Grundrechte-Report 2015
Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland
Till Müller-Heidelberg / Elke Steven / Marei Pelzer / Martin Heiming / Heiner Fechner / Rolf Gössner / Holger Niehaus und Martin Stößel (Hg.)
FISCHER E-Books
Ein Projekt der Humanistischen Union, des Komitees für Grundrechte und Demokratie, des Bundesarbeitskreises Kritischer Juragruppen, von PRO ASYL, des Republikanischen Anwältinnenund Anwältevereins, der Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen, der Internationalen Liga für Menschenrechte und der Neuen Richtervereinigung
Erschienen bei FISCHER E-Books
Covergestaltung: Farnschläder und Mahlstedt, Hamburg
Coverbbildung: Paul Zinken / dpa / Picture-Alliance
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-403397-6
Vorwort der Herausgeber
Zum Ende des Jahres 2014 breiteten sich die von Dresden ausgehenden islamfeindlichen Demonstrationen aus. Ausländerfeindlichkeit soll salonfähig gemacht werden. Das geistig-politische Klima begünstigt die rassistischen Ressentiments. Das geltende Asyl- und Ausländerrecht, über das dieser Grundrechte-Report berichtet, birgt strukturelle und institutionelle Ausländerfeindlichkeit in sich und stärkt damit die Positionen der Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes (PEGIDA). Die Abwehr von Migrantinnen und Migranten ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Allerdings gibt es in dieser Mitte zugleich eine verbreitete Unterstützung von Flüchtlingen.
Begonnen hat diese rechtlich gestärkte Abwehr von Flüchtenden 1993 mit der Abschaffung des Grundrechts auf Asyl. Darauf wies der Schriftsteller und Orientalist Navid Kermani in der Feierstunde zum 65-jährigen Geburtstag des Grundgesetzes hin. »Ein wundervoll bündiger Satz« geriet zu einer »monströsen Verordnung«. Im Jahr 2014 folgte statt der erhofften Reinigung von diesem »hässlichen, herzlosen Fleck« die Asylrechtsverschärfung, die sich vor allem gegen Roma richtete. Serbien, Mazedonien und Bosnien und Herzegowina wurden zu sicheren Herkunftsstaaten, die rassistischen Vorbehalte in der Gesellschaft bestärkt.
Im Grundrechte-Report können wir uns fast nie positiv auf die Gesetzgebung beziehen, sondern allenfalls auf die Rechtsprechung, auf die des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), zunehmend auf die europäische Rechtsprechung. So urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass die Vorratsdatenspeicherung nichtig sei. Und auch das Recht auf inklusive Bildung verdanken wir der UN-Behindertenrechtskonvention, nicht der Einsicht der deutschen Regierungen oder der Rechtsprechung des BVerfG. Erst der Europäische Gerichtshof (EuGH) beendete auch die rechtswidrige Abschiebehaft in gewöhnlichen Gefängnissen. Doch immer wieder bleibt die Aussicht getrübt. Schon liegt ein Referentenentwurf des Innenministeriums vor, der vor allem dazu taugt, die Inhaftierungen nur neu und rechtlich besser abzusichern.
Auch »Erfolge« vor dem BVerfG führen häufig genug zu erneuten Versuchen des Gesetzgebers, die Grundrechte rechtswidrig einzuschränken. Nur Einzelregelungen des Antiterror-Gesetzes befand das BVerfG 2013 für beanstandenswert. Der Gesetzgeber behebt zwar die Mängel, weitet dabei gleichzeitig jedoch die Nutzbarkeit der Daten noch aus.
Wenn dieses Buch erscheint, geht der Prozess gegen den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) ins dritte Jahr. Die Verflochtenheit des Verfassungsschutzes in diese Vorgänge ist offensichtlich. Aber er geht daraus noch immer nicht geschwächt hervor. Alle Reformbemühungen sollen allenfalls die Öffentlichkeit täuschen. Der Geheimdienst ist und bleibt ideologisch geprägt, intransparent und unkontrollierbar. Auch bezüglich der Fehler bei der Aufdeckung des NSU-Komplexes werden systematisch die falschen Konsequenzen gezogen. Institutioneller Rassismus, nationalistische und rassistische Orientierungen und Vorurteile in der Polizei gelte es aufzudecken – so tönte es. Stattdessen wird Symbolpolitik betrieben. Richtigerweise wurde aber auch ein rassistischer Polizeianwärter in Aachen aus dem Dienst entlassen.
