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Titel

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als auch die originale Orthografie und Zeichensetzung, selbst wenn diese fehlerhaft sein sollten,
beibehalten. Der dänische Ort Fanø wird der Einfachheit halber als Fanö wiedergegeben.

ISBN 978-3-7751-7080-2 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-5271-6 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book:
Satz & Medien Wieser, Stolberg

6. durchgesehene Auflage 2014
© der deutschen Ausgabe 2011
SCM Hänssler im SCM-Verlag GmbH & Co. KG · 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scm-haenssler.de; E-Mail: info@scm-haenssler.de

Originally published in English under the title: Bonhoeffer: Pastor, Martyr, Prophet, Spy
© der Originalausgabe 2010 Eric Metaxas
Published by Thomas Nelson, Inc. in Nashville, Tennessee.
All Rights Reserved. This Licensed Work published under license.
Original cover design by Kristen Vasgaard © 2010 Thomas Nelson, Inc. Used by permission.

Die Bibelverse sind, wenn nicht anders angegeben, folgender Ausgabe entnommen:
Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung,
© 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.
Die Bibelstellen in der Widmung, S. 9; Psalm 90,1, S. 349; Psalm 74,8, S. 389f.; und Matthäus 10,17-42,
S. 672f., sind entnommen aus:
Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments nach der deutschen
Übersetzung Martin Luthers. Neu durchgesehen nach dem vom Deutschen Evangelischen
Kirchenausschuss genehmigten Text (1912). Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

Übersetzung: Dr. Friedemann Lux
Deutsche Fassung bearbeitet durch: Prof. Dr. Dr. habil. Rainer Mayer
Umschlaggestaltung: Kathrin Spiegelberg, Weil im Schönbuch
Titelbild: © bpk / SBB
Autorenfoto: © James Allen Walker
Satz: Satz & Medien Wieser

Inhalt

Stimmen zu Eric Metaxas' »Bonhoeffer«

Vorwort zur deutschen Fassung

Vorwort zur sechsten Auflage

Prolog

1. Kapitel | Familie und Kindheit

2. Kapitel | Tübingen

3. Kapitel | In Rom

4. Kapitel | Student in Berlin

5. Kapitel | Barcelona

6. Kapitel | Berlin

7. Kapitel | Bonhoeffer in Amerika

8. Kapitel | Berlin

9. Kapitel | Das Führerprinzip

10. Kapitel | »Die Kirche vor der Judenfrage«

11. Kapitel | Die nationalsozialistische Religion

12. Kapitel | Der Kirchenkampf beginnt

13. Kapitel | Das Betheler Bekenntnis

14. Kapitel | Bonhoeffer in London

15. Kapitel | Der Kirchenkampf verschärft sich

16. Kapitel | Die Konferenz in Fanö

17. Kapitel | Der Weg nach Zingst und Finkenwalde

18. Kapitel | Zingst und Finkenwalde

19. Kapitel | Zwischen Szylla und Charybdis

20. Kapitel | Am Vorabend des Krieges

21. Kapitel | Die grosse Entscheidung

22. Kapitel | Das Ende Deutschlands

23. Kapitel | Vom Bekenner zum Verschwörer

24. Kapitel | Komplott gegen Hitler

25. Kapitel | Ein Sieg für Bonhoeffer

26. Kapitel | Neue Liebe

27. Kapitel | Adolf Hitler töten

28. Kapitel | Zelle 92 in Tegel

29. Kapitel | Stauffenbergs Anschlag und Hitlers Rache

30. Kapitel | Buchenwald

31. Kapitel | Auf dem Weg in die Freiheit

Bildteil 1

Bildteil 2

Anhang

Anmerkungen

Fußnoten

Abkürzungsverzeichnis zur Bonhoeffer-Werkausgabe

Literatur- und Quellenverzeichnis

Zeittafel

Ahnentafel

Bildnachweis

Über den Autor

Bearbeitung der deutschen Fassung

Personenregister

Leseempfehlungen

Stimmen zu Eric Metaxas' »Bonhoeffer«


»Sanfte Konsequenz bis zur Selbstaufopferung – dafür steht das Leben von Dietrich Bonhoeffer. In diesen Zeiten, die von zunehmender Angst und Orientierungslosigkeit geprägt sind, brauchen wir sein Vorbild. Eric Metaxas bringt uns den ›Helden-Pastor‹ so nahe wie kein Biograf vor ihm. Ein großartiges Buch, gründlich recherchiert und spannend erzählt.«

Dr. Markus Spieker, TV-Hauptstadtkorrespondent

»Dietrich Bonhoeffer gehört zu den ›guten Deutschen‹. Gerade sein Martyrium macht ihn so glaubwürdig. Sein Leben und Werk wirkten schon bald nach dem Zweiten Weltkrieg als Brücke zur Verständigung zwischen Deutschland und seinen früheren Kriegsgegnern. Seitdem sind Jahrzehnte vergangen. Bonhoeffers Bedeutung droht in Vergessenheit zu geraten. Indem der Autor den Menschen in den Fokus rückt, kommt der Leser Bonhoeffer hautnah. Anschaulich und packend geschrieben, stellt das Buch – gerade für jüngere Menschen – einen wunderbaren Einstieg in die Beschäftigung mit ihm dar.«

Prof. Dr. Peter Zimmerling, Theologe und Bonhoeffer-Experte

»Eine sehr empfehlenswerte Biografie für alle, deren Glaube durch das Leben und Zeugnis Dietrich Bonhoeffers gestärkt wurde. Eric Metaxas hat einen detaillierten und bewegenden Bericht über den großen Pastor und Theologen verfasst, der uns sein Buch Nachfolge als Vermächtnis hinterließ und im Widerstand gegen Hitler sein Leben opferte. Metaxas’ Bonhoeffer ist eine eindrucksvolle Leistung und ein höchst bedeutsames Werk.«

Dr. Greg Thornbury, Dean of the School of Christian Studies, Union University

»Sehr kompetent, engagiert und mit Einfühlungsvermögen erinnert Eric Metaxas uns daran, warum das Leben Dietrich Bonhoeffers eine Herausforderung für Gläubige wie Skeptiker ist. Selten ist die Geschichte eines christlichen Märtyrers mit solchem Realismus und solcher Tiefe erzählt worden. Ein Juwel von einem Buch.«

Joseph Loconte, Dozent für Politikwissenschaft, The King’s College, New York City,
und Herausgeber des Buches The End of Illusions: Religious Leaders Confront
Hitler’s Gathering Storm

»Dietrich Bonhoeffers großes Verdienst liegt darin, dass sein Verständnis von Glauben in stürmischen Zeiten Generation für Generation neu anspricht. Eric Metaxas’ Bonhoeffer ist die Biografie für unsere Generation. Sie ist ein Meisterwerk, das sich wie ein großer Roman liest und in einem Band eine Einführung in die Bonhoeffer’sche Theologie bietet sowie eine Darstellung der vielschichtigen und tragischen Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert und Einblicke in den menschlichen Kampf eines wirklichen christlichen Helden. Eric Metaxas erweist sich einmal mehr als herausragender Biograf der mutigsten Gestalten der Christenheit.«

Martin Doblmeier, Filmemacher (Dokumentarfilm »Bonhoeffer«)

»Eric Metaxas zeichnet ein Porträt Dietrich Bonhoeffers, dessen prophetisches Leben in schwierigen Zeiten unser eigenes Leben infrage stellt. Der Leser wird hineingenommen in die lebendige, anschauliche Geschichte, die tief aus den geistigen Kraftquellen und der Macht des Wortes schöpft, die Bonhoeffer selbst inspirierten.

