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Cover

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Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

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Band 89

 

Tschato, der Panther

 

von Michael H. Buchholz und Rüdiger Schäfer

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

Im Juni 2036 stößt der Astronaut Perry Rhodan auf dem Mond auf ein havariertes Raumschiff der Arkoniden. Damit verändert er die Weltgeschichte.

Die Erkenntnis, dass die Menschheit nur eine von unzähligen intelligenten Spezies ist, schafft ein neues Bewusstsein. Mit der Gründung der Terranischen Union beendet Rhodan die Zeit der Nationen, ferne Welten rücken in greifbare Nähe. Eine beispiellose Ära des Friedens und des Wohlstands scheint bevorzustehen.

Doch sie kommt zu einem jähen Ende, als das Große Imperium das irdische Sonnensystem unter seine Kontrolle bringt. Die Erde wird zu einem Protektorat Arkons. Die Terranische Union beugt sich zum Schein den neuen Herrschern, während die globale Untergrundorganisation Free Earth den Kampf gegen die Besatzer aufnimmt.

Als größte Gefahr für die Menschheit erweist sich immer mehr Chetzkel, der militärische Befehlshaber der Invasoren. Nachdem seine Entführung gescheitert ist, beschließt Free Earth, die Machtbasis des Protektorats anzugehen: Es ist die am Raumhafen Baikonur stationierte Flotte der Arkoniden ...

1.

Chetzkel

An Bord der AGEDEN, 2. Januar 2038

 

»Menschen der Erde! Ich wünsche euch ein gutes neues Jahr!«

Chetzkel blickte in die Kameras, schwieg und ließ seine Worte wirken – und sein Antlitz.

Ein lebensechtes Holo in der Zentrale der AGEDEN zeigte ihn, wie ihn Milliarden von Menschen in diesem Augenblick sahen: ein kräftiger, hochgewachsener Arkonide in Uniform, verziert mit den Abzeichen eines Reekha, des Befehlshabers eines Kampfverbands der Imperiumsflotte. Auf den ersten Blick vielleicht sogar mit einem Menschen zu verwechseln, nicht aber auf den zweiten Blick: Chetzkel war augmentiert, sein Gesicht glich einer Schlange.

»Und ich muss euch um Verzeihung bitten«, fuhr er in seiner Ansprache fort, »denn meine Wünsche kommen verspätet.«

Er öffnete die hornigen Lippen und leckte sich mit der gespaltenen Zunge über die schuppige Gesichtshaut.

»Ich war verhindert. Der Dienst für das Protektorat, das zu eurem Schutz besteht, gab mir keine Möglichkeit zu feiern.«

Es war eine glatte Lüge. Chetzkel hatte die Silvesternacht mit seiner Geliebten Mia in einem eigens eingerichteten Liebesnest am Fuß des Kilimandscharo verbracht. Doch das konnte keiner der Menschen wissen, die seine Ansprache verfolgten.

Die meisten von ihnen verabscheuten ihn und den Anblick, den er bot, aber die Furcht ließ ihnen keine andere Wahl, als seine Ansprache zu verfolgen. Chetzkel war nach Fürsorger Satrak der hochrangigste Arkonide des Protektorats. Alles, was er tat oder nicht tat, war für die Menschen von existenzieller Bedeutung. Ein Wink an den Waffenleitoffizier der AGEDEN genügte, und das Schlachtschiff hätte die Erde in der Glut seiner Energiegeschütze verbrannt.

Es war das Schauspiel, das Chetzkel in diesem Moment am liebsten gesehen hätte. Rebellen der Widerstandsorganisation Free Earth hatten ihn in der Silvesternacht zu entführen versucht. Dass er den hinterhältigen Verbrechern entkommen war, hatte der Reekha lediglich seiner Umsicht zu verdanken – und einem Wesen, das einmal ein normaler Mensch gewesen war: Mia, seine Geliebte, die einige Schritte entfernt von ihm in der Zentrale stand. Zahlreiche Augmentationen hatten ihre Gestalt an die einer Katze angenähert. Und wie sich in der Silvesternacht erwiesen hatte, hatte sie auch ihre Einstellung geändert. Mia hatte sich gegen ihr elendes Dasein entschieden. Und für ihn. Für die Sterne. Für die unendlichen Möglichkeiten, die das Große Imperium bot.