Zunehmend gelingt es, im Grundrechte-Report die Verletzung der sozialen Menschenrechte anschaulich zu machen. Dabei wird deutlich, wie sehr die Rechtsprechung einer grundrechtlichen Interpretation von Ansprüchen hinterherhinkt. Einer im Pflegeheim lebenden Frau werden die Möglichkeiten einer neuen, notwendigen Zahnprothese finanziell verweigert. Sozialhilfe wurde Flüchtlingen rechtswidrig reduziert – eine Nachzahlung dieser rechtswidrig einbehaltenen Leistungen verwehrt.
Der Bericht über die Verfassungswirklichkeit gerät jedes Jahr zur Klage über die Ignoranz staatlicher Behörden und politischer Entscheidungsträger gegenüber den garantierten Grund- und Menschenrechten und gegenüber demokratischen Grunderfordernissen. Die Morde in der Redaktion von Charlie Hebdo in Paris im Januar 2015 lassen schon ahnen, dass nach der kurzen Phase der politischen Bekräftigung der Freiheitsrechte die Stunde der Architekten der inneren Sicherheit schlägt. Über erneute Versuche der Einschränkung der Freiheitsrechte und der Überwachung aller Bürger wird im nächsten Report zu berichten sein.
Demokratie braucht wache und aktive Bürgerinnen und Bürger und keine Gesinnungsprüfungen und Verrufserklärungen durch den undemokratischen Verfassungsschutz. Um die Bürgerinnen und Bürger dabei zu unterstützen und ihnen Mut zu machen, liefert der Grundrechte-Report vielfältige Hintergrundinformationen und Einzelfallbeispiele.
Art. 2 (1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.
Johannes Caspar
Das EuGH-Urteil zur Google-Suchmaschine und seine Folgen
Das Maschinengedächtnis des digitalen Zeitalters erscheint aus der Perspektive der Betroffenen oft unerbittlich. Auf dem Weg zum Zugang zu einzelnen Informationen sind Suchmaschinen die Türöffner, die den gesamten Inhalt des Netzes systematisch durchsuchen und nach Eingabe der Suchbegriffe konkrete Ergebnislisten präsentieren. Mit Hilfe von Suchmaschinen lassen sich alle öffentlich zugänglichen Inhalte, die mit dem Namen einer Person verknüpft sind, zu jeder Zeit, an jedem Ort, von jedem Nutzer abrufen.
Anders als in den papierenen Archiven bzw. Bibliotheken des analogen Zeitalters gestaltet sich die Suche im Internet dank der Suchmaschinen nicht mehr als abgegrenzte Recherche in öffentlich getrennten Räumen, sondern als global nutzbare, ubiquitäre Informationsmöglichkeit, die weder an Öffnungszeiten von Einrichtungen noch an Präsenzpflichten von Publikationen gebunden ist. Dem unbestreitbaren Vorteil der Zeitersparnis und Verfügbarkeit stehen hier gleichwohl massive Risiken für das informationelle Selbstbestimmungsrecht gegenüber. Soweit Suchmaschinen für Personensuchen genutzt werden können, ist es mit ihnen möglich, durch Namenseingaben sekundenschnell Profile von Menschen zu erstellen. Dabei ist grundsätzlich alles, was an Informationen über das Individuum im Internet öffentlich zugänglich existiert, durch das digitale Filtern von Suchmaschinen gebündelt auffind- und auswertbar.
Das Fehlen der menschlichen Schwäche des Vergessens bei der Personensuche im Internet hat tiefgreifende Auswirkungen auf das Leben des Einzelnen in der Gesellschaft. Zunächst betrifft dies die soziale Bewertung von Individuen anhand der gefundenen Ergebnisse, die zumeist auf Informationen Dritter beruht und oft einem direkten Kennenlernen vorausgeht. Das veränderte Verhältnis von Privatheit und Information wirkt sich auch auf die gesellschaftliche Grundstruktur aus. Eine Gesellschaft, die nichts vergisst, verhärtet gegenüber den Fehlleistungen ihrer Individuen, sie wird zur Beanstandungsgemeinschaft; alle können alles über den anderen wissen, alles, was jemals getan oder nicht getan wird, ist individuell vorwerfbar.