Vielleicht stimmt nicht jeder Leser mit allen Aussagen Metaxas über Bonhoeffer überein, doch darum geht es überhaupt nicht. Das Buch will den Leser wachrütteln, provozieren und inspirieren. Voller Erkenntnis, Entrüstung und Dringlichkeit positioniert Metaxas Bonhoeffer zurecht in die Reihen der großen christlichen Humanisten, die gegen den Strom ihrer Kultur geschwommen sind, um treu und mutig den christlichen Glauben anzuwenden und auszulegen – in dem historischen Augenblick, in dem sie lebten.

Gleichzeitig handelt es sich um ein zutiefst menschliches Buch, voller Szenen und Bilder, die uns Bonhoeffer als Sohn, Liebhaber, Pastor und Freund vorstellen, ohne seinen Kampf, für den er am meisten bekannt geworden ist – den Widerstand gegen die wachsende Gefahr des Nationalsozialismus –, zu verdunkeln.«

Caleb J. D. Maskell, Associate Director, Jonathan Edwards Center,
Yale University (2004–2007), Department of Religion, Princeton University

»Wie in seiner ersten Biografie, Amazing Grace: William Wilberforce and the Heroic Campaign to End Slavery, lässt Metaxas in Bonhoeffer die außergewöhnliche und selbstlose Leistung eines wahren Helden lebendig werden. Metaxas hat die seltene Gabe, die alltäglichen, aber wichtigen Details des Lebens aufzunehmen und zu einer Geschichte zu verknüpfen, die den Duktus eines Romans hat. Dieses Buch ist ein Muss für jeden, der erfahren möchte, was Glaubensstärke und Überzeugung im Leben eines Menschen bewirken können.«

Dr. Gerald Schroeder, israelischer Physiker und Dozent am Aish HaTorah College of Jewish Studies in Jerusalem, Autor der Bücher Schöpfung und Urknall und The Science of God

»Das Lebenszeugnis Dietrich Bonhoeffers hat schon immer bewegt. Diese neue Biografie aber gibt nicht nur den Kennern neue Einsichten, sondern hat zugleich das Potenzial, eine neue Generation an Bonhoeffer zu interessieren. Spannend und gut lesbar ist Metaxas' Arbeit zudem von hohem Wert für die persönliche Nachfolge. Selten habe ich bei amerikanischen Freunden eine derartig einhellige Begeisterung über eine Biografie gesehen. Ein Ausnahmebuch und ›Must-Read‹!«

Ulrich Eggers, Leiter des Magazins Aufatmen

»Eines der herausforderndsten Bücher seit Langem. Es hat viele Fragen in mir aufgeworfen … Werden in unseren Gemeinden Menschen tatsächlich im Sinne Bonhoeffers geprägt? Oder sind wir nur darauf ausgerichtet, dass immer mehr Menschen zu immer mehr Veranstaltungen kommen?«

John Ortberg, Bestsellerautor




Zum Andenken an meinen Großvater
Erich Kraegen (1912–1944)

Denn das ist der Wille des, der mich gesandt hat,
daß, wer den Sohn sieht und glaubt an ihn, habe das ewige Leben;
und ich werde ihn auferwecken am Jüngsten Tage.

Vorwort zur deutschen Fassung

Zum dritten Mal kehrt Bonhoeffer aus Amerika nach Deutschland zurück: Zweimal geschah es zu seinen Lebzeiten, nun posthum mit dieser Biografie. Stets waren die USA-Erfahrungen für Leben und Werk Bonhoeffers bedeutsam – und die Rückkehr folgenreich.

Beim ersten Mal handelte es sich um einen Studienaufenthalt am Union Theological Seminary in New York von September 1930 bis Juni 1931 mit Abstechern nach Kuba und Mexiko. Bei aller Kritik, die Bonhoeffer an Teilen der damaligen amerikanischen Theologie und Gesellschaft übte, erweiterte sich sein Horizont bedeutend: Er kam los von der Kriegsschuldfrage des Ersten Weltkrieges mit dem Versailler Vertrag. Er wurde zusätzlich empfindsam gegenüber dem Skandal des Rassismus, dem er in den USA in Gestalt der sogenannten »Negerfrage« begegnete. Der Rassismus sollte im nationalsozialistischen Deutschland in Form des Antisemitismus noch ganz andere Dimensionen erreichen. Schließlich lernte er, gerade auch durch seinen farbigen Studienfreund Frank Fisher, amerikanische Christengemeinden kennen, die sein Kirchenverständnis bedeutend erweiterten und seinen Glauben vertieften. Bonhoeffer erkannte: Es gilt, nicht nur Pastor und Theologe zu sein, sondern bewusst Christ zu werden mit allen persönlichen Konsequenzen der Nachfolge Jesu Christi.

Die zweite USA-Reise Anfang Juni bis Ende Juli 1939 brachte die große Weichenstellung in Bonhoeffers Leben: Er hätte sich, kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, in Sicherheit bringen können. Alles war für sein Bleiben vorbereitet. Doch er kehrte nach Deutschland zurück. Seine Freunde in den USA, die so viel für ihn getan hatten, stieß er mit dieser Entscheidung vor den Kopf. Dem berühmten Professor Reinhold Niebuhr vom Union Theological Seminary gegenüber begründete er seinen Abschied in einem Brief mit diesen Worten: »Ich habe kein Recht, an der Wiederherstellung des christlichen Lebens in Deutschland nach dem Kriege mitzuwirken, wenn ich nicht die Prüfungen dieser Zeit mit meinem Volk teile … Die Christen in Deutschland werden vor der furchtbaren Alternative stehen, entweder die Niederlage ihrer Nation zu wollen, damit die christliche Zivilisation überlebe, oder den Sieg ihrer Nation zu wollen und damit unsere Zivilisation zu zerstören. Ich weiß, welches von beiden ich wählen muß; aber ich kann diese Wahl nicht treffen [während ich] in Sicherheit [bin] …« – Wohlgemerkt, dies schrieb Bonhoeffer noch vor Ausbruch des Krieges! Es war die Weichenstellung, die schließlich ins Martyrium führte. – Woher diese Weitsicht im Blick auf kommende politische Ereignisse? Was veranlasste Bonhoeffer, in dieser Weise unter Einsatz seines eigenen Lebens Verantwortung für Andere zu übernehmen? – Zugleich: Wie wichtig ist es bis heute für Deutschland geworden, dass Bonhoeffer damals aus den USA zurückkehrte, um zusammen mit der Widerstandsbewegung gegen Hitler Zeugnis zu geben von einem »anderen Deutschland«!

Metaxas hat das Buch seinem Großvater gewidmet. Dieser ist als deutscher Soldat im Zweiten Weltkrieg gefallen. Wie konnte er in Hitlers Armee mitkämpfen? Metaxas hat sich mit deutscher Geschichte auseinandergesetzt. Er stieß auf Bonhoeffers Buch Nachfolge. Seither ließ ihn Dietrich Bonhoeffer nicht mehr los.

