Thüringer Berge
und
ihre Sagen

Herausgegeben von Michael Köhler

Mit Illustrationen von Kerstin Dietel

Inhaber von Rechten an Sagen, bei denen evtl. nicht angefragt wurde, bitten wir um Kontaktaufnahme.

G. K.

ISBN 9783941791121

© Jenzig-Verlag Gabriele Köhler

07751 Golmsdorf b. Jena

Briefadresse: PF 100219, 07702 Jena

Tel. 036427-71391

www.jenzigverlag.de

mail@jenzigverlag.de

2., überarbeitete Auflage 2014 in 700 Exemplaren

Gestaltung: Gabriele Köhler

Alle Rechte beim Verlag

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014

INHALT

COVER

TITEL

IMPRESSUM

KARTE

VORWORT

DANK

1. DER SONNENSTEIN

Der Riesenhügel

Der frevelnde Riese vom Sonnenstein

Räuber Urban

2. DIE HASENBURG

Der schwarze Hund

Turnier um Mitternacht

Ritter Spitznas

Die Flachsknotten vom großen Teich

3. DER MÜHLBERG UND DER KOHNSTEIN

Die goldene Wiege und General Facius

Der Fluch des Greises

Unglückliche Liebe

4. DIE QUESTE

Das verlorene Kind

Verlorenes Gut

Täglich ein Goldstück

5. DER KYFFHÄUSER

Barbarossa

Die weiße Jagd und der Jüterbogsche Schmied

Der verwandelte Flachs

Die Habgier der Botenfrau

Das Geschenk der Jungfrau im Schnee

Die Kornfuhre

Der Bauer aus Gehofen

Der Taufwein

Der Ziegenhirt

Das Brautpaar aus Tilleda

Die blaue Blume

Der Müller und der Zwerg

Der goldene Kegel

Der goldene Kelch

Der Soldat im Berg

Der Bergmann und der Mönch

Die Schatzgräber aus Sondershausen

Die goldenen Barthaare des Kaisers

Die lustigen Musikanten

Der Schäfer

Die Raben

Barbarossas Ring

6. DIE WEBELSBURG

Der Hünstein

7. DIE SACHSENBURGEN

Das Thüringer Meer

Wie die Sachsen zur Sachsenburg kamen

8. DER FRAUENBERG

Der Schwan im Frauenberg

9. DIE RUDELSBURG

Wie die Rudelsburg zu ihrem Namen kam

Die Burgkinder

10. DIE MÖBISBURG

Die Merwigsburg

Merwigs Schatz

Spuk auf der Möbisburg

11. DER JENZIG

Die Hunnenschlacht

12. DIE HÜNEBURG

Des Ritters Rettung

Erbsen zeigen den Weg

13. DIE BRANDENBURG

Die Knotten des Burgfräuleins

Der Schäfer und die Blumen

Das stolze Fräulein

Hulda

14. DER GROSSE HÖRSELBERG

Tannhäuser

Die bösen Wichtel im Bierkeller

Die Hirtenknaben

Musikanten im Hörselberg

Missachtete Warnung

15. DIE WARTBURG

Vom Namen der Wartburg

Wie die Wartburg erbaut wurde

16. DER GROSSE WARTBERG

Die Schätze vom Großen Wartburg

Das Geißbeinsloch

Der Schlangenkoch

17. DIE BURGRUINE LIEBENSTEIN

Die Teufelsmahden

Das eingemauerte Kind

Die weiße Frau vom Liebenstein

Die Nymphen

Der Leichenzug

Die Schatzsucher mit dem schwarzen Hahn

Der Wein des Asmus von Stein

18. DER GROSSE INSELSBERG

Riesen und Venezianer am Inselsberg

Des Hirten Fund

Klengknotten

Die Drachenhöhle

19. DIE HALLENBURG

Geheimnisse der Hallenburg

Die Jungfrau und die Silberglocke

20. DER GROSSE HERMANNSBERG

Die Ritter im Großen Hermannsberg

Wein vom Hermannsberg

Die Gestalt ohne Gesicht

Musikanten spielen auf dem Hermannsberg

21. DER RUPPBERG

Die Ruppbergs-Jungfrauen

Drei Johannes‘ für einen Schatz

Die spukende Marktfrau

Gespenstisches am Reißigenstein und am Häselberg

22. DER SCHNEEKOPF

Bedrohliches Wasser aus den Bergen

Gespenstisches Teufelsbad

Der Reiter in den Teufelskreisen

Das Pferd im Teufelsbad

23. DIE REINSBURG

Die Schatzgrotte

Venezianer in den Reinsbergen

Wein in den Reinsbergen

Die zwei Riesen

Der Reiter ohne Kopf

Silberner Becher und goldener Sarg

Unterirdische Gänge

Die Zerstörung der Reinsburg

24. DIE ALTEBURG

Der Schmiedeberg

25. DER WALPERBERG

Der goldene Sarg

Die Bierzapferin an der Jagdbuche

26. DER SINGER BERG

Das Singen im Berg

Der Weinsee

Der Kornfuhrmann

Zauberkräuter vom Singer Berg

Das Irrkraut

Der Teufel und das Irrkraut

Die Feueraugen

Die Flachsknotten vom Singer Berg

Die Prinzessin und die Musikanten

Die Lichter der Prinzessin

Der Schlaf im Berg

Die gelbe Blume

Schätze im Singer Berg

