verschafft er sich gerade damit, mit seinem medienwirksamen Aktivismus, Respekt auf Schalke und im Umfeld. Motto: Guck mal, was der Oskar da schon wieder alles auf die Beine stellt. Der Mann ist ein Macher, hat obendrein auch noch Ahnung von Fußball. Mehr noch: Er hat ein königsblaues Herz. Einer, der die Sachen anpackt und sie endlich zum Besseren wendet. Auf so einen haben sie hier gewartet. Jahrelang.

Aufbau West

Als Siebert 1966 das Amt des Vizepräsidenten bekleidet, hat sich Schalke mal wieder soeben gerettet. Am drittletzten Spieltag, in sengender Hitze, mit einem 2:0-Heimsieg im Abstiegsendspiel gegen Borussia Neunkirchen. Nach dem Schlusspfiff stürmen 38.000 in der überfüllten Glückauf-Kampfbahn den Rasen, reißen den Spielern die Trikots vom Leib, feiern den Klassenerhalt wie die achte Deutsche Meisterschaft. In allen Gelsenkirchener Kneipen wird die Polizeistunde aufgehoben.

Einer der besten Spieler auf dem Platz und in dieser, seiner ersten Bundesligasaison ist Klaus Fichtel. Ein Jahr zuvor hat ihn Schalkes Trainer Fritz Langner von Arminia Ickern geholt. Fichtel kommt aus einer Fußballerfamilie. Sein Vater spielte noch mit 37 in der Gauliga. Sein Bruder ist Vertragsspieler bei Westfalia Herne. Wie sein Vater hat Klaus Fichtel Bergmann gelernt, auf Zeche Viktoria III/IV seine Knappen-Prüfung bestanden, auf Ickern I/II seine Kohlen gebrochen. Ein ganzes Jahr lang arbeitete er unter Tage. Er verkörpert damit eine aussterbende Spezies beim Kohle- und Knappen-Klub. Schon bald wird er der letzte S04-Profi mit Flöz-Erfahrung sein.

In seiner ersten Saison überzeugt der 21-Jährige als Manndecker neben Alfred Pyka. Er brilliert technisch und strahlt mit jungen Jahren eine dermaßen große Ruhe aus, dass Helmut Schön ernsthaft erwägt, ihn für die anstehende WM in England zu nominieren. Langner, wegen seines knochenharten Trainings und seiner leidenschaftlich vorgetragenen Kriegserlebnisse auch „General Fritz“ genannt, interveniert. Fichtel muss bis Februar 1967 auf sein erstes Länderspiel warten. Das Spiel gegen Neunkirchen wird er später als das emotionalste seiner ganzen Karriere bezeichnen. Und in der hat er am Ende immerhin 552 Bundesligaspiele bestritten.

Im Überschwang der Rettungsgefühle lässt sich Präsident Szepan an diesem 14. Mai 1966 zu einer Aussage verleiten, die ein Jahr später ebenfalls dazu beitragen wird, dass das königsblaue Volk Günter Siebert wie einen Messias empfängt. „In der vierten Bundesligasaison werden wir nicht mehr zu zittern brauchen, sondern andere Mannschaften zum Zittern bringen, die heute noch nicht daran denken!“

Die Wahrheit liegt im Fußball allerdings schon seit jeher auf dem Platz. Und so ist es dumm für Szepan und alle gutgläubigen Schalke-Fans, dass sich Geschichte wiederholt. Fast auf den Tag genau ein Jahr später, am 20. Mai 1967, bedarf es wieder am 32. Spieltag eines glücklichen Heimsiegs, um die Rettungsparty zu starten. Manni Kreuz und Willi Kraus drehen einen 0:1-Pausenrückstand gegen Fortuna Düsseldorf in einen 2:1-Erfolg. Wieder feiern die Fans den Klassenerhalt euphorisch.

Obwohl an diesem Tag Josef Elting noch mal den Schalker Kasten hüten darf, hat ihn ein 18-jähriger „Überflieger“ längst verdrängt. Norbert Nigbur, in der frühen Jugend bei Heßler 06 noch Mittelstürmer, gilt längst als herausragendes deutsches Torwarttalent. Viele wissen es, nur seine Eltern nicht.

