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JOHN STUART MILL (1806–1873) war einer der bedeutendsten politischen Philosophen und der vielleicht bedeutendste angelsächsische Philosoph des 19. Jahrhunderts. Als Hauptvertreter des Utilitarismus widmete er sich in seinem Werk vor allem Fragen der politischen Freiheit, des Allgemeinwohls und den Grenzen des Staates. Er verfasste darüber hinaus eine Frühschrift des Feminismus sowie eine Erörterung der Grundfragen der politischen Ökonomie. Er war vertrat seine liberale Position auch politisch aktiv und war Parlamentsmitglied für die Whigs.

Zum Buch

»Die verhängnisvolle Neigung der Menschen über etwas, was nicht mehr zweifelhaft ist, nicht länger nachzudenken, ist die Ursache der Hälfte aller Irrtümer.«JOHN STUART MILL

Spätestens seit dem Arabischen Frühling wird dem durchaus komplexen Freiheitsbegriff wieder intensive Beachtung geschenkt. John Stuart Mill differenziert und erläutert bereits im 19. Jahrhundert überraschend zeitgemäß die unzähligen Ebenen, die den Terminus der Freiheit ausmachen. Er konfrontiert den Mikrokosmos des Einzelnen mit dem Makrokosmos eines Volkes und erläutert die Pflichten und Freiheiten eines Herrschenden. Religionskritische Äußerungen in die Richtung naiver und bedingungsloser Gutgläubigkeit gegenüber Traditionen und allgemein anerkannten Meinungen beanstandet er ebenso wie die bereits zu seinen Zeiten fehlende und noch heute unterschwellig vorherrschende Intoleranz gegenüber anderen Denk- und Glaubensweisen, die auch den westlichen Freiheitsbegriff immer wieder untergraben.

Wie sehr Pressefreiheit, Bildung einer öffentlichen Meinung, die Freiheit des Einzelnen und eines Volkes sowie Rechte und Pflichten eines Herrschers zusammenhängen, erläutert John Stuart Mill in Über Freiheit. So stellt er sich der Frage, inwiefern von einem Herrscher oder Lehrer fraglos übernommene (öffentliche) Meinungen noch freie und vor allem wahre Meinungen sind. Ausführlich widmet Mill sich der Freiheitseinschränkung innerhalb einer Gesellschaft, sei es der Festlegung von Warenpreisen, staatliches Erschweren der Drogenein- und -ausfuhr sowie der Giftherstellung oder der Besteuerung alkoholischer Getränke. Gleichermaßen setzt er sich mit religiöser und kultureller Verfolgung auseinander. Auch seine Überlegungen und Reformansätze zu ethischmoralischen Problematiken wie der Verhinderung eines Verbrechens, der Prävention von Gewaltexzessen aus Trunkenheit, dem Einschreiten des Staates in die Kindererziehung und -bildung oder die Frage nach sozialer Ungerechtigkeit sind von bissiger Aktualität.

John Stuart Mill

Über die Freiheit

John Stuart Mill

Über die Freiheit

Ein Essay

Aus dem Englischen übersetzt
von
David Haek

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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Der Text basiert auf der Ausgabe marixverlag, Wiesbaden 2014
Der Text wurde behutsam revidiert nach der Ausgabe Leipzig 1896.
Covergestaltung: Groothuis. Gesellschaft der Ideen und Passionen mbH
Hamburg Berlin
eBook-Bearbeitung: Bookwire GmbH, Frankfurt am Main