Metaxas ist ein glänzender Erzähler. Sein Werk ist weder ein Roman noch eine wissenschaftliche Abhandlung; aber es liest sich spannend wie ein Roman und ist, die Fakten betreffend, auf wissenschaftlicher Höhe. Dazu wurden auch wenig bekannte Quellen aufgespürt. Metaxas versteht es, dem Leser eine hautnahe Begegnung mit Bonhoeffer zu vermitteln. Zugleich führt er in die damaligen Zeitverhältnisse ein und weckt Verständnis für die Fülle der Konflikte, in die verantwortlich denkende und handelnde Menschen damals kamen und in die sie auch heute verstrickt werden können. Als Amerikaner ist er in besonderer Weise zu solcher Darstellung befähigt: Denn er ist frei von den Vorurteilen und dem Konkurrenzdenken zwischen den europäischen Nationen, wovon es hier und da immer noch Reste gibt. Er ist ebenfalls frei von Verklemmungen, die bei manchen deutschen Zeitgenossen im Blick auf das »Dritte Reich« immer noch herrschen: Nachgeborene erheben sich pharisäerhaft über die Generationen ihrer Eltern, Großeltern und bereits Urgroßeltern. Das ist eine zwar verständliche, jedoch überzogene und geschichtsfremde Gegenreaktion. Denn sie selbst haben nie einer Diktatur widerstehen müssen und hängen ihr Fähnchen oftmals nach dem Wind der geltenden politischen Korrektheit. Sie merken dabei überhaupt nicht, wie unangemessen ihr selbstgerechter Moralismus ist und wie sehr sie selbst in ihrer heutigen Verantwortung gegenüber kommenden Generationen versagen. – Zusätzlich ist es bei der Bonhoeffer-Interpretation eine verbreitete Unsitte geworden, Bonhoeffer durch die Brille einer eigenen im Voraus festgelegten politischen oder theologischen Meinung zu betrachten, um sich auf ihn als Kronzeugen dafür zu berufen. – Eric Metaxas zu lesen ist dem gegenüber erquickend und befreiend. Er lässt uns, soweit es aus dem geschichtlichen Abstand irgend möglich ist, das Original sehen. Bonhoeffer bleibt Bonhoeffer.

Dietrich Bonhoeffer: Pastor, Agent, Märtyrer und Prophet, das sind Charakteristika, die auf einen ersten Blick wenig zusammenzupassen scheinen. Sie kennzeichnen die einzelnen Schritte auf Bonhoeffers Lebensweg; und doch war Bonhoeffer stets alles zugleich. Denn die Ideologie des Bösen verkleidet sich durch die Zeiten in immer neue Gestalten. Darum bedarf es des klaren Blickes, der Zivilcourage und des Gottvertrauens, um dies zu durchschauen und zu widerstehen. Zehn Jahre nach Hitlers Machtergreifung schrieb Bonhoeffer an die Mitverschwörer: »Daß das Böse in der Gestalt des Lichts, der Wohltat, des geschichtlich Notwendigen, des sozial Gerechten erscheint, ist … schlechthin verwirrend; für den Christen, der aus der Bibel lebt, ist es gerade die Bestätigung der abgründigen Bosheit des Bösen.« Muss man, um das zu erkennen und zu widerstehen, nicht so etwas wie ein Zeuge des Evangeliums, Agent, Märtyrer und Prophet zugleich sein?

An Bonhoeffers Leben wird deshalb auch deutlich, wie alleingelassen jemand sein kann, der die ideologischen Strömungen seiner Zeit durchschaut und gegen sie aufsteht. Dies Schicksal eines Propheten hat Bonhoeffer in seiner Predigt über Jeremia (Kapitel 20, Vers 7) am 21. Januar 1934 in London beschrieben und vielleicht unbewusst auf sich selbst bezogen. – Die facetten- und farbenreiche Erzählung von Eric Metaxas lässt uns all das und vieles mehr als ein lebendiges Stück Geschichte miterleben.

Zum Formalen ist zu sagen, dass im Textverlauf nur die zum unmittelbaren Verständnis notwendigen Ergänzungen als Fußnoten hinzugefügt wurden, um den Lesefluss nicht zu unterbrechen. Die Quellenangaben mit den Anmerkungsziffern finden sich am Ende des Buches zusammengestellt. Kein ursprünglich deutscher Text wurde aus dem Englischen zurückübersetzt, sondern stets das Original aufgesucht. Weitere Recherchen galten den historischen Fakten. Auch dazu wurden, die englischsprachige Literatur ergänzend, ausgiebig deutsche Quellen aufgesucht. – In diesem Zusammenhang sei dem Lektor von SCM Hänssler, Herrn Lutz Ackermann, für sein engagiertes und umsichtiges Mitwirken vielmals gedankt. Der Dank gilt ebenfalls dem Übersetzer, Herrn Dr. Friedemann Lux, der über den normalen Übersetzungsvorgang hinaus an erster Stelle die deutschen Originale aufgesucht hat.

Wenige Monate vor dem 20. Juli 1944 schrieb Bonhoeffer aus dem Gefängnis im Rückblick und Ausblick auf sein Leben an seinen Freund Eberhard Bethge: »Es kommt wohl nur darauf an, ob man dem Fragment unseres Lebens noch ansieht, wie das Ganze eigentlich angelegt und gedacht war und aus welchem Material es besteht. Es gibt schließlich Fragmente, die nur noch auf den Kehrichthaufen gehören, … und solche, die bedeutsam sind auf Jahrhunderte hinaus, weil ihre Vollendung nur eine göttliche Sache sein kann …« – War das prophetisch? Ein Prophet ist nicht jemand, der wahrsagt, sondern er zeichnet sich dadurch aus, dass er die Wahrheit sagt!

Inzwischen ist viel über Dietrich Bonhoeffer geschrieben worden. Nirgends begegnet er uns so lebendig wie bei Eric Metaxas. Man lernt Geschichte und erfährt, was es heißt, bei allen menschlichen Stärken und Schwächen als entschiedener Christ zu leben in guten und in bösen Tagen – bis hin zu politischen Konflikten. Deshalb ist die Lektüre auch für Atheisten, Agnostiker und Orientierung Suchende äußerst spannend und gewiss mit vielen Aha-Erlebnissen verbunden.

Bonhoeffer kehrt hiermit zum dritten Mal aus Amerika zurück. Seine neuerliche Rückkehr kann noch einmal bedeutsam werden, denn er hat uns gerade heute wieder Entscheidendes zu sagen.