Der junge Norbert spielt sonntagmorgens erst Hallenhandball, beim DJK Heßler, anschließend schnürt er beim SV 06 die Fußballschuhe. Weil die Eltern glauben sollen, der Sohnemann wohne dem katholischen Gottesdienst bei, wird stets ein Kumpel aus der Siedlung abgestellt, der die Kirche besucht und den Inhalt der Predigt rezitiert. Für den Fall, dass die Eltern mal misstrauisch werden und fragen.

Sie fragen selten. Nur so ist es zu erklären, dass ihnen Norberts steiler Aufstieg völlig entgeht. Bis er mit 14 eine Einladung zum Schüler-Länderspiel gegen England in Heilbronn erhält. Mit in der Post: ein Paket mit einem schicken DFB-Ausgehanzug. Mutter Elfriedes Verwunderung ist echt: „Norbert, wo hast du diesen schönen Anzug her?“ „Mutter, ich fahre jetzt nach Heilbronn, da mache ich ein Länderspiel. Das kannst du dir im Fernsehen anschauen.“ „Junge, das glaube ich nicht!“

Muss sie aber. Am nächsten Tag staunen Elfriede und Ernst Nigbur nicht schlecht, als ihr Sohn katzengewandt den englischen Nachwuchs beinahe zur Verzweiflung bringt. Doch wieder daheim, ergeht es dem jungen Helden nicht anders als seinerzeit Günter Siebert nach dem heimlichen Ausflug nach Gelsenkirchen. Diesmal ist es der Vater, der zuschlägt. Norberts Onkel versteht die Welt nicht mehr. Er, der es in englischer Kriegsgefangenschaft selbst zum passablen Torhüter gebracht hat, fordert die Eltern auf, Norberts außergewöhnliches Talent zu fördern.

Spätestens im Mai 1966 lässt sich die Erfolgsgeschichte nicht mehr aufhalten. Die Steinstraße in Heßler ist an diesem Tag, kurz nach Nigburs 18. Geburtstag, überlaufen. Unten vor der Haustür haben sich Dutzende Autogrammjäger versammelt. Sie alle wissen, dass Fritz Szepan kommen wird, um mit Norbert Nigbur den Vertrag auszuhandeln. Norberts Schwestern konnten das Geheimnis nicht für sich behalten.

Die Verhandlung mit dem Präsidenten führt Ernst Nigbur, ein Bergmann, von Kindheit an Schalker. Lange ist er der Meinung gewesen, sein Sohn müsse etwas „Anständiges“ lernen. Jetzt, wo es anders gekommen ist, setzt er alles daran, Norbert eine sichere Lebensgrundlage zu ermöglichen. Am Ende des Gesprächs ist es ein Grundstück, ein Auto und ein ordentlicher Batzen Geld. Fritz Szepan verlässt die Wohnung in der Steinstraße, wie es sich für einen Schalke-Präsidenten gehört: blau und weiß. Leicht angeschickert von dem einen oder anderen Schnäpschen – fahl im Gesicht, weil der Neuzugang alles andere ist als ein Schnäppchen.

Gleich in seiner ersten Profisaison hütet Nigbur 28-mal das Schalker Tor. Weil Stammkeeper Elting in den ersten Spielen gleich mehrere Fehler macht, darf Nigbur am 3. September 1966 erstmals ran, gegen den Titelfavoriten 1. FC Nürnberg. Die Club-Stürmer Brungs, Wild und Volkert verzweifeln am glänzend aufgelegten Youngster im Schalker Tor. Die Gastgeber gewinnen 1:0. Am königsblauen Himmel ist ein neuer Stern aufgegangen.

image

Noch ohne wilde Koteletten: Norbert Nigbur zu Beginn seiner Karriere bei Schalke.

Das Training mit „General Fritz“ erweist sich für den hageren Nigbur als harte, aber karrierefördernde Schule. Langner lässt den vom Ehrgeiz Besessenen stundenlang am Pendel Bälle fangen und fausten. Beliebt sind auch des Trainers Sandkastenspiele. Nigbur, ohnehin bereits mit einer begnadeten Sprungkraft beschenkt, entwickelt eine geradezu innige Beziehung zum feinkörnigen Untergrund. Der abgesteckte Sandkasten ist für Langner ein idealer Kriegsschauplatz. Die Fronten sind klar abgesteckt – im Kampf Mann gegen Mann, besser, Mann gegen Männer. Es ist nämlich ein ungleicher Kampf. Unter Beschuss steht allein der 18-jährige Torwart im Sand. „Willensschulung“ nennt Langner seine Übung. Schalke-Fans am Rande des Trainingsgeschehens sprechen von Überlebenstraining. Aus kurzer Distanz zielen Kreuz, Kraus, Pyka und Pliska, Becher und Bechmann auf Kopf und Körper des im Sand Umherfliegenden. Nigbur ist nicht kleinzukriegen. Nach einer Viertelstunde glühen ihm die Hände. Doch während er signalisiert, dass er gerade so richtig Gefallen gefunden hat an der Übung, verlieren die anderen bald die Lust.