ISBN: 978-3-8438-0439-4

www.marixverlag.de

INHALT

VORWORT DES ÜBERSETZERS

WIDMUNG

ERSTES KAPITEL

Einleitung

ZWEITES KAPITEL

Über Gedanken- und Redefreiheit

DRITTES KAPITEL

Über die Individualität als eines der Elemente der Wohlfahrt

VIERTES KAPITEL

Über die Grenzen der Autorität der Gesellschaft über das Individuum

FÜNFTES KAPITEL

Anwendungen

VORWORT DES ÜBERSETZERS

John Stuart Mill, einer der erleuchtetsten Geister, die England der Welt schenkte, wurde am 20. Mai 1806 in London als Sohn des Historikers und Nationalökonomen James Mill geboren. Er erhielt eine sehr freisinnige Erziehung, war eine Zeitlang Beamter der Ostindischen Kompanie, später auch Mitglied des Unterhauses, und starb am 8. Mai 1873. Seine Ehe mit Miss Tayloy, einer feinsinnigen und hochgebildeten Dame, war sehr glücklich, was auch die dem Beginn dieses Werkes vorgesetzte Widmung erkennen lässt. Dieser Umstand mochte auch beigetragen haben, dass Mill zum eifrigen Vorkämpfer der sogenannten Frauenemanzipation wurde, ein Gegenstand, den er im vorliegenden Buche nur flüchtig berührt, ausführlich jedoch in seinem bekannten Werk: »Subjection of woman« (»Die Hörigkeit des Weibes«) behandelt.

Als sein Hauptwerk ist »System of Logic« zu betrachten, wo er als Philosoph auf dem von Bacon angebahnten Pfad rüstig weiter schreitet, ferner seine »Principles of Political Economy«, wo er sich auch als Meister eines der praktischen Gebiete der Philosophie – wofür die Nationalökonomie wohl gelten kann – bewährt.

Sein Essay »On Liberty«, das hier in deutscher Übersetzung dem Leser vorliegt, ist eines der interessantesten und merkwürdigsten Bücher, das von jedermann aufmerksam gelesen zu werden verdient. Obgleich Jahrzehnte seit dem ersten Erscheinen dieses Werkchens vergangen sind, steht sein Inhalt so frisch und neu vor uns, als wäre es gestern geschrieben worden. Alle Fragen, die hier berührt werden, pochen heute noch kräftiger als damals an die Pforte der Zeit; sie sind indessen allgemeiner, ihre Lösung dringlicher geworden. Was damals in präziser Form kaum mehr als Gegenstand wissenschaftlicher Erörterungen war, ist nunmehr zur Tagesfrage ausgewachsen, die die Menge bewegt und erregt, in der Gesetzgebung, in der Presse, kurz überall in der Öffentlichkeit laut ihr Dasein äußert. Diesem Werke kann daher neben seinem hohen wissenschaftlichen Wert ein bedeutendes aktuelles Interesse nicht abgesprochen werden.

WIDMUNG

Dem teuren und schmerzlichen Angedenken derjenigen, die Anregerin und zum Teil Verfasserin des Besten, was in meinen Schriften enthalten ist, war; der Freundin und Gattin, deren hoher Sinn für Wahrheit und Recht für mich die kräftigste Aufmunterung, deren Zustimmung mein höchster Lohn war – widme ich dieses Werk. Wie alles, was ich Jahre hindurch geschrieben habe, gehört auch dieses Buch ihr nicht minder an als mir; in seiner vorliegenden Gestalt hat es aber nur in einem sehr ungenügenden Grade den unschätzbaren Vorzug gehabt, von ihr durchgesehen werden zu können. Einige der wichtigsten Teile waren einer sorgsameren Prüfung bestimmt, die sie nunmehr nicht erhalten sollen. Wäre ich imstande, der Welt auch nur die Hälfte der hohen Gedanken und edlen Gefühle darzulegen, die mit ihr ins Grab gebettet wurden, so wäre ich der Mittler eines größeren Verdienstes, als jemals aus dem entstehen kann, was ich ohne Rat und Tat ihrer unvergleichlichen Weisheit zu schreiben vermag.

John Stuart Mill

ERSTES KAPITEL

Einleitung

Der Gegenstand dieses Essays ist nicht die sogenannte Freiheit des Willens, welche so unpassend der irrig benannten Lehre von der philosophischen Notwendigkeit gegenüber gestellt wird, sondern die bürgerliche oder soziale Freiheit: die Natur und Grenzen der Macht, welche berechtigterweise von der Gesellschaft auf das Einzelwesen ausgeübt wird. Es ist dies eine Frage, die nur selten aufgeworfen und im Allgemeinen kaum erörtert wurde, die aber die praktischen Kontroversen der Zeit durch ihre verborgene Anwesenheit stark beeinflusst hat und sich für die Zukunft gleichsam als Lebensfrage zu erkennen gibt. Sie ist insofern nicht neu, als sie, in einem gewissen Sinne, die Menschheit seit den frühesten Tagen in Parteien gespalten hat; aber in dem Zustand des Fortschritts, in welchem sich die zivilisierteren Teile der Menschheit nun befinden, äußert sie sich unter neuen Bedingungen und heischt eine unterschiedliche und gründlichere Behandlung.