Die digitale Profilbildung über Suchmaschinen eröffnet für den Einzelnen die Gefahr einer lebenslangen Stigmatisierung mit dem Potential massiver sozialer und ökonomischer Nachteile. Die dauerhafte Verfügbarkeit von Informationen über den Einzelnen hält in Erinnerung, was der Betroffene am liebsten im Nebel der Vergessenheit verschwinden lassen würde: eine strafrechtliche Verurteilung, die Einleitung von staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren, die individuelle finanzielle Situation, das Verbreiten peinlicher Begebenheiten, unbedachte Äußerungen des Betroffenen selbst bis hin zu abwertenden Urteilen oder Tatsachenbehauptungen Dritter.
Solange es Betroffenen nicht gelingt, ihren Anspruch auf Löschung gegenüber einem Inhalteanbieter, etwa digitalen Archiven, Chatplattformen oder Blogs, durchzusetzen, ist die dort zugängliche Information lebenslanger Begleiter bei der Arbeits- oder Wohnungssuche, der Partnerwahl, dem Abschluss von Miet- und Kreditverträgen oder einfach nur bei der Suche nach sozialen Kontakten.
Häufig scheitert die Durchsetzung von Löschansprüchen gegenüber dem Urheber einer Information, z.B. wenn der Inhalteanbieter sich auf sein Veröffentlichungsrecht beruft, faktisch nicht zu ermitteln ist oder eine Durchsetzung der Rechte einen erheblichen Aufwand erfordert. Eine Übermittlung der Informationen über die Suchmaschinen konnte in der Vergangenheit mangels einer datenschutzrechtlich anerkannten Verantwortung der Betreiber von Suchmaschinen nicht unterbunden werden, so dass der Betroffene die Verbindung mit Einträgen im Netz hinnehmen musste.
In seinem Urteil zu »Google Spain« vom 13. Mai 2014 hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) nunmehr Rechtsgeschichte geschrieben, indem er die Profilbildung durch Suchmaschinen begrenzt und einer Kapitalisierung von Daten durch Suchmaschinen das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gegenüberstellt. Das Urteil setzt damit die Linie der richtungsweisenden Entscheidungen für den Datenschutz fort, die der EuGH bereits mit dem Urteil zur Vorratsdatenspeicherung sowie in verschiedenen Urteilen zur Stärkung der Unabhängigkeit der Datenschutzbeauftragten gezogen hat.
Zunächst unterwirft das Urteil die Suchmaschinenbetreiber, die in erster Linie zu ökonomischen Zwecken das Internet indexieren und auf Suchanfragen über Schlüsselwörter je nach Relevanz zugeordnete Trefferlisten auswerfen, fortan als verantwortliche Stellen den Regelungen der Datenschutzrichtlinie. Das ist neu und mutig. Die Betreiber von Suchmaschinen haben unmittelbar nichts mit dem Inhalt, auf den sie verweisen, zu tun. Ihre meist auf die Erzielung von Werbeeinnahmen gerichtete Tätigkeit ist aber sehr wohl ursächlich für die erleichterte Profilbildung und stellt ein erhebliches Risiko für das Persönlichkeitsrecht Betroffener dar. Wenn Suchmaschinenbetreiber die Daten Betroffener für die eigenen Geschäfte nutzen, müssen sie diesen gegenüber eine datenschutzrechtliche Verantwortung übernehmen. Betroffene sind daher nicht länger darauf verwiesen, sich an die Inhalteanbieter zu wenden, sondern können direkt Ansprüche auch gegen Suchmaschinenbetreiber richten.
Der EuGH konstruiert die Rechte von Betroffenen gegenüber Suchmaschinenbetreibern dabei in einer anderen Weise als im Rechtsverhältnis zwischen den Anbietern von Inhalten und den Betroffenen. Während Anbietern von Inhalten grundrechtlich durch die Medien- oder zumindest durch die Meinungsfreiheit häufig Rechtsansprüche zur Seite stehen, unterliegen Suchmaschinen als Intermediäre, die selbst keine eigenen Inhalte erzeugen, sondern diese nur aufbereiten, weitergehenden Einschränkungen gegenüber Betroffenen. Wer sich daher gegen einen Link zu seiner Person wendet, muss nicht darlegen, dass das Ergebnis der Suche auf falsche oder ehrverletzende Inhalte verweist. Es reicht vielmehr aus, dass der Link ihn in seinem Persönlichkeitsrecht beeinträchtigt und dass das Persönlichkeitsrecht in der Abwägung mit dem Interesse auf öffentlichen Informationszugang den Vorrang genießt.