Später, im „Stübchen“ unter der Haupttribüne der Glückauf-Kampfbahn, genehmigt sich der Trainer schon mal das eine oder andere Gedeck, ein Pils und ein Korn. Wenn er so richtig in Fahrt ist, sucht er die Erhöhung. Auf dem Tisch stehend, lässt sich wunderbar vorführen, wie er einst an der Wolga die Handgranaten in die russischen Panzer geworfen hat. Beifall und Bewunderung der im dichten Zigarrenqualm gefesselten Zuhörerschaft sind ihm dabei stets sicher.

Als Günter Siebert vier Monate nach dem neuerlichen Klassenerhalt die Vereinsführung übernimmt, ist Langner bereits Geschichte am Schalker Markt. Sieberts Vorgänger Szepan hat ihm unter dem Drängen der jungen Opposition nach dem Saisonende den Laufpass gegeben. Zum Nachfolger macht Szepan den erst 33-jährigen Karl-Heinz Marotzke, der jüngste Fußballlehrer der Liga. Marotzke, zuvor zwei Jahre mehr oder minder erfolglos beim Nord-Regionalligisten VfL Osnabrück, glänzt bei seiner Vorstellung als geschliffener Redner und Theoretiker. In der Praxis aber ändert er wenig – an der unbefriedigenden sportlichen Situation beim Meister früherer Tage.

Trotz hoffnungsvoller Talente wie Fichtel und Nigbur dümpelt die Mannschaft bei Sieberts Amtsantritt am Tabellenende herum. Nach sieben Spielen hat sie 1:13 Punkte auf dem Konto. Hinzu kommen Schulden in Höhe von eineinhalb Millionen Mark. Wieder mal steht Schalke sportlich und wirtschaftlich am Abgrund.

Siebert will Besserung, sofort. Am Abend nach seiner Wahl fährt er mit Mannschaft und Trainer zur Vorbereitung auf das anstehende Bundesligaspiel in die Sportschule Kaiserau. Hier spricht der jüngste Präsident dem jüngsten Trainer das Vertrauen aus, knüpft es aber – typisch Siebert – an Bedingungen. Marotzke muss fortan zweimal täglich trainieren lassen.

Zwei Tage später erreicht der Tabellenletzte gegen den Tabellenführer 1. FC Nürnberg mit einem torlosen Unentschieden einen Achtungserfolg. Seit 631 Minuten ist die Mannschaft inzwischen ohne eigenes Tor. Es kommen noch 74 Minuten hinzu. In Duisburg gelingt Manfred Pohlschmidt der Ausgleich zum 1:1-Endstand. Auf den ersten Sieg müssen die Fans noch länger warten. Am zehnten Spieltag reicht es durch Tore von Willi Kraus und Hans-Jürgen Wittkamp gegen Aufsteiger Aachen zu einem dünnen 2:1.

Die Wende zum Guten ist das aber noch nicht. Nach drei weiteren Niederlagen in Folge wird es Siebert zu bunt. Längst hat er Kontakt aufgenommen zu Günther Brocker. Sein Kumpel und einstiger Spieler der 58er-Meistermannschaft steht nach seiner Entlassung bei Werder Bremen sofort zur Verfügung. Und, ebenso wichtig: Er kostet den klammen Klub keine zusätzliche Mark. Bisher hatte Schalke dem nach Bremen gewechselten Langner noch einen monatlichen Differenzbetrag seines Gehalts überweisen müssen. Auch Brocker war von Werder noch weiterbezahlt worden. Von nun an fallen die beiderseitigen Fortzahlungen weg.

Offiziell verkauft Siebert seinen Spezi Brocker als neuen Technischen Leiter. Schließlich muss auch Marotzke zunächst weiterbeschäftigt werden. Was eine kuriose Frühform des Jobsharing zur Folge hat. Brocker trainiert vormittags, Marotzke nachmittags. Womit Letzterer seiner Nebenbeschäftigung als Dozent an der Kölner Sporthochschule weiter nachgehen kann. Einfluss und Autorität Marotzkes schwinden erwartungsgemäß rapide. Brocker ist der neue starke Mann, zumal ihm der Erfolg bald Recht gibt. Zum Ende der Hinrunde verlässt die Mannschaft mit einer kleinen Serie von 7:1 Punkten erstmals die Abstiegsränge.