Der Kampf zwischen Freiheit und Autorität ist der auffälligste Zug in denjenigen Teilen der Geschichte, mit welchen wir am frühesten vertraut sind, besonders in denen von Griechenland, Rom und England. Aber in alter Zeit bestand diese Gegnerschaft zwischen Untertanen oder einigen Klassen von Untertanen und der Regierung. Freiheit bedeutete Schutz gegen die Tyrannei der politischen Herrscher. Die Herrscher wurden (ausgenommen bei einigen der volkstümlichen Regierungen Griechenlands) als notwendigerweise gegnerisch dem von ihnen beherrschten Volke betrachtet. Sie waren Einzelherrscher oder ein herrschender Stamm, eine herrschende Kaste, die ihre Autorität von Erblichkeit oder Eroberung ableiteten, sie unter allen Umständen nicht zum Vergnügen der Beherrschten gegeben erachteten, und deren Übergewicht man nicht anzutasten wagte, vielleicht auch nicht wollte, welche Vorsichtsmaßregeln auch immer gegen ihre bedrückende Ausübung getroffen werden mochten. Ihre Macht galt als nötig, aber auch als höchst gefährlich, als eine Waffe, die sie geneigt sein könnten gegen ihre Untertanen nicht minder zu – gebrauchen als gegen äußere Feinde. Um die schwächeren Mitglieder der Gemeinschaft davor zu schützen, dass sie nicht die Beute zahlreicher Geier werden, war es nötig, dass ein Raubtier vorhanden sei, das stärker als die andern ist, berechtigt, diese niederzuhalten. Da aber der König der Raubvögel nicht minder als einer der Geringeren geneigt sein mochte, beutegierig auf die Herde zu stoßen, so war es unerlässlich, gegen seinen Schnabel und feine Krallen in stetem Verteidigungszustand zu sein. Das Ziel der Patrioten war daher Schranken zu setzen der Macht, welche der Herrscher über die Gemeinschaft ausübte, und diese Einschränkung war es, was sie unter Freiheit verstanden. Sie wurde auf zweierlei Wegen versucht. Erstens, indem die Anerkennung gewisser unverletzlicher Bestimmungen herbeigeführt wurde, die politische Freiheiten oder Rechte genannt wurden, deren Missachtung als Pflichtbruch des Herrschers betrachtet wurde, so dass in diesem Falle ein besonderer Widerstand oder eine allgemeine Rebellion für gerechtfertigt galt. Ein zweites, allgemein späteres Mittel war die Herstellung konstitutioneller Schranken, wodurch die Zustimmung der Gemeinschaft oder irgendeiner Körperschaft, von der angenommen wurde, dass sie die allgemeinen Interessen vertrete, als notwendige Bedingung für einige der wichtigeren Handlungen der regierenden Macht festgesetzt wurde. Jener ersten Art und Weise der Einschränkung mussten sich die Herrscher der meisten europäischen Länder mehr oder minder unterwerfen. Anders war es mit der zweiten, und diese herzustellen oder sie zu vervollständigen, wo sie bereits einigermaßen vorhanden war, wurde überall der Hauptgegenstand der Freiheitsfreunde. Und solange die Menschheit damit zufrieden war, einen Feind mit dem andern zu bekämpfen und von einem Herrn regiert zu werden, unter der Bedingung, gegen seine Tyrannei mehr oder minder geschützt zu sein, ging sie mit ihren Bestrebungen über dieses Ziel nicht hinaus.

