Thomas Brose
Kein Himmel über Berlin?

Thomas Brose

Kein Himmel über Berlin?

Glauben in der Metropole

Mit einem Geleitwort von Weihbischof Matthias Heinrich und einem Nachwort von Felicitas Hoppe

Butzon & Bercker

Für Heinz Hirschberg

„Orientierung durch Diskurs“

Die Sachbuchsparte bei Butzon & Bercker, in der dieser Band erscheint, wird beratend begleitet von Michael Albus, Christine Hober, Bruno Kern, Tobias Licht, Cornelia Möres, Susanne Sandherr und Marc Witzenbacher.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Gesamtprogramm von Butzon & Bercker finden Sie im Internet unter www.bube.de

ISBN 978-3-7666-1863-4

E-Book (Mobi): ISBN 978-3-7666-4267-7

E-Book (PDF): ISBN 978-3-7666-4268-4

E-Pub: ISBN 978-3-7666-4269-1

Fotos Umschlaginnenseiten: © Frank Vetter, Walter Wetzlar

Informationstexte Umschlaginnenseiten: © Pressestelle Erzbistum Berlin

Abbildung „Romano Guardini“: © Archiv Freundeskreis Mooshausen

Die Rechte für die übrigen Abbildungen liegen beim Autor.

Briefe Guardinis (Dokument 9):

Alle Autorenrechte liegen bei der Katholischen Akademie in Bayern.

„Ich fühle, daß Großes im Kommen ist.“ Romano Guardinis Briefe an Josef Weiger 1908 – 1962, hrsg. von Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz

1. Auflage 2008, 240 f; 243 f; 246 f; 250 f.

© 2014 Butzon & Bercker GmbH, Hoogeweg 100, 47623 Kevelaer, Deutschland, www.bube.de

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Christoph M. Kemkes, Geldern

Satz: Schröder Media GbR, Dernbach

Printed in the European Union

Inhalt

Geleitwort
Weihbischof Matthias Heinrich

Vorwort

Einleitung: Stadt ohne Gott?

I. Himmel und Metropole

Ein religiös-politischer Erinnerungsort

Kirche in Berlin: Spiegel der Zeitgeschichte

Wie mir Romano Guardini begegnete

Himmel über der Halbstadt

II. Christ und Stadt

Babel und Bibel

Glaube, Geschichte und Großstadtleben

Die Metropole Berlin: Unheilig – Heilig

Magnet Metropolis: Die Großstadt-Welt in einem Film

Modern in Metropolis? Vision und Wirklichkeit

Zwischen Babylon und Jerusalem

Menschenwürdig in der Großstadt

Stadtmitte

Alfred Döblin: Literarisch-theologische Stadterkundung mit Franz Biberkopf

Bertolt Brecht: Glückssuche auf der Großbaustelle des Lebens

Michail Bulgakow: Auf teuflische Weise Gutes bewirken in Moskau und Jerusalem

Katholisch in Berlin

Vorsicht, Katholiken: In der Hauptstadt nicht vorgesehen

Die Gründung des Bistums Berlin

Doppelt fremd

Theologie für die Großstadt: BERLINER ANSATZ

Carl Sonnenschein

Dietrich Bonhoeffer

Romano Guardini

III. Memoria und Mauerfall

Heimatkunde

Weltall – Erde – Mensch

Wie macht man eine Revolution?

Weltveränderung Berlin 1989

IV. Glaube vor Ort

St. Hedwig

Gedenkkirche Maria Regina Martyrum

Im Herzen der Hauptstadt

Denkmal für die ermordeten Juden Europas

Katholische Akademie in Berlin

Humboldt-Universität und „Guardini“

V. Zeit und Stadt

Berlin im Überblick: Religion und Gesellschaft

Berlins katholische Bischöfe im Überblick

Religion in Deutschland und Berlin im Überblick

Religion in Deutschland

Religion in Berlin

VI. Kirche und Gesellschaft

Dokument 1: Carl Muth und die Zeitschrift „Hochland“

Dokument 2: Ausrufung der Republik durch Philipp Scheidemann

Dokument 3: Ausrufung der sozialistischen Republik durch Karl Liebknecht

Dokument 4: Die Tagebücher von Harry Graf Kessler

Dokument 5: Carl Sonnenschein

Dokument 6: Berliner Vaterunser (Carl Sonnenschein)

Dokument 7: Ernst Thrasolt

Dokument 8: Kurt Tucholsky

Dokument 9: Romano Guardini

Nachwort
Felicitas Hoppe

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Geleitwort

Weihbischof Matthias Heinrich

Der Himmel über Berlin ist nicht nur ein Thema für Meteorologen oder Filmemacher. Auch und gerade Theologen könnten dazu einen entscheidenden Beitrag leisten, wobei Himmel dann eben mehr meint als „only sky“.

Geistreiches und weniger Geistreiches ist denn auch zu diesem Thema gesagt worden, ohne dass es damit schon erschöpfend behandelt wäre. Insofern ist das jetzt vorliegende Buch Kein Himmel über Berlin? eine Bereicherung, nimmt sich der Verfasser, Thomas Brose, dieses Themas doch aus unterschiedlichen Perspektiven an und versucht es nutzbar zu machen für eine generelle „Theologie der Stadt“.

Das Fragezeichen im Buchtitel kann zudem deutlich machen, dass es hier nicht nur um Antworten geht, sondern auch Fragen gestellt werden, ohne damit gleich infrage zu stellen.

