cover.jpg

Impressum

Kapitel I – Dunkle Verfolger

Kapitel II – Angst in der Seele

Kapitel III – Düstere Geschichten

Kapitel IV – Geforderte Vergeltung

Kapitel V – Wilde Vermutungen

Kapitel VI – Zugespitzte Ereignisse

Kapitel VII – Der Tod im Dunkel

Kapitel VIII – Die Rache des Gehenkten

Vorschau

DIE SCHWARZE FLEDERMAUS

Band 5

 

 

img1.png

In dieser Reihe bisher erschienen:

 

6001  Der Anschlag von G. W. Jones

6002  Der Sarg von G. W. Jones

6003  Angriff der Schwarzen Fledermaus von G. W. Jones

6004  Ein harmloser Fall von Angelika Schröder

6005  Tote schweigen nicht von M. Schwekendiek

M. Schwekendiek

 

 

Tote schweigen nicht

 

 

img2.jpg

 

 

img3.png

Copyright für ,Die Fledermaus‘ by Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

© 2015 by BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 Windeck

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Exposé: Gottfried Marbler

Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati

Titelbildgestaltung: Mark Freier

Satz: Winfried Brand

Beratung: Nico Mathies

Illustrationen: Dorothea Mathies

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-95719-005-5

Kapitel I – Dunkle Verfolger

 

Es hatte geschneit. Draußen war es bitterkalt geworden, schneidender Wind strich vom Lake Michigan her durch die Stadt, trieb die letzten Regentropfen und die ersten Schneeflocken durch die Straßen. Den ganzen Tag über war es nicht richtig hell geworden, und aus den Schornsteinen der Häuser stieg der Rauch der Öfen und Heizungen in die kalte Luft.

Die Menschen zogen fröstelnd die Schultern zusammen, wickelten sich in dicke warme Kleidung und hasteten schnell wieder ins Warme.

George Swinton ging jeden Abend nach der Arbeit in die kleine Kneipe im Stadtviertel. Am Rande von Chicago war die Welt noch in Ordnung. Man kannte sich, viele der Bewohner lebten seit mehreren Generationen hier, und die ehemals kleinen Siedlungen waren von der großen Stadt längst eingeholt worden, ohne die Unruhe einer großen Metropole mitzubringen.

Doch der Golfplatz am Lakefront Trail brachte neue Besucher mit sich, und das South Shore Cultural Center lockte viele Leute an, obwohl die dort ausgestellten Kunstwerke nur selten den Geschmack der normalen, einfachen Leute trafen. Besonders die augenblickliche Ausstellung mit Skulpturen, die direkt aus der Hölle entsprungen schienen, sorgte für Aufregung, heftige Diskussionen und teilweise deutliche Ablehnung.

Ein junges Pärchen, das abends am Trail entlang spazieren gegangen war, behauptete sogar, dass die Figuren zum Leben erwacht seien und sie verfolgt hätten. Ein schmieriger kleiner Reporter stürzte sich auf diese Erzählung und machte einen reißerischen Artikel daraus, der in der Nachmittagsausgabe der Michigan News erschienen war. Die häufigsten Reaktionen waren allgemeines Kopfschütteln und Gelächter. Was sollte man auch dazu sagen, wenn der Reporter in den Raum stellte, dass es sich bei den Skulpturen um fremde Wesen handelte, die erst in der Dunkelheit zu einem höllischen Leben erwachten?

Dämonen aus der Hölle treiben ihr Unwesen in Chicago, titelte der Bericht. Handelt es sich womöglich um die Geister gewaltsam Verstorbener? Hat der sogenannte Künstler vielleicht einen Pakt mit dem Teufel geschlossen? Der Name Mephistopheles lässt schon darauf schließen. Der Lakefront Trail-Golfplatz mit dem Kulturcenter wird zum Tummelplatz für Monster.

Bis auf einige Verschwörungstheoretiker nahm niemand diesen Unsinn ernst. Die Zeitung wurde trotzdem gern gekauft, seit sie ein tägliches anspruchsvolles Kreuzworträtsel bot.