»Dennoch ist mir nicht entgangen, dass ihr das Jahr 2038 eurer Zeitrechnung mit ausgelassener Freude begrüßt habt. Zu Recht, ist doch jeder Tag, an dem es euch vergönnt ist, im Glanze Arkons zu existieren, ein Freudentag. Eure Feuerwerke haben den Erdball erleuchtet. Sie waren ein Fest für meine Augen, für das ich euch danken will – in Worten wie in Taten.« Der Reekha breitete beide Arme aus. »Seht und staunt, ihr Menschen der Erde!«

Das Holo Chetzkels fror ein, als die Übertragung in die irdischen Datennetze endete.

Er nickte Jakkat, dem Chefingenieur der AGEDEN, zu. Der Offizier neigte stumm den Kopf und gab einen Kurzbefehl in ein vor ihm schwebendes Holofeld ein. Beinahe gleichzeitig erfüllte gellender Gefechtsalarm das Flaggschiff. Der altvertraute Rhythmus aus Ton- und Lichtsignalen bedeutete: Unbekannter Feind auf Angriffskurs!

Alle Mannschaftsmitglieder eilten im Spurt auf ihre Gefechtsstationen. Besser dran waren jene, die bereits Dienst hatten. Jeder an Bord wusste, dass Übungen unter Chetzkels Kommando mindestens so fordernd waren wie Echteinsätze. Alle Bewegungen wurden von diesem Augenblick an von den Positroniken registriert und für die spätere persönliche Auswertung gespeichert.

Für jede Verzögerung, und seien es nur Sekunden, würde es Punkteabzüge geben – und später ein ebenso intensives wie unerfreuliches Gespräch mit den Führungsoffizieren.

Die 312. vorgeschobene Grenzpatrouille, die dem Protektorat von Larsaf als Flotte diente, bestand derzeit aus achtzehn Schiffen. Außer der AGEDEN gehörten der Flotte des Reekha zwei weitere Giganten an – die mächtigen 500-Meter-Schlachtkreuzer ENDRIR und YODRATH. Doch das Flaggschiff mit seinen 800 Metern Durchmesser war fraglos die größte und kampfkräftigste Einheit. Ihr allein kam die schwierige Aufgabe zu, mit ihren sechzehn 60-Meter-Beibooten vom Typ Korvette die Erde zu verteidigen.

Schon gegen die ENDRIR und die YODRATH würde die AGEDEN keinen leichten Stand haben. Im Einzelgefecht war ein Schlachtschiff einem Kreuzer überlegen, aber gegen zwei koordiniert angreifende 500-Meter-Riesen mit routiniert aufeinander eingespielten Besatzungen sah das schon wieder anders aus. Drei 200 Meter durchmessende Schwere Kreuzer, die JARBAN, die RO'KANG und die KESTAI, vervollständigten die Riege der reinen Kriegsschiffe; der Rest der Flotte bestand aus acht Hilfskreuzern, also umgerüsteten Frachtern und Passagierschiffen mit Durchmessern zwischen 150 und 350 Metern, sowie vier allenfalls rudimentär bewaffneten Frachtern.

Bis vor einigen Wochen hatte noch die LATAS zur Protektoratsflotte gehört, doch Rebellen von Free Earth hatten den Flottentender gekapert und an einen unbekannten Ort entführt. Ein Akt, auf den die Auslöschung einer irdischen Großstadt die einzig angemessene Antwort gewesen wäre, aber Fürsorger Satrak hatte wie üblich die nötige Konsequenz vermissen lassen. Wie, fragte sich Chetzkel, sollten die Menschen lernen, wenn sie ihnen nicht die nötigen Lehren erteilten?

Zwei Schiffe, die YODRATH und die KESTAI, nahmen an dem Manöver nicht teil. Die YODRATH hielt Wache am Rand des Systems, um die Protektoratsflotte vor unliebsamen Überraschungen zu schützen, die KESTAI war vor über einer Woche zu einer Mission ins Imperium aufgebrochen. Der ehemalige Celista Jemmico sollte herausfinden, was hinter dem Ausfall der Hyperfunkrelaiskette steckte, der Nabelschnur, die den Außenposten des Protektorats mit Arkon verband.

Damit bestand der Hauptteil der Angreifer aus dem zweiten Schlachtkreuzer ENDRIR und den beiden verbliebenen 200-Meter-Kreuzern – eine anspruchsvolle, aber keine unlösbare Aufgabe für die Besatzung der AGEDEN.