Als einer, der in dieser Stadt geboren und aufgewachsen ist, habe ich ganz persönlich erleben können, wie viel sich hier – nicht erst durch den Mauerfall – immer wieder verändert hat.

Der bitter-geheimnisumwobene Charakter des „Kalten Krieges“ und der revoltierend-morbide Charme der Sechziger- und Siebzigerjahre ist vielfach einer oberflächlichen Partylaune gewichen, was der Attraktivität der alten und neuen Hauptstadt allerdings keinen Abbruch getan hat.

Multikulti und Eigenvermarktung, Selbstverwirklichung und Toleranz sind zu Lieblingsworten dieser Stadt geworden, wenngleich manche behaupten, es sei gar kein Selbst mehr da, das es zu verwirklichen lohnt, und in Berlin müsste man das Wort Toleranz wohl eher mit einem doppelten „l“ schreiben. Nichtsdestotrotz hat sich der Eindruck erhalten, hier könne jeder „nach seiner Façon selig“ werden. „Du bist verrückt mein Kind, du musst nach Berlin“, jene alte Persiflage zitieren viele auch heute noch.

Und in der Tat hatte und hat Berlin viel Positives und Ansprechendes, viel Interessantes und Originelles und eben viel Ver-rücktes zu bieten: Natur und Kultur, Weltweite und Esprit, Armseligkeit und Glanz, Herz und Schnauze.

Religion hat es angesichts solcher, historisch unterschiedlicher Gemengelage in Berlin allerdings niemals leicht gehabt. Das ist, wie der Verfasser deutlich machen kann, kein neuzeitliches Phänomen. Gerade die katholische Kirche kann ein Lied davon singen.

Dass aber auch der Katholizismus das Bild dieser Stadt durchaus mitgestaltet hat, verdankt er Menschen, die dem katholischen Glauben hier ein Gesicht und eine Stimme gegeben haben. Auch von solchen Menschen ist in diesem Buch dankenswerterweise zu lesen.

Will man den Himmel über Berlin auf diesem Hintergrund beschreiben, steht für mich fest: Es gibt den Himmel – auch über Berlin.

Diese Stadt ist keine gottlose Stadt, auch wenn sie sich oftmals so geben möchte. Aber zur Gottlosigkeit gehören eben zwei: Gott selber, der sich entzogen hat, und der Mensch, der sich von Ihm lossagen will. Und selbst wenn man Letzteres unterstellte, bleibt noch das Wort des hl. Augustinus: „Du warst bei mir, aber ich nicht bei dir.“

Doch muss man so weit m. E. gar nicht gehen. Wer die religiöse Szene Berlins betrachtet, kann nicht verleugnen: In dieser Stadt leben die oftmals totgesagte Religiosität und auch der christliche Glaube. Allein im ökumenischen Rat Berlin-Brandenburg sind dreißig Mitgliedskirchen zusammengeschlossen, die gemeinsam versuchen, ihren christlichen Glauben zu leben und zu bezeugen. Hier gibt es starke jüdische sowie muslimische Gemeinden, und es gibt eine große Zahl von ehrlichen Gottsuchern.

Die katholische Kirche in Berlin jedenfalls hat – entgegen mancher gegenteiliger Prophezeiung – alle politischen Systeme überlebt, ja sie wächst – wenn auch durch nationale wie internationale Zuwanderung. Und ich habe nicht wenige getroffen, die ihre „ererbte“ katholische Sozialisation erst in dieser Stadt wirklich reflektieren mussten und so zum Glauben (zurück-)gefunden haben.

Aber ebenso muss man sagen: Der Himmel über Berlin ist bewölkt.

Denn tatsächlich gibt es in dieser Stadt Gottvergessenheit und (kämpferischen) Atheismus. Es gibt religiöse Blindheit, Interessenlosigkeit und religiösen Analphabetismus. Es gibt Heidentum und Heidenangst. Und es gibt eine besinnungslose Aktivität, die versucht, die religiösen Bedürfnisse der Menschen zu überspielen.

Nicht wenigen gilt Berlin zudem als „Hauptstadt des Okkultismus und der Esoterik“, in der sich viele in einer Supermarktmentalität ihre persönliche Religion aus unterschiedlichen Religionen oder Pseudoreligionen patchworken. Möglichkeiten dafür gibt es hierzulande genug.

Einer christlichen Kirche jedenfalls gehört nur noch etwa jeder dritte Berliner an – mit absteigender Tendenz. Und mancherorts ist der christliche Glaube müde geworden. Von einer heiteren Wetterlage kann also kaum gesprochen werden.

Aus all dem Gesagten folgt deshalb für mich:

Der Himmel über Berlin muss offen gehalten und auch „geerdet“ werden – um der Menschen willen.

Dazu bedarf es einer Kirche, die im Leben der Stadt präsent ist, einer Kirche, die sich zu Wort und zu Tat meldet, gelegen oder ungelegen.

Dazu braucht es Menschen, die der christlichen Botschaft ein authentisches Gesicht geben, Menschen wie Carl Sonnenschein und Romano Guardini, wie Bernhard Lichtenberg und Dietrich Bonhoeffer, wie Maximilian Kaller und Alfred Bengsch, Menschen, die ihren Glauben leben.

Und schließlich braucht es eine „Theologie der Stadt“, die „geerdet“ ist, d. h. eine Theologie, die nicht Wort oder Idee bleibt, sondern Fleisch wird, verständlich und greifbar auch noch und gerade für eine urbane Glaubenslosigkeit.

Eben für eine solche Theologie will der Verfasser werben.