Dichter Nebel wallte auf und ließ eine Stimmung entstehen, die furchtsame Gemüter an allerlei Gespenster und Geister und vieles andere mehr glauben ließ, was menschlicher Geist erdacht hatte. Es gab gewiss niemanden auf der Welt, der nicht schon zumindest die eine oder andere Gespensterstory gehört hatte. Viele von den Menschen glaubten an diese Geschichten überhaupt nicht, hielten alles für ausgemachten Humbug, um ängstlichen Gemütern eine Gänsehaut nach der anderen über den Rücken zu jagen. Es gab aber im Gegenzug gewiss eine Reihe von Menschen, die sehr wohl daran glaubten, die sich vorstellen konnten, dass es mehr zwischen Himmel und Erde gab, als man sehen, messen, wiegen und greifen konnte. Und es gab ebenso gewiss einige Menschen, die sich in dunklen und nebeligen Nächten, wie die heutige eine war, von vornherein zu Tode fürchteten und gar nicht erst vor die Haustür gingen, sondern im Gegenteil alle Türen und Fenster ihres Hauses oder ihrer Wohnung verrammelten und um Gnade durch den Herrn vor dem Grauen der Hölle beteten.

George Swinton gehörte nicht zu Letzteren, sondern zu den Ersteren. Für ihn gab es keine Geister und dergleichen. Er glaubte eigentlich nicht einmal an Gott und den Teufel, denn für ihn waren auch die Bibel und alle sonstigen heiligen Bücher nur ein Mittel, um den Menschen heilige Furcht vor etwas einzubläuen, das sie nicht begreifen und ergründen konnten. Damit hatten sich die Religionen und deren Priesterschaften in allen Zeiten und in allen Kulturen leicht getan, ihre Völker zu unterjochen und ruhig zu halten.

img4.jpg

Butch O'Leary

Und das galt auch heute noch, denn für George Swinton handelte es sich bei keiner Religion auf der Welt um etwas anderes als um ein Instrument, mit dem man eine große Masse an Menschen demütig und gefügig machen konnte.

Swinton stand soeben vom Tisch auf, an dem er gerade sein letztes Glas Bier für heute Nacht geleert hatte, im Kreise von einigen Saufkumpanen, die ebenfalls alles andere als taufrisch dreinschauten. Eigentlich waren alle mehr oder weniger besoffen und längst schon reif für ihre Betten. Nur wollten das die meisten noch nicht wahrhaben.

„Mir reicht’s für heute, Jungs“, lallte George, während er versuchte, gerade stehen zu bleiben, damit er nicht zu Boden stürzte, wenn seine Schlagseite zu stark wurde. „Ich hau mich in die Falle. Morgen ist auch noch ‘n Tag.“ Er warf einen kurzen Blick auf die große Uhr hinter dem Tresen, deren Ziffernblatt er gerade noch sehen konnte. „Verdammt, morgen ist bald da …“

„Lass gut sein, George“, meinte einer der fünf anderen, die noch am Tisch hockten oder darauf lümmelten. „Setz dich wieder hin und gieß dir noch einen hinter die Binde. Ich geb noch eine Runde aus … als Fluchthilfe.“

„Nichts mehr, Mark. Ich hab genug. Bin voll bis zum Rand. Du musst morgen ja nicht so früh aufstehen wie ich. Die Arbeit im Sägewerk ist auch nicht so ungefährlich, als dass man nicht nüchtern zu sein braucht. Mein Boss ist da ziemlich hart, wie ihr alle wisst. Und ich brauch das Geld. Kann es mir daher auch nicht leisten, blau zu machen, denn der Boss riecht solche Braten meilenweit gegen den Wind.“

„Wem sagst du das?“, nuschelte ein anderer, der seinen Kopf von der Tischplatte hob, auf die er ihn gerade hatte sinken lassen. „Mir hat er vor drei Monaten mit ‘nem Tritt in meinen Hintern den Laufpass gegeben, nur weil ich einmal etwas zu viel getrunken hatte. Dieses verdammte Schwein …“

„Nur einmal, Rufus?“, dehnte George. „Das glaubst du wohl selber nicht. Soweit ich weiß, hat er dir mindestens ein Dutzend Verwarnungen gegeben, die du alle ignoriert hast. Da brauchtest du dich dann nicht mehr zu wundern.“

img5.jpg

Carol Baldwin

„Ja, ja, verteidige ihn nur, deinen Onkel. Du brauchst ja keine Angst zu haben, denn dich schmeißt er bestimmt nicht raus. Wie sagt man so schön: Blut ist dicker als Whisky …“

„Wasser, meinst du wohl“, berichtigte ihn der Barmann, der gerade an den Tisch herantrat, um die letzte Bestellung aufzunehmen.