Martin Luther und die Raubritter

Der Schäfer im Berg

Vorräte aus dem versunkenen Schloss

27. DIE BURGRUINE SCHAUENFORST

Das weiße Fräulein

Die verschwundenen Musikanten

Unglückliche Liebe

Alter Wein

Das gebannte Fuhrwerk

28. DER DOHLENSTEIN

Das Raubschloss

29. DER GAMSENBERG

Der arme Musikant

Vergängliches Glück

Der Schlangenkreis

Das vergessene Kind

Verlorenes Vieh

Das verschwundene Schloss

30. DER CLYTHENBERG

Drude Ilse

31. DER SCHÖPSBERG

Das Querlichsloch

Die Pächterin und die Querliche

Die goldene Gans

Die kecke Magd

32. DER HEILIGE BERG

Der Kirchenbau

Ritters Tod

33. DER ÖCHSEN

Hunde am Öchsen

Der alte Keller am Öchsenberg

Die Venezianer scheitern im Öchsen

34. DER BAIER

Die Wunderblume

Die Goldfinder

Der Goldborn

Der Hechelkrämer am Goldborn

35. DER DOLMAR

Die weiße Frau von Dolmarsdorf

Seltsame Wasser

36. DIE GLEICHBERGE

Wetterboten

Seltsames am Großen Gleichberg

Wasser im Großen Gleichberg

Hans Spörleins Fahrt auf die Steinsburg

Der Steinsburg-Michel

Die Teufelsburg

Reichtümer in der Steinsburg

NACHWORT

ANMERKUNGEN

LITERATUR

VORWORT

Leise trägt die Sage ihre Botschaft durch unsere laute, bewegte Welt. Es ist eine Botschaft, die aus ferner Zeit zu uns herüberkommt und doch ganz bekannt und anheimelnd in unseren Ohren klingt. In den Sagen, deren eine oder andere ein jeder von uns schon in frühen Kindertagen zu hören bekommen hat, mischen sich diese Botschaften mit mystischen und schauerlichen Motiven. Doch jedes Wort aus dieser Welt des lange Weitergesagten umschreibt ein Stückchen Heimat, denn das vertraute Märchenhafte unserer Sagen rankt sich um die schönsten unserer bekannten und geliebten heimatlichen Plätze.

Sage und Ort hängen untrennbar zusammen. Gleich einem großen Teppich aus Geschichten weben die Sagen ein charaktervolles Muster über das weite Land. Städte und Dörfer, Flüsse und Wälder, Berge und Felder sind vom Garn der Sage eingesponnen. Folgt man heute diesem Faden, so gelangt man an dem von Generation zu Generation Weitergesagten zurück zu den nur verschwommen sichtbaren Anfängen unserer einheimischen Kultur.

Einen besonderen Stellenwert in der Thüringer Sagenwelt nehmen die Berge ein. Berge prägen die Landschaft in besonderer Weise. Das Himmelwärtsstrebende hat stets die Menschen fasziniert, die isolierte Höhe den Blick in ihren Bann gezogen. Das ist nicht nur in Thüringen so. Nicht umsonst haben Götter der verschiedensten Kulturen ihren Platz auf hohen Bergen gefunden.

Doch der Berg ist mehr als Beherrscher, mehr als Ausflugsziel und Aussichtsort. Der Berg ist Kristallisationspunkt bodenständiger Kultur. Das zeigt schon unsere Sprache. Der „Berg“ barg vor Gefahr. Auf ihm und in ihm war man „geborgen“, errichtete „Burgen“. Was einst „verborgen“ wurde, ist heute gespenstisch umwittertes, mythisches Geheimnis.

Thüringens Berge sind reich an malerischen Burgen und Ruinen. Doch es sind nicht unbedingt die mittelalterlichen Bauten und ihre Reste, die zur Tiefe der einheimischen Sagenwelt führen. Schon der Altmeister der thüringischen Sagenkunde, Ludwig Bechstein, erkannte deutlich den viel älteren Horizont, der sich unter den mittelalterlichen Überlieferungen verbirgt. Aus Zeiten fern jeglicher Schrift, aus der Urgeschichte unseres Landes, stammen Sagenmotive von Thüringens Bergen. So zeichnen die Höhen rings im weiten Land nicht nur ein Bild von landschaftlicher Schönheit, sondern auch ein Panorama landschaftlicher Frühkultur. Die Mehrzahl der sagenreichen Berge Thüringens hat menschliche Behausungen, ja, manchmal sogar stattliche Siedlungen getragen, zumeist in Zeiten, die der Ritterzeit weitaus länger vorausgingen als diese der unsrigen. Viele der Berge waren längst vergangenen Generationen Tempel oder sicheres Zuhause. Die Höhe mit und ohne Wall und Mauern war ihnen Burg und Schutz, Heimstatt und Heiligtum.

