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Handlung und Personen sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Ereignissen oder Personen wäre rein zufällig.

Erste Auflage der Printausgabe März 2006

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag und grafische Realisierung von Sergio Vitale unter Verwendung einer Fotografie von getty images.

ISBN 978-3-89656-570-9

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Akazienstraße 25, 10823 Berlin

www.querverlag.de

Ich weiß, was ich kann

Ja, ich bin sportlich. Sehr sogar. Und das sieht man mir auch an. Ich habe breite Schultern, einen ziemlich durchtrainierten Oberkörper, kräftige Oberarme, straffe Brüste und unglaublich stramme Waden, und das trotz meiner 43 Jahre.

Das ist aber auch kein Wunder: Seit frühester Jugend treibe ich Sport, und nachdem ich in meinen Dreißigern aus Faulheit ein paar Jahre ausgesetzt habe, bin ich seit einigen Jahren wieder aktiv. Einmal die Woche spiele ich Fußball – übrigens in einer, das möchte ich hier mal anmerken, ausgesprochen jugendlichen Mannschaft, die meisten Frauen sind Anfang zwanzig, und ich bin bei weitem die Älteste, aber zugleich eine der Besten –, ich jogge regelmäßig, ich gehe, sofern es mir die Zeit erlaubt, leidenschaftlich gern schwimmen, Badminton und Tennis spielen, und vor ein paar Monaten hab ich mir ein Ergometer angeschafft, auf dem ich fast jeden zweiten Tag trainiere.

Meine Freundinnen fordern mich schon seit Jahren immer wieder auf, mich doch einmal bei den Eurogames anzumelden, ich würde dort mit Sicherheit gute Ergebnisse erzielen und vielleicht sogar mit einer Medaille heimkommen. „Mensch, Manu“, sagen sie, „jetzt komm, mach uns doch mal die Ehre!“ Ich finde den Gedanken ja auch gar nicht schlecht. Aber irgendwie hat es nie geklappt, ich hab einfach nie die Zeit dafür gefunden. Ich bin immer so beschäftigt. Obwohl ich das jetzt natürlich ein wenig bereue, nach der Geschichte in München. Hätte ich bloß nicht an der Tagung teilgenommen, statt bei den Eurogames mitzumischen! Ich hätte Spaß gehabt, sportlich geglänzt, reihenweise flotte Frauen kennen gelernt und, ach, überhaupt … Aber so war’s eben nicht. Nein, leider nicht. Leider nicht ganz.

Aber eigentlich hätte ich ja auch gar nicht so richtig gewusst, für welche Disziplin ich mich hätte anmelden sollen. Das klingt vielleicht eingebildet, aber so ist es nun mal: Ich kann einfach so viel. Fußball, Badminton, Tennis. Und Schwimmen, das auch.

Und dann gibt es übrigens noch etwas, worin ich auch ziemlich gut bin: im Bett.

Ja ja, ich weiß, viele Frauen verdrehen jetzt die Augen und sagen: „Gut im Bett? Was heißt denn das schon? Das kann man doch gar nicht messen!“

Kann man aber sehr wohl. Vielleicht nicht in Zahlen, aber dafür an der Erregung, die man verspürt. Der Leidenschaft. Und der Lust, jawohl!

Aber das will ja niemand zugeben. Wir Lesben sollen alle so tun, als wären wir entweder alle gut im Bett oder aber, die noch beliebtere Variante, als würde das überhaupt gar keine Rolle spielen.

Tut es aber doch. Jetzt mal ehrlich: Wer von uns sehnt sich denn nicht nach richtig gutem Sex? Wer, bitte schön, möchte denn nicht eine Partnerin haben, die einem ungeahnte Wonnen verschafft, nie da gewesene Höhepunkte, im übertragenen wie auch wörtlichen Sinn? Na?

Und so jemand bin ich. Unzählige begeisterte Frauen sind der Beweis.

Ich weiß, was ich kann. Und das lass ich mir auch nicht nehmen. Patricia hin oder her.