„Was hast du gesagt?“, fragte Rufus nach, denn er hatte den Einwurf des Wirtes nicht richtig mitbekommen.

„Ich sagte Wasser, Rufus. Es heißt: Blut ist dicker als Wasser. Davon solltest du übrigens auch mal Gebrauch machen, denn daran leidest du bereits unter Mangelerscheinungen.“

Rufus O’Hara starrte den Wirt an, als hätte der ihm gerade eine riesige Obszönität um die Ohren geknallt. „Wasser … soll ich trinken, sagst du? Bist du verrückt? Davon kriegt man ja Läuse im Bauch, und die brauche ich wirklich nicht.“

„Vergiss es, Mann“, sagte der Wirt und grinste ihn an. „Was soll’s denn noch sein, Boys? Ihr wisst, dass dies die letzte Runde ist, denn dann kommt die Ordnungsbehörde vorbei und sperrt euch in die Ausnüchterungszelle und mir den Laden zu, wenn ich die Sperrstunde dauernd überschreite. Also?“

Die fünf Männer gaben ihre Bestellung auf, aber George enthielt sich eisern, als der Wirt ihn anblickte. „Nein, Tom“, sagte er. „Mir reicht’s. Ich sagte es ja schon. Ich geh nach Hause.“

„Das findest du in dem Nebel nie“, grollte Mark, als er wieder einen Blick zum Fenster hinauswarf. „Du bist zu Fuß da. Setz dich wieder her, und ich fahr dich dann nach Hause. Mein Auto hat bessere Augen vorne dran als du, wenn du zu Fuß losgehst.“

„Ist ja nicht so weit. Den Weg finde ich so oder so. Bin ihn schließlich schon x-mal gegangen. Und auch schon des Öfteren im Nebel, wie ihr alle wisst.“

„Pass auf, dass du dann im Nebel nicht dem Gehenkten begegnest, George“, mahnte der Wirt mit einem breiten Grinsen.

img6.jpg

Die schwarze Fledermaus

„Blödsinn.“ George winkte ab. „An so einen Hokuspokus glaub ich nicht, das wisst ihr alle.“

„Vielleicht ist es damit aber diesmal anders. Laut unserer Chronik jährt sich das Ereignis heute Nacht zum neunundneunzigsten Mal. Da hat man Ronan Fitzpatrick aufgeknüpft. Was heißt aufgeknüpft? Gelyncht hat man ihn, weil ihn das Gericht freigesprochen hatte. Ein Vorfahre deiner Familie war der Rädelsführer des Mobs, das weißt du sicher auch. Und dass Erin Mitchell deine und ihre Familie und alle Nachkommen verflucht hat, das weißt du auch. Ronan hat seine Mörder ebenfalls mit einem Todesfluch belegt. Wenn ich mir den Nebel so ansehe da draußen … brrr, ich würde da nicht rausgehen wollen. Schon gar nicht allein.“ Der Wirt schüttelte sich nachdrücklich, wie um seinen Worten mehr Gewicht zu verleihen.

Schlagartig war es still geworden im Raum. Alle sahen Tom Porter, den stämmigen Wirt, mit großen Augen an. Niemand lümmelte mehr an einem Tisch herum. Irgendwie schien es, als sei soeben die große Nüchternheitswelle durch den Raum geschwappt.

„Daran siehst du schon, dass das alles nur Humbug ist, mein Lieber“, ereiferte sich George. „Was steht denn darüber in der Chronik, was seit damals passiert ist? Nichts ist passiert! Absolut nichts! Kein Geist, der zurückgekommen ist, um Leute zu ermorden. Das war bis jetzt sogar eines der ereignislosesten Jahre überhaupt bei uns, seit es diese Stadt gibt. Von wegen Rache aus dem Jenseits. Alles nur Blödsinn. Und ihr glaubt das auch noch! Es ist wirklich nicht zu fassen.“