Stuttgart im September 2011, Rainer Mayer

Vorwort zur sechsten Auflage

Nicht nur in den USA ist das vorliegende Buch ein überragender Erfolg. Bisher wurden von der amerikanischen Ausgabe über sechshunderttausend Exemplare verkauft. Vierundzwanzig Wochen lang stand es auf der New York Times-Bestsellerliste und wurde inzwischen in sechzehn Sprachen übersetzt. Nun erscheint die deutschsprachige Fassung bereits in der sechsten Auflage. Das ist erstaunlich, zumal es insbesondere in Deutschland nicht an Bonhoeffer-Literatur mangelt. Doch das Buch von Metaxas spielt eine eigene Rolle, denn Metaxas ist ein glänzender Erzähler und schweift dennoch nicht ins romanhaft Fantasievolle ab, sondern bleibt bei den Fakten. Die reichlich eingestreuten Bonhoeffer-Zitate wirken belebend und führen immer wieder zu Bonhoeffer selbst zurück, sodass Person und Werk besonders anschaulich werden.

Auf vielfachen Wunsch wurde ab der dritten Auflage eine Ahnentafel beigefügt. Sie verdeutlicht, wie sich schwäbisches, thüringisch-sächsisches und preußisches Erbe in Bonhoeffers Herkunft und Prägung zusammenfinden. Zugleich wird vor Augen geführt, welche Opfer beim Widerstand nicht allein von Bonhoeffer persönlich, sondern ebenfalls in seinem verwandtschaftlichen Umfeld erbracht wurden.

Die vorliegende deutsche Fassung besitzt grundsätzlich einen eigenen Stellenwert, hat Bonhoeffer doch (bis auf Ausnahmen bei seinen Aufenthalten in London und den USA) deutsch gesprochen und geschrieben, sodass die originalen Bonhoeffer-Worte natürlich Deutsch sind.

Außerdem werden in der deutschen Fassung von Auflage zu Auflage, falls neue überprüfte Erkenntnisse und Forschungsergebnisse vorliegen, die entsprechenden Verbesserungen eingearbeitet. Dies geschieht behutsam, ohne den Erzählfluss zu beeinträchtigen. So ist zum Beispiel ab dieser sechsten Auflage innerhalb des achten Kapitels nicht länger von Bonhoeffers »Konfirmandenklasse am Wedding« die Rede, wie Wilfried Schulz in seinem Aufsatz nachgewiesen hat: »Bonhoeffers Konfirmanden kamen nicht aus dem Stadtteil Wedding, wie Eberhard Bethge meinte« (siehe Literaturverzeichnis). Die Jungen der Konfirmandenklasse stammten vielmehr vom Prenzlauer Berg und aus Berlin-Mitte. Zutreffend ist allerdings, dass sie vom Arbeitermilieu geprägt waren. Diese Tatsache gilt unverändert. – In vergleichbarer Weise wurden und werden Korrekturen vorgenommen. Bei allem Streben nach Genauigkeit bleibt die einzigartige Erzählkunst von Eric Metaxas voll gewahrt.

Inzwischen ist bei SCM Hänssler unter der Herausgeberschaft von Eric Metaxas auch eine Bildbiografie erschienen (Bonhoeffer. Eine Biografie in Bildern), die viele seltene sowie bislang unveröffentlichte Bilder Bonhoeffers und seines Umfelds zeigt. Sie knüpft im Textteil an das vorliegende Buch an und erweitert dessen Bilder um ein Vielfaches. Somit kommt zusätzlich »die Macht der Bilder« zur Geltung, wie der Sohn von Bonhoeffers Onkel, Friedrich-Wilhelm von Hase, kommentiert.

Für den genauen persönlichen und geschichtlichen Zusammenhang bleibt aber der vorliegende Band maßgebend. Vielen hat er schon jetzt einen neuen, lebendigen Zugang zu Dietrich Bonhoeffer erschlossen. Ich wünsche dem Werk, dass es weiterhin viele anschauliche Impulse für verantwortliches Leben und Handeln – gerade auch in unserer Zeit – vermittelt.

Stuttgart im Oktober 2014, Rainer Mayer

Prolog

London, 27. Juli 1945

Wir sind von allen Seiten bedrängt, aber wir ängstigen uns nicht. Uns ist bange, aber wir verzagen nicht. Wir leiden Verfolgung, aber wir werden nicht verlassen. Wir werden unterdrückt, aber wir kommen nicht um. Wir tragen allezeit das Sterben Jesu an unserm Leibe, damit auch das Leben Jesu an unserm Leibe offenbar werde. Denn wir, die wir leben, werden immerdar in den Tod gegeben um Jesu willen, damit auch das Leben Jesu offenbar werde an unserm sterblichen Fleisch. So ist nun der Tod mächtig in uns, aber das Leben in euch.

2. Korinther 4,8-12

Endlich schwiegen die Waffen in Europa, aus seiner kriegsverzerrten Fratze wurde wieder ein Gesicht. Es würde Jahre dauern, um wirklich zu verstehen, was der Kontinent durchlitten hatte. Es war, als ob nach einem unsagbar langen Exorzismus, der ihn das letzte Quäntchen Kraft gekostet hatte, die Legion kreischender Dämonen endlich ausfuhr.

Seit zwei Monaten war der Krieg vorbei. Der »Führer« hatte sich in einem grauen Betonbunker unter seiner zerbombten Hauptstadt das Leben genommen, die Alliierten hatten den Sieg erklärt.

Nur allmählich kehrte das Leben in Großbritannien zur Normalität zurück. Der Sommer kam – der erste Friedenssommer in sechs Jahren. Aber wie um zu beweisen, dass Europa nicht nur aus einem bloßen Albtraum erwacht war, wurden ständig neue Enthüllungen gemacht, die gerade so schlimm waren wie das Wüten des Krieges, ja oft noch schlimmer: In den ersten Monaten dieses Sommers kamen Hitlers Vernichtungslager ans Tageslicht und die unbeschreiblichen Gräueltaten, die seine Schergen in den höllischen Vorposten seines kurzlebigen Reiches an ihren Opfern verübt hatten.

Schon während des Krieges hatte es Gerüchte gegeben, doch jetzt wurde die Wirklichkeit bestätigt – durch Fotografien, durch Wochenschau-Reportagen und durch Augenzeugenberichte der Soldaten, die in den letzten Wochen des Krieges die KZs befreit hatten. Das ganze Ausmaß dieser Gräuel hatte sich niemand vorstellen können und die kriegsmüden Menschen in Großbritannien konnten es kaum fassen. Schlimm war gar kein Ausdruck dafür, man konnte diese Unmenschlichkeiten nur abgrundtief böse nennen. Und mit jedem neuen erschütternden Detail fühlte ihr Deutschenhass sich bestätigt und bestärkt.

Zu Beginn des Krieges hatte man zwischen Nazis und Deutschen unterschieden und gesehen, dass nicht alle Deutschen Nazis waren. Doch als immer mehr englische Väter und Söhne und Brüder starben, verkümmerte diese Unterscheidungskraft zusehends und erstarb schließlich. Um die britischen Kriegsanstrengungen zu stärken, stellte Winston Churchill die Deutschen und die Nazis als den einen großen, verhassten Feind dar, den man nicht schnell genug besiegen und vernichten konnte.

Deutsche, die im Widerstand gegen Hitler standen, suchten den Kontakt zu Churchill und der britischen Regierung und baten um Hilfe in ihrem Kampf gegen diesen gemeinsamen Feind. Sie wollten der Welt mitteilen, dass durchaus nicht alle Deutschen willige Helfer Hitlers waren. Sie wurden abgewiesen. Niemand interessierte sich für ihre Annäherungsversuche. Es war zu spät. Wie konnten diese Leute sich erst an den Naziverbrechen beteiligen und dann, nachdem sie kalte Füße bekommen hatten, einen Separatfrieden beantragen?