Den Himmel über Berlin offen zu halten, bleibt somit Aufgabe für Gegenwart und Zukunft.

Das Buch von Thomas Brose kann dafür Hilfestellung leisten.

Vorwort

Dass ich eines Tages dieses Buch schreiben werde, habe ich gehofft – seitdem ich die Mauer das erste Mal überwunden habe: am 9. November 1989. Davor war es für mich zwar möglich, vom Ostteil Berlins nach Sofia oder Bukarest zu reisen, aber undenkbar, die andere „Halbstadt“ zu besuchen – und plötzlich genügte eine einfache S-Bahn-Fahrt, um vom „Tränenpalast“ an der Friedrichstraße zum Bahnhof Zoo zu gelangen. Die Friedliche Revolution hat Europa und die Welt verändert – aber nirgendwo radikaler als in Berlin.

Seitdem ist die deutsche Metropole dabei, ihre alte Schwerkraft wiederzuerlangen und erneut Weltstadt zu werden. Wie nach dem Ersten Weltkrieg gewinnt die Frage nach Religion und Urbanität so herausragende Bedeutung. Dieser Band hat deshalb ein großes Thema: Er handelt von Babel und Bibel, genauer von der Möglichkeit, eine Theologie für Berlin zu entwickeln und damit der postsäkularen Gesellschaft auf die Spur zu kommen. Wie also sind Glaube, Gott und Großstadtleben verbunden?

Dieses Buch brauchte Zeit zum Wachsen: Wenn ich unterwegs war, habe ich Gedanken auf Zetteln, Zeitungsrändern oder Buchseiten notiert. Der Text entwickelte sich dann weiter, indem ich mit Freunden sowie Kolleginnen und Kollegen aus Theologie, Philosophie, Geschichte, Religions- und Kulturwissenschaft darüber diskutiert habe. Viele waren daran beteiligt, ein neues Forschungsfeld zu erkunden. Dafür bin ich ihnen sehr dankbar.

Mein Dank gilt in besonderer Weise dem Berliner Weihbischof, Dr. Matthias Heinrich, sowie der Schriftstellerin Felicitas Hoppe, die diesen Band durch ein Wort „Zum Geleit“ und ein Nachwort gewürdigt und bereichert haben; ich sehe darin einen ermutigenden Ausdruck katholischer Weite.

Was vor fünfundzwanzig Jahren mit einer Buchidee zum Himmel über Berlin begann, hat der Verlag Butzon & Bercker mit Berthold Weckmann aufgegriffen und in feste Form gegossen. Auf zugewandte Weise wurde ich von Christine Hober zum Weiterschreiben ermutigt; durch das kluge Lektorat von Bruno Kern hat das Buch den Weg zum Publikum gefunden. Ihnen allen sei herzlich gedankt.

Berlin, am Fest der hl. Theresia Benedicta vom Kreuz (Edith Stein), 9. August 2014

Thomas Brose

Einleitung: Stadt ohne Gott?

Uralt ist die Vorstellung von der Existenz heiliger Orte. Die Metropole Berlin scheint heute für viele – in Negation dieser wirkmächtigen Vorstellung – ein ganz und gar unheiliger Platz zu sein: eine Stadt ohne Gott. „In der Asphaltstadt bin ich daheim. Von allem Anfang / Versehen mit jedem Sterbesakrament: / Mit Zeitungen. Und Tabak. Und Branntwein.“ Der fortschrittsgläubige Bertolt Brecht (1898 – 1956), der im Gedicht Vom armen B. B. die urbane Welt der 1920er-Jahre besingt, hat Anteil daran, dass die moderne Großstadt unter Gläubigen nicht gerade den besten Ruf genießt, sondern als religionszerstörend gilt. Auf der anderen Seite der politischen Skala verklärt Oswald Spengler (1880 – 1936) das Landleben zur beschaulichen Idylle. Der Untergangsprophet lässt jedoch keinen Zweifel daran, dass Berlin-Babylon mit seiner Massenkultur, mit „Kino, Expressionismus und Boxkämpfen“ längst seinem Ende entgegentaumelt.

Dabei sind Glaube, Gott und Großstadtleben, das Säkulare und das Sakrale, historisch auf engste Weise miteinander verknüpft. Große mittelalterliche Städte mit hohen Einwohnerzahlen besitzen ein klar definiertes Zentrum. Die Grundrisse von Paris (100.000), Köln (50.000), Magdeburg (30.000), Straßburg (20.000) oder Erfurt (20.000) stimmen darin überein, dass große Gotteshäuser ihren urbanen Mittelpunkt bilden. In der Vormoderne ist die Affinität von Christsein und Stadt deutlich sichtbar. Denn dort war „die Mitte genau markiert, präzise und sorgfältig gestaltet“, wie der Soziologe Richard Sennett die mittelalterliche Architektur „liest“.1 Zwischen religiöser Sphäre und Alltagsleben bestand eine geradezu osmotische Verbindung. Schließlich führen alle Wege nach Rom, in die Ewige Stadt, wo der Papst residiert und seinen Segen spendet: „Urbi et Orbi“, der Stadt und dem Erdkreis.

Großstadt = Selbstentfremdung = Gottlosigkeit? Sind die modernen Metropolen mit ihren Lebensrhythmen überhaupt dafür geeignet, ihren Bewohnern ein Zuhause zu geben? Brauchen Menschen die Nähe zur Natur, um Sinn fürs Emotionale, Gefühlvolle und Spirituelle zu entwickeln? Die Philosophie des 20. Jahrhunderts hat sich, angeregt von Edmund Husserl, Max Scheler und Martin Heidegger, auf den Weg gemacht, die Großstadt in ihren vielfältigen Erscheinungsformen – etwa in der Großstadtliteratur – zu begreifen. Dieser Ansatz einer existenziellen Phänomenologie ist prägend geworden für die hier vorgelegten Überlegungen.