Es war natürlich Zufall, dass die diesjährige Stummfilm-Tagung ausgerechnet in München stattfand, genau wie die Eurogames, die in ebendieser Woche dort ihren Auftakt nahmen. Es war allerdings kein Zufall, dass von unserem Archiv ich diejenige war, die hinfuhr. Mein Kollege Mike hatte wie üblich keine Lust und Bretschneider, unser Chef, keine Zeit. Also fuhr ich, nicht nur, um die neuesten Ergebnisse in der Erforschung deutscher Stummfilme mit nach Hause zu bringen, sondern auch, um höchstselbst noch mit einem Vortrag über die „Inszenierung der Liebe im Werk Fritz Langs“ zu glänzen.

Das ist übrigens mein Spezialgebiet – die Liebe im deutschen Stummfilm. Ich bin nämlich, das muss man vielleicht dazu sagen, nicht nur sportlich und gut im Bett. Ich bin auch noch Stummfilmspezialistin.

Vor meiner Reise hatte ich damit geliebäugelt, zumindest abends am begleitenden Kulturprogramm der Eurogames teilzunehmen, sofern ich mich loseisen konnte, aber daraus würde nichts werden, das war mir gleich klar, als ich das Tagungshotel erreichte. Es befand sich zwar dicht am Flughafen, aber dafür weit außerhalb der Innenstadt, in einem abgelegenen Industriegebiet.

Gleich im Foyer traf ich auf einige alte Bekannte. Tom Berends, der in seinem Lüdenscheider Filmarchiv ein ähnlich ruhiges Dasein fristete wie ich in Lübeck, winkte mir fröhlich von der Bar aus zu. Neben ihm stand Berit Niesel, eine Filmhistorikerin unbestimmbaren Alters aus der Schweiz, die durch ihre exaltierte Art stets für Aufsehen sorgte, und am Empfang lehnten Marc und Nico Schmieder, ein Zwillingspärchen aus Baden-Baden, beide hochbegabte Forscher und miserable Redner, was ihrer Vortragslust allerdings leider keinen Abbruch tat. Auch jetzt redeten sie ohne Unterlass auf die leicht verwirrt aussehende Empfangsdame ein.

„Hallöchen, hallöchen, Frau Schweinberger!“, rief Berit vergnügt, als ich näher trat. „Ich höre, Sie wollen uns mit einem Vortrag beglücken? Das ist aber fein, Frau Schweinberger!“

Mein Nachname ist eine Katastrophe, ich weiß. Aber ich versuche, ihn mit Würde zu tragen.

„Schön, dich zu sehen“, sagte Tom und schüttelte meine Hand. „Trinkst du einen Begrüßungssekt mit uns?“

„Später vielleicht, wenn ich eingecheckt habe.“

„Na gut“, sagte Tom. „Aber Sie, Berit, schon, oder nicht?“

„Selbstverständlich!“, schrie Berit. „Aber ja! Zu einem Gläschen Sekt sag ich nicht nein!“

Tom zuckte zusammen, dann drehte er sich zum Barkeeper um und bestellte zwei Sekt, während ich zum Empfang hinüberging, wo die Schmiederzwillinge immer noch auf die Rezeptionistin einredeten. Ich hatte ihn noch nicht ganz erreicht, als jemand mir von hinten den Zeigefinger in den Rücken bohrte.

„Ach, sieh mal einer an!“, sagte eine Stimme, die ich sofort erkannte. „Ms. Schweinberger!“

Ein Schauder, eine Mischung aus Grusel und Freude, lief mir den Rücken hinunter. Langsam drehte ich mich um.

Die Frau, die vor mir stand und mich mit einem ebenso strahlenden wie falschen Lächeln bedachte, war etwas kleiner als ich, schlank und unglaublich schön, mit ihren blitzenden, goldbraunen Augen, dem bronzefarbenen, samt schimmernden Teint, den ebenmäßigen Gesichtszügen und dem formvollendeten Körper. Patricia Folaji war filmwissenschaftliche Assistentin am Berliner Institut für Medienhistorik, eine der ganz großen Koryphäen auf diesem Gebiet und mit Sicherheit die attraktivste Frau in der deutschsprachigen Filmforschung. Und leider meine ganz persönliche Heimsuchung.

„Hi, Patricia“, sagte ich vorsichtig.

„Na?“ Sie lächelte mich scheinheilig an, wobei sie eine schnurgerade Reihe perlweißer Zähne entblößte. „Immer noch mit von der Partie? Noch nichts Besseres gefunden?“

„Wieso Besseres? Ich liebe meinen Job“, antwortete ich, ein bisschen unüberlegt, denn Patricia fing breit an zu grinsen. Leider stand ihr auch das ausnehmend gut.