Die Sagenberge lassen sich dabei in ihrer Bedeutung nicht nach Metern messen. Neben dem eindrucksvollen Inselsberg, dem großen Beherrscher des westlichen Thüringer Waldes, steht die kleine Anhöhe des Gamsenberges im Orlatal, dessen Sagenreichtum sich vor kaum einem anderen Berg zu verstecken braucht. In der hier vorgestellten Auswahl von Sagen konnten nicht alle Thüringer Berge und nicht alle Sagen berücksichtigt werden. Die Auswahl betrifft inhaltlich vorzugsweise Sagen mit möglichen Anklängen an vormittelalterliche Motive. Geografisch wurde das Gebiet zwischen Südharz und Grabfeld gewählt, wodurch auch einige außerhalb des heutigen Freistaates Thüringen gelegene Berge einbezogen wurden, während die östlichsten Teile Thüringens unberücksichtigt blieben.

Mit den Sagen der Berge bereisen wir die alten Heiligtümer und genießen die heutige Anmut thüringischer Landschaften. Wir steigen auf die vulkangeborenen Kuppen der rauen Rhön und die herrlichen Höhen des Thüringer Waldes, auf die malerischen Muschelkalkberge am Rande des Thüringer Beckens und die kluftreichen Felsen aus erdaltzeitlichen Gesteinen. Lauschen wir mit Kindern und Schäfern, Musikanten und anderen einfachen Menschen hinein in die zauberhafte Welt der Zwerge und Dämonen, der verwunschenen Schätze und hilfreichen Geister!

Der Herausgeber

Im Februar 2014

DANK

Allen, die bei der Erstellung des vorliegenden Buches behilflich waren, möchten wir herzlich danken: den Sammlern von Sagen, denen, die wertvolle Hinweise geben konnten und nicht zuletzt jenen, die das Interesse weckten für die thüringische Landschaft, ihre Geschichte und Vorgeschichte.

Unser besonderer Dank gilt Herrn Bernd Bahn und Herrn Manfred Böhme für freundliche Anregungen und die Durchsicht des Manuskripts vor der ersten Auflage.

Wir danken auch den Verlagen und Personen, die uns freundlicherweise die Veröffentlichung von Sagen genehmigt haben.

1. DER SONNENSTEIN

Auf halbem Wege zwischen Bleicherode und Duderstadt erhebt sich der Sonnenstein. Sein Gipfel trägt ein mächtiges Kreuz. Berg und Kreuz scheiden zwei große deutsche Landschaften.

Wer sich von der thüringischen Seite aus dem Sonnenstein nähert, wird von den Höhen der Windleite, der Bleicheröder Berge und des Ohmgebirges begleitet. Muschelkalk und Buntsandstein bilden das Material dieser Landschaft, aus dem die Kräfte der Natur in Jahrmillionen ein bewegtes Relief geformt haben. Von Bleicherode aus geht es über mehrere Dörfer das Bodetal aufwärts. Die Straße nach Duderstadt erreicht hinter Holungen einen Sattel, der das Ohmgebirge mit dem Sonnenstein verbindet. So allmählich der Anstieg war, so schroff fallen die Höhen in Richtung Duderstadt über die Brehme ab. Unten breitet sich ein flacheres Land – das erste Stück Untereichsfeld, der erste Zipfel Norddeutschlands.

Der Pass bildet die porta eichsfeldica, das Tor zum Eichsfeld. Gleich einem Wächter dieser Pforte hat der Sonnenstein seinen runden Rücken nach Thüringen gekehrt und zeigt sein erhabenes felsiges Gesicht dem Duderstädter Land. Über die Höhen des Sonnensteins und den Nordwestrand des Ohmgebirges soll vor eineinhalbtausend Jahren die Grenze zwischen den germanischen Stämmen der Thüringer und der Sachsen verlaufen sein. Doch die Höhe und der Pass trennen nicht nur, sondern verbinden auch, denn seit alters her verlaufen hier Straßen, die von Thüringen nach Niedersachsen führen.

Der Sonnenstein hat nie eine trutzige Burg getragen. Es gab allerdings eine mittelalterliche Befestigung, die über dem felsigen Steilhang gelegen war und wahrscheinlich der Grenzbewachung zwischen den Eichsfeldischen Ämtern Gerode und Bodenstein diente und „Urbenschanze“ genannt wurde.1 Diese Urbenschanze begegnet uns in der Sage vom Räuber Urban wieder. Viel älter als der Stoff zu dieser Sage erscheinen die Elemente der beiden anderen im folgenden erzählten Sagen. Neben den Riesen sind es vor allem die Motive des heiligen Haines, der Sonnenwendfeier und des Tieropfers, die aus vormittelalterlicher Ferne überliefert zu sein scheinen.

Der Riesenhügel

Gleich einem Zuckerhut steht der Brune Bühl neben dem Sonnenstein in der Eichsfelder Pforte. Der Brune Bühl wird auch Riesenhügel genannt, weil er seine Entstehung einem Riesen verdankt.

Vor langer, langer Zeit, als die Riesen noch in unserem Lande lebten, wanderte einer dieser Riesen von der Mark Brandenburg zum Rhein. Nach einem guten Stück Weg drückte den Riesen märkischer Sand, der ihm am Morgen in den Stiefel geraten war. Da er gerade am Sonnenstein angelangt war, wählte er diesen als einen bequemen Sitz, schaute in die freundliche Landschaft und leerte den Stiefel vor sich aus. Der Sand bildete einen kleinen Hügel, den die Leute, die den Riesen von weitem beobachtet hatten, deshalb Riesenhügel nannten.2

Der frevelnde Riese vom Sonnenstein

Die Riesen sollen einst auf dem Sonnenstein eine gewaltige Burg erbaut und von dort aus das weite Umland beherrscht haben. Der letzte dieser Riesen soll besonders stark, aber auch besonders grobschlächtig und frevelhaft gewesen sein. Er verstand es vorzüglich, mit Pfeil und Bogen umzugehen und scheute nicht davor zurück, das in der Ferne weidende Vieh der Bauern als Zielscheibe für seine Übungen zu benutzen.