Also vielleicht doch lieber ein Exodus aufs Land? Ist die Großstadt tatsächlich eine Stadt ohne Gott, wie der Theologe Harvey Cox (geb. 1929) mit seinem sprichwörtlich gewordenen Buchtitel nahelegt? Der Klassiker The Secular City2 kann für diese Interpretation keineswegs in Anspruch genommen werden. Kritiker urbaner Lebensverhältnisse können sich nicht darauf berufen. Denn der Autor will genau das Gegenteil zum Ausdruck bringen: Die Metropole, so Cox' realistische Utopie, eröffnet dem Christsein neue Räume – nicht zuletzt durch die unmittelbare Nachbarschaft zu anderen Religionen und zu Nichtglaubenden. Das Zweite Vatikanische Konzil hat daran erinnert, dass es gar keine säuberliche Trennung zwischen Weltlichem und Heiligem gibt. Das Säkulare und das Sakrale durchdringen einander.

Dass das Christentum nicht an einen bestimmten Kulturkreis gebunden sei, davon ist Karl Rahner (1904 – 1984) überzeugt. Nach der anfänglichen Periode (1) eines judenchristlichen Glaubensverständnisses und der ihr folgenden Phase (2) hellenistisch-westlich-abendländischer Imprägnierung müsse sich der christliche Glaube nach zwei Jahrtausenden (3) dafür öffnen, sich weltweit zu inkulturieren. Weil der Mensch auf Glauben angelegt ist, erweist sich auch die Großstadt als genuine Stätte der Transzendenz und als Ort, an dem das Wort „Gott“ zum Vokabular lebendiger Sprache gehört. Der Theologe und Religionsphilosoph formuliert deshalb prägnant: Eigentlich existiert der Homo sapiens nur da ganz als Mensch, wo er das Wort „Gott“ in Freiheit aussprechen kann. Eine Anthropologie ohne Gottesvorstellung, so Rahner, stehe dagegen in Gefahr, das spezifisch Menschliche aufzugeben. Ihr drohe die Zerstörung des Humanen durch die „Rückkreuzung zum findigen Tier“3. Ein Zweites ist jedoch – gerade im Berliner Kontext – mit Dietrich Bonhoeffer und Romano Guardini hinzuzusetzen: Theologie und Kirche stehen vor der Herausforderung, von Gott nicht in einer Weise zu reden, die ihren historischen Ort vor der Emanzipation des modernen Menschen, vor seinem Großstädtisch-Werden, ansetzt. Damit wird nicht allgemeinem Libertinismus oder autonomer Moral das Wort geredet. Im Gegenteil. Es geht vielmehr darum, theologisch zu begreifen, welches Glaubenspotenzial in den vorher gebundenen, jetzt freigesetzten Kräften des Homo sapiens liegt.

Berlin – Stadt und Kirche: Das ist ein packendes Phänomen. Als die Metropole gerade dabei war, sich ihre Weltstadtsporen zu verdienen, veröffentlichte Georg Simmel (1858 – 1918) im Jahr 1903 seinen klassisch geworden Grundlagentext: Die Großstädte und das Geistesleben. Damit avancierte der Berliner Kulturphilosoph zum Begründer einer weltweilt neuen Wissenschaftsrichtung: der Stadtsoziologie. Kaum eine Studie über das Wesen moderner Urbanisierung verzichtet bis heute darauf, diesen Text, der großstädtisches Leben auf seine gesellschaftlich-anthropologischen Folgen hin bedenkt und bei Großstädtern eine mächtige „Steigerung des Nervenlebens“ diagnostiziert, als Referenz zu zitieren. Simmels Analysen, die er mitten im Zentrum der sich neu entfaltenden Lebensform Großstadt, in der Berliner Friedrichstraße, entwickelte, bleiben mit den Themen rationale Verstandestätigkeit, Geldwirtschaft, Marktorientierung der Produktion sowie private Verfügung über städtischen Boden aktuell und zukunftsweisend. „Über seinem Geburtshause (an der Ecke der Leipziger- und Friedrichstraße) flammte nicht, wie über Betlehems Krippe, der Frieden verheißende Weihestern. Nein! Schreiende Lichtreklamen prahlten von einer Schmutzwelt großstädtischer Lustorgien. Bahnen rasselten! Omnibusse keuchten vorüber. Und die Geschäftswagen stauten sich in den vier einander kreuzenden Straßenzügen.“4 – Wie die Ankunft des messianischen Kindes hat Theodor Lessing die Geburt seines akademischen Lehrers geschildert.