Zum Rückrundenauftakt in Mönchengladbach sitzt Brocker allein auf der Bank. Marotzke wird als Co-Trainer für gewisse Trainingseinheiten und -formen nur noch auf dem Übungsplatz gesichtet. Beim Tabellenzweiten auf dem Bökelberg setzen Brockers Jungs endlich mal ein richtiges Ausrufezeichen. Am Ende steht es nach je zwei Treffern von Hans-Jürgen Wittkamp und Manfred Pohlschmidt sowie einem von Hermann Erlhoff und Willi Kraus bei einem Gegentor von Günter Netzer 1:6.

Siebert eilt nach dem Abpfiff ob dieser an beste Schalker Tage erinnernden Darbietung mächtig euphorisiert von der Tribüne in die Kabine. Hier umarmt er jeden, den er greifen kann, und verkündet unter lautem Gejohle die Erhöhung der Siegprämie – von 1.000 auf 1.200 Mark. Kein gewöhnlicher Akt in diesen Tagen. Schließlich sind die Kassen nach wie vor beängstigend leer. Dass in der Winterpause die Eintrittspreise um zehn Prozent erhöht werden, darf der Verein offiziell aber zu Recht mit der Einführung der ebenso hohen Mehrwertsteuer begründen.

Unter Brocker stabilisiert sich die Mannschaft in der Rückrunde. Mit dem Abstieg hat sie bald nichts mehr zu tun. Sportliche Höchstleistungen – wie der 3:2-Sieg beim späteren Meister Nürnberg – gelingen aber nur noch selten. In der Abschlusstabelle 1967/68 taucht der Vereinsname erst an 15. Stelle auf.

Für den ehrgeizigen Präsidenten ist dies ein unhaltbarer Zustand. Inzwischen haben die Stadtoberen in Gelsenkirchen den Bau des Großstadions beschlossen. Jetzt wird und will Siebert sich an den beim Amtsantritt gemachten Versprechungen messen lassen. Hinter den Kulissen laufen die Vorbereitungen für eine bessere Zukunft bereits auf Hochtouren. Zugute kommt ihm dabei, dass Schalke-Intimus Dr. Hans-Georg König zum Stadtdirektor ernannt wird. Ein steiler Aufstieg für den SPD-Mann, der Jahre zuvor als Stadtkämmerer rechtskräftig verurteilt worden ist, weil er zugunsten von Schalke 04 Steuern hinterzogen hat. 1964 hat ihn der sportbegeisterte NRW-Innenminister und Parteifreund Willi Weyer wieder ins Amt gehoben.

Jetzt, vier Jahre später, ist König der oberste Mann der Stadt. Recht ist, was dem Verein nützt. Das war in Gelsenkirchen schon immer so. Für Günter Siebert ist es in jedem Fall ein glücklicher Umstand. Will er sportlich hoch hinaus, muss er die wirtschaftlichen Bedingungen verbessern. Das weiß der Kaufmann allzu gut. Ein Schulterschluss mit den politischen Richtungsweisern hat dabei noch nie geschadet.

Ein Dorf im Münsterland

Der kleine blonde Junge mit den blauen Augen ist der Star. Im Kindergarten, bei den Erzieherinnen. Und zuhause im Kreuzweg 22. Ist er wieder mal aus der Reihe getanzt, hat er den kleinen Plastikball ins Blumenbeet gekickt – ein Augenzwinkern, ein verzagtes schelmisches Lächeln genügen zumeist, um ungeschoren davonzukommen. Keine Frage, der kleine Rauscheengel namens Herbert ist Mamas Liebling. Er darf sich oft ein bisschen mehr erlauben als die anderen. Und die anderen sind viele. Herbert ist das zweitjüngste von insgesamt neun Kindern. Die anderen, das sind vier Jungen und vier Mädchen, die sich jeweils ein Schlafzimmer teilen.

Vater Franz verdient sein Geld als Anstreicher auf der Zeche Graf Moltke in Gladbeck. Es reicht gerade so, um alle durchzubringen. Große Sprünge sind nicht drin. Doch ist einmal Not am Mann, kann man sich aufeinander verlassen in Heiden. Verwandte und Nachbarn reichen einander die helfende Hand. Und auf den Bauernhöfen ringsherum werden immer Arbeitskräfte gesucht.