Eines Jahres feierten die Riesen kurz vor der Sommersonnenwende ein großes Gelage. Gegen Ende der wilden Feier begab sich der böse Riese mit seinen Gesellen auf den Turm seiner Veste, um vor ihnen mit seinen Schießkünsten zu prahlen. Gegenüber dem Sonnenstein lag ein heiliger Hain. Dort weideten die Pferde, die dem Gotte Wodan bestimmt waren. Ein Priester war gerade dabei, ein Fohlen auszuwählen, das zur bevorstehenden Sonnenwendfeier geopfert werden sollte. Gerade, als der Priester diesem Tier einen Mistelkranz zum Zeichen der Heiligung um den Hals legte, entschloss sich der Riese, dieses Tier zum Ziel seines Bogenschusses zu machen. Als die anderen Riesen das bemerkten, erschraken sie sehr und wollten ihn im letzten Augenblick zurückhalten. Vergebens! Der furchtbare Pfeil schnellte von der Sehne, traf und tötete das heilige Tier.

Voller Entsetzen und Zorn schleuderte der Priester seinen Fluch zu dem Schützen und seiner Burg. Dieser Fluch erfüllte sich rasch. Schon in der kommenden Nacht zerbarst die Veste. Am Morgen fand man den frevelnden Riesen tot an einem Felsen hängen.3

Räuber Urban

Vor mehreren Jahrhunderten soll ein Räuber namens Urban am Sonnenstein seine Behausung gehabt haben. Er ritt einen Rappen, der so schnell war, dass ihm niemand folgen konnte. In einer Felsenhöhle, hoch oben am Sonnenstein, fand das Pferd einen natürlichen Stall.

Urban wusste sein Versteck gut zu verbergen. Er täuschte seine Verfolger, indem er seinem Pferd die Hufeisen verkehrt herum aufschlug, und zwar so geschickt, dass das Pferd dadurch nicht am Laufen gehindert wurde. Jahrelang befand sich Urban auf diese Weise in Sicherheit, so dass er schließlich sorglos wurde und seine List aufgab. Da wurde er eines Tages am Sonnenstein überrascht, gefesselt und gerichtet.

Die Felsenhöhle des Räubers Urban verfiel mit der Zeit. Ihre Reste wurden Pferdestall oder auch Urbenschanze genannt.4

2. DIE HASENBURG

Nicht weit vom Sonnenstein entfernt liegt die Hasenburg. Der Tafelberg befindet sich zwischen den Dörfern Buhla, Kraja, Wallrode und Haynrode. Er zeichnet sich nicht durch besonders große Höhe aus, aber durch seine Gestalt. Gleich einem dreiseitigen Pyramidenstumpf steigt er aus dem umgebenden Gelände. Die ohnehin steilen Hänge werden im oberen Teil fast rings um das gesamte Berplateau durch Muschelkalkfelsen abgelöst, die vor allem an der Nordseite senkrecht aufsteigen. Diesem einmaligen Umstand hat der Berg seine lange Geschichte zu verdanken.

Die Germanen nannten diesen Berg nach einem ihrer Göttergeschlechter „Asenberg“, und so wurde der Berg auch noch im Mittelalter bezeichnet. Zur Zeit Heinrichs IV. trug der Berg die „Asenburg“, eine nach dem Berg genannte königliche Zwingfeste, die helfen sollte, das Volk am Harz und seine Fürsten der Zentralgewalt botmäßig zu machen. Die königlichen Mannen wurden jedoch im Herbst 1073 auf ihrem Berg umzingelt, belagert und bis zum Winter ausgehungert.5

Die Hasenburg bot nicht erst im Mittelalter strategischen Schutz. Bereits am Ende der Jungsteinzeit wohnten Menschen auf dem Bergplateau. Intensiv genutzt wurde der Berg insbesondere vor etwa zweieinhalbtausend Jahren, in der späten Bronzezeit und der frühen Eisenzeit. Archäologische Ausgrabungen haben zahlreiche Siedlungshinterlassenschaften dieser Periode ans Tageslicht befördert, die darauf schließen lassen, dass hier eine bedeutende frühe Höhensiedlung bestanden haben muss.6

Zur Germanenzeit wohnte wahrscheinlich niemand mehr auf dem unwirtlichen Plateau, jedoch gab es Besuche hier oben. Opferfunde aus der römischen Kaiserzeit und eventuell auch Funde der Völkerwanderungszeit weisen darauf hin, dass der Berg den Germanen als Kultstätte diente.7 So ist der Berg den Menschen der Umgebung wohl damals eine sagenumwobene Stätte der Ahnen und Götter gewesen. Die mittelalterliche Geschichte des Berges hat diese Tradition weiter gefördert.