„Und deine Frau?“, fragte sie und legte den Kopf schief. „Liebst du die auch?“ Und damit schwang sie herum und ließ mich stehen.

Sie wusste genau, dass ich keine Frau hatte. Ich war Single aus Überzeugung, aber das kümmerte eine Patricia Folaji ja nicht. Hauptsache, sie konnte mich ärgern.

Seit einigen Jahren kreuzte sie auf jeder Fachtagung, jedem Festival, jedem Kongress auf, verdrehte den anwesenden Männern wie auch den Frauen den Kopf und unterließ nebenbei keine Gelegenheit, mich aufzuziehen. Beste Voraussetzungen, um sie nicht leiden zu können. Nur leider gelang mir das nicht. Nicht mal ein winziges bisschen.

Ich sah Patricia nach, wie sie lässig auf Tom und Berit an der Bar zuschlenderte, wobei sie mehr als notwendig mit ihrem knackigen Hintern wackelte. Tom starrte ihr wie hypnotisiert entgegen und fiel fast vom Hocker bei dem Versuch, ihr die Hand zu geben und gleichzeitig einen Diener zu machen. Seufzend drehte ich mich um.

Die Empfangsdame sah erschöpft zu mir auf. „Ja, bitte?“

„Ich möchte gern auf mein Zimmer“, sagte ich, „und zwar am liebsten sofort.“

Nachdem ich mich eingerichtet hatte, studierte ich eine ganze Weile den Münchner Stadtplan. Das Begleitprogramm der Eurogames bot heute eine Literaturnacht und einen bunten Abend in einem Szenecafé. Handball und Volleyball waren jetzt schon entschieden, der Schwimmwettkampf in vollem Gange.

Ich faltete den Plan wieder zusammen und ging nach vorne zur Bar. Patricia und Berit Niesel waren verschwunden, aber Tom saß immer noch da, mit mittlerweile leicht glasigem Blick.

„Alles klar?“, fragte er.

„Ja, alles klar. Und bei dir?“ Ich winkte dem Keeper.

Er zuckte mit den Schultern. „Hast du Patricia gesehen?“, fragte er dann. „Die wird auch immer hübscher, nicht wahr?“ Er seufzte, und ich seufzte auch.

„Zwei Sekt“, sagte ich zum Keeper, der eben herankam. „Und dann noch bitte zwei Schnaps, aber zwei große!“

Die Tagung am nächsten Morgen begann recht interessant. Der Vorsitzende der deutschen Stummfilmstiftung hielt seine übliche Einführungsrede, in der er besonders auf den diesjährigen Schwerpunkt „Utopie und Wahrheit“, was immer das auch heißen mochte, hinwies. Dann trat Berit Niesel auf die Bühne, um einen gestenreichen Vortrag über die „Zukunftsgestaltung im Werk Carl Mayers“ zum Besten zu geben, gefolgt von einem jungen Mann mit Ziegenbärtchen und in modischem Bunthemd, der mit blasierter Stimme über moderne Stummfilmvertonung sprach.

Ungefähr in der Mitte seines Vortrages schweiften meine Gedanken langsam ab, und ich lehnte mich zurück und sah mich vorsichtig um. Mein Blick fiel auf Patricia, die mir genau gegenübersaß und in diesem Moment zu mir hersah, ihr typisches, leicht verschlagenes Lächeln im Gesicht. Dann hob sie plötzlich die Hand und winkte mir fröhlich zu.

Verschämt blickte ich weg und spürte zu meinem Ärger, dass ich rot anlief.

Irgendwie erwischte sie mich immer.

Nach der Mittagspause schlossen die Tagungsteilnehmer sich zu Arbeitsgruppen zusammen, um die neuesten Forschungsergebnisse zu diskutieren. Ich gesellte mich zu der Gruppe um Tom Berends und Marc Schmieder und sah unauffällig zu, wie Patricia auf der anderen Seite des Saales eine Horde junger Männer um sich scharte und lachend mit ihnen davonging.

„Eine sehr attraktive junge Dame, nicht wahr?“, sagte Marc Schmieder unter beifälligem Murmeln der anderen Männer. Ich rümpfte die Nase und straffte die Schultern.