„Weil er sich Zeit lässt mit seinem Fluch“, ließ sich ein klapperdürres Männchen vernehmen, das an einem der anderen Tische saß und gerade seine Karten verdeckt auf dem Tisch ablegte, wobei ihn seine Mitspieler konsterniert anschauten. „Von daher kann es durchaus sein, dass der Geist des Gehenkten in all den Jahren nichts machen konnte, aber das kann in der heutigen Nacht anders sein. Außerdem gibt es für meinen Geschmack zu viele Unfälle in den beiden Familien. Das muss nichts zu bedeuten haben, aber es könnte …“

George Swintons Gesichtsfarbe wechselte kurzzeitig in ein etwas wächsernes Grau, um gleich darauf in ein tiefes Rot überzugehen. Plötzlich schrie er in den Raum hinein: „Ihr habt ja tatsächlich nicht mehr alle Tassen im Schrank! Jetzt reicht es mir aber wirklich! Diesen Schwachsinn höre ich mir nicht mehr länger an. Dafür ist mir die restliche Nacht zu kurz, und um den Schlaf ist es mir ebenso zu schade, den ich wegen euch noch versäume. Bis morgen dann, meine Herren, und passt auf, dass euch der Geist des Gehenkten nicht in euren Whisky pinkelt. Hahaha! Hahaa …“ Er lachte laut, als er die Tür des Barraumes aufriss und sie hinter sich mit lautem Knall wieder zuschlug.

Drinnen herrschte Totenstille, während das Lachen verhallte.

„Einen letzten Whisky für alle“, sagte da der Wirt und brachte damit wieder Leben in die Stille hinein. „Diese Runde geht aufs Haus!“

 

*

 

George Swintons Rausch schien beinahe verflogen, während er im dichten Nebel nach Hause steuerte. Er konnte wirklich kaum die Hand vor Augen sehen, als er aus dem Lichtkegel heraustrat, den die Lichter von Tom’s Bar noch einige Yards weit geworfen hatten. Aber damit war es nun vorbei.

Kein Mond war zu sehen, kein Stern. Auch sonst gab es kein Licht, das seinen Weg erleuchtet hätte, denn um diese Zeit leuchtete auch keine Straßenlaterne mehr. Auf seinem Nachhauseweg hätte ihm das auch nichts geholfen, denn der führte ihn etwas vom Ort weg durch ein kleines Wäldchen bis zu den nördlich dieser Stelle gelegenen Siedlungshäusern. Dort nannte er ein kleines Haus mit Vorgarten sein Eigen.

Aber auch wenn er praktisch nichts sah, so machte ihm das nicht viel aus, denn er kannte jeden Quadratzentimeter des Weges, den er zu gehen hatte, ganz genau. Wie oft hatte er diesen Weg schon in der Dunkelheit genommen? Hunderte Male gewiss schon … Seit ihm der Sheriff seinen Führerschein abgenommen hatte, weil er wieder einmal einen zu viel über den Durst getrunken hatte, war er stets zu Fuß in Tom’s Bar unterwegs und ging dann meistens spät in der Nacht wiederum zu Fuß nach Hause. Er nahm immer den Weg durch den Wald. So sparte er sich über eine Meile Fußmarsch, denn die Straße führte um den Wald herum, außen den Lakefront Trail entlang. Da nahm er lieber die Abkürzung. Er hatte keine Angst vor dem Wald, da er einfach nicht an Kobolde, Geister und dergleichen glaubte. Auch nicht an den Geist eines vor Jahrzehnten Gehenkten, der einen Fluch ausgestoßen haben soll.

img7.jpg

Inspector McGrath

„Wenn alle Flüche, die von Todeskandidaten ausgesprochen wurden, sich erfüllt hätten, dann gäbe es inzwischen wohl keine Menschen mehr auf dieser Erde“, murmelte er vor sich hin, um wenigstens seine Stimme zu hören. Der dichte Nebel schluckte einfach jedes Geräusch, das er sonst zu hören bekam, da irgendetwas selbst in der dunkelsten Nacht immer zu hören war. In diesem Nebel aber kam er sich vor wie der einzige Mensch auf Erden.

Er hatte sogar eine Taschenlampe dabei, die er auch kurz einschaltete, als er seinem Gefühl nach an der Weggabelung angekommen sein musste, die ihn von der Straße auf den nicht asphaltierten Waldweg führte. Und tatsächlich! Er hatte sich nicht verrechnet, denn er stand genau vor der Weggabelung und hatte seinen linken Fuß bereits in die richtige Richtung gedreht, um ihn auf den etwas schmaleren Kiesweg zu setzen.