Im Laufe des menschlichen Fortschrittes kam jedoch eine Zeit, wo die Menschen es nicht mehr für eine Naturnotwendigkeit hielten, dass ihre Herrscher eine unabhängige Macht seien, deren Interessen den ihrigen entgegenständen Es dünkte sie viel besser, dass die verschiedenen Staatsbehörden ihre Bevollmächtigten oder Abgeordneten seien, die beliebig abberufen werden könnten. Derart schien ihnen eine vollkommene Sicherheit gegeben, dass die Herrschermacht nicht zu ihren Ungunsten je missbraucht werde. Allmählich wurde diese neue Forderung nach gewählten und zeitweiligen Herrschern der Hauptgegenstand der Volkspartei, wo eine solche vorhanden war, und ersetzte in beträchtlicher Ausdehnung die früheren Bemühungen die Herrschermacht einzuschränken. Als nun der Kampf um die Abhängigkeit der Herrschermacht von der periodischen Wahl der Beherrschten sich kräftiger äußerte, neigten sich manche der Meinung zu, man habe der Beschränkung dieser Macht selbst zu viel Bedeutung beigelegt. Jene war (mochte es scheinen) ein Hilfsmittel gegen Herrscher, deren Interessen regelmäßig denen des Volkes entgegenstanden. Was jetzt nötig schien, das war, dass die Herrscher mit dem Volk Eins seien, dass ihr Interesse und Wille denen des Volkes gleichkämen. Das Volk brauchte gegen seinen eigenen Willen nicht beschützt zu werden. Es war nicht zu befürchten, dass es sich selbst tyrannisieren werde. Lasst die Herrscher dem Volke tatsächlich verantwortlich sein, lasst ihm die Möglichkeit, sie rasch zu entfernen, und es kann sie mit einer Macht ausrüsten, deren Gebrauch es ja selbst vorzuschreiben vermag. Die Macht der Herrscher ist dann nur die angesammelte und für die Ausübung in geeignete Form gebrachte Macht des Volkes selbst. Diese Weise zu denken – oder vielleicht zu fühlen – war unter der letzten Generation des europäischen Liberalismus allgemein und scheint auf dem europäischen Festlande noch vorzuherrschen. Diejenigen, die eine Beschränkung dessen, was die Regierung tun darf, zugeben – ausgenommen solcher Regierungen, die ihres Erachtens nicht bestehen sollten –, stehen als glänzende Ausnahmen unter den politischen Denkern des Kontinents. Eine ähnliche Empfindungsweise würde jetzt auch in England vorwiegen, wenn die Umstände unverändert geblieben wären, die eine Zeitlang dafür sprachen.

In politischen und philosophischen Theorien aber, wie auch bei einzelnen Personen, deckt der Erfolg Fehler und Schwächen auf, die bei einem Misserfolg der Beobachtung wohl verborgen geblieben wären. Die Meinung, dass das Volk nicht nötig habe, die Macht einzuschränken, die es über sich selbst ausübt, konnte als feststehend gelten, solange Volksherrschaft nur ein Traumgebilde war oder solange man nur von ihr las, sie habe in irgendeiner weit zurückliegenden Vergangenheit bestanden. Diese Ansicht wurde nicht notwendigerweise gestört durch zeitweilige Abweichungen, wie die Französische Revolution, deren Ärgstes das Werk einer usurpierenden Kleinzahl war und zumeist nicht aus der anhaltenden Wirksamkeit volkstümlicher Einrichtungen hervorgegangen ist, sondern ein plötzlicher und krampfhafter Ausbruch gegen monarchischen und aristokratischen Despotismus war. Indessen hat sich aber eine demokratische Republik über einen großen Teil der Erdoberfläche ausgebreitet und macht sich als eines der mächtigsten Mitglieder der Völkergemeinschaft fühlbar. Wählbare und verantwortliche Regierung wurde damit zum Gegenstand von Beobachtungen und Beurteilungen, wie sie bei jeder großen bestehenden Tatsache in Erscheinung treten. Es wurde nun bemerkt, dass Phrasen, wie »Selbstregierung« und »Macht des Volkes über sich selbst«, den richtigen Sachverhalt nicht ausdrücken. Das »Volk«, welches die Macht ausübt, ist nicht stets dasselbe Volk mit denen, über die diese Macht ausgeübt wird; und die sogenannte »Selbstregierung« ist nicht die Regierung des einzelnen durch sich selbst, sondern die Regierung jedermanns durch alle andern. Der Volkswille bedeutet überdies tatsächlich nur den Willen des zahlreichsten oder rührigsten Teiles des Volkes, der Mehrheit oder derjenigen, denen es gelingt, sich als Mehrheit geltend zu machen. Das Volk kann folglich die Unterdrückung eines Teils seiner Gesamtheit beabsichtigen. Vorsichtsmaßregeln sind daher sowohl gegen diesen wie gegen jeden andern Missbrauch der Macht geboten. Die Einschränkung der Regierungsmacht über die Einzelwesen verliert demnach nichts von ihrer Wichtigkeit, wenn die Machthaber der Gemeinschaft, das heißt deren stärkste Partei, regelmäßig verantwortlich ist. Diese Anschauungsweise, welche sich ebenso der Einsicht der Denker wie der Neigung derjenigen einflussreichen Klassen der europäischen Gesellschaft empfiehlt, deren wirkliche oder vermeintliche Interessen der Demokratie entgegen sind, hat sich ohne Schwierigkeiten festgesetzt; und die »Tyrannei der Mehrheit« gehört nun in der Politik allgemein zu denjenigen Übeln, gegen welche die Gesellschaft auf ihrer Hut sein muss.