„Los“, sagte ich. „Lassen Sie uns gehen. Seminarraum Nummer 3 liegt da hinten.“

Abends beschloss ich zu joggen. Die Luft draußen war angenehm mild, und ich lief gute zwölf Kilometer in lockerem Trab.

Bei den Eurogames waren heute auch die Leichtathleten dran, überlegte ich, während ich wie eine Feder dahinschwebte. Mit meiner Kondition hätte ich gute Chancen auf einen der vorderen Plätze in meiner Altersklasse gehabt, das war mal sicher. Aber na gut. Die Arbeit ging eben vor.

Die letzten paar hundert Meter fielen mir dann doch deutlich schwerer, und abgekämpft traf ich im Hotelfoyer ein. Gleich hinter der Glastür stand Patricia. Sie trug einen hautengen Minirock und ein bustierähnliches Oberteil, unter dem sich ihre Brustwarzen mehr als deutlich abzeichneten. Hinter ihr drückten sich zwei jüngere Tagungsteilnehmer herum, beide mit modischen Frisuren und in peppiger Kleidung.

Patricia sah an mir runter. „Sportlich, sportlich! Eine echte Sportskanone, unsere Manu, was?“ Sie drehte sich zu ihren Verehrern um. „Da solltet ihr euch mal eine Scheibe von abschneiden!“

Die beiden Typen lächelten säuerlich.

„Genau“, sagte ich. „Ich bin eine echte Sportskanone, in jeder Hinsicht, da hast du Recht.“

„Ach ja?“ Patricia zog die Brauen hoch. „A propos, da fällt mir ein – wie ist denn das, habt ihr nicht irgendso ein Sportfest hier in München im Moment?“

Ich holte tief Luft. „Wer bitte schön ist ‚ihr‘?“

„Na, deine Leute. Du weißt schon.“ Patricia lächelte verschlagen. Die beiden Modeknaben hinter ihr sahen verständnislos drein.

„Ja, allerdings haben wir hier ein Sportfest. Die Eurogames, wenn du es genau wissen willst.“ Ich lächelte die beiden Herren zähnefletschend an. „Das sind die Europäischen Homosexuellen-Spiele, falls ihr es nicht wissen solltet.“

„Ah“, sagte der eine. „Öh.“

„Aha“, sagte der andere.

„Und warum machst du da nicht mit?“, erkundigte Patricia sich scheinheilig. „Wo du doch sooo sportlich bist?“

„Weil ich hier mitmache.“

Sie lächelte leicht. „Na dann. Vielleicht findest du hier ja auch noch Gelegenheit zum Sport. Man weiß ja nie.“ Und damit winkte sie mir zu und setzte sich in Bewegung. Ihre Leibgardisten folgten ihr eilig.

Nach dem Duschen blätterte ich eine Weile mürrisch im Programm der Eurogames. Heute Abend war Filmnacht. Wenn ich mich beeilte, könnte ich den letzten Film eventuell schaffen, Desert Hearts, die olle Kamelle. Hatte ich zwei Mal gesehen und beide Male bescheuert gefunden.

Ich seufzte tief auf und klappte das Programmheft zu. Dann ging ich nach vorne zur Bar. Berit Niesel, Herr Nizowicz aus Frankfurt/Oder und drei Schweizer Tagungsteilnehmer unterhielten sich eifrig, daneben starrte Tom trübsinnig in sein Bierglas.

„Patricia ist tanzen gegangen“, sagte er leidend.

Berit Niesel horchte auf. „Tanzen? Wohin denn?“

„Zum Griechen gleich um die Ecke.“

„Da kann man tanzen?“, fragte Herr Nizowicz und kicherte albern, wie meistens.

Tom zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Aber Patricia kann bestimmt überall tanzen. So, wie die aussieht.“ Er stöhnte gequält. Ich beugte mich über den Tresen zum Kellner.

„Zwei große Bier“, sagte ich. „Und dann noch zwei Schnaps.“

Ich ging früh auf mein Zimmer, aber dann, als ich im Bett lag, fand ich keine Ruhe. Ich musste an Patricia denken, die jetzt bestimmt immer noch tanzte, wild, ungebändigt, unglaublich sexy. Oder vielleicht hatte sie ja auch Sex mit einem der Jungmänner. Ich seufzte tief auf und knipste das Licht aus.