Als Wissenschaftler nähert sich Simmel den neuen sozialen Phänomenen nüchtern und vorurteilslos. Entgegen allen „kulturpessimistischen Vorbehalten seiner Zeitgenossen“ führt das Großstädtische für ihn „nicht zum Untergang der Zivilisation, sondern zu deren Weiterentwicklung!“5 Simmel diagnostiziert jedoch die Herausbildung einer spezifischen Individualität des Städters, die sich durch eine „Steigerung des Nervenlebens“ auszeichnet – ein Echo davon ist bei Kurt Tucholsky nachzulesen. „Noch brausten und dröhnten in ihnen die Geräusche der großen Stadt, der Straßenbahnen, Gespräche waren noch nicht verhallt, der Lärm der Herfahrt […], der Lärm ihres täglichen Lebens, den sie nicht mehr hörten, den die Nerven aber doch zu überwinden hatten, der eine bestimmte Menge Lebensenergie wegnahm, ohne dass man es merkte“, schreibt Tucholsky 1912 in seinem Roman Rheinsberg. „Aber hier war es nun still, die Ruhe wirkte lähmend, wie wenn ein regelmäßiges, langgewohntes Geräusch plötzlich abgestellt wird. Lange sprachen sie nicht, ließen sich beruhigen von den schattigen Wegen der stillen Fläche des Sees, den Bäumen […]. Wie alle Großstädter bewunderten sie maßlos einen einfachen Strauch, überschätzten seine Schönheit und, ohne das Praktische aller sie umgebenden ländlichen Verhältnisse zu ahnen, sahen sie die Dinge vielleicht ebenso einseitig an wie der Bauer – nur von der anderen Seite.“6 Das Großstadtleben beruht nach Simmel auf Machbarkeit, Schnelligkeit und Massenhaftigkeit. Aufgabe einer zeitgemäßen Theologie der Großstadt wäre es demnach auch, die „Schönheit des Gemachten“, die „Gutheit des Schnellen“ und die „Wahrheit des Massenhaften“7 aufzuspüren und zu ergründen.

Wie „Christ und Stadt“ zusammenpassen, ist wesentlicher Inhalt dieses Buches. Damit sich Christsein in einer urbanen Zukunft, die längst begonnen hat, weiter als segensreich für die humanitas des Menschen erweist, ist es entscheidend, dass Glaube und Kirche im religiösen Feld der Cities, der Riesenstädte und Agglomerationen anwesend sind – wie zu den Anfangszeiten des Christentums in Jerusalem, Antiochia, Athen und Rom. Heute lauten die Namen Tokio, Mumbai, Delhi oder Mexiko-Stadt. In den neuen Stadt-Staaten der Welt geht es um grundlegende Probleme der einen Menschheit: Wie gelingt Nachbarschaft von Kulturen und Religionen? Wie glücken Verständigung, Friede und Inkulturation des Christentums in der Lebenswelt Großstadt? Wie erhält der autonome, freigesetzte Mensch Wegweisung für eine ethisch verantwortliche, solidarische Existenz?

Um diese Fragen zu erörtern, ist die Wirksamkeit von drei großstädtischen Theologien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu betrachten: Carl Sonnenschein, Dietrich Bonhoeffer und Romano Guardini. Diese haben – auf exemplarische Weise – durch persönliches Zeugnis und theologische Existenzform das umgesetzt, was ich als BERLNER ANSATZ charakterisiere.

Es war zu keiner Zeit einfach, von Gott zu sprechen. Aber in Berlin scheint es besonders schwer zu sein. Bis zur Zeitenwende von 1989 galt das heutige Erzbistum als „schwierigste Diözese der Welt“. Am Brandenburger Tor kamen sich zwei waffenstarrende Weltsysteme bis auf Ruf- und Hörweite nahe. Was hätte die Welt erwartet, wenn kurz nach dem Mauerbau am regnerischen Abend des 27. Oktober 1961 wirklich Schüsse gefallen wären? Nach sechs Tagen, in denen die Stimmung an der innerstädtischen Grenze immer nervöser wurde, standen sich am Checkpoint Charlie plötzlich zehn sowjetische und amerikanische Panzer gegenüber. Atemlos blickte die Welt in diesem Augenblick auf Berlin. Das gescheiterte Chrustschow-Ultimatum, der Mauerbau und die Kuba-Krise lehrten beide Seiten jedoch, dass weitere Eskalationen in den Abgrund führen würden. Weltpolitisch bewegte das die feindlichen Blöcke mit der Zeit zu einer vorsichtigen Entspannungspolitik im Zeichen von „Wandel durch Annäherung“.

„Wieder in Berlin. Wieder geteilter Himmel und so weiter. Zwei Busse halten vor dem Wahrzeichen der Stadt, in gehörigem Abstand, zwei Führer sprechen dieselbe Sprache und doch nicht dieselbe, zitieren Baedeker oder VEB Brockhaus. Zweimal dreißig Teilnehmer der Stadtrundfahrt staunen hinüber, hinauf, fragen, hantieren mit der Kamera. Klick – klick: der Auslöser. Simultanaktionen. Aber die Erinnerungsfotos zeigen zwei verschiedene Ansichten: auch der rosselenkenden Friedensgöttin [auf dem Brandenburger Tor], die so lange schon – wie lange noch? – vergeblich urbi et orbi ihren Segen erteilt“, so hält Hans Joachim Bonhage 1970 seine Erfahrungen im alten Zentrum der Stadt fest.8

Ohne die zerschnittene Metropole im Brennpunkt der Geschichte hätten sich Politiker in West und Ost, in Washington, Moskau und den beiden Berliner Halbstädten jedenfalls viel Aufregung erspart. Der Kalte Krieg erreichte an der Spree ungeahnte Dimensionen. Aber was wäre aus Deutschland und Europa geworden ohne die geteilte Kapitale? Die Viersektorenstadt war ein ständiger Stein des Anstoßes; beide Blöcke mussten sich immer wieder Neues einfallen lassen, um damit fertig zu werden. In den zwölf Berliner Stadtbezirken, in denen die Westalliierten bestimmten, kamen die ostdeutschen Machthaber nicht zum Zug; „dort fanden ihre Gegner Zuflucht und Unterstützung, dort entwickelte sich allmählich sogar ein Gegenbild zu ihren Vorstellungen, dort war – wohl das Schlimmste – die Alternative zu besichtigen. Was in den Westzonen, später in der Bundesrepublik geschah, kannten die Ostbürger meist nur vom Hörensagen; in Berlin aber konnten sie von den Nylonstrümpfen bis zum Wahlsystem selber prüfen und vergleichen.“9