Gleich andern Tyranneien wurde anfangs und wird gemeinhin noch die Tyrannei der Mehrheit hauptsächlich darum gefürchtet, weil sie durch die Handlungen der Staatsgewalt wirkt. Denkende Personen bemerkten jedoch, dass, wenn die Gesellschaft selbst ein Tyrann ist – die Gesellschaft als Ganzes über die besonderen Einzelwesen, welche sie bilden – die Mittel der Tyrannei nicht auf Handlungen beschränkt sind, welche sie durch ihre politischen Funktionäre ausführen kann. Die Gesellschaft kann ihre Befehle vollziehen und vollzieht sie auch; und wenn sie unrechte statt rechte Befehle erlässt oder überhaupt Befehle in Angelegenheiten, in die sie sich nicht mischen sollte, so übt sie eine gesellschaftliche Tyrannei aus, härter als irgendeine politische Bedrückung, indem sie, obgleich sie gewöhnlich nicht so strenge Strafen anwendet, dennoch weniger Auswege übrig lässt, viel tiefer in die Einzelheiten des Lebens eindringt und die Seele selbst versklavt. Schutz gegen die Tyrannei der Behörde ist daher nicht genug; es braucht auch Schutz gegen die Tyrannei der vorherrschenden Meinungen und Gefühle; gegen die Neigung der Gesellschaft, ihre eigenen Ideen und Handlungen als Lebensregeln allen, die hiervon abweichen, durch andere Mittel als bürgerliche Strafen aufzunötigen, zu verhindern die Entwicklung und wenn möglich sogar die Bildung irgendeiner Individualität, die nicht mit ihrem Tun und Lassen übereinstimmt, und alle Charaktere zu zwingen, sich nach ihrem eigenen Muster zu bilden. Es gibt eine Grenze, welche die Einmischung der Gesamtmeinung in die persönliche Unabhängigkeit berechtigterweise nicht überschreiten darf, und diese Grenze zu finden, sie gegen Angriffe zu schützen, ist für den gesunden Zustand der menschlichen Angelegenheiten ebenso unerlässlich wie der Schutz gegen politischen Despotismus. Obgleich nun aber diese Behauptung im Allgemeinen nicht leicht bestritten werden kann, so ist doch die praktische Frage, wo diese Grenze zu ziehen sei – wie persönliche Unabhängigkeit und gesellschaftliche Aussicht geeignet abzusondern wären – eine Sache, für die nahezu noch alles zu tun übrig bleibt. Alles, was irgendwen das Leben wertvoll macht, hängt von der Einschränkung der Betätigungen anderer Leute ab. Gewisse Lebensregeln müssen daher festgestellt werden, vor allem durch das Gesetz, und in manchen Dingen, die für ein gesetzliches Einschreiten nicht geeignet sind, durch die öffentliche Meinung. Was diese Regeln bestimmen sollen, ist die Hauptfrage für die menschlichen Angelegenheiten, eine Frage, die, wenn wir einige wenige der auffälligsten Fälle ausnehmen, am wenigsten ihrer Entscheidung näher gerückt ist. Nicht zwei Zeitalter und kaum zwei Länder sind hier gleicher Ansicht gewesen; und die Entscheidung des einen Zeitalters oder Landes dünkt den andern ganz verwunderlich. Dennoch fand das Volk irgendeines Zeitalters oder Landes nicht mehr Schwierigkeiten dabei, als wenn es einen Gegenstand beträfe, worüber die Menschheit stets übereingestimmt hätte. Regeln, die man selbst aufstellt, hält man für selbstverständlich und von selber gerechtfertigt. Diese fast allgemeine Illusion ist eines der Beispiele von der zauberischen Macht der Gewohnheit, die nicht nur, wie das Sprichwort sagt, zweite Natur ist, sondern auch fortwährend mit der ersten verwechselt wird. Die Wirkung der Gewohnheit, jede Außerachtlassung der Lebensregeln, welche die Gesellschaft sich selbst gegenseitig aufstellt, zu unterdrücken, ist hier um so vollständiger, weil der Gegenstand zu denjenigen gehört, bei welchen man es im Allgemeinen nicht für nötig hält, sich selbst oder andern dafür Gründe anzugeben. Die Leute sind gewohnt