Zumindest sollte es nach außen hin so wirken. Wenngleich sich die Mannschaften aller großen Schiffe so realitätsnah wie nur möglich verhalten sollten, taten sie letztlich nur das, was ihnen die zentrale Positronik der AGEDEN vorschrieb. Über permanente Komlinks spannte der Bordrechner sein Netzwerk und steuerte sowohl die Verteidiger wie auch die Angreifer – schließlich sollte keines der wertvollen Schiffe ernsthaft in Gefahr geraten und womöglich beschädigt werden.

Eine andere Vorgehensweise sah das Manöver bei den Hilfskreuzern und Frachtern vor; diese ohnehin langsamen Einheiten erhielten lediglich positronische Empfehlungen, wurden aber nicht vom Zentralrechner selbst gesteuert. Darauf hatte Chetzkel persönlich beharrt. An Bord dieser Schiffe taten keine hart gedrillten Soldaten Dienst wie in den großen Einheiten, sondern die Besatzungen setzten sich aus allen möglichen Berufen, Abstammungen und den unterschiedlichsten Ausbildungsstandards zusammen. Der Reekha wollte dadurch prüfen, wie sich diese Schiffe in einer ernstfallähnlichen Situation verhielten. Man würde sehen.

Das Ganze ließ sich am besten mit einem komplizierten Ballett vergleichen. Die grundlegenden Bewegungen waren in Form einer Choreographie festgelegt, aber es gab für alle Tänzer vorgesehene Freiräume, in denen sie improvisieren sollten, um ihr Können unter Beweis zu stellen.

Die Angreifer kamen in der Simulation aus dem Mondschatten heraus – in Wahrheit lauerten sie dicht am Rand der Erdatmosphäre. Leuchttorpedos eilten ihnen voraus und detonierten in großer Höhe; Flammenkugeln, die rasch in sich zusammenfielen und zunächst keinem anderen Zweck dienten, als beeindruckend auszusehen. Sofort stürzten sie sich mit einem grellen Strahlengewitter auf die Verteidiger ... Die AGEDEN flog ihnen entgegen, umhüllt vom Kordon ihrer Korvetten. Mit Absicht beschleunigte ihr Verband, alle Verteidiger durchbrachen die Schallmauer. Die entsprechenden Donnerschläge würden noch in Tausenden Kilometern Entfernung zu hören sein. Die Luftmassen, von den gewölbten Stahlwänden der Schiffe gewaltsam verdrängt und dabei erhitzt, fielen als mittelschwere Stürme über Küsten und Gebirgszüge her. Sie würden keine echten Zerstörungen anrichten, doch die meisten der betroffenen Menschen ausreichend ängstigen.

In den Feuerleitständen der AGEDEN und ihrer Korvetten herrschte gespannte Konzentration. Die Raumer erwiderten das Feuer bereits aus großer Distanz und ließen die Schutzschirme der Angreifer zu gigantischen Blasen anwachsen und auflodern. Schon diese Verfärbungen belasteten sowohl das Material als auch die Moral der Besatzungen. Brach einer der Schirme zusammen, würden die Gewalten der Thermogeschütze unmittelbar durchschlagen, was nicht unerhebliche Schäden zur Folge hatte – günstigstenfalls. Schlimmstenfalls bedeutete es einen Totalverlust. Chetzkel spielte an diesem Morgen buchstäblich mit dem Feuer.

Wer in der Zentrale Dienst tat, spürte die Wut des Reekha. Dennoch kamen seine Anordnungen knapp, präzise und urteilssicher. Einen Versuch der Angreifer, eine Zangenbewegung einzuleiten, unterlief er mit einem überraschenden Aufspalten seines Verbands. Ab und an zündete die lenkende Positronik in dem irrlichternden Chaos zusätzlich einen Raumtorpedo größeren Kalibers, was jeweils eine heftig leuchtende Glutwolke erzeugte. Es regnete über Kilometer hinweg feurige Splitter. Schwarze Detonationswolken, erhitzt und statisch aufgeladen, trafen auf kältere und produzierten dadurch echte Gewitterfronten, die sich mit den kämpfenden Schiffen um den Globus bewegten.