Der schwarze Hund

Immer wieder haben Besucher der Hasenburg dort in der Mittagsstunde einen großen schwarzen Hund gesehen. Der Hund kommt herbeigesprungen, wedelt die Menschen freundlich an und versucht, sie dazu zu bewegen, mit ihm zu gehen.

Dieser Hund begegnete eines Tages auch einem Jungen aus Neustadt, der auf der Höhe Erdbeeren suchte. Da der Junge neugierig und ohne Angst war, begleitete er den Hund. Der Hund führte den Jungen in einen unterirdischen Gang. In dem langen, dunklen Gang gelangten die beiden an eine Tür, die sich von selbst öffnete. Im Halblicht erblickte der Junge einen Raum, in dessen Mitte eine lange Tafel stand, die mit lauter Münzen bedeckt war. Merkwürdigerweise zeigten nicht nur die Kupfer-, sondern auch die Gold- und die Silbermünzen starken Rost.

Plötzlich redete der Hund wie ein Mensch den verdutzten Jungen an: „Ich war in meinem Leben ein schlimmer Wucherer und habe viele Leute an den Bettelstab gebracht. Nun muss ich zur Strafe als Hund diese ungerechten Schätze bewachen. Weil aber ein Fluch auf ihnen ruht, sind sie alle verrostet. Auch deine Vorfahren habe ich betrogen. Nimm diese Summe Geldes da und stecke sie in die Taschen; sie ist Eigentum eurer Familie. Beeile dich aber, denn um ein Uhr ist der Ausgang verschlossen.“

Der Junge gehorchte und füllte seine Taschen mit dem Geld. Noch ehe er im Freien war, gab es plötzlich einen lauten Knall, und der Junge fand sich auf der Wiese wieder, auf der er eben noch Erdbeeren gesucht hatte. Zunächst meinte er, eingeschlafen gewesen zu sein und alles nur geträumt zu haben. Dann aber fühlte er die Taschen voller Geld.8

Turnier um Mitternacht

Nicht nur zur Mittagszeit, vor allem in der Nacht ist es auf der Hasenburg nicht recht geheuer. Leute wollen schon oft den Lärm klirrender Lanzen und Schwerter bis ins Tal gehört haben, und so manchem sollen bei nächtlichem Besuch auf dem Berg Ritter in voller Rüstung erschienen sein, die stets pünktlich um ein Uhr in einer Felsspalte an der Wallröder Seite wieder verschwanden.

Eines Abends begab sich ein Jäger auf die Hasenburg, um von einem günstigen Platz aus dem Wild aufzulauern. Trotz eines guten Verstecks hatte der Jäger keinen Erfolg. Zu allem Überfluss übermannte ihn die milde Abendluft, und er schlief in seinem Versteck ein.

Als der Weidmann erwachte, war es dunkle Nacht, und er hörte gerade, wie in Neustadt die Turmuhr zwölf schlug. Ehe er sich besinnen konnte, vernahm der Jäger Geräusche unweit seines Verstecks. Ein Zug von Menschen schritt den Burgweg von Buhla herauf und hatte schon fast die Höhe der Hasenburg erklommen. Hellwach war der Jäger, als er erkannte, was für ein Zug das war. Voran stieg eine Gruppe gewappneter Ritter. Ihnen folgte eine Gruppe junger Edelfrauen, die aufs hübscheste geschmückt waren. Sie begleiteten in ihrer Mitte einen Greis, den die Jahre schon gebeugt hatten. Die jungen Frauen setzten sich auf eine mit frischem Grün geschmückte Empore, die der Jäger plötzlich auf der Waldwiese stehen sah. Die Ritter traten hinzu, verbeugten sich vor den Damen und stellten sich dann in zwei Parteien auf.

Die Ritter warteten auf ein Zeichen des Alten. Dann stürzten sie aufeinander los. Was der Jäger nun sah, war kein harmloses Ritterspiel. Vor seinen Augen tobte ein erbitterter Kampf. Der Kampf wogte her und hin, und ein Ritter nach dem anderen sank getroffen zu Boden. Schließlich blieb auf jeder Seite nur ein Ritter übrig. Das Lanzenstechen zwischen diesen beiden ging unentschieden aus. Daraufhin hieben die beiden mit mächtigen Schwertern aufeinander ein, bis einer der beiden ebenfalls zu Boden ging. Der Sieger schritt nun auf die Empore zu und durfte sich von der vornehmsten der edlen Damen eine goldene Kette um den Hals legen lassen. Als das gerade geschehen war, hörte der Jäger wieder von ferne die Neustädter Glocke, und mit ihrem Schlag eins waren die ganze Gesellschaft und ihre Empore verschwunden.9

Ritter Spitznas

Die Hasenburg war einst eine stolze und mächtige Burg. Mit der Zeit zerfielen jedoch ihre Dächer, so dass schließlich keine Ritter und Burgfräulein mehr in ihren Mauern wohnten. Stattdessen hatten sich Raubritter die Ruinen der Hasenburg als ihren Unterschlupf ausgesucht. Der letzte von ihnen war der Ritter Spitznas. Seinen Namen hatte er von seiner Nase erhalten, die besonders weit vorstand.