George grinste, als er sah, dass er sich auf sein Gefühl und seine Orientierung verlassen konnte. Außerdem blendete ihn der Rückstrahl der Taschenlampe in dem dichten Nebel mehr, als dass er ihm half, etwas zu sehen. Zudem kannte er das knirschende Geräusch des Kiesweges ebenfalls genau, sodass er sogar sagen konnte, wann er von der Mitte des Weges abkam. So würde er kein Problem damit haben, unbeschadet nach Hause zu kommen.

Die kühle Luft und die Feuchtigkeit des Nebels halfen ihm ebenfalls dabei, den Alkoholdunst zumindest vorerst aus seinem Hirn zu pusten. Somit gelang es ihm, nicht zu torkeln, um nicht vom Weg abzukommen und gegen einen Baum zu laufen, was ihm gewiss eine ordentliche Beule bescheren würde. Nur wenige Yards neben der Straße begann schon der Wald. Die Sicht wurde womöglich noch schlechter als zuvor, denn jetzt lief er sozusagen in eine vollkommen finster wirkende Wand hinein, die nicht einmal der Nebel etwas aufhellen konnte. Aber das machte ihm nichts aus.

Ein Viertel seines Heimweges hatte er bereits geschafft, und der Rest würde auch kein Problem für ihn darstellen.

„Morgen könnt ihr Lackaffen euch an eure eigenen Nasen packen wegen dem ganzen Blödsinn, den ihr abergläubischen Idioten da verzapft habt“, knurrte er wieder halblaut vor sich hin, während sich seine Augen etwas besser an die Finsternis zwischen den Baumstämmen gewöhnten, wodurch er doch ein ganz klein wenig von ihnen als diffuse Schatten wahrnehmen konnte. „Man soll es nicht glauben, dass ausgewachsene Männer einen solchen Mist von sich geben können, von wegen Geister und …“

Da knackte nicht weit links von ihm ein trockener Ast am Boden. Das Geräusch klang in der Stille rings um ihn herum wie ein Gewehrschuss. Unwillkürlich zuckte er zusammen, schalt sich aber im gleichen Moment einen Narren, denn das konnte doch nur irgendein Tier sein, das er aufgeschreckt hatte. Ein Problem könnte nur ein Bär darstellen, aber die gab es schon lange nicht mehr in dieser Gegend. Nein, das war eher ein Hirsch gewesen oder ein ähnliches Tier, und die flüchteten im Allgemeinen vor den Menschen, weil sie deren Geruch nicht mochten.

Aber wenn ein Tier flüchten würde, dann müsste ich zumindest ein paar Geräusche mehr zu Ohren bekommen, sagte er sich in Gedanken. Es war jedoch nichts weiter zu hören.

Ob da ein Mensch lauerte? Auf ihn? Blödsinn, er hatte nichts, was ihn interessant für einen Straßendieb machte, denn sein sauer verdientes Geld legte er stets in sicherem Alkohol an. Den konnte man ihm nicht mehr wegnehmen. Und das Haus würde er nicht verlieren, denn dafür sorgte sein Onkel, dem es praktisch auch gehörte, weil der auch alle sonstigen Kreditraten übernahm. Das wussten aber nur ganz wenige Leute in der Stadt, und die schwiegen darüber, damit sie keine Probleme mit seinem mächtigen Onkel bekamen.

Schon wollte er kurz stehen bleiben und genauer hinhören, ob er nicht doch Geräusche eines flüchtenden Tieres hörte, wenn er selbst stillstand, da vernahm er abermals ein Geräusch, diesmal aber vor sich. Ein eigenartiges Reiben an einem Ast und ein leises Sausen in der Luft.

Bevor er noch darüber nachdenken konnte, um was für ein Geräusch es sich da handeln könnte, klatschte etwas Raues gegen seine Gesichtshaut, streifte seine Wangen entlang – und dann spannte es sich um seinen Hals! Er fühlte ein leicht brennendes Kratzen auf der Haut, gleich darauf einen starken Ruck – und er wusste, um was es sich dabei handelte, obwohl er niemals zuvor mit so etwas in Berührung gekommen war.