Chetzkels Anweisungen folgend, nutzte die Positronik für die dramatischsten Augenblicke die Nachtseite des Planeten. Die finale Verteidigungsschlacht begann über Singapur und zerfaserte sich nach Chetzkels Aufteilungsbefehl in zwei Äste, die sich in entgegengesetzten Richtungen um den Erdball wanden, ehe sie über dem Mittelmeer wieder aufeinandertrafen.

Für den Endkampf hatte der Reekha einen besonderen Effekt geplant. Einige der Hilfskreuzer wurden von den Angreifern vorgeschoben, um das Feuer der Verteidiger bewusst auf sich zu ziehen. Hier übernahm die Lenkpositronik die Befehlsgewalt über die schwach bewaffneten Einheiten und führte sie weisungsgemäß an die Grenzen ihrer Belastbarkeit. Dann überließ sie den Besatzungen Möglichkeiten der Reaktion, gezielte Lücken im Gefechtsgeschehen, die für das Moment der Unvorhersehbarkeit sorgten. Jede Handlung aller beteiligten Entscheider wurde akribisch aufgezeichnet und zur späteren Auswertung gespeichert.

Über Istanbul geriet einer der Hilfskreuzer in die volle Breitseite der AGEDEN und entkam der Vernichtung nur knapp. Aus der Perspektive seiner Bewohner musste ein Farben- und Glutschauspiel der Sonderklasse zu sehen sein. Chetzkels immer noch schwelende Wut über die Anmaßung der Menschen, ein Attentat auf ihn zu verüben, verwandelte sich in den Zorn des militärischen Oberbefehlshabers. Ein Feuerleitoffizier des Flaggschiffs hatte offenbar zu gut gezielt, und anstatt auszuweichen, was möglich gewesen wäre, steuerten diese Anfänger ihren Frachter mitten in die Gluthölle hinein.

Chetzkels geschickte Führung brachte die Angreifer in einen Hinterhalt des Korvettenverbands, und das stakkatohafte Feuern der taktisch besser positionierten Verteidiger, die ein wahres Netz um die Angreifer gewoben hatten, war wie das große Finale eines Feuerwerks.

Am frühen Vormittag detonierte der letzte von fünfzehn fast gleichzeitig gezündeten Raumtorpedos. Damit galten die Angreifer offiziell als vernichtet und die Erde als gerettet. Ein ungeheures Getöse, eine Kaskade krachender Donnerschläge, rollte minutenlang über Südeuropa hinweg.

Chetzkel hob die Gefechtsbereitschaft auf und gab den Befehl zur Landung in Baikonur.

In diesem Moment schlugen die Strukturtaster der AGEDEN an. Zwei Raumschiffe waren in Erdnähe materialisiert. Der Schwere Kreuzer KESTAI kehrte endlich von seiner Erkundungsmission zurück – begleitet von einem zweiten, unbekannten Schiff.

»Jemmico!«, rief der Reekha über Funk. »Sie sehen mich überrascht und erfreut zugleich. Wie ist es Ihnen ergangen?«

Das Holo des weißhaarigen Arkoniden baute sich vor dem Oberbefehlshaber auf. Wie üblich vermied Jemmico Blickkontakt.

»Es gibt wichtige Neuigkeiten«, sagte der eigenartige Mann, dem man nachsagte, ein heimlicher Günstling der Imperatrice zu sein. »Ich möchte Sie bitten, noch heute Nachmittag zu einem Gespräch mit Satrak zu kommen. Als Treffpunkt schlage ich den Palast des Fürsorgers vor.«

»Ist das wirklich notwendig?«, fragte Chetzkel. Er wollte nicht an den Fürsorger erinnert werden. Nicht daran, dass dieser viel zu weiche Zivilist über ihm stand, ihm, Chetzkel, der die Befehle gab.

»Ja.« Jemmico schaltete ohne weitere Erklärung ab.

2.

Rinat Ugoljew

Baikonur, 2. Januar 2038

 

Es war ein gewohnter Anblick, und doch: Irgendetwas stimmte nicht. Rhino konnte nicht den Finger darauflegen, aber er hätte sein bestes Küchenmesser darauf verwettet. Nur kam er nicht darauf, was es war. Etwas war anders. Er schnupperte, aber nein, es lag nicht an den diversen Düften, die ihn umgaben.