Aber auch das nützte nicht viel. In der Dunkelheit tauchte Patricia vor mir auf, ausgelassen tanzend und lachend. Ihre Brüste wippten in ihrem knappen Dekolleté. Sie kam näher heran, beugte sich vor, legte die Arme auf meine Schultern und verschränkte die Hände in meinem Nacken. „Eigentlich will ich nur dich …“, flüsterte sie mit halb geschlossenen Augen. „Manu, du bist doch so sportlich … komm, zeig’s mir, oh, bitte …“

Verschwitzt schreckte ich auf. Die Uhrzeiger standen auf zwei. Von draußen kam Murmeln und Kichern, dann das gurrende Lachen einer Frau. Die Stimme erkannte ich gleich. Ich presste die Augen zusammen und zog mir das Kissen über den Kopf.

Am nächsten Morgen betrat zunächst Herr Nizowicz die Bühne, um, von albernem Kichern durchsetzt, einen Vortrag über interdisziplinäre Stummfilmforschung zum Besten zu geben, gefolgt von Marc Schmieder, der sich mit schleppender Stimme über „Die Zweideutigkeit der Gesten“ bei männlichen Stummfilmschauspielern ausließ. Anschließend verlas sein Bruder eine monotone Abhandlung der Darstellung der Natur im Werk F.W. Murnaus.

Es fiel mir zusehends schwerer, mich zu konzentrieren, aber da war ich nicht die Einzige. Tom neben mir gähnte verstohlen, ein paar jüngere Tagungsteilnehmer in den hinteren Reihen tuschelten hörbar, und Patricia schräg gegenüber schminkte sich heimlich im Spiegel die Lippen nach. Verstohlen starrte ich sie an. Plötzlich hob sie den Kopf, sah zu mir herüber und warf mir einen Kussmund zu.

Ich ächzte auf.

„Ist dir nicht gut?“, fragte Tom.

Mittags gingen wir zum Griechen. Das Lokal war wild mit griechischen Fahnen und Fußballemblemen geschmückt, und hinten in der Ecke war eine provisorische Tanzfläche eingerichtet, über der ein riesiges Plakat verkündete, dass Griechenland mit „Unser deutscher Freund Otto“ Europameister geworden war.

„Wir feiern jeden Abend!“, sagte der Wirt mit einem breiten Lächeln, als er uns nach der Mahlzeit eine Runde Ouzo brachte. „Gestern war hier eine junge hübsche Frau aus Berlin, die hat bis in die Nacht getanzt und alle Männer die Kopf verdreht! Ist bei der Tagung, hat sie gesagt. Kluges Mädchen, nicht nur schön! Kennen Sie die?“

„Natürlich!“ Berit nickte eifrig. „Und sie ist nicht nur schön, sondern auch frech, die Gute, nicht wahr?“ Sie schüttelte schmunzelnd den Kopf und sah uns der Reihe nach an.

Herr Nizowicz kicherte albern.

„Ja“, sagte ich. „Ausnehmend frech.“

„Aber süß“, seufzte Tom.

Die nachmittägliche Arbeitsgruppe schenkte ich mir. Stattdessen machte ich fünfzig Liegestützen auf meinem Zimmer und ging dann joggen. Nach eineinhalb Stunden verbissenen Rennens hatte ich mir den Gedanken an Patricias aufreizendes Lächeln endlich ausgetrieben und neuen Mut gefasst. Ich würde noch vor dem Abendessen in die Stadt fahren und einen der Sportwettkämpfe der Eurogames ansehen, und hinterher würde ich noch auf eine Party gehen oder was das Kulturprogramm sonst noch hergab. Basta! Wäre doch gelacht, wenn ich mich nicht noch richtig amüsierte!

Gut gelaunt rannte ich zum Hotel zurück. Das Foyer war leer, aber im Gang traf ich auf Patricia. Sie trug ihr welliges, schwarzes Haar mit Gel zurückgekämmt und ein hautenges Kleid, das ihre perfekte Figur äußerst vorteilhaft zur Geltung brachte.