Winston Churchill blieb bei seinem oft wiederholten Märchen, es gebe keine guten Deutschen. Manche sagten sogar, nur ein toter Deutscher sei ein guter Deutscher; eine Schwarz-Weiß-Malerei, die ebenfalls zur hässlichen Fratze des Krieges gehörte.

Doch nun war der Krieg vorbei, und während einerseits erst jetzt das ganze Ausmaß des Bösen des Dritten Reiches zum Vorschein kam, wurde es andererseits höchste Zeit, auch die andere Seite der Medaille zu sehen. Wenn wirklich wieder Frieden werden sollte, musste Europa sich von den Schwarz-Weiß-Klischees befreien und wieder lernen, Schattierungen und das gesamte Farbspektrum wahrzunehmen.

Und so fand an diesem Tag, dem 27. Juli 1945, in der Holy Trinity Church in London, nur einen Katzensprung von der Brompton Road entfernt, ein besonderer Gottesdienst statt. Viele reagierten verständnislos, ja schockiert – vor allem solche, die im Krieg ihre Lieben verloren hatten. Der Gedenkgottesdienst, der hier auf britischem Boden – von der BBC übertragen – stattfand, wurde für einen Deutschen abgehalten, der vor drei Monaten gestorben war. Die Nachricht von seinem Tod hatte in den Nachkriegswirren selbst seine eigenen Freunde und Verwandten erst vor Kurzem erreicht; die meisten von ihnen waren immer noch ahnungslos. Hier in London hatten sich die wenigen versammelt, die Bescheid wussten.

In den Bänken der Kirche saßen die neununddreißigjährige Zwillingsschwester des Toten, ihr Ehemann, der jüdische Vorfahren besaß, und ihre beiden Töchter. Sie waren vor dem Krieg bei Nacht und Nebel mit dem Auto aus Deutschland in die Schweiz gefahren. Der Verstorbene hatte ihnen bei ihrer Flucht und der Weiterreise nach Großbritannien geholfen, wo sie sich in London niederließen. Doch handelte es sich nur um eine Randepisode in seiner langen Geschichte – der Geschichte eines Abweichlers von der reinen nationalsozialistischen Lehre.

Der Verstorbene war mit etlichen Prominenten befreundet, darunter George Bell, Bischof von Chichester in Südengland. Bell hatte den Gottesdienst in die Wege geleitet, weil er den Verstorbenen kannte und schätzte. Die beiden hatten sich Jahre vor dem Krieg kennengelernt. Gemeinsam hatten sie versucht, Europa vor der nationalsozialistischen Gefahr zu warnen, dann Juden aus dem Machtbereich der Nazis zu retten und schließlich die britische Regierung mit dem deutschen Widerstand gegen Hitler bekannt zu machen.

Stunden vor seiner Hinrichtung im KZ Flossenbürg richtete der Verstorbene dann seine letzten Worte an den Bischof. Er vertraute sie, nachdem er an diesem Sonntag seinen letzten Gottesdienst und seine letzte Predigt gehalten hatte, einem Mithäftling an: einem Hauptmann des britischen Geheimdienstes, der sie nach seiner Befreiung zusammen mit der Nachricht vom Tod des Mannes mit nach Großbritannien brachte.

Hunderte Kilometer entfernt saß in einem dreistöckigen Haus in der Marienburger Allee 43 in Berlin-Charlottenburg ein älteres Paar vor dem Radio. Die Frau hatte acht Kinder zur Welt gebracht – vier Jungen und vier Mädchen. Der zweite Sohn war im Ersten Weltkrieg gefallen, was die junge Mutter ein ganzes Jahr lang in tiefe Depressionen gestürzt hatte. Siebenundzwanzig Jahre später sollte ein zweiter Krieg ihr zwei weitere Söhne rauben. Ihr Ehemann galt als der berühmteste Psychiater Deutschlands. Die beiden waren von Anfang an gegen Hitler gewesen und stolz auf ihre Söhne und Schwiegersöhne, die sich an der Verschwörung gegen ihn beteiligt hatten. Sie alle waren sich der Gefahr bewusst gewesen. Als der Krieg endlich vorbei war, hörten sie zunächst nichts von ihren beiden jüngeren Söhnen. Dann, vor einem Monat, erreichte sie die Nachricht vom Tod des dritten Sohnes, Klaus. Von ihrem Jüngsten, Dietrich, hatten sie bis vor wenigen Tagen immer noch nichts gehört. Jemand hatte behauptet, ihn wohlauf gesehen zu haben. Ein anderer hatte gesagt, er habe nicht überlebt. Was stimmte nun? Und dann teilte ihnen ein Nachbar mit, dass die BBC am folgenden Tag einen Gedenkgottesdienst in London ausstrahlen würde: für Dietrich.

Die beiden schalteten das Radio ein. Der Moderator kündigte den Gedenkgottesdienst an. Auf diese Weise erhielten sie Gewissheit über den Tod ihres Jüngsten.

Das alte Paar konnte es kaum fassen, dass dieser »gute« Deutsche, ihr Sohn, nun tot war. Und es überstieg die Vorstellungskraft vieler Briten, dass dieser tote Deutsche gut war. Die Welt kam langsam wieder ins Lot.

Der Verstorbene war verlobt gewesen, hatte als Pastor und Theologe gearbeitet und war wegen seiner Rolle in einem Mordkomplott gegen Hitler hingerichtet worden.

Dies ist seine Geschichte.

i 1. Kapitel

Familie und Kindheit

Die reiche Welt dieser Vorfahren hat Dietrich Bonhoeffer die Maße für das eigene Leben vermittelt. Ihr verdankte er eine Sicherheit des Urteils und des Auftretens, wie sie nicht in einer Generation erworben werden kann. So wuchs er in einer Familie auf, welche die eigentlichen Erziehungsfaktoren nicht in der Schule sah, sondern in der tiefverwurzelten Verpflichtung, Hüter eines großen geschichtlichen Erbes und geistiger Überlieferung zu sein.

Eberhard Bethge, Dietrich Bonhoeffer, S. 34

Aristokraten, Bürger und Rebellen

Im Winter 1896, bevor sich jenes ältere Paar kennengelernt hatte, war es zu einer geselligen Zusammenkunft im Haus des Physikers Oscar Meyer eingeladen worden. »Bei einem offenen Abend«, schrieb Karl Bonhoeffer später, »traf ich im Winter 96 ein blondes, blauäugiges, junges Mädchen, das mich schon beim ersten Eintreten ins Zimmer durch ihre freie natürliche Haltung, ihren offenen unbefangenen Blick in einer Weise gefangen nahm, dass mir dieser Augenblick des ersten Sehens meiner späteren Frau als ein fast mystischer, lebensentscheidender Eindruck in der Erinnerung steht.«1

Karl Bonhoeffer war drei Jahre zuvor nach Breslau (das heutige Wrocław) gekommen, um dort als Assistent des international bekannten Psychiatrieprofessors Carl Wernicke zu arbeiten. Sein Leben bestand aus der Arbeit in der Klinik und dem Umgang mit ein paar Freunden aus Tübingen, der bezaubernden Universitätsstadt, in der er aufgewachsen war. Nach jenem denkwürdigen Winterabend änderte sich das. Karl begann auf der Stelle, morgens auf den Kanälen Schlittschuh zu laufen, in der Hoffnung, das Mädchen mit den blauen Augen wiederzusehen. Er wurde nicht enttäuscht: Sie war zweiundzwanzig, ausgebildete Lehrerin und hieß Paula von Hase. Die beiden heirateten am 5. März 1898, drei Wochen vor dem dreißigsten Geburtstag des Bräutigams.