Das Abwägungserfordernis zwischen Informationsinteresse der Öffentlichkeit und dem informationellen Selbstbestimmungsrecht des Betroffenen, das der EuGH seinem Urteil zugrunde legt, bedarf weiterer Konkretisierung. Für die praktische Umsetzung sind dabei folgende Kriterien zu berücksichtigen: die Stellung des Betroffenen im öffentlichen Leben und damit die Bedeutung des Informationszugangsinteresses der Allgemeinheit, die Schwere des Eingriffs in das informationelle Selbstbestimmungsrecht, insbesondere der Zeitablauf, der seit Veröffentlichung des verlinkten Inhalts eingetreten ist, bestehende gesetzliche Vorbewertungen der Löschung von Inhalten oder die Minderjährigkeit des Betroffenen, auf den sich der Eintrag bezieht.
Die Mannigfaltigkeit der Fallgestaltungen des täglichen Lebens lässt sich daher nur nach Maßgabe von verschiedenen Abwägungsregeln lösen, da eine grundlegende Rechtsgüterkollision zwischen öffentlichem Informationsinteresse, ökonomischem Interesse der Suchmaschinenbetreiber auf der einen sowie den Betroffenenrechten des Datenschutzes auf der anderen Seite besteht: Je länger eine Information bezüglich eines Betroffenen zurückliegt, desto höher ist dessen Anspruch auf Löschung aus den Ergebnissen der Suchmaschine; je stärker eine Information die Stellung des Betroffenen im öffentlichen Leben zum Gegenstand hat, desto höher geht das öffentliche Interesse am Informationszugang in die Abwägung ein. Löschungsansprüche, die im positiven Recht verankert sind, wie etwa Löschpflichten im Bundeszentralregistergesetz, können bei einer Abwägung gegenüber dem Suchmaschinenbetreiber entsprechend Anwendung finden. Bei Informationen, die jemand als Minderjähriger verbreitet hat oder die über ihn verbreitet wurden, geht das informationelle Selbstbestimmungsrecht dem öffentlichen Informationszugangsrecht grundsätzlich vor.
Verfahrenstechnisch trifft die Suchmaschinenbetreiber die Verpflichtung, Eingaben Betroffener auf Löschung von Links entgegenzunehmen, zu überprüfen und abzuhelfen. Gegen Ablehnungen durch die verantwortlichen Stellen können sich Betroffene gerichtlich zur Wehr setzen, aber auch die jeweils zuständige Aufsichtsbehörde für den Datenschutz anrufen, die dann den Fall eigenständig überprüft und gegebenenfalls ein Verwaltungsverfahren gegen den Suchmaschinenbetreiber einleitet. Letztere Möglichkeit hilft insbesondere den Betroffenen zur kostenlosen und effizienten Rechtsverfolgung und ist direkt im EU-Datenschutzrecht angelegt.
Aus der Befürchtung heraus, dass die Entscheidung über die Löschung von Links den Suchmaschinenbetreibern nicht überlassen bleiben dürfe, da anderenfalls das Anliegen der Informationsfreiheit Schaden nehmen könne, wurde die Schaffung eines alternativen Streitschlichtungsverfahrens in die politische Diskussion gebracht, bei dem die Entscheidung über die Löschung auf eine neutrale Instanz verlagert wird. Gegen ein freiwilliges Durchlaufen eines solchen Schlichtungsverfahrens ist nichts einzuwenden, solange die Betroffenen ihre Rechte auch durch Einschaltung der unabhängigen Datenschutzbehörden geltend machen können. Das Recht der Beschwerde muss jedem Betroffenen daher nach wie vor offenstehen. Im Übrigen ist daran zu erinnern, dass nach dem europäischen Datenschutzrecht die verantwortliche Stelle über die Beschwerden Betroffener zu entscheiden hat.