Welche Sprache spricht die Hauptstadt in der Gegenwart? Gibt es so etwas wie eine Botschaft, die heute von Berlin ausgeht – 25 Jahre nach dem Mauerfall? Ich glaube: Jedes Jahr kommen Millionen von Besuchern auch deshalb hierher, weil sie spüren: An diesem besonderen Erinnerungsort10, der seit hundert Jahren ständig im Fokus der Weltöffentlichkeit stand, lassen sich vitale Erfahrungen machen.

Und weil Berlin anders als Rom oder Paris keineswegs zu den bevorzugten Orten der Weltkirche gehört, ist es an der Zeit, den Himmel über der Hauptstadt neu zu entdecken und zu beschreiben.

I. Himmel und Metropole

Am Anfang stand ein simpler Verwaltungsakt. Das „Gesetz über die Bildung einer neuen Stadtgemeinde Berlin“ wurde am 27. April 1920 von SPD und USPD ins Preußische Parlament eingebracht und konnte – dank Enthaltung der katholischen Zentrumspartei – am 1. Oktober des gleichen Jahres in Kraft treten. Dadurch entstand das politisch-soziale Ballungszentrum Groß-Berlin mit 3,8 Millionen Einwohnern: gebildet aus Alt-Berlin (1,9 Millionen), sieben angrenzenden Städten (1,2 Millionen) sowie 59 Landgemeinden und 27 Gutsbezirken (0,7 Millionen), die von jetzt ab einer gemeinsamen urbanen Region angehörten. Damit wurde die zu damaliger Zeit drittgrößte Metropole der Welt aus der Taufe gehoben. In ihr lebten 1930 bereits 4,3 Millionen Einwohner, darunter 440.000 Katholiken.

Ein religiös-politischer Erinnerungsort

Tatsächlich hat die Millionen-, Kaiser- und Weltstadt seit dem Ende des Ersten Weltkriegs wüste Kapriolen hinter sich gebracht. In den Goldenen Zwanzigerjahren galt Berlin als europäische Hauptstadt des Amüsements und Nachtlebens. Dadaisten und Surrealisten eroberten die Bühnen. In Bars wurde Jazz gespielt, und die Berliner tanzten dazu. Aber nach dem Zwischenspiel der Jahre 1924 bis 1929, die so golden nicht waren, wirbelten Willkür und Wahn, Terror und Teilung bald alles durcheinander. Vielfalt und Intellektualität der Metropole wurden systematisch zerstört. Wie viele Reiche zerbrachen in den letzten hundert Jahren? Wie viel Vernichtung und Tod? Wie viele größenwahnsinnige und verbrecherische Pläne, geschmiedet in Berlin, endeten auf dem Trümmerhaufen der Geschichte?

Karl Jaspers, der in den 1920er-Jahren von der Medizin zur Geisteswissenschaft gewechselt war, verfügte über eine umfassende Kenntnis psychiatrischer Krankheitssymptome. Der Philosoph erwies sich daher als besonders geeignet, heraufziehende Krisen und Verwerfungen zu beschreiben. In seiner 1931 publizierten Analyse Zur geistigen Situation der Zeit hat er festgehalten: „Dem Glauben an den Anbruch einer großartigen Zukunft steht das Grauen vor dem Abgrund, aus dem keine Rettung mehr ist, entgegen. Es ist wohl ein Bewusstsein verbreitet: Alles versagt; es gibt nichts, das nicht fragwürdig wäre; nichts Eigentliches bewährt sich; es ist ein endloser Wirbel, der in gegenseitigem Betrügen durch Ideologien seinen Bestand hat. Das Bewusstsein des Zeitalters löst sich von jedem Sein und beschäftigt sich mit sich selbst. Wer so denkt, fühlt sich zugleich selbst als nichts. Sein Bewusstsein des Endes ist zugleich Nichtigkeitsbewusstsein seines eigenen Wesens.“11

Um diesem tief im Untergrund wirksamen Bewusstsein eigener Nichtigkeit etwas entgegenzusetzen, sollte auf dem Boden der deutschen Hauptstadt Germania die bombastische Kapitale eines „Tausendjährigen Reiches“, imposanter als Paris und Rom, entstehen. „Nicht ,Werke für die Ewigkeit‘ vermochte Hitler im Vorkriegs-Berlin zu erkennen, sondern lediglich Bauwerke ,für den augenblicklichen Bedarf‘. Hier ist der Urantrieb seiner Bausucht zu begreifen, die später in Albert Speer ihr williges und ehrgeiziges Werkzeug findet: die Fixierung in Stein als sinnfälliger Ausdruck eines ,Tausendjährigen Reiches‘ von eschatologischer Kraft.“12 Der verhinderte Architekt Hitler entwarf dazu mit Speer, seinem Rüstungsminister und Generalbauinspektor für die Reichshauptstadt, gigantomanische Zukunftspläne mit dem größten Versammlungsort auf dem Globus. „Die größte bis dahin erdachte Versammlungshalle der Welt“, beschreibt Speer Hitlers Pläne für die „Große Halle des Volkes“, „bestand aus einem Raum, der 150.000 bis 180.000 stehende Zuhörer fassen konnte. Im Grunde handelte es sich […] um einen Kultraum, der im Lauf der Jahrhunderte durch Tradition und Ehrwürdigkeit eine ähnliche Bedeutung gewinnen sollte wie St. Peter in Rom für die katholische Christenheit. Ohne einen solchen kultischen Hintergrund wäre der Aufwand für Hitlers Zentralbau sinnlos und unverständlich gewesen.“13 Die „Große Halle“ sowie ein sieben Kilometer langer und 120 Meter breiter Boulevard mit einem gewaltigen Triumphbogen von 170 Metern Breite und 117 Metern Höhe sollten – da, wo sich in mittelalterlichen Städten die Kathedralen befanden – zum neuen Zentrum von „Germania“ werden: das „image des civilisations totalitaires“. Im Mai 1945 wurde der zukünftige Bauplatz der „Welthauptstadt“ von der Roten Armee erobert und von den Alliierten, die zu vier Besatzungsmächten wurden, in Sektoren aufgeteilt.