Ritter Spitznas war gefürchtet in den Dörfern der Umgebung, denn er war gierig, wild und besonders grausam. Weil er immer mehr Angst und Schrecken verbreitete, entschlossen sich die Bauern, sich zusammenzutun und den Räuber zu fangen. Das war jedoch nicht so einfach. Ritter Spitznas hatte sich auf der Hasenburg gut verschanzt, und es fiel den Bauern zunächst schwer, die Höhe zu erkämpfen. Da aber alle Spitznas hassten, wurden es immer mehr Angreifer, und der Ritter Spitznas wurde schließlich bezwungen und in seinem Unterschlupf gefangen genommen.

Man stellte Spitznas vor ein Gericht, das den Räuber zum Tode verurteilte. Seiner edlen Herkunft wegen wurde Spitznas nicht wie andere Räuber gehenkt, sondern durch das Schwert hingerichtet. Sein abgeschlagener Kopf verwandelte sich in einen Stein, der heute noch zu sehen ist, denn er wurde in das Mauerwerk einer großen Scheune in der Mitte von Wallrode eingebaut. An der steinernen Nase, die aus dem Stein vorspringt, ist der Kopf des Ritters Spitznas immer noch gut zu erkennen.10

Die Flachsknotten vom großen Teich

Am Fuß der Hasenburg, auf halbem Weg zwischen Wallrode und Haynrode, lagen einst ein Dorf und ein Teich. Das Dorf hieß Salmerode und ist längst untergegangen. Nur die obere der drei Mühlen des Dorfes steht heute noch und ist immer noch bewohnt. Der ehemals vorhandene so genannte Große Teich neben der Mühle ist verschwunden, aber noch an den alten knorrigen Weiden zu erkennen, die dort stehen, wo einst sein Ufer war.

Einmal kamen drei Haynröder Bauern aus Wallrode abends am Großen Teich vorüber. Sie wunderten sich sehr, als sie eine ganz weiß gekleidete Frau am Ufer des Teiches stehen sahen, die Tücher ausgebreitet hatte, die mit goldgelben Flachsknotten bedeckt waren. Trotz der merkwürdigen Erscheinung nahm sich einer der Männer ein Herz und redete die weiße Frau mit Blick auf die Flachsknotten an: „Kann man denn nicht eine Handvoll davon mitnehmen?“ Zu ihrer Verblüffung nickte die weiße Frau mehrmals, und so zögerten auch die zwei anderen Bauern nicht und füllten ihre Hosentaschen mit dem Flachs. Der Frager jedoch machte mit Hilfe seines Ledergürtels seinen Kittel zum Beutel und stopfte so viel hinein, wie er konnte.

Zu Hause angekommen, schüttete der Mann den Flachs auf den Tisch und freute sich darüber, auf so billige Weise zum Flachssamen für die nächste Aussaat gekommen zu sein. Seine Frau staunte über seinen Bericht, und das Staunen beider wurde immer größer, als sie auf einmal bemerkten, dass die Flachsknotten aus purem Golde waren. Die weiße Frau vom Großen Teich hatte ihnen einen ganzen Schatz geschenkt. In seiner großen Freude rannte der Mann zu seinen beiden Freunden, die noch nichts von der wunderbaren Verwandlung gemerkt hatten. Beide rannten mit Säcken zum Großen Teich zurück, um einen ebenso großen Schatz zu erhalten wie der erste. Aber als sie dort ankamen, waren die weiße Frau und mit ihr auch die Tücher und die Flachsknotten verschwunden.11

3. DER MÜHLBERG UND DER KOHNSTEIN

Von Nordhausen aus erreicht man über die Straße nach Ilfeld Niedersachswerfen. Dicht nordwestlich von Niedersachswerfen erhebt sich an der Straße nach Ilfeld der Mühlberg. Gemeinsam mit dem gegenüberliegenden Kohnstein standen früher die beiden Berge aus Gipsgestein mit ihren steilen Klippen wie zwei Brüder über dem Tal.

Die Landschaft wird in starkem Maße durch den Anhydritabbau bestimmt. Dieser hat insbesondere an dem südlich gelegenen Kohnstein große Wunden gerissen.

Sowohl der Mühlberg als auch der Kohnstein trugen in vorgeschichtlicher Zeit Wallburgen. Auf dem Kohnstein wurde sogar ein relativ kompliziertes Befestigungssystem nachgewiesen, das aus dem Übergang von der Hallstatt- zur Latènezeit stammt, also etwa zweieinhalbtausend Jahre alt ist.

Offensichtlich war hier eine ausgedehnte Anlage im Bau, die einer größeren Menschengruppe Sicherheit bieten sollte, aber noch vor ihrer Fertigstellung durch einen Angriff zerstört wurde.

Hinter dem Wall wurden von den Ausgräbern verbrannte Häuser, Bronzen und Keramik gefunden, die wie die zerstörten Wallabschnitte zeigen, dass die befestigte Höhensiedlung ein gewaltsames Ende gefunden hat. Ihre Überreste waren 1934 noch wohlerhalten. Leider ist die vorgeschichtliche Befestigungsanlage vollständig dem Anhydritabbau zum Opfer gefallen.