Der Rechtsspruch des EuGH ist nicht nur mit Begeisterung aufgenommen worden. Der in Deutschland mit über 90 Prozent Marktanteil beherrschende Suchmaschinenanbieter Google hat die Entscheidung kritisch kommentiert und einen Beirat ins Leben gerufen, der sich mit dem Urteil und seinen Folgen vor allem unter dem Aspekt der Informationsfreiheit auseinandersetzen soll. Google setzt sich in der Debatte dabei als Sachwalter der Transparenz, der freien Meinung und insbesondere der Medienfreiheit in Szene.
So rechtfertigt Google die Weitergabe von Informationen an Webseitenbetreiber über die Löschung von Links in der Suchmaschine, die Inhalteanbieter – jedenfalls soweit sie Google-Produkte (insbesondere Google Webmaster-Tools) nutzen – erlangen. Datenschutzrechtlich wird die regelmäßige Weitergabe von Daten seitens der europäischen Datenschutzaufsichtsbehörden als unzulässig angesehen, da es sich hierbei zumeist um personenbezogene oder jedenfalls personenbeziehbare Informationen handelt, für deren Übermittlung an Dritte eine Rechtsgrundlage nicht besteht. Schließlich ist es für den Inhalteanbieter häufig leicht zu erkennen, auf welche Person die Löschung des Links zurückgeht.
Kritische Stimmen – nicht nur bei den Suchmaschinenbetreibern selbst – sehen das EuGH-Urteil als Wegbereiter für Zensur und Einschränkung der Medien- und Meinungsfreiheit. Um die Beschränkungen der Meinungsfreiheit sichtbar zu machen, werden mitunter die gelöschten Links auf eigens hierfür erstellten Websites dokumentiert. Im Ergebnis führt dies jedoch zur Stigmatisierung von Personen, die sich auf das Urteil berufen und ihre Rechte gegenüber den Suchmaschinenbetreibern geltend machen. Durch Verbreitung der Information über Löschungen werden die Personen erst recht in die Öffentlichkeit gezogen. Das führt zu Einschüchterungseffekten und erschwert den Betroffenen die Entscheidung, sich gegen sie belastende Links zu wenden.
Die Kritik ist überzogen. Das Urteil bezieht sich gerade nicht auf Inhalte von Anbietern und damit auf die von diesen geäußerten Meinungen, sondern nur auf Links mit den Namen des Betroffenen. So kann zwar verhindert werden, dass bei Eingabe des Namens des Täters einer Steuerhinterziehung in die Suchmaschine eine Verlinkung auf einen entsprechenden Artikel stattfindet. Der Artikel selbst wird jedoch nicht verändert und ist über die Suchmaschine auch weiterhin auffindbar. Insbesondere verweisen alle anderen Suchbegriffe bzw. Suchkombinationen (Steuerhinterziehung, Täter, Strafe etc.) weiterhin auf die Publikation, in der der Name des Betroffenen enthalten bleibt.
Der Widerspruch des Betroffenen gegen die Verlinkung durch Suchmaschinen bietet daher einen durchaus eng geschnittenen Persönlichkeitsschutz. Er besteht darin, dass Informationen über Personen weiterhin unverändert bestehen bleiben, eine Auffindung dieser Informationen durch Eingabe ihrer Namen in eine Suchmaschine allerdings im begründeten Einzelfall beschränkt werden kann. Mit Blick auf häufig über einen unbegrenzten Zeitraum hinweg auffindbare Informationen über Betroffene, die für diese mit erheblichen Einbußen an Lebenschancen verbunden sein können, stellt das Urteil einen angemessenen Ausgleich zwischen Informationszugangsmöglichkeit der Öffentlichkeit und Schutz der Privatsphäre dar. Niemand hat ein Recht, alles über den Einzelnen zu wissen. Die Meinungs- und Informationsfreiheit findet ihre Schranken auch in dem Recht des Einzelnen, grundsätzlich über die Verwendung der eigenen Daten selbst zu bestimmen.