Beide – der Arzt und die Lehrerin – kamen aus besten Kreisen. Paula Bonhoeffers Eltern und Verwandte hatten enge Beziehungen zum kaiserlichen Hof in Potsdam. Ihre Tante Pauline war Hofdame bei Kaiserin Viktoria, der Witwe Friedrichs III. Ihr Vater, der Militärpfarrer Karl Alfred von Hase, wurde 1889 Hofprediger von Kaiser Wilhelm II.; er legte dieses Amt schon bald wieder nieder, nachdem er unter anderem den Kaiser kritisiert hatte, als dieser das Proletariat als »Canaille« bezeichnete.2 Paulas Großvater, Karl August von Hase, war ein berühmter Theologe gewesen, der sechzig Jahre lang in Jena lehrte, wo seine Statue noch heute steht. Die Berufungsurkunde hatte kein Geringerer als Goethe (damals Minister des Herzogs von Weimar) ausgestellt; der Achtzigjährige, der gerade am zweiten Teil seines Faust schrieb, gewährte Karl August eine Privataudienz. Karl Augusts dogmengeschichtliches Lehrbuch wurde noch im 20. Jahrhundert von Theologiestudenten geschätzt. Gegen Ende seines Lebens wurde er vom König von Württemberg in den persönlichen und vom Großherzog von Weimar in den erblichen Adelsstand erhoben.

Mütterlicherseits gab es in Paulas Verwandtschaft Künstler und Musiker. Ihre Mutter, Clara von Hase, geb. Gräfin Kalckreuth (1851–1903), nahm Klavierstunden bei Franz Liszt und Clara Schumann, der Frau Robert Schumanns. Die Liebe zur Musik und zum Singen, die sie ihrer Tochter vererbte, sollte im Leben der Bonhoeffers eine große Rolle spielen. Claras Vater, Stanislaus Graf von Kalckreuth (1820–1894), war ein Maler, der für seine großformatigen Alpenlandschaften bekannt war. Aus dem Landadel und der militärischen Aristokratie stammend, hatte dieser Graf in die Bildhauerfamilie Cauer hineingeheiratet. Er wurde der Leiter der Großherzoglichen Kunstschule in Weimar. Sein Sohn, Leopold Graf von Kalckreuth, übertraf die Malkunst seines Vaters noch; seine poetisch-realistischen Werke hängen heute in Museen in ganz Deutschland. Die von Hases waren auch mit den gesellschaftlich und intellektuell hervorstechenden Yorck von Wartenburgs verwandt, deren Gesellschaft sie oft suchten. Hans Graf von Yorck von Wartenburg war Sohn des Philosophen Paul Yorck, dessen wissenschaftlicher Austausch mit Wilhelm Dilthey zur hermeneutischen Geschichtsphilosophie führte, wie der berühmte, 1923 veröffentlichte Briefwechsel beider belegt; sein Enkel Peter Graf Yorck von Wartenburg (1904–1944) war ein Vetter Claus Schenk Graf von Stauffenbergs und spielte bei dem Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944 eine Schlüsselrolle.

Der Stammbaum Karl Bonhoeffers war nicht weniger beeindruckend. Die Familie wird bereits 1403 in den Annalen des niederländischen Nimwegen erwähnt. 1513 verließ Caspar van den Boenhoff die Niederlande und zog nach Schwäbisch Hall in Württemberg. Bonhoeffer könnte »Bohnenbauer« bedeuten, denn auch das Wappen der Bonhoeffers, heute noch hier und da an Bürgerhäusern Schwäbisch Halls zu sehen (z. B. in der Klosterstr. 7), zeigt einen Löwen auf blauem Grund, der eine Bohnenranke in der Tatze hält. Bonhoeffers Freund und Biograf Eberhard Bethge berichtet, dass Dietrich Bonhoeffer manchmal einen Siegelring mit diesem Wappen trug.3

Drei Jahrhunderte lang gehörten die Bonhoeffers zu den ersten Familien von Schwäbisch Hall.4 Die frühen Generationen waren Goldschmiede, später findet man Ärzte, Pastoren, Richter, Professoren und Rechtsanwälte. Insgesamt waren achtundsiebzig Ratsherren und drei Bürgermeister von Schwäbisch Hall Bonhoeffers. In der Michaelskirche finden sich etliche Barock- und Rokokoskulpturen und Grabinschriften, die an die Bonhoeffers erinnern. Der letzte Bonhoeffer, der in Schwäbisch Hall dauerhaft wohnte, war Karls Großvater Sophonias Bonhöffer (1797–1872). Schwäbisch Hall litt stark unter den Kriegszügen Napoleons I. und verlor 1802 den Status als Reichsstadt. Die Bonhoeffer-Familie wurde zerstreut, obwohl die Stadt für die späteren Bonhoeffer-Generationen ein gern besuchter »Wallfahrtsort« blieb. So nahm Karl Bonhoeffers Vater seinen Sohn viele Male nach Schwäbisch Hall mit, um ihn mit der Geschichte seiner altehrwürdigen Vorfahren bekannt zu machen, bis hin zu dem »berühmten Treppenhaus aus schwarzer Eiche in dem Bonhoeffer-Haus in der Herrengasse« und dem Porträt der »Schönen Bonhoefferin«, das in der Kirche hing (eine Kopie hing in Dietrichs Kindertagen im Hause Bonhoeffer). Karl Bonhoeffer trat in die väterlichen Fußstapfen und machte seine Söhne ebenfalls ausgiebig mit Schwäbisch Hall bekannt.5

Karl Bonhoeffers Vater, Friedrich Ernst Philipp Tobias Bonhoeffer (1828– 1907), war als höherer juristischer Beamter in mehreren Städten in Württemberg tätig; er beschloss seine Laufbahn als Landgerichtspräsident in Ulm.6 Nach seiner Pensionierung siedelte er nach Tübingen über und wurde vom König in den Adelsstand erhoben. Sein eigener Vater »soll ein ganz lebensfroher Pfarrer gewesen sein, der selbst kutschierend durchs Land fuhr.«7 Karl Bonhoeffers Mutter, Julie Bonhoeffer, geb. Tafel (1842–1936), kam aus einer schwäbischen Familie, die eine führende Rolle in der demokratischen Bewegung des 19. Jahrhunderts spielte und dezidiert liberal war. Karl Bonhoeffer schrieb später über den Vater seiner Mutter: »Der Großvater und seine drei Brüder waren offenbar keine Durchschnittsmenschen. Jeder hatte seine besondere Note, gemein war wohl allen ein idealistischer Zug mit unerschrockenem Eintreten für ihre Überzeugung.«8

Zwei von ihnen wurden wegen ihrer demokratischen Neigungen zeitweise aus Württemberg verbannt. Einer von ihnen, Karls Großonkel Gottlob Tafel, wurde auf dem Hohenasperg inhaftiert. Dort traf er auf Dietrichs Urgroßvater mütterlicherseits, Karl August Hase, der vor seiner theologischen Laufbahn eine Phase jugendlicher politischer Aktivität durchmachte. Diese beiden Vorfahren Dietrich Bonhoeffers lernten einander dort im Gefängnis kennen. Karl Bonhoeffers Mutter wurde dreiundneunzig Jahre alt. Sie hatte eine herzliche Beziehung zu ihrem Enkel Dietrich, der bei ihrem Begräbnis 1936 die Trauerrede hielt und sie als lebendiges Bindeglied zu der großen Familiengeschichte schätzte und ehrte.