zu glauben und sind von manchen, die als Philosophen gelten wollen, in dem Glauben bestärkt worden, dass bei derartigen Dingen Gefühle mehr gelten als Vernunftgründe und diese sogar überflüssig machen. Der praktische Grundsatz, der sie bei ihren Ansichten über die Regelung der menschlichen Handlungsweise leitet, ist, dass jeder so handeln möge wie er und diejenigen, die mit ihm übereinstimmen zu handeln, geneigt sind. Tatsächlich gibt zwar niemand zu, dass der Maßstab seines Urteils sein eigenes Belieben bilde, aber eine Meinung über eine Handlungsweise, die nicht von Vernunftgründen unterstützt wird, kann nur als persönliche Vorliebe zählen; und wenn dafür als Grund auf die ähnliche Vorliebe anderer Leute hingewiesen wird, so ist das dann nur mehrerer Leute Vorliebe, statt die eines einzelnen. Dem gewöhnlichen Menschen ist nun seine dermaßen unterstützte Vorliebe nicht nur ein vollkommen ausreichender Grund, sondern auch der einzige, den er gewöhnlich für seine Meinungen über Moral, Geschmack, Gebührlichkeit hat, sofern diese nicht in seinem religiösen Bekenntnis ausdrücklich vorgeschrieben sind; sie sind selbst sein Leitfaden für die Auslegung dieser Vorschriften. Der Menschen Ansichten über das, was lobenswert oder tadelhaft ist, werden daher von all den verschiedenartigen Ursachen berührt, die ihre Wünsche·betreffs des Gehabens anderer beeinflussen, und die ebenso zahlreich sind wie die, welche ihre Wünsche hinsichtlich eines andern Gegenstandes bestimmen. Zuweilen ihre Vernunft – zuweilen wieder ihre Vorurteile und Aberglauben, oft ihre gesellschaftlichen Neigungen, nicht selten ihre ungesellschaftlichen, Neid oder Eifersucht, Anmaßung oder Hochmut; in den meisten Fällen aber ihre Wünsche und Befürchtungen für sich selbst, ihr berechtigtes oder unberechtigtes Eigeninteresse. Wo immer eine überragende Klasse vorhanden ist, wird sich ein großer Teil der Sittlichkeit des Landes nach deren Sonderinteressen und nach dem Bewusstsein ihrer Klassenüberlegenheit ausbilden. Die Moralität zwischen Spartanern und Heloten, zwischen Pflanzern und Negern, zwischen Fürsten und Untertanen, zwischen Edlen und Niedrigen, zwischen Mann und Weib ist größtenteils eine Schöpfung dieser Klasseninteressen und -gefühle; und die dermaßen erzeugten Empfindungen wirken dann wieder zurück auf die sittlichen Gefühle der Glieder der hervorragenden Klasse in ihren gegenseitigen Beziehungen. Wo anderseits wieder eine früher hervorragende Klasse ihren Vorzug eingebüßt hat oder wo dieser Vorzug nicht volkstümlich ist, trägt die vorherrschende sittliche Empfindung häufig das Zeichen einer ungeduldigen Abneigung gegen den Vorrang. Ein anderes großes entscheidendes Prinzip der Gesellschaftsregeln, sowohl im Tun wie im Unterlassen, aufgezwungen von Gesetz oder Meinung, ist die Unterwürfigkeit der Menschen gegen die Neigungen oder Abneigungen, welche sie bei ihren zeitlichen Gebietern oder bei ihren Göttern voraussetzen. Diese Unterwürfigkeit ist, wenn auch wesentlich selbstsüchtig, doch nicht heuchlerisch. Sie lässt vollkommen echte Empfindungen des Abscheus entstehen; sie ließ Zauberer und Ketzer verbrennen. Unter so vielen niedrigeren Einflüssen haben natürlich die allgemeinen und offenkundigen Interessen der Gesellschaft auf die Richtung der sittlichen Gefühle einen nicht geringen Einfluss, weniger jedoch aus Vernunftgründen und um ihrer selbst willen, denn als Folge der Sympathien und Antipathien, die hieraus erwachsen; und Sympathien und Antipathien, die mit den Interessen der Gesellschaft wenig oder gar nichts zu tun haben, haben sich mit ebenso großer Kraft bei der Feststellung der Sittengesetze fühlbar gemacht.