Eine wirksame Umsetzung des Urteils ist allerdings davon abhängig, dass die Unterdrückung von Links nicht nur auf regionale Domains der Suchmaschinenbetreiber beschränkt bleibt. Die Dienste im Internet sind weltweit abrufbar. Das gilt gerade auch für Suchmaschinen. Suchmaschinenbetreiber müssen daher grundsätzlich dafür Sorge tragen, dass das Recht auf Löschung nicht nur in ihren europäischen Domains, sondern global umgesetzt wird. Das Vorgehen von Google, das Urteil zwar auf die europäischen Angebote der Suchmaschine (etwa google.de, google.fr), nicht aber auf google.com zu beziehen, unterläuft die Ausrichtung auf einen umfassenden Rechtsschutz Betroffener. Damit ist es weiterhin für jeden ohne große Anstrengung möglich, die vom Betroffenen zu Recht beanstandeten Links aufzurufen, indem einfach die US-Ausgabe der Suchmaschine genutzt wird. Hier besteht eine erhebliche Rechtsschutzlücke. Google ist ein weltweit operierender Konzern, der erkennen muss, dass die rechtliche Verantwortung gerade nicht an den Ländergrenzen endet.
Abgesehen von den angesprochenen Umsetzungsdefiziten, die es noch zu beseitigen gilt, stärkt das Urteil des EuGH nachhaltig die Betroffenenrechte im Internet. Auch wenn das Urteil ein Recht auf Vergessen im eigentlichen Sinne nicht enthält, so gibt es den Betroffenen doch einen Schutz vor vollständiger Profilbildung durch Suchmaschinen. Es ermöglicht, sich von einem digitalen Schatten zu trennen, der allein durch Eingabe des Personenamens für alle sichtbar wird und der das Leben des Einzelnen massiv beeinflussen kann.
Es ist den technischen Standards der digitalen Gesellschaft immanent, dass verknüpfte Informationen zu Personen über das Internet notwendig auch der Allgemeinheit zur Verfügung stehen. Dies ist aber kein unabänderliches Schicksal. Zwar wirkt die digitale Technologie in hohem Maße auch auf unser Verständnis von Persönlichkeitsrechten und Privatsphäre ein. Gleichzeitig müssen sich technische Veränderungen aber auch den rechtsethisch vorgeprägten Werteordnungen eines Rechtssystems anpassen. Der vorgeblich neutrale Algorithmus von Suchmaschinen macht hier keine Ausnahme. Auch er unterliegt den kulturellen Bedingungen einer menschlichen Gesellschaft und muss den menschlichen Rechtsvorstellungen folgen.
In einer Welt, in der alle veröffentlichten Informationen über ein Individuum unbegrenzt lang zu jeder Zeit an jedem Ort verknüpft und abgerufen werden können, ist ein Korrektiv im Sinne eines Rechts des Einzelnen erforderlich, der Herausgabe von Informationen durch das Maschinengedächtnis von Suchdiensten grundsätzlich zu widersprechen. Die Gnade des Vergessens, im analogen Zeitalter dem menschlichen Dasein untrennbar verbunden, wird nun auf der Ebene eines Grundrechtsanspruchs partiell wiederhergestellt: Die Betroffenen haben es künftig in der Hand, sich selbstbestimmt vor einer unbeschränkten digitalen Fremdbestimmung durch Profilbildung im Internet zu schützen.
Arning, Marian/Moos, Flemming/Schefzig, Jens, Vergiss(,) Europa! Ein Kommentar zu EuGH, Urt. v. 13.5.2014 – Rs. C-131/12 – Google/Mario Costeja Gonzalez, in: CR 7/2014, S. 447ff.
Caspar, Johannes, Besprechung des EuGH-Urteils vom 13. Mai 2014 in dem Verfahren C-131/12, in: PinG (»Privacy in Germany«) 4/2014, S. 133ff.
Karg, Moritz/Kühn, Ulrich, Umsetzung der EuGH-Entscheidung zur Löschung von Google-Suchergebnissen durch den Hamburgischen Datenschutzbeauftragten, in: ZD 2/2015, S. 61ff.
Thilo Weichert
Mit einem Paukenschlag erklärte der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg durch ein Urteil vom 8. April 2014 die Richtlinie über die Vorratsspeicherung von Verkehrsdaten der Telekommunikation (TK) wegen eines Verstoßes gegen europäische Grundrechte für nichtig.