Das Leben hat seine feste Ordnung hier im westlichen Münsterland. Das ist schon im März 1948 so, als Herbert im Kreuzweg das Licht der Welt erblickt. Daran hat auch der Krieg nichts geändert. Im Gegenteil. Hier in der Wald- und Wiesenlandschaft der Hohen Mark scheint die Zeit stehen geblieben. Rote Backsteinhäuser reihen sich aneinander, auf den Straßen spielen Kinder. Autos sind selten in den Nachkriegsjahren. Taktgeber im Gemeindeleben ist der Glockenschlag der Kirche. Und taktlos ist, wer sich nicht danach richtet.

Sonntags ist Gottesdienst. Und viele gehen hin. Vier von fünf Heidenern sind Katholiken. Immer schon. Oder besser, seit langer Zeit. Glaubt man nämlich der Sage, so hatte der heilige Ludgerus ausgerechnet in diesem Ort besondere Widerstände zu überwinden, um die Bewohner zum Christentum zu bekehren. Für seine Bemühungen erntete er anfänglich nur Hohn und Spott. Darüber erzürnt, verließ er das Dorf, als ihm am Himmel ein Engel erschien. Der bat ihn, noch einmal umzukehren, um einen letzten Versuch zu machen. Und siehe da, das Volk glaubte den Worten des Heiligen und ließ sich taufen. Beim Abschied aber rächte sich der heilige Ludgerus dann doch noch für die lange Verweigerungshaltung und verlieh dem Ort den Namen „Heiden“.

Sage hin oder her, der kleine Herbert lässt sich nicht lange bitten. An der Hand von Mama oder Papa führt auch sein Weg schon früh ins Gotteshaus. Seine Kindheit verläuft in festen Bahnen. Für ihn aber scheint sie voller Freiräume und Entfaltungsmöglichkeiten. Aus der Ordnung auszubrechen, seinen eigenen Weg zu gehen, das erlaubt ihm der Fußball.

Im Sommer 1954, kurz vor seiner Einschulung, schwimmt das ganze Dorf auf der nationalen Euphoriewelle. Der WM-Sieg der deutschen Mannschaft in der Schweiz ist für den Sechsjährigen eine Initialzündung. Gesehen hat er nichts von den Walters, Morlocks und Rahns – im Hause gab es noch keinen Fernseher. Aber Fetzen von Radioreportagen und Stimmungsbilder im Dorf prägen sich tief ein in seinem kleinen Kopf.

Den Ball am Fuß zu haben, zu dribbeln und zu schießen, wird eine frühe Besessenheit. Egal wo, egal wie. Ist die Schule vorbei, ist Herbert am Kicken. Hinterm Haus im Garten, auf dem Bolzplatz um die Ecke und später auf dem holprigen Rasenplatz an der Marienschule. Die sportliche Bewegung wird sein Lebenselixier. Wenn keiner mitkickt, schnappt er sich Familienhund Bubi, einen kleinen Spitz, rennt aus dem Haus raus, die Straße entlang, in die „Uhle“, ein kleines Waldstück, bis zur Kapelle und wieder zurück. Auch im Tischtennis zeigt er Eifer und Talent. Im Garten versammeln sich nicht selten bis zu 20 Kinder aus der Nachbarschaft. An der Platte werden ganze Nachmittage lang Turniere ausgespielt. Maria Lütkebohmert hat es gern, ihre Kinder in der Nähe des eigenen Hauses zu wissen. Also kommen die anderen her. Zu hungern braucht keiner. Zwischendurch reicht sie „Knifften“ mit Butter und Rübensirup durchs geöffnete Fenster.

image

Blonder Lausbub: Aki Lütkebohmert im Kindergarten.
Auf der Bank ist er der Zweite von links.

image

Der neue Trainings anzug: Aki Lütkebohmert mit Vater Franz 1960 in Heiden.