Die Neigungen und Abneigungen der Gesellschaft oder irgendeines mächtigen Teiles derselben, sind daher die Hauptsache, die praktisch die Regeln zur allgemeinen Beachtung gegeben hat, die unter Strafe des Gesetzes oder der öffentlichen Meinung stehen. Im Allgemeinen haben diejenigen, die im Denken und Fühlen der Gesellschaft voraus waren, diesen Zustand der Dinge im Prinzip unangefochten gelassen, wie sehr sie auch mit manchen der Einzelheiten in Konflikt gekommen sein mögen. Sie haben sich weit mehr mit der Untersuchung beschäftigt, welchen Dingen die Gesellschaft geneigt oder abgeneigt ist, als sich die Frage vorgelegt, ob diese Neigungen oder Abneigungen dem Einzelwesen zum Gesetz werden sollte. Sie zogen es lieber vor, bestrebt zu sein, die Gefühle der Menschheit in denjenigen Punkten abzuändern, in welchen sie selbstketzerisch dachten, als zur Verteidigung der Freiheit mit den Ketzern im Allgemeinen gemeinschaftliche Sache zu machen. Der einzige Fall, wo dieser höhere Standpunkt nicht nur von einzelnen grundsätzlich angenommen und beharrlich behauptet wurde, ist der des religiösen Glaubens: ein nach mehreren Richtungen hin lehrreicher Fall, der ein höchst treffendes Beispiel von der Fehlbarkeit dessen bildet, was sittliches Gefühl genannt wird. Das Odium theologicum eines aufrichtigen Glaubenseiferers ist eines der entschiedensten Fälle von Moralgefühl. Diejenigen, die zuerst das Joch der Kirche brachen, die sich selbst »universell« (katholisch) nennt, waren im Allgemeinen ebenso wenig wie diese Kirche selbst geneigt, eine Abweichung der religiösen Meinung zu gestatten. Als aber die Hitze des Kampfes vorüber war, ohne dass eine der Parteien einen vollständigen Sieg erfochten hätte und jede Kirche oder Sekte ihre Hoffnungen darauf beschränken musste, das bereits eingenommene Gebiet zu behaupten, fanden sich die Minderheiten genötigt, weil keine Aussicht vorhanden war, dass sie zu Mehrheiten werden könnten, diejenigen, die sie nicht bekehren konnten, um Duldung ihres abweichenden Glaubens zu ersuchen. Fast nur auf diesem Kampffelde allein sind daher die Rechte des Einzelwesens gegen die Gesellschaft auf der breiten Grundlage von Prinzipien vertreten worden und der Anspruch der Gesellschaft, eine Autorität über Abweichungen auszuüben, offen bestritten worden. Die großen Schriftsteller, denen die Welt alles, was sie an religiöser Freiheitbesitzt, verdankt, haben die Gewissensfreiheit als ein unantastbares Recht hingestellt und entschieden geleugnet, dass ein menschliches Wesen dem andern Rechenschaft über seine religiöse Überzeugung geben müsse. Allein so natürlich ist dem Menschen in allem, was ihn näher berührt, die Unduldsamkeit, dass die Glaubensfreiheit kaum irgendwo sich praktisch verwirklicht hat, ausgenommen dort, wo religiöse Gleichgültigkeit, die ihren Frieden nicht von theologischem Gezänke stören lassen wollte, ihr Gewicht in die Waagschale geworfen hat. Bei allen religiösen Leuten, selbst in den duldsamsten Ländern, wird die Pflicht der Toleranz im Inneren nur mit einem stillen Vorbehalt zugegeben. Der eine ist wohl geneigt, eine abweichende Meinung über die Kirchenleitung zu dulden, nicht aber über Dogmen; der andere kann alles ertragen, nur nicht einen Papisten oder einen Unitarier; ein dritter wieder ist jedem geneigt, der an die geoffenbarte Religion glaubt; einige wenige dehnen ihre Nächstenliebe noch weiter aus, aber nur soweit der Glaube an Gott und das Jenseits vorhanden ist. Wo immer das Gefühl der Mehrheit noch echt und tiefgehend ist, wird man diese Ansprüche an Gläubigkeit nur um weniges verringert finden.