Auf dem Mühlberg schneidet ein 10 m breiter Wall mit vorgelagertem Graben die östliche Bergzunge vom anschließenden Gelände ab. Diese Befestigungsanlage wird Faciusgraben genannt. Tonscherben, Gipsbrocken und Schlacke weisen darauf hin, dass auch der Wall auf dem Mühlberg eine Befestigungsanlage aus der späten Bronze- bis frühen Eisenzeit darstellt. Wie der Kohnstein wurde auch diese Burg bei einem Angriff zerstört.12

Die goldene Wiege und General Facius

Der Mühlberg heißt auch Himmelberg. Von der Wallburg auf dem Mühlberg geht die Sage, dass sich dort eine Frau mit einer goldenen Wiege zeigt. Es wird behauptet, dass die Gestalt mit der Wiege Frau Holle sei. Weil Frau Holle ihre Schnee spendenden Betten im Himmel ausschüttelt, wird der Berg auch Himmelberg genannt. Es gibt noch einen dritten Namen. Dieser bezieht sich auf den Wall auf der Höhe. Ein römischer General namens Facius soll bis hierher gelangt sein. Nachdem er fern der Heimat gestorben war, wurde er auf dem Mühlberg begraben. Der Graben wurde deshalb Faciusgraben genannt. Andere meinen, dass der Name von Bonifatius herrührt, der in Thüringen die christliche Botschaft verkündet hat.13

Der Fluch des Greises

An der Nordseite des Mühlberges liegt eine Höhle, das Ziegenloch genannt, weil dort die Hirten bei Unwettern ihre Herden bargen. Unterhalb dieser Höhle befand sich der Tanzteich. An der Stelle dieses Teiches stand vor langer, langer Zeit ein stattliches Schloss. Dort wohnte ein reicher Ritter in Pracht und Prunk, der in den Mauern seines Schlosses rauschende Feste feierte. Der Ritter und seine Gäste vergnügten sich Tag und Nacht, Zucht und Ordnung wurden kaum geachtet.

Wieder einmal drehten sich eines Abends die tanzenden Paare, schwelgte man im Schloss in einem verschwenderischen Fest. Doch draußen herrschte eine bedrückende Stimmung. Schwarze Wolken jagten am Himmel, das Flüsschen murmelte traurig sein plätscherndes Lied, und in der Ferne grollte der Donner. Im Unwetter erreichte ein gebeugter Greis mit regennassem, grauem Haar und in ärmlicher Kleidung das Schloss. Durch die unbewachte Tür gelangte er ins Innere und kam über eine breite Steintreppe in den Festsaal. Der Alte wagte nicht näherzutreten, als er all die Herrlichkeit erblickte. Aber er blieb nicht lange unentdeckt. Der Schlossherr selber sah ihn. Doch anstatt sich des armen Alten mitleidig zu erbarmen, löste der Anblick des alten Mannes den Zorn des Schlossherrn aus. Er schrie ihn an: „Unverschämter Bettler! Wie kannst du dich erdreisten, mein Schloss zu betreten? Du sollst deine Frechheit teuer büßen und schneller hinabkommen als du heraufgestiegen!“ Darauf packte der Ritter den Alten, schleppte ihn zum Fenster und stürzte ihn hinaus. Seine Freunde spendeten dem grausamen Ritter mit ihrem Gelächter Beifall.

Der Bettler aber stand plötzlich, von merkwürdigem Licht umflossen, vor dem Schloss. Der Jubel der Festgäste verstummte, und zu Tode erschrocken vernahm die Gesellschaft, was der Alte mit furchtbarer Stimme rief: „Verflucht seid ihr, die ihr den Armen verhöhnt, und dem Tode geweiht, verflucht sei diese Stätte mit all ihrer Lust und Üppigkeit, und ihr sollt versinken zur Stund in Nacht und Finsternis!“

Kaum waren die Worte des Alten verklungen, da fuhr wie eine feurige Schlange ein Blitz auf das Schloss hernieder. Im Donner barst die Erde, das Schloss sank herab, und ein Wasserstrom quoll aus der Tiefe. Seitdem hat niemals wieder jemand das reiche Schloss gesehen.

Wenn man nachts allein am Tanzteich vorübergeht, kann man ein unheimliches Geräusch aus der Tiefe des Wassers vernehmen. Es klingt wie eine Mischung aus Jubel und Stöhnen, Jauchzen und schaurigem Grabgesang. Der Teich wurde aber Tanzteich genannt, weil die Bewohner des Schlosses aus dem lebensfrohen Tanz in dieses schaurige Grab versenkt wurden.14

Unglückliche Liebe

Die steilen Felsen an der Ostseite des Kohnsteins werden Mönchsklippen genannt. Diese Bezeichnung erinnert an die unglückliche Liebe eines Mönches. Dieser hatte eine tiefe Zuneigung zu einem Mädchen. Da es jedoch Sünde für ihn war, das Mädchen zu lieben, fiel er in tiefen Kummer. Als die Qualen seiner unerfüllten Liebe unerträglich wurden, beschloss er, sich selbst den Tod zu geben. So stürzte er sich vom Kohnstein hinunter.15

4. DIE QUESTE

Nicht nur die mündlich weitergegebenen Geschichten erinnern die Thüringer an eine ferne Vergangenheit. Nicht nur Kirchen und Schlösser, Dörfer, Städte und Burgen geben Zeugnis von einer in Jahrtausenden geformten Kulturlandschaft. Auch Brauchtum hat sich über viele Jahrhunderte erhalten, darunter solches, das schon im Mittelalter von der Kirche bekämpft, in stalinistischen Zeiten kaum geduldet worden ist. Am deutlichsten macht diese Art der Tradition die Queste bei Questenberg.