Eine Henkersschlinge war um seinen Hals zugezogen worden!

img8.jpg

Silk Kirby

Panik packte ihn mit einem Mal und lähmte kurzzeitig seine Glieder. Sein Gehirn weigerte sich einfach, das Geschehen als wahr anzuerkennen. So verlor er wertvolle Sekunden, in denen er vielleicht das Ruder noch hätte herumreißen können.

Kurz danach stieß er einen Schrei aus und wollte mit seinen Händen nach der Schlinge greifen, um sich diese von seinem Hals zu zerren, bevor ihm Schlimmeres zustoßen konnte. Da spürte er, wie von eiskalten Händen seine eigenen nach hinten gerissen wurden und sich Sekunden später ein zweites raues, aber dünneres Seil um sie schlang und verknotet wurde. Er riss daran, doch er bekam seine Hände nicht mehr frei. Der Knoten saß fest.

Da löste sich seine Erstarrung endgültig, und ein fast tierisch klingender Schrei kam aus seiner Kehle, der aber von dem dichten Nebel gleich wieder verschluckt wurde. Durch die Bewegung seines Kopfes und seines Mundes, den er weit aufgerissen hatte, und das Anspannen seiner Halsmuskeln und des Adamsapfels scheuerte der raue Hanfstrick an seiner Haut. George Swinton spürte, wie diese an einigen Stellen aufriss und Blut daraus hervortrat. Gleichzeitig begann seine Haut an diesen Stellen zu brennen.

„Wa… was soll das denn?“, rief er dennoch in die Finsternis hinein. „Was wird hier gespielt? Lasst diese blöden Scherze, ihr Hunde, oder ich breche euch morgen eure dreckigen Hälse!“

Natürlich, so musste es sein! Die verdammten Kerle wollten ihm einen Schrecken einjagen. Irgendwie war es ihnen gelungen, ihn zu überholen und ihm hier eine Falle zu stellen, damit er sich ordentlich in die Hosen machte und sie ihren Spaß daran hatten. Denen würde er es geben, das schwor er sich in diesem Moment.

Da stellte er zu seinem Erschrecken fest, dass das einfach nicht stimmen konnte. Es war niemand aus Tom’s Bar gekommen. Kein Auto war an ihm vorbeigefahren, und so konnte auch niemand von den anderen ihm hier auflauern. Er hätte ein solches Fahrzeug jedenfalls unter Garantie wahrgenommen, auch wenn der Nebel die meisten Geräusche verschluckte.

Wer war es dann? Was wurde hier gespielt? Wer erlaubte sich einen solch makabren Scherz mit ihm?

„Was willst du von mir?“, rief er wieder in die Finsternis hinein. „Was wollt ihr von mir?“, setzte er nach, da er nicht glauben konnte, dass dies alles von einem einzelnen Menschen durchgeführt wurde. „Was habe ich euch getan? Hört auf mit dem Blödsinn. Es ist genug. Lasst es gut sein, sage ich euch.“

„Was du getan hast, willst du wissen?“, drang da eine Stimme an seine Ohren, die aus einem Grab zu kommen schien, so hohl und tief klang sie. Irgendwie schien sie nicht von dieser Welt zu sein. „Was ich von dir will? Das werde ich dir sagen, George Swinton. Dein Leben will ich von dir. Ab heute beginnt meine Rache an euch Mördern, die ihr mein Leben beendet habt, obwohl ich unschuldig war. Dafür werdet ihr büßen. Die gesamten Clans der Mitchells und Kennedys werden dafür büßen, wie ich es euch in meinem Fluch prophezeit habe!“

Swinton keuchte überrascht auf und erschrak beinahe zu Tode, als plötzlich vor ihm eine Gestalt hell aufleuchtete, die seltsam weiß und grau wirkte. Ihre Form wirkte nicht kompakt, wie dies bei einem Menschen der Fall sein musste, sondern waberte in der sie umgebenden Finsternis. Es war ein grässlich anzusehendes Gesicht, das da auf ihn zu schwebte, denn er vernahm keine Schritte, kein Knirschen oder Rascheln vom Boden her.

„Wenn du die Sache von damals meinst, dann können wir nichts dafür. Keiner von denen, die das damals taten, lebt mehr. Warum willst du uns dafür verantwortlich machen?“

Jetzt schnappe ich über!, zuckte es durch sein Hirn. Ich glaube beinahe selbst schon an diese Geschichte mit dem Fluch. Das ist doch nicht zu fassen!