Damit wurde eine durch die terroristischen Anschläge am 11. September 2001 ausgelöste Diskussion vorläufig beendet. Bei der Suche nach neuen Ermittlungsmaßnahmen gegen den Terrorismus forderte der damalige deutsche Bundesinnenminister Otto Schily im Einklang mit Polizei und Geheimdiensten die umfassende Speicherung der TK-Verkehrsdaten der gesamten Bevölkerung, um frühzeitig schwere Verbrechen erkennen und bekämpfen zu können. Nachdem absehbar war, dass diese Forderung auf nationaler Ebene nicht durchzusetzen ist, versuchte er dies – erfolgreich – auf europäischer Ebene.
Im Jahr 2006 trat die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung in Kraft, welche die Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) verpflichtete, die Anbieter von TK-Diensten zu veranlassen, Verkehrsdaten flächendeckend für einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten und maximal zwei Jahren auf Vorrat zu speichern zur »Gewährleistung, dass diese Daten zum Zwecke der Ermittlung, Feststellung und Verfolgung von schweren Straftaten, wie sie von jedem Mitgliedstaat in seinem nationalen Recht bestimmt werden, zur Verfügung stehen«. Die näheren Umstände und die Nutzung der Daten sollten national geregelt werden.
Von Anfang an stieß die Richtlinie in vielen Staaten der EU auf Widerstand. Es wurde vorgebracht, sie sei kompetenzwidrig und unvereinbar mit den europäischen Grundrechten sowie dem Artikel 10 GG, der das Telekommunikationsgeheimnis gewährleistet. Dessen ungeachtet bestätigte der EuGH in einem Urteil vom 10. Februar 2009, dass die Richtlinie auf einer zutreffenden Rechtsgrundlage erlassen worden sei, überprüfte aber die Grundrechtskonformität der Regelung nicht.
Trotz massiver öffentlicher Kritik trat in Deutschland am 1. Januar 2008 das »Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen sowie zur Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG« in Kraft. Fast 35000 Menschen, eine bis dahin nicht erreichte Zahl, erhoben daraufhin gegen dieses Gesetz Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in Karlsruhe. In einem Beschluss vom 11. März 2008 schränkte das BVerfG die vorgesehene Übermittlung der TK-Vorratsdaten wegen Eingriffen in das Grundrecht des Artikel 10 GG ein. Mit Urteil vom 2. März 2010 hob das BVerfG dann das nationale Umsetzungsgesetz ganz auf. Zwar rückte es ab von seiner noch im Volkszählungsurteil vertretenen Position der grundsätzlichen Unzulässigkeit einer Datenspeicherung auf Vorrat und meinte, die EU-Richtlinie sei mit den Grundrechten »nicht schlechthin unvereinbar«. Die nationale Umsetzung bedürfe aber einer normenklaren Regelung mit umfassenden Beschränkungen und Sicherungen. Da dies dem Gesetz fehlte, wurde es für nichtig erklärt.
Die weiteren Versuche zum Erlass eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie blieben wegen unüberbrückbarer Meinungsunterschiede zwischen der FDP-Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und dem CSU-Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich erfolglos. Schweden, wo es ebenso heftige Kritik gab, wurde wegen nicht fristgemäßer Umsetzung auf Klage der EU-Kommission am 30. Mai 2013 vom EuGH zu einer Geldstrafe von 3 Millionen Euro verurteilt.
Kurz danach enthüllte Edward Snowden, unterstützt von kritischen Journalisten, wie die Geheimdienste Großbritanniens und der USA, das Government Communications Headquarters (GCHQ) und die National Security Agency (NSA), im Internet massenhafte Vorratsdatenspeicherung praktizieren. Zuvor schon hatten der irische High Court und das österreichische Verfassungsgericht dem EuGH die Frage der Vereinbarkeit der Richtlinie mit den Artikeln 7 und 8 der Europäischen Grundrechte-Charta (EuGRCh), die die Grundrechte auf Achtung des Privatlebens und auf Datenschutz gewährleisten, vorgelegt.