In England ist, nach den eigentümlichen Verhältnissen der Staatsentwicklung, das Joch der öffentlichen Meinung vielleicht schwerer, das des Gesetzes jedoch leichter als in den meisten anderen Ländern Europas. Wir finden hier eine rege Eifersucht gegen jede direkte Einmischung der Gesetzgebung oder Verwaltung in das Privatleben; sie entstand nicht so sehr aus einer gerechten Würdigung der Unabhängigkeit des Individuums als aus der noch vorhandenen Gewohnheit, bei der Regierung stets ein der Gesamtheit entgegengesetztes Interesse anzunehmen. Die Mehrheit hat noch nicht gelernt, die Macht der Regierung als ihre eigene Macht oder deren Meinungen als ihre eigenen Meinungen zu empfinden. Geschieht dies einmal, so wird die individuelle Freiheit wahrscheinlich von der Regierung nicht minder einem Eingriff ausgesetzt sein, als sie es bereits seitens der öffentlichen Meinung ist. Bisher aber ist das Gefühl sehr verbreitet und rege, das jedem gesetzlichen Versuch, die Einzelwesen in Dingen zu beaufsichtigen, die bis jetzt einer Aufsicht entzogen waren, widerstrebt, und das mit sehr geringer Unterscheidung, ob die Sache innerhalb der berechtigten Sphäre einer gesetzlichen Aussicht liegt; dieses Gefühl, im Ganzen höchst heilsam, ist daher in einzelnen Fällen vielleicht ebenso oft schlecht wie gut angewandt. Ein anerkanntes Prinzip, wonach die Berechtigung oder Nichtberechtigung einer Einmischung der Regierung gewohnheitsmäßig beurteilt werden könnte, ist tatsächlich nicht vorhanden. Die Leute entscheiden nach ihrem persönlichen Gutdünken. Manche würden, wo immer etwas Gutes zu vollbringen oder etwas Böses zu verhindern wäre, gern die Regierung zur Ausführung dieser Maßregeln veranlassen, während andere wieder vorziehen, lieber jede Bürde sozialer Übel auf sich zu nehmen, ehe sie den menschlichen Angelegenheiten, die einer Regierungsaufsicht unterliegen, ein neues Gebiet zufügen. In jedem besonderen Falle stellen sich die Leute auf die eine oder auf die andere Seite, je nach der allgemeinen Richtung ihrer Empfindungen oder auch je nach dem Grad von Interesse an einer besonderen Sache, welche die Regierung vollbringen sollte, oder auch je nach der Meinung, dass die Regierung in ihrem Sinne verfahren werde oder nicht. Aber nur sehr selten geschieht es infolge einer gefesteten Ansicht über das, was von der Regierung auszuführen sei. Und mir will scheinen, dass man nun infolge dieses Mangels einer Regel oder eines Prinzips auf der einen Seite ebenso oft im Unrecht ist, wie auf der andern. Die Einmischung der Regierung wird ungefähr im gleichen Maße mit Unrecht angerufen, wie mit Unrecht verschmäht.