Aber schon bald fand das Welttheater des Kalten Krieges in Berlin seine beste Bühne. Die deutsche Metropole wurde gleich auf doppelte Weise neu erfunden: als sozialistische Musterstadt und als Schaufenster der freien Welt. „Ihr Völker der Welt, ihr Völker in Amerika, in England, in Frankreich, in Italien! Schaut auf diese Stadt und erkennt, dass ihr diese Stadt und dieses Volk nicht preisgeben dürft und nicht preisgeben könnt!“, rief der Regierende Bürgermeister von Berlin am 9. September 1948 Hunderttausenden in der blockierten Halbstadt zu. „Es gibt nur eine Möglichkeit für uns alle: gemeinsam so lange zusammenzustehen, bis dieser Kampf gewonnen ist, bis dieser Kampf endlich durch den Sieg über die Feinde, durch den Sieg über die Macht der Finsternis besiegelt ist.“14 Ernst Reuters religiös konnotierte Botschaft an die Welt macht deutlich: Die geteilte Hauptstadt bleibt eine himmelschreiende Wunde, ein städtischer Raum, aufgeladen mit symbolischer Bedeutung. Nur hier konnte sich darum ein so elektrisierender Augenblick ereignen, wie ihn die weltberühmte Freiheitsrede markiert. Die unübersehbare Menschenmenge vor der Rednertribüne bei der Ruine des Reichstagsgebäudes ist daher zu einer Ikone kollektiver Erinnerung geworden. Ein unvergesslicher Erinnerungsort aus der Frühgeschichte des Kalten Krieges: Als Reuter auf dem Höhepunkt der sowjetischen Blockade der Westsektoren ans Mikrofon trat, schauten tatsächlich die Völker der Erde auf diese Stadt; der Funke sprang über; seine Worte erzeugten ein Echo, das weltweit Widerhall fand; die sowjetische Blockade wurde schließlich aufgehoben, und die Halbstadt West-Berlin begann zu florieren.

Dem Lebenskünstler, Lyriker und Maler Günter Bruno Fuchs (1928 – 1977) gelingt in seinem Gedicht Berlin15 aus dem Jahr 1957 eine beeindruckend-bedrohliche Momentaufnahme der Atmosphäre im Nachkriegsberlin. Die Viersektorenstadt gilt ihm als „Würfelbrett und Jagdrevier“ der Besatzungsmächte. „Der Bär ist noch das Wappentier“, aber die Zukunft erscheint ungewiss, wobei Leben und Sterben („Webers Trauermagazin“) weiter ihren Gang gehen – und die Spree beide Halbstädte heilsam-„bettelnd“ verbindet.

Berlin

Drei Strophen Sonntagssouvenir:

Der Himmel färbt die Dächer leise.

Die Stadt, ein Würfelbrett und Jagdrevier,

summt ihre viergeteilte Weise.

Der Bär ist noch das Wappentier.

Der Hund des Kohlenhändlers bellt.

Nachmittagsstunde. Straßenstille.

Im Rinnstein singt der Zeichner Werner Heldt

den Nekrolog von Peter Hille

auf eine unerlöste Welt.

Vom höchsten Charité-Kamin

fällt eine Zeile Rauch herab

auf die Fassade: Webers Trauermagazin –

(Tritt im Zylinder an des Liebsten Grab!)

Die Spree geht bettelnd durch Berlin.

„Solange eine S-Bahn-Fahrkarte genügte, um ins westliche Deutschland zu gelangen, schien für viele Deutsche im Osten die deutsche Frage noch offen zu sein; es schien nicht alles entschieden und noch Hilfe aus dem Westen möglich. Der Mauerbau zerstörte die Einheitshoffnungen in der DDR, nicht mit einem Mal, aber allmählich. […] Das ,Schaufenster des Westens‘ war vernagelt, die ,Speerspitze der Freiheit‘ stumpf, die ,Brücke‘ zwischen den Deutschen abgebrochen, das ,Symbol der Einheit‘ zum Monument der Trennung geworden.“16 Spätestens mit dem Mauerbau 1961 wurde das Brandenburger Tor zum symbolisch nicht zu überbietenden Gedächtnisort globaler Teilung: Berlin, die einzig geteilte Stadt der Erde mit einer später bis zu 4,10 m hohen und 16 cm starken, L-förmigen Betonplattenwand. Die mehrmals erneuerte Berliner Mauer hatte schließlich eine Gesamtlänge von 166 km, wobei 45,9 km auf den innerstädtischen Bereich entfielen, 120 km auf die Grenze zwischen dem Westteil der Stadt und der DDR. Die einstige Weltmetropole vereinigte damit in sich die beiden Halbstädte (West) mit 2,2 Mio. und (Ost) mit 1,2 Mio. Menschen.