Die Stammbäume von Karl und Paula Bonhoeffer sind so reich an großen Persönlichkeiten, dass man erwarten könnte, dass spätere Generationen dies als Last empfanden. Doch schienen sie es eher als Segen zu betrachten, der ihnen Ansporn und Auftrieb gab; sie standen nicht nur auf den Schultern von Riesen, sie tanzten auf ihnen.

Und so vereinigten sich 1898 diese beiden außergewöhnlichen Stammbäume in der Ehe von Karl und Paula Bonhoeffer, denen binnen zehn Jahren acht Kinder geboren wurden. Die ersten beiden Söhne kamen in demselben Jahr zur Welt: Karl-Friedrich am 13. Januar 1899, Walter als Sieben-Monats-Kind am 10. Dezember. Der dritte Sohn, Klaus, wurde 1901 geboren; es folgten zwei Töchter: Ursula (1902) und Christine (1903). Am 4. Februar 1906 kam der vierte und jüngste Sohn, Dietrich, zur Welt, zehn Minuten vor seiner Zwillingsschwester Sabine; er sollte sie sein ganzes Leben lang mit diesem Vorsprung aufziehen. Die Zwillinge wurden vom ehemaligen kaiserlichen Hofprediger, ihrem Großvater Karl Alfred von Hase, getauft, der sieben Minuten Fußweg entfernt wohnte. Das letzte Kind, Susanne, wurde 1909 geboren.

Alle Kinder, außer Christine, wurden in Breslau geboren, wo Karl Bonhoeffer Professor für Psychiatrie und Neurologie an der Universität war und nach einjähriger Unterbrechung mit Berufungen nach Königsberg und Heidelberg Leiter der psychiatrischen Klinik wurde. Am Silvesterabend des Jahres, in dem Susanne geboren wurde, schrieb er in sein Silvestertagebuch: »Trotz der Kinderzahl 8, die in jetzigen Zeiten vielen erstaunlich erscheint, haben wir den Eindruck, dass es nicht zu viel sind. Das Haus ist geräumig, die Kinder normal entwickelt, wir Eltern noch nicht zu alt und darum bemüht, sie nicht zu verwöhnen und ihnen die Jugend freundlich zu gestalten.«9

Das Haus, im Birkenwäldchen 7, lag nahe der Klinik. Es war ein weitläufiges dreistöckiges Gebäude mit mehreren Schornsteinen, Veranda, großem Balkon und Garten, in dem die Kinder spielen konnten. Sie gruben Höhlen, kletterten auf Bäume und stellten Zelte auf. Es war ein ständiges Kommen und Gehen zwischen den Bonhoeffer-Kindern und Großvater Hase, der auf der anderen Seite des Flusses (einem Seitenarm der Oder) wohnte. Seine Frau starb 1903, worauf seine andere Tochter, Elisabeth, sich um ihn kümmerte, die ebenfalls eine wichtige Person im Leben der Kinder wurde.

Trotz seiner vielen Arbeit war Karl Bonhoeffer ein begeisterter Vater. In seinem Tagebuch schrieb er: »Ein alter, asphaltierter Tennisplatz wurde im Winter begossen für die ersten Schlittschuhlauf-Versuche der beiden Ältesten, eine große Wagenremise enthielt zwar nicht Wagen und Pferde, aber gab Gelegenheit zum Halten von allerhand Viehzeug.«10 Auch im Haus selbst gab es Tiere. Eines der Zimmer wurde zum Zoo für die Haustiere der Kinder (Kaninchen, Meerschweinchen, Turteltauben, Eichhörnchen, Eidechsen und Schlangen) und zum Naturkundemuseum für ihre Vogeleier-, Käfer- und Schmetterlingssammlungen. In einem anderen Raum stand das Puppenhaus der beiden ältesten Mädchen, und im Erdgeschoss hatten die drei ältesten Jungen eine richtige Werkstatt, komplett mit Hobelbank.

Die Mutter stand einem gut ausgestatteten Haushalt vor; die Familie hatte unter anderem eine Erzieherin für die größeren Kinder, ein Kindermädchen für die kleineren, ein Dienstmädchen und eine Köchin. Paula Bonhoeffer unterrichtete ihre Kinder selbst; dass sie sich als Ledige zur Lehrerausbildung entschieden und diese im April 1894 in Breslau abgeschlossen hatte, war damals etwas Ungewöhnliches, aber als Mutter setzte sie ihre Qualifikation mit großem Erfolg um. Sie hielt nicht viel von den deutschen Schulen mit ihren preußischen Methoden. Sie fand, dass den Deutschen zwei Mal im Leben das Rückgrat gebrochen wurde – zuerst in der Schule, danach beim Militär –,11 und weigerte sich, ihre Kinder in andere Hände zu geben, solange sie noch klein waren. Wenn sie älter wurden, schickte sie sie auf die örtlichen öffentlichen Schulen, wo sie vorzügliche Schüler wurden, aber bis zu ihrem siebten oder achten Lebensjahr war sie ihre einzige Lehrerin.

Paula Bonhoeffer verfügte über ein großes Repertoire an Gedichten, Kirchen- und Volksliedern, die sie ihren Kindern beibrachte. Mit Hingabe verkleideten die Kinder sich und führten Theaterstücke füreinander und für die Erwachsenen auf. Es gab auch ein Marionettentheater im Haus, und an jedem 30. Dezember (ihrem Geburtstag) ließ Paula Bonhoeffer »Rotkäppchen« aufführen – als jüngere Frau für ihre Kinder, später dann für die Enkel. Ihre Enkelin Renate Bethge bezeichnete sie als Seele des Hauses.

1910 schauten die Bonhoeffers sich nach einem Ferienort für die Familie um und fanden ein Haus im Glatzer Bergland, nahe der böhmischen Grenze, zwei Zugstunden südlich von Breslau. Karl Bonhoeffer schreibt, dass es »in einem kleinen Seitentälchen am Fuße des Urnitzbergs« lag, »unmittelbar am Waldhang mit einer Wiese, einem kleinen Bach, einer alten Scheune und einem Obstbaum, auf dessen breiten Ästen ein Hochsitz mit einer kleinen Bank für die Kinder eingebaut war.«12 Das kleine Paradies hieß Wölfelsgrund und war so abgelegen, dass die Familie nie einen anderen Menschen sah, bis auf einen bornierten Förster, der dann und wann vorbeikam – dem »Gelbstiefel« in einem späteren Romanversuch Bonhoeffers.