Während Rhino, die neuen Vorgaben der Zentrale im Kopf überschlagend, durch die breiten Gänge der Großküche stapfte, näherte er sich einer für ihn sehr augenfälligen Gruppe. Eine innere Stimme sagte ihm, dass die Andersartigkeit, die er spürte, von dieser Gruppe ausging. Die etwa ein Dutzend Frauen und Männer, zumeist jüngeren bis mittleren Alters, stammten ihrer Haltung nach und in der Art, wie sie sich unwohl in den blütenweißen Küchenkombinationen bewegten, aus der unmittelbaren Umgebung Baikonurs. Oder aus der Stadt selbst.

Rhino blickte in Gesichter, denen offenbar ein gewisser genereller Gleichmut zu eigen war, der sich in bäuerlicher Derbheit äußerte. Außerdem war da ein Ausdruck, als wären ihre Besitzer mit ihrer Situation nicht nur unzufrieden, sondern überfordert und als sehnten sich alle danach, woanders zu sein. Es waren die neuen Hilfskräfte, die scheu die blitzenden, aus Edelstahl bestehenden Arbeitsstationen betrachteten, als sähen sie sich jäh in einem Albtraum aus Cromargan gefangen.

Alles um sie glänzte, blendete beinahe im Licht der leistungsfähigen Deckenbeleuchtung. Die Großküche vibrierte förmlich, lief im Hochbetrieb, obwohl es erst früher Vormittag war.

Rhino pflügte gleichsam durch Wolken aus Wasserdampf, die aus blubbernden Töpfen und Stahlkesseln aufstiegen. Andere Schwaden schwebten über knackenden Rechauds, als könnten sie sich nicht entschließen zu entweichen. Dazu gesellten sich dichtere Ballungen heißen Dampfs, die aus den geöffneten Geschirrspülern oder – noch heißer – aus aufgerissenen Ofentüren quollen.

Dazwischen zischten immer wieder hochzüngelnde Flammen über riesigen Pfannen, die den frisch dazugegebenen Alkohol fraßen, ehe sie verpufften. Frisches Fett prasselte in Brätern und Fritteusen, mischte sich mit den Aromen, die von den schmorenden Frühlingszwiebeln, den Chilis, dem Paprika, dem Kardamom, dem Ingwer, dem Sternanis, den Möhren, dem Sellerie, den unzähligen frischen und getrockneten Kräutern ausgingen. Es war aber auch durchsetzt von den neuen arkonidischen Gewürzen, dem aromatischen Tulush, dem ultrascharfen Hak'sameth, dem herben Follimont und dem feinsüßlichen Lamellenstaub des Zuinzz-Pilzes.

»Man kann schon was draus machen«, murmelte Rhino und verzog im selben Moment sein breites Gesicht, als habe er auf eine faule Olive gebissen.

Nur nicht dran denken!, befahl er sich und dachte natürlich jetzt erst recht daran.

Mit der Zunge fuhr er sich über die Rückseite seiner Schneidezähne, strich über die Zahnlücke, als brächte ihm diese Bewegung etwas zurück, was für immer verloren war. Zumindest sah alles auf beknackte Weise danach aus. Und das verhieß für die Zukunft nichts Gutes.

»Verfluchte Raumfahrt!« Die Worte mussten ihm unbeabsichtigt laut herausgefahren sein, denn der ihm zunächst arbeitende Koch, Emile Corande aus Frankreich, sah ihn verwirrt an. Rhino winkte ungehalten ab und bahnte sich weiter seinen Weg. Die Gruppe Neuankömmlinge war derweil dichter zusammengerückt, als böte eine geschlossene Formation besseren Schutz vor allen möglichen Gefahren.

Ihr habt ja keine Ahnung, dachte Rhino, und er war ehrlich genug zu sich selbst, um sich einzugestehen, dass er verbittert war. Wie oft war er das Erlebte in den letzten Wochen durchgegangen? Hatte es ihm etwas gebracht? Nein. Hatte er eine Wahl gehabt? Nein. Würde er es wieder tun? Ja ... Wahrscheinlich.

Schon während er damals in höchster Not aus dem Hangar der TOSOMA gesprungen war – im All, ohne Raumanzug! –, hatte er es befürchtet: Eine unsägliche Hitze war in seiner Zunge aufgestiegen, hatte sich zu einem Brennen gesteigert, und während er für fünfzehn Sekunden schutzlos im All schwebte, war ihm heißer noch als das Brennen klar geworden, was die Folge dieses verzweifelten Rettungsversuchs sein konnte: Er würde sich einen neuen Beruf suchen müssen, falls ihm zu viele Geschmacksknospen abgesengt worden waren.