Mit seinem Urteil vom 8. April 2014 vollzog nun der EuGH eine Wendung weg von der vorbehaltlichen Akzeptanz der Richtlinie hin zur schonungslosen Kritik. Die Bekämpfung des Terrorismus und schwerer Kriminalität sei legitime Zielsetzung, da jeder Mensch nach Artikel 6 EuGRCh nicht nur ein Recht auf Freiheit, sondern auch auf Sicherheit habe (Rn. 42). Es würden zwar nicht die Kommunikationsinhalte gespeichert. Doch die gespeicherten Umstände, also Angaben, welcher TK-Benutzer mit welchen Personen auf welchem Weg von welchem Ort aus wie häufig kommuniziert, erlaubten weitreichende Persönlichkeitsprofile und erstreckten sich undifferenziert »generell auf alle Personen und alle elektronischen Kommunikationsmittel sowie auf sämtliche Verkehrsdaten« der Bevölkerung (Rn. 26f., 57ff.). Dadurch werde der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verletzt, der bei so weitgehenden Überwachungsmaßnahmen »klare und präzise Regeln« für die Eingriffsmaßnahmen und »Mindestanforderungen« nötig macht, um »ausreichende Garantien« für »einen wirksamen Schutz ihrer personenbezogenen Daten vor Missbrauchsrisiken sowie vor jedem unberechtigten Zugang« zu geben (Rn. 54). Die Richtlinie enthalte keine greifbaren Kriterien zur Beschränkung des Zugriffs der nationalen Behörden auf schwere Straftaten und unterwerfe diese sowie die Nutzung der Daten »keiner vorherigen Kontrolle durch ein Gericht oder eine unabhängige Verwaltungsstelle« (Rn. 60ff.). Die undifferenzierte Mindestspeicherfrist sämtlicher Verkehrsdaten von sechs Monaten beschränke den Eingriff nicht »auf das absolut Notwendige« (Rn. 64f.). Es fehle jede Garantie, dass Daten nur in der EU gespeichert werden und damit die in Artikel 8 Absatz 3 EuGRCh geforderte Überwachung durch eine unabhängige Stelle gewährleistet ist. Damit wurde die Richtlinie für nichtig erklärt.
Mit dem Urteil wurde vom EuGH zwar leider nicht jede Form der Vorratsspeicherung für unzulässig erklärt. Wohl aber wird diese hohen grundrechtssichernden Schranken unterworfen. Damit folgt der EuGH der Rechtsprechung des BVerfG. Das Urteil erteilt einer unkontrollierten TK-Massenüberwachung eine Abfuhr, worauf sich kurz darauf schon der irische High Court mit einem weiteren Vorlagebeschluss vom 18. Juni 2014 berief.
Es besteht der Eindruck, als habe der EuGH zum Jagen getragen werden müssen. Maßgeblich war dabei zweifellos das deutsche BVerfG, das über Jahre hinweg immer wieder einen Prüfungsvorbehalt erklärte, wenn die Grundrechte auf europäischer Ebene nicht gewährleistet waren. Der EuGH hat sich beim »Grundrechtsdialog der Gerichte in Europa« nun an die Spitze gestellt, ohne dass dadurch die Funktion der nationalen Verfassungsgerichte und des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) verlorenginge, die teilweise direkt mit Beschwerden angerufen werden können. Der EuGH hingegen benötigt für eine Entscheidung eine Vorlage durch ein nationales Gericht oder die Klage eines europäischen Organs.
Der 1952 eingerichtete EuGH war über viele Jahre hinweg vor allem der Hüter wirtschaftlicher Freiheiten und des Binnenmarktes. 1969 berief er sich explizit auf grundrechtliche Prinzipien. 2008 entschied er, dass auch beim »Kampf gegen den Terror« Grundrechte zu beachten sind (siehe Till Müller-Heidelberg in Grundrechte-Report 2009, S. 191). Mit dem Inkrafttreten der EuGRCh im Jahr 2009 besteht ein moderner Prüfungsrahmen. 2010 stärkte der EuGH den Datenschutz zugunsten der Empfänger von Agrarsubventionen, die sich gegen die Veröffentlichung ihrer Namen wehrten. Mit der Entscheidung zur Vorratsdatenspeicherung sowie dem Urteil zu Google-Suchanzeigen vom 13. Mai 2014 (siehe Johannes Caspar in diesem Band) hat sich der EuGH als Schützer digitaler Grundrechte gegen staatliche wie private Datenbegehrlichkeiten etabliert.
Angesichts der Bedrohungen durch US-Unternehmen sowie globaler behördlicher Überwachungsbestrebungen mag dies noch rechtzeitig sein. Der EuGHGH