Die Queste liegt dicht über dem Dorf Questenberg am Südrand des Unterharzes. Schon der bezaubernde Anblick des kleinen Dorfes Questenberg von der steilen Höhe des Gipsfelsens lohnt den Aufstieg. Die Anhöhe der Queste wird durch den großen, jährlich erneuerten, hoch an einem Mast befestigten Kranz, die Queste, kenntlich gemacht. Dort oben feiert die Jugend der Umgebung das Questenfest. Nach H. Silberborth könnte das Questenfest in einem alten Sonnenkult seinen Ursprung haben. Der geschmückte Kranz wäre danach als Symbol für das Sonnenrad zu verstehen, der geschälte, aufgerichtete Baum als Symbol des Lebens.16

Der Questenberg trägt eine Wallanlage, die eventuell schon aus der Jungsteinzeit stammt. Keramikscherben, die man an verschiedenen Stellen innerhalb des Walles findet, belegen eindeutig die Nutzung des Berges in der frühen Eisenzeit. Außerdem gibt es Keramik aus der Slawenzeit. Neben der Queste finden sich über dem Tal des Dorfes Questenberg weitere Burgen in einer ungewöhnlichen Ballung. Im Umkreis von weniger als einem halben Kilometer trifft man auf die mittelalterliche Questenburg mit ihren malerischen Ruinen sowie die Wallburgen auf dem Arnsberg (jüngere Bronze- und frühe Eisenzeit) und dem Klauskopf oder Clausberg.17

Das verlorene Kind

Vor etlichen hundert Jahren stand bei dem Dorf, das jetzt Questenberg heißt, eine stolze Burg, die Finsterburg. Die Herren von Finsterburg waren ein altes, berühmtes Geschlecht, rechtschaffen und fromm.

Eines schönen Frühlingstages – es war gerade in der Woche vor Pfingsten – begab sich ein kleines Töchterlein der Finsterburger hinaus vor die Burg, um im Freien zu spielen. Die Sonne strahlte prächtig vom Himmel, die Wiesen dufteten von bunten Blumen, und Schmetterlinge und Vögel lockten das Kind. Es begann, einen Blumenstrauß zu pflücken. Es lief von der Wiese in den Wald, wo noch andere Blumen blühten und seinen Strauß immer größer und bunter werden ließen. Während es so pflückte und spielte, merkte das Mädchen gar nicht, wie die Zeit verstrich und der Tag sich neigte. Die Dämmerung überfiel es tief im Wald, und der Weg zur heimatlichen Burg war längst verloren. Bald irrte das Kind ängstlich klagend durch den nun still und unheimlich gewordenen dunklen Wald.

Am Abend wurde das Kind auf der Burg vermisst. Die Eltern schickten alle Dienstboten und Knechte aus, um in der Umgebung der Finsterburg nach dem ausbleibenden Kind zu suchen. Aber es war nicht zu finden. Da entschlossen sich die besorgten Eltern, alle zur Burg gehörigen Bauern aufzubieten und auch die weitere Umgebung durchsuchen zu lassen. Die Bauern durchstöberten noch am Abend jeden Winkel des Waldes, jedes Tal und jede Höhle, doch ohne Erfolg. Die Suche wurde auch am kommenden Tag fortgesetzt, obwohl die Eltern kaum noch zu hoffen wagten, ihr Kind lebendig wiederzusehen, denn sie wussten, dass im Harzgebirge hinterhältige Räuber jeder einsamen Seele auflauerten, Bären und heißhungrige Wölfe auf der Suche nach Beute die Wälder durchstreiften. Wenn schon den Lebenden verloren, sollten doch wenigstens die Reste des armen Kindes gefunden und ihm ein christliches Begräbnis bereitet werden.

Doch das Unerwartete geschah. Am zweiten Pfingsttag entdeckten Bauern das Kind auf einer Wiese bei dem Dorfe Rotha. Das Kind war ganz munter und frohgemut. Es hielt einen geflochtenen Kranz aus Blüten in seinen Händen, in den zwei Quasten gewunden waren und strahlte seinen Rettern entgegen. Da war der Jubel groß, und im Triumphzug wurde die Finsterburger Tochter zur Burg getragen. Der Kranz als Symbol der Rettung wurde mitgebracht.

Die überglücklichen Eltern schlossen das Kind in ihre Arme. Zum Dank richtete der Finsterburger seinen Bauern ein Fest aus. Der quastengeschmückte Kranz wurde zum Anlass genommen, um Dorf und Burg neue Namen zu geben. Fortan hießen sie Questenberg und Questenburg. Die Bewohner Questenbergs aber feierten nun in jedem Jahr ein Fest in Erinnerung an den Tag, an dem das Finsterburger Töchterchen wiedergefunden worden war. Ein Kranz mit Quasten wird am dritten Pfingsttag auf den Questenberg getragen und dort, an einem Eichbaum befestigt, aufgerichtet. Seither grüßt die „Queste“ von ihrem Berg ins Land.18

Verlorenes Gut