Selbstverständlich hatte er keine andere Wahl gehabt, als auf Thoras ebenso genialen wie völlig verrückten Rettungsplan einzugehen. Es war schließlich ums nackte Überleben gegangen. Seitdem aber lebte er mit der Angst, er könnte seinen Geschmackssinn verlieren. Der Vorfall lag bereits einige Monate zurück und war zunächst ohne Folgen geblieben. Bis dann, vor wenigen Wochen ...

Riechen funktionierte nach wie vor bis in feinste Nuancen hinein. Doch das Schmecken bereitete ihm Probleme. Anfänglich war es vergleichsweise harmlos gewesen. Eines Abends, beim Zubereiten seiner sensationellen Mousse au chocolat, hatte er plötzlich den Unterschied zwischen bitterer Schokolade und Vollmilch nicht mehr unterscheiden können. Beide schmeckten völlig gleich ... nämlich widerlich.

Zunächst hatte er es für einen Irrtum gehalten, einen Produktionsfehler, für verdorbene Ware, aber frische Tafeln hatten das gleiche Ergebnis geliefert. Eine hatte wie die andere geschmeckt und ihn eher an Hundehaufen erinnert als an das, was die Aufschrift der Verpackung versprach: allerfeinsten Genuss.

Seitdem wusste er genau, was die Stunde geschlagen hatte.

Inzwischen war Rhino bei den Saucenstationen angelangt, atmete tief die sich verbreitenden Wolken der herberen Gerüche ein: bratendes, kochendes oder ruhendes Fleisch aller Provenienzen. Hier Gänse aus Deutschland, dort Enten aus Polen, drüben Wildschweine aus Frankreich, Rind- sowie Schweinefleisch aller Sorten von überallher, Truthahn aus Nordamerika, Strauß aus Australien, Krokodil aus dem Sudan, selbst Dromedar aus der Mongolei ...

Deshalb bin ich hier, dachte Rhino mit zusammengebissenen Zähnen. Nicht länger als der Sternekoch mit dem untrüglichen Geschmackssinn und dem eigenen Exklusivrestaurant, sondern als x-beliebiger Küchenbulle mit zugegeben jahrzehntelanger Erfahrung und Organisationstalent.

Er fühlte das Brummen der Exhaustoren hoch über sich, an der Decke der Halle wirbelten die Ventilatoren. Er vernahm die ebenso ungeduldigen wie eilig fordernden Zurufe der geschäftigen Köche an das Hilfspersonal, denen häufig die gleiche, lediglich gebrüllte Ansage folgte. Im Hintergrund lag das nicht aufhören wollende Klackern und Schaben der schnellen Messerschnitte auf den Schneidebrettern, das Klirren und Scheppern des wie von Geisterhand hin- und herwandernden Geschirrs. Er sah die endlosen Berge aus grünem, orangefarbenem, weißem und gelblichem Gemüse heranfahren, das nach Arten und Sorten getrennt, roh und schon gewaschen über kleine Bandstraßen zu halb automatischen Häckslern lief – jaulenden, kreischenden, schnetzelnden Maschinen, die sofort von angelernten Hilfskräften entleert wurden, worauf deren Schnittgut gewogen, portioniert, neu sortiert und an seinen Bestimmungsort an eine der vielen Kochstellen geliefert wurde.

Hören, sehen, riechen, fühlen – alles das funktionierte einwandfrei. Schmecken hingegen? Es wurde von Woche zu Woche schlimmer.

Endlich stand Rhino neben der Gruppe der unlängst eingestellten Gemüseputzer aus Baikonur. Er tippte etwas in seinen Pod, während er argwöhnisch die Bewegungen von Sparschälern, kleinen Messern, Entkernlöffeln und Keramikreiben verfolgte.

Er grinste über sein breites Gesicht, als er auf Senden drückte. Morgenappell in zehn Minuten!

Die Reaktion auf seine Nachricht lief wie ein sichtbarer Ruck durch die gut einhundertfünfzig Männer und Frauen in ihren weißen, Fett und jede Form von Feuchtigkeit abweisenden Arbeitsmonturen. Ein Holo entstand weithin sichtbar über den Edelstahlapparaturen und zeigte eine weiße Ziffernfolge auf schwarzem Grund: 09:59.37.