Auch in der Schule macht sich Herbert sportlich nützlich. Dreimal hilft er bei Leichtathletikmeisterschaften, den Siegesbanner des Kreises Borken zu erringen. Nach acht Jahren Volksschule allerdings hat sich sein Sitzfleisch verbraucht. 1962 beginnt er im benachbarten Borken eine Lehre zum Verwaltungsangestellten bei der Kreishandwerkerschaft. Vermittelt wird ihm die Lehrstelle vom Vorstand des TuS Borken. Dort ist man auf den kleinen, feinen Techniker aufmerksam geworden, weil der, im Trikot von Viktoria Heiden, den TuS-Nachwuchs regelmäßig schwindelig gespielt hat. Jetzt, mit 14, muss Herbert auch öfter nach Kaiserau gebracht werden, zu Lehrgängen des westfälischen Fußballverbandes.

Zuhause hat seine Mutter längst den Tagesablauf nach ihm ausgerichtet. Kommt er mit dem Fahrrad von der Arbeit nach Hause, wartet sie mit dem Essen auf ihn. Häufig serviert sie ihm sein Lieblingsmahl, Grünkohl mit Mettwurst. Vor Spielen kocht sie eine leichte Suppe, damit der Junge nichts Schweres im Magen hat. Seine Schwestern Marlies und Luzie putzen ihm die Fußballschuhe.

Im Kreuzweg ist man stolz auf Herbert. Doch was heißt hier Herbert. Seit dem letzten Jahr auf der Volksschule nennen ihn seine Freunde nur noch „Aki“. Dabei hat er sich den Namen selbst gegeben. Beim Kicken auf dem Bolzplatz haben sich alle mit dem Namen eines aktuell bekannten Fußballspielers versorgt. Herbert Lütkebohmert hat sich den des Dortmunder Mittelfeldstrategen Aki Schmidt geliehen. Dass der Namensgeber ausgerechnet ein Schwarz-Gelber war, wen kümmert’s.

Mit 16 ist Aki Lütkebohmert in den Fokus von Jugend-Nationaltrainer Dettmar Cramer gerückt. In Lünen soll der Junge aus Heiden sein Debüt im Nationaldress geben – gegen Irland. Der Termin steht seit drei Wochen fest. Obwohl die Anspannung bei ihm von Tag zu Tag steigt, lässt er sich nichts anmerken. Bloß keine Gefühle zeigen, am besten gar nicht drüber reden. So ist er erzogen worden. So haben es ihm Eltern und Geschwister vorgelebt. Allein mit seiner ein Jahr älteren Schwester Luzie tauscht er sich hin und wieder mal aus.

Als der große Tag gekommen ist, darf Aki schon frühzeitig seinen Arbeitsplatz bei der Kreishandwerkerschaft verlassen. Sein Chef, ein Rechtsanwalt, hat Verständnis für Akis Leidenschaft. Wann immer er kann, drückt er ein Auge zu. Wenn’s sein muss, auch mal zwei. Zuhause im Kreuzweg ist alles vorbereitet. Die Suppe steht auf dem Tisch, die Sporttasche mit den geputzten Fußballschuhen griffbereit im Hausflur. Fehlt nur noch jemand, der ihn abholt und nach Lünen fährt. Seine Eltern haben keinen Führerschein. Aki ist auf fremde Hilfe angewiesen. Und die sollte eigentlich von seinem Verein aus Borken kommen. Allein, sie kommt nicht.

Zwei Stunden noch bis zum Anpfiff. Jetzt kann nur noch Werner Maas helfen. Der Nachbar, Vorstandsmitglied von Viktoria, ist schon häufiger eingesprungen. Als Aki verlegen bei ihm an der Haustür klingelt, hat er schon den Autoschlüssel in der Hand, bevor der Junge seine Leidensgeschichte zu Ende erzählt hat. Mit quietschenden Reifen jagt der VW-Käfer vom Hof. Auf dem Beifahrersitz: Akis Vater, der soeben von der Arbeit zurückgekommen ist. Eine halbe Stunde vor Spielbeginn treffen die drei in Lünen ein. Dettmar Cramer ist außer sich. Leidtragender ist ausgerechnet Werner Maas, dem der DFB-Trainer vorhält, viel zu spät losgefahren zu sein. Alle Erklärungsversuche sind zum Scheitern verurteilt. Cramer ist nicht zu beruhigen.

Erst nach dem Spiel dringt die ganze Wahrheit in sein Bewusstsein. Er entschuldigt sich bei Maas und lädt den Nachbarn und Akis Vater zum gemeinsamen Essen mit der Mannschaft ein. Mit der Leistung des Zuspätgekommenen ist Cramer hochzufrieden. Beim 1:1 gegen die Iren hat Aki ein starkes Spiel gemacht. Von der suboptimalen Vorbereitung keine Spur.