In diese Zeit, als er vier bis fünf Jahre alt war, fallen die ersten Schilderungen des kleinen Dietrich, die wir haben. Sie stammen aus der Feder seiner Zwillingsschwester Sabine:

Im Jahre meines ersten Erinnerns, 1910, sehe ich Dietrich in seinem Festkleidchen mit seinen Händen sein blauseidenes Unterkleidchen streicheln, später ihn neben unserem Großvater, der mit dem Täufling Susanne auf dem Schoß vor dem Fenster saß, in das die Nachmittagssonne ein goldenes Licht hereinwarf. Hier zerfließen mir die Linien des Bildes und nur noch ein Augenblick taucht auf: Erste Spiele im Garten während des heißen Sommers 1911, Dietrich mit einer Fülle weißblonden Haares um das braungebrannte Gesicht, vom Herumtoben erhitzt, die Mücken abwehrend und das »schattige Eckchen« aufsuchend und doch nur unlustig dem Rufen des Kindermädchens, hereinzukommen, folgend, weil das sehr intensive Spiel noch nicht beendet war. Hitze und Durst waren darüber vergessen.13

Dietrich war das einzige Kind, das das helle Gesicht und flachsfarbene Haar seiner Mutter erbte. Die drei älteren Brüder trugen dunklere Haare, wie der Vater. Klaus, der jüngste von Dietrichs Brüdern, war bereits fünf Jahre älter als er, sodass die drei Brüder und die beiden älteren Schwestern ein natürliches Quintett bildeten, während Dietrich, Sabine und die kleine Susanne die »drei Kleinen« waren. In diesem Trio genoss Dietrich seine Rolle als der starke, ritterliche Beschützer. »Es ist mir unvergeßlich«, schrieb Sabine später, »wie reizend Dietrich beim Beerensammeln auf den sommerlichen, heißen Halden war, wenn er mir mein Beerentöpfchen mit seinen mühsam gepflückten Himbeeren auffüllte, damit ich nicht weniger hätte als er, oder mir aus seiner Flasche zu trinken gab.« Er »schob mir beim gemeinsamen Lesen aus einem Buche das Buch näher, obwohl er es so unbequemer hatte, und war überhaupt immer nett und hilfsbereit, wenn man ihn um etwas bat.«14

Seine ritterlichen Neigungen beschränkten sich nicht auf seine kleinen Schwestern. Seine und ihre langjährige Erzieherin, Fräulein Käthe Horn, verehrte er geradezu. »Freiwillig war er ihr Heinzelmännchen, ihr zu helfen, und wenn es ihr Lieblingsgericht gab, schrie er ›ich bin schon satt!‹ und fütterte ihr sein Tellerchen ein. ›Wenn ich groß bin, heirate ich dich, dann bleibst du immer da!‹, meinte er.«15

Als Dietrich und Sabine alt genug waren, um Schulunterricht zu bekommen, übertrug ihre Mutter diese Aufgabe Fräulein Käthe; die religiöse Erziehung der Kinder übernahm sie weiter selbst. Die ersten theologischen Fragen, die von Dietrich überliefert sind, stellte er mit vier Jahren, als er seine Mutter fragte: »Hat der liebe Gott auch den Schornsteinfeger lieb?« und: »Ißt der liebe Gott auch Mittagessen?«16

Die Schwestern Käthe und Maria Horn kamen sechs Wochen nach der Geburt der Zwillinge in die Familie, in der sie zwei Jahrzehnte eine wichtige Rolle spielen sollten. Fräulein Käthe war meist für die drei Kleinen zuständig. Als gläubige Christen, die beide aus der Herrnhuter Brüdergemeine kamen, hatten sie einen prägenden Einfluss auf die Bonhoeffer-Kinder. Die im 18. Jahrhundert von Nikolaus Ludwig Reichsgraf von Zinzendorf gegründeten Herrnhuter setzten die Tradition der Böhmischen Brüder fort. Angereichert mit dem Pietismus, wie er ihn bei August Hermann Francke in Halle kennengelernt hatte, prägte Zinzendorf eine eigene persönliche und zugleich missionarisch-weltoffene Herrnhuter Frömmigkeit. Als Mädchen hatte auch Paula Bonhoeffer eine Zeit lang in Herrnhut gelebt und sich der herrnhutischen Prägung des christlichen Glaubens geöffnet.

Der christliche Glaube hatte ein »lebendiger Glaube« zu sein und keine starre Rechtgläubigkeit; es ging nicht um das bloße Für-wahr-Halten von Lehren, sondern um eine persönliche, das Leben verändernde Begegnung mit Jesus Christus. Bei den Herrnhutern standen entsprechend das persönliche Lesen der Bibel und Hausandachten hoch im Kurs.

Die Frömmigkeit im Hause Bonhoeffer war weit von bürgerlicher Kirchlichkeit entfernt, man befolgte jedoch gewisse Herrnhuter Traditionen. So ging die Familie selten zur Kirche; für Taufen und Beerdigungen nahm sie meist die Dienste von Paulas Vater oder Bruder in Anspruch. Man war nicht antiklerikal – so spielten die Kinder gerne »Taufe« –, aber der Frömmigkeitsstil war überwiegend hausgemacht. Jeden Tag hielt die Mutter die Familie zum Lesen in der Bibel und zum Singen von Kirchenliedern an. Ihre Ehrfurcht vor der Bibel führte dazu, dass sie den Kindern die biblischen Geschichten aus der Bibel selbst und nicht aus Nacherzählungen für Kinder vorlas. Manchmal benutzte sie auch die Bilderbibel von Schnorr von Carolsfeld, deren Darstellungen sie dann erklärte.1

Der Glaube der Mutter zeigte sich auch in der Persönlichkeitsprägung, die Paula und ihr Mann ihren Kindern weitergaben. Selbstlosigkeit, Großzügigkeit und Hilfsbereitschaft waren Säulen der Familienkultur. So teilte Dietrich gerne mit anderen. Seine Zwillingsschwester Sabine berichtet, wie sich diese Eigenschaft schon in seinen jungen Jahren zeigte: »Rührend war Dietrich im Absparen von Süßigkeiten zur Überraschung für Andere, unseren süßen Schatz vergrub er im Garten, und wir gaben dann ›Feste‹ davon und luden die Erwachsenen dazu ein.«17 Ab und zu unterbrach der Vater dafür sogar seine Sprechstunde.

Die Bonhoeffer-Kinder waren alle temperamentvoll, dabei aber niemals grob oder unhöflich. Was natürlich nicht heißt, dass das gute Benehmen immer leichtfiel. Sabine erinnert sich, dass ihre Mutter großes pädagogisches Geschick in der Erziehung bewies. Einerseits ließ sie Ausreden und Schwindeleien nicht gelten, andererseits besaß sie ein großes Herz für Kinder: »… dass wir beim Spiel oder bei unseren Beschäftigungen Dinge zerbrachen oder Kleider zerrissen, wurde nicht schwer genommen.«18

Der Umzug nach Berlin, 1912

1912 nahm Dietrichs Vater 19