Genug Zeit, die einzelnen Stationen für die fünfzehn Minuten Abwesenheit des jeweils Verantwortlichen vorzubereiten.

Genug Zeit für alle, die nötigen Daten zu sammeln und sich rechtzeitig auf den Weg zu machen.

Für Rhino blieben somit wenigstens ein paar Augenblicke, sich die Neuen vorzunehmen. Das Gefühl, dass etwas nicht stimmte, wurde für ihn fast greifbar. Die Gruppe der insgesamt fünfzehn Männer und Frauen hörte gerade Pane Chelkoy zu, dem für die Einarbeitung zuständigen Ausbildungskoch. Chelkoy sprach Englisch, die Arbeitssprache in der Großküche. Rhino selbst hätte Terranisch vorgezogen, aber die neuen Herren der Erde hörten die noch junge Lingua franca der Menschheit nur ungern. Je einiger die Menschheit war, desto schwerer war es für sie, ihre Herrschaft zu behaupten.

Einer tanzt immer aus der Reihe, dachte Rhino verärgert.

Und dieser träumte ganz offensichtlich. Er war eindeutig der Älteste aus der Gruppe. Von der Erfahrung, die man bei einem Mann seines Lebensalters hätte erwarten können, allerdings keine Spur.

Allein schon, wie er das Messer hielt. Du liebe Güte! Als wäre es ein Schraubenschlüssel und kein filigranes Werkzeug, dazu geschaffen, nur das Allernötigste mit Raffinesse, ja chirurgischer Präzision zu entfernen, um dem behandelten Gemüse das größtmögliche Maß an Geschmack und Vitaminen zu bewahren. Was dieser vierschrötige, bucklige Mann – ohne hinzusehen! – der Süßkartoffel in seinen Händen antat, bereitete Rhino körperliche Schmerzen.

Zu allem Ärger starrte der Kerl auch noch ständig zu den seitlichen, schräg verlaufenden Oberlichtern hinaus.

»Was gibt's denn da zu gaffen?«, herrschte Rhino den Alten an.

»Da draußen leuchtet es«, gab der Bucklige ungerührt zur Antwort. Die matronenhafte Frau neben ihm nickte.

»Jedenfalls bist du schon mal keine Leuchte!« Rhino musterte das Namensschild am Kragen der hochgeschlossenen Küchenmontur. »Fjodr Ukenow«, sagte er laut.

»Ich meine doch nur ... ich meine, da draußen blitzt es.«

»Wenn du dich einmal vom Fenster abwenden und in meine Augen sehen würdest, bekämst du vielleicht mit, wo es sonst noch blitzt!«

Jeder in Rhinos Küchenmannschaft hätte diese Warnung verstanden und sich eiligst bemüßigt gefühlt, seinen schnell entflammbaren, aber auch rasch wieder versiegenden Unmut zu besänftigen. Nicht so der Neue. Jetzt legte der Bucklige gar das Messer beiseite und warf die halb geschälte Süßkartoffel, oder das, was von der misshandelten Knolle übrig war, achtlos in die Schüssel seines Nebenmannes. Statt weiterzuarbeiten, warf er den Kopf in den faltigen Nacken und deutete zum Lichtband des Oberlichts.

»Da brennt etwas!«, bemerkte Ukenow ungerührt.

»Mir brennt gleich die letzte Sicherung durch!«, rief Rhino. »Mann, Fjodr, reiß dich gefälligst zusammen!« Er wandte sich an den Einweiser der neuen Hilfskräfte. »Pane, dieser Mann taugt nur für gröbere Arbeiten. Lass ihn Geschirr abtragen oder sonst was, nur gib ihm kein Messer mehr in die Hand! Verstanden?«

Pane nickte. »Geht klar. Chef, die Besprechung. Noch neunzig Sekunden.« Pane deutete auf das Holo mit dem Countdown, der sich rasch seinem Ende näherte.

»Stimmt.«

Gemeinsam eilten sie zur Insel, einer quadratischen und von Equipment freien Gangkreuzung, der größten Freifläche in dieser Halle der Großküche. Rhino und Pane kamen als Letzte. Die etwa dreißig wartenden Köche bildeten einen Halbkreis um ihren Chef. Sie verstummten auf einen Schlag, als der Countdown bei null stand.