„Berlin hat bis heute keinen Frieden gefunden. Es ist nie zur Normalität zurückgekehrt. Es führt seit fast fünfzig Jahren ein Inseldasein zwischen den Fronten des alten Krieges, ein Niemands-Land, das noch dazu seit bald 30 Jahren durch eine Mauer geteilt ist: ein geteiltes Bruchstück. Welche Stadt kann das aushalten? […] Aus der extrovertierten Weltmetropole wurde die introvertierte Insel, in der die Spannungselemente wie unter Laborbedingungen aufeinanderprallen. Linke und Rechte, Alternative und Konservative, Ausländerproblem und Studentenprotest – alles tritt in Berlin unverhüllter und schärfer zutage. Die deutschen Verhältnisse finden in Berlin ihren deutlichsten Ausdruck, einschließlich des Besatzungsregimes, unter dem die Stadt fast ein halbes Jahrhundert nach Kriegsende immer noch lebt“, schreibt Heinrich Jaenecke im Sommer 1989 vor allem mit Blick auf den Westteil der Stadt.17 Dass Berlin tatsächlich neuralgischer Punkt globaler Konflikte und intellektuelles Zentrum der Ost-West-Konfrontation war, bringt Boris Groys zum Ausdruck: Viele Intellektuelle, so der Philosoph, „waren stark elektrisiert, waren enerviert, involviert, alle hatten das Empfinden, Medium der Weltpolitik zu sein, an einem Ort zu leben, der mit der ganzen Welt nicht nur äußerlich, sondern innerlich verbunden ist. Durch ihre Körper und ihr Nervensystem waren sie in Netze eingebunden; sie empfanden körperlich nach, wie die Welt sich fühlte – das hat mir gefallen.“18

An keinem anderen Ort auf dem Globus waren daher Glücksmomente und Freudentränen beim Fall des Eisernen Vorhangs heftiger als hier. „Die Bilder von den jubelnden, Sekt versprühenden, ohnmächtigen Wasserwerfern standhaltenden Menschen auf der Mauer sind zum Zeichen für das Ende einer leidvollen Epoche, ja einer ganzen Jahrhundertgeschichte geworden. Diese ökumenische Bedeutung wird das Brandenburger Tor behalten; in der Nacht vom 9./10. November 1989 wurde es umgetauft.“19

Dass sich Geschichte nicht nur in der Zeit, sondern auch im Raum ereignet, darauf hat Karl Schlögel aufmerksam gemacht. Immer wieder kommt der Historiker auf die Friedliche Revolution zu sprechen; sie markiert für ihn einen welthistorischen Einschnitt: „Nicht nur ein Imperium hatte sich aufgelöst, sondern auch der Raum, der Ostblock hieß. Nicht nur eine politische Revolution hatte sich ereignet, sondern eine ,Raumrevolution‘, die keinen Aspekt des Lebens unberührt gelassen hatte. 1989 war das Datum, das das Ende der Nachkriegszeit bezeichnete, die Berliner Mauer war der Ort, an dem sie zu Ende gegangen war. Unter den Augen der bald hoffnungsfrohen, bald verängstigten Zeitgenossen lief ein Lehrstück ab, um das andere Generationen sie beneidet haben würden. Sie wurden Augenzeugen, wie die Welt aus dem einen in einen anderen Zustand, aus dem Davor in ein Danach überging.“20 Tatsächlich ist Berlin seit 1991 wieder Regierungssitz. Angesichts der dramatischen Raum-Revolution wird aber zugleich klar: Die Metropole an der Spree ist mehr als eine große Stadt. Sie ist gesellschaftspolitischer Brennpunkt für ein ganzes Land und mehr: kulturelles Zentrum mitten in Europa. „Was die Stadt Berlin interessant macht“, erklärt der Religionsphilosoph Hans-Joachim Höhn, sei „ihre selbstauferlegte Nötigung, mit dem Sitz von Regierung und Parlament, nicht nur die ,Kapitale‘ des vereinten Deutschland zu sein, sondern ebenso als kulturelle Metropole möglichst rasch wieder jenen Weltruf zu erlangen, den sie einst in den Zwischenkriegsjahren des 20. Jahrhunderts besaß.“21

Was Räume und Orte angeht, die für den „christlichen Glauben“ besondere Relevanz besitzen, haben die beiden Kirchenhistoriker Christoph Markschies und Hubert Wolf eine Pionierleistung vollbracht. Das von ihnen herausgegebene Lese- und Studienwerk trägt den Titel Erinnerungsorte des Christentums22. Damit nehmen die bekannten Wissenschaftler den ganzen Orbis christianus in den Blick. Einleitend zu ihrem Sammelband bemerken die Forscher: Die Identitätsstiftung des Glaubens beruht ganz wesentlich auf „memoria“. Sie greifen damit das Konzept der „Erinnerungsorte“ und geistigen Kristallisationspunkte des französischen Historikers Pierre Nora auf, geben dem Ganzen aber eine spezifische Begründung. „Erinnerung ist nicht irgendeine periphere theologische Kategorie des Christentums. Im Gegenteil. Gedächtnis ist ein theologischer Zentralbegriff, denn als Offenbarungsreligion ist das Christentum eine Erinnerungsreligion.“23

RomKonstantinopelGenfWittenberg