„Das ist egal, Swinton“, erscholl wieder diese grauenhafte Stimme. „Ich schwor ihnen damals, dass ich auch ihre Nachkommen vernichten würde, und meine geliebte Frau Erin hat diesen Schwur an unsere Nachkommen weitergegeben. Ihr werdet nun für die Tat eurer Urgroßväter büßen. Es gibt für euch alle kein Entrinnen mehr.“

George wollte weglaufen, aber der jähe Schmerz des Strickes um seinen Hals erinnerte ihn daran, dass er nicht fliehen konnte.

Nun wurde der Strick noch fester zu- und gleichzeitig hochgezogen, sodass er auf den Zehenspitzen stehen musste, wollte er nicht gewürgt werden. Die Schlinge spannte jetzt straff und saß fest und ohne Zwischenraum um seinen Hals. Sobald er nicht mehr stehen konnte, würde er sich selbst umbringen.

Wieder wollte er schreien, diesmal um Hilfe, aber nur ein krächzendes Keuchen kam aus seiner Kehle. Trotz der Kälte der herbstlichen Nacht und des feuchten Nebels fühlte er, wie ihm der Schweiß ausbrach. Angstschweiß, der ihm die Feuchtigkeit aus allen Poren trieb. Sein Herz begann zu rasen, das Blut rauschte wie ein Wasserfall in seinen Ohren und pochte schmerzhaft in seinem Kopf. Leichte Atemnot stellte sich ein, und er sog schnaufend die lebensnotwendige Luft über Mund und Nase ein.

Ihm wurde klar, dass dies alles hier kein Spiel war, kein böswilliger Schabernack, den seine Saufkumpane mit ihm veranstalteten. Das hier schien echt zu sein, wenn auch seine Vernunft ihm einzuhämmern versuchte, dass es einfach keine Geister gab.

„Nein …!“, kreischte Swinton. Es war ihm egal, dass seine Haut am Hals vollends aufplatzte, das Blut warm daran hinunterlief und ihn sogar dabei kitzelte. Er wollte nicht sterben! Wozu und warum? Er glaubte nicht an diesen komischen Fluch, aber konnte er andererseits die Tatsache der Geistererscheinung vor seinem Gesicht und diese Grabesstimme verleugnen? Was wurde da gespielt?

Wieder tauchte das hell leuchtende Gesicht vor seinen Augen auf, und diesmal sah er noch mehr Details. Ein eisiger Schreck durchfuhr ihn und raste durch alle Adern, ließ das Blut, das heiß in ihm floss, jäh gefrieren. Er sah jetzt ganz deutlich den verwüsteten Hals, den schief geneigten Kopf nach dem Bruch der Halswirbel, die heraushängende Zunge aus dem weit aufgerissenen Mund, die hervorquellenden Augen, in denen die Todesangst eingebrannt zu sein schien. Das Gesicht kam ganz dicht auf ihn zu – und war plötzlich verschwunden!

Dafür spürte er einen unheimlichen Ruck an seinem Hals, fühlte, wie seine Zehenspitzen den Bodenkontakt verloren, merkte, wie seine Füße in der Luft herumruderten, um irgendwo festen Stand zu erreichen, aber keinen mehr fanden.

Es ging rasch nach oben, und der Strick um seinen Hals grub sich immer fester und enger in diesen hinein. Plötzlich stoppte die Aufwärtsbewegung, und einen Sekundenbruchteil schien er in der Luft zu schweben. Dann sauste er auch schon wieder hinunter, aber nur kurz. Mit einem fürchterlich schmerzenden Reißen an der Haut seines Halses zog sich die Schlinge jäh zusammen. Er vernahm ein trockenes Knacken in seinem Genick – und dann nichts mehr.

 

*

 

„Guten Morgen, Betty.“ District Attorney Tony Quinn, der blinde Staatsanwalt, betrat mit dem weißen Stock das Vorzimmer zu seinem Büro, dicht gefolgt von Norton Kirby, seinem persönlichen Assistenten, der nicht nur von Freunden zumeist nur Silk genannt wurde.

„Guten Morgen, Sir – Mister Kirby.“