»Okay, Leute«, begann Rhino seine Ansprache. »Ihr wisst, was auf dem Spiel steht. Unser einziger Kunde ist die Protektoratsflotte. Die Geschäftsleitung von Food for All in London bombardiert mich jeden Tag mit sicher gut gemeinten Ratschlägen. Sie alle empfehlen uns, diese Sache nur ja nicht zu vergessen. Und falls es einer von euch einwenden will, Jungs, Mädels – die in London interessiert es nicht, ob wir mit den arkonidischen Gewürzen klarkommen oder nicht. Die Nachricht von gestern Nacht beispielsweise lautet: Failure is not an option. Für die, die kein Englisch können – es bedeutet, Fehler unsererseits werden nicht toleriert. Das gilt für jeden von uns. Vom Chef de Cuisine bis hinunter zum Gemüseputzer.«

»Was ist denn daran neu?«, wollte eine der Köchinnen wissen.

»Neu? Neu ist der Großauftrag, den sie drangehängt haben. Den wir vorrangig, aber ohne unsere bisherigen Verpflichtungen außer Acht zu lassen, binnen weniger Tage zu erfüllen haben. Und das ist ein Haufen Zeugs, Leute.«

Er ging kurz in die Details, zeigte das Mengengerüst auf. Proviant für drei Schichten, zusammen 3800 Mann, für 120 Tage zu je drei Mahlzeiten ... annähernd 1,4 Millionen Portionen. Das Ganze natürlich schmackhaft, abwechslungsreich, von hoher Qualität in Zubereitung und Verwahrung.

»Das erste Achtel sollen wir bereits in zwei Tagen liefern. Gerechnet auf 475 Mann sind das immer noch 171.000 Menüs.«

»Gibt es Sonderwünsche?«, fragte Emile Corande und stöhnte.

Rhino grinste. »Nur die üblichen. Das Essen soll arkonidischen Gaumen schmecken, egal ob zum Frühstück, Lunch oder zur Hauptmahlzeit. Die meisten der Standardrezepte verlangen den Einsatz der neuen Gewürze; wendet euch an die eigens dafür Ausgebildeten unter euch! Irdisches darf zum Glück etwa zu einem Drittel geliefert werden, vorausgesetzt, es ist lecker. Die Auswahl der Speisepläne wird uns damit erleichtert.« Für alle sichtbar berührte er die Datenfläche seines Pods. »Mit diesem Klick haben eure Stationssysteme die neuen Vorgaben. Haltet euch peinlich genau daran! Ja, wie immer. Schwerpunkte liegen auf Geschmack und Ausgewogenheit. Auch wie immer. Genuss steht an vorderster Stelle. Noch heute kommen die zusätzlichen Materialien: Portionierteller, Transportcontainer und so weiter. Die Bestellungen der Rohwaren sind in der Nacht bereits rausgegangen, rechnet also mit einem beständigen Anlieferungsstrom. Es wird uns einiges abverlangen, aber ich bin sicher, wir können es schaffen. Wenn nicht wir, wer dann? Und ... hey, du!«, unterbrach er sich selbst. »Ich habe doch gesagt, du fasst mir kein Messer mehr an!«

Aus den Augenwinkeln hatte er den buckligen Fjodr Ukenow entdeckt, der ein gewaltiges Zerlegemesser schwang und damit zu den Oberlichtern hindeutete.

Unwillkürlich folgten alle seinem Finger- oder besser Klingenzeig. Über ihren Köpfen regnete es wie zerstiebende Funken, und rote und gelbe Kreise blähten sich auf und erloschen wieder. Die Blitze, von denen der Bucklige vorhin berichtet hatte, waberten durch blutrot getränkte Wolken und zuckten über freien Himmel. Aber sie waren nicht gezackt, sondern kilometerlange Lanzen gleißenden Lichts.

Am Firmament tobte eine Raumschlacht. Oder der Himmel stürzte ein, wie Emile Corande erschrocken murmelte. Dann brandeten erste Geräuschwellen heran, ohrenbetäubendes Krachen und Donnerschläge im Gefolge. Niemand achtete mehr auf den Chefkoch in ihrer Mitte.

Rhino hob seinen Pod an den Mund und nutzte eine schnell geschaltete Verbindung zum Securitysystem der Großküche. Seine Stimme dröhnte daraufhin aus den Hallenlautsprechern.