„Hoho, Manu“, lachte sie fröhlich. „Schon wieder so sportlich?“

Ich brummelte etwas Undefinierbares und versuchte, mich an ihr vorbeizudrängeln, aber Patricia legte mir eine ihrer gepflegten Hände auf meinen verschwitzten Unterarm. „Wow, bist du verschwitzt!“, gurrte sie. „Hast du nicht Angst, dich zu verausgaben, Manu?“

Plötzlich platzte mir der Kragen. „Kannst du mich nicht einfach mal in Frieden lassen?“

Patricia nahm langsam die Hand von meinem Arm und legte den Kopf schief. „Nein“, sagte sie. „Nein, ich glaube nicht.“

Einen Moment lang starrten wir uns an, dann rief jemand Patricias Namen. Es war der blasierte Redner vom ersten Tag, der mit dem Spitzbart. Unruhig kam er heran und blieb in respektvoller Entfernung stehen. „Kommst du, Pat?“

„Ja, gleich.“ Patricia sah mich immer noch an. „Und was machst du?“, fragte sie. „Fährst du noch zu deinen Leuten?“

„Genau das hatte ich vor“, sagte ich, und dann schob ich mich endlich an ihr vorbei.

Nach dem Duschen sah ich erst auf die Uhr – gleich halb sieben – und dann in den Eurogames-Prospekt. Das begleitende Kulturprogramm bot heute eine Safer-Sex-Party für Männer und ein Frauencafé, das um 14 Uhr geöffnet hatte und um 19 Uhr schloss. Die einzige Disziplin, die heute Abend noch anstand, war Bankdrücken, und zwar in den Gewichtsklassen Frauen bis 90 kg und von 90 kg an aufwärts. Ich atmete tief durch und machte mich auf den Weg.

Mit Bus und Straßenbahn brauchte ich knapp siebzig Minuten, aber schließlich saß ich dann doch auf einer harten Holzbank ganz oben in der Halle und starrte auf die kräftigen Damen hinunter, die in ihren einteiligen Trikots aussahen wie überdimensionierte Kleinkinder in Spielanzügen. Den Wettbewerb in der bis 90-kg-Klasse hatte ich verpasst, aber unten rangen noch zwei Frauen von 90 kg an aufwärts um die Medaille. Die Halle roch durchdringend nach Schweiß, alle anderen Zuschauerinnen sahen ebenso aus wie die Teilnehmerinnen, und von meinem Platz auf dem obersten Rang konnte ich so gut wie überhaupt nichts erkennen. Trotzdem hielt ich tapfer durch, und als eine der beiden Kämpferinnen mit einem martialischen Schrei unter ihren Gewichten zusammenbrach und lautes Gegröle um mich herum einsetzte, klatschte ich müde in die Hände. Eine Weile lungerte ich noch vor der Halle herum, in der vergeblichen Hoffnung, Anschluss zu finden, aber kein Mensch scherte sich um mich. Die Bankdrückerinnen drängten sich rücksichtslos an mir vorbei und liefen munter schwatzend davon. Frustriert fuhr ich zurück ins Tagungshotel.

Im Foyer traf ich Berit und Herrn Nizowicz in ausgelassener Stimmung. „Kommst du mit? Wir gehen zum Griechen am Ende der Straße, da muss der Bär los sein!“, rief Berit munter, und Herr Nizowicz kicherte dazu.

Ich schüttelte den Kopf. „Ich muss meinen Vortrag noch vorbereiten, ich bin morgen früh gleich als Erste dran.“

„Ach Gottchen, dein Vortrag!“, rief Berit. „Da müssen wir aber zusehen, dass es nicht allzu spät wird!“ Kichernd zogen sie ab, die Verräter. Ich trabte zum Tresen hinüber.

Dort saß Tom ganz allein. Ich ließ mich auf den Hocker neben ihm gleiten. „Du hier und nicht beim Griechen?“

Tom schüttelte den Kopf. „Ach“, sagte er leise. „Ich weiß nicht, das ist nichts für mich. Ich meine, ich kann nicht tanzen, und im Smalltalk bin ich auch nicht so besonders. Was soll ich dann da?“

Wir starrten uns an. Dann sahen wir gleichzeitig zum Kellner hinüber. „Zwei Bier und zwei Schnaps!“, sagte Tom.

Als ich am nächsten Morgen ans Rednerpult trat, gähnten mir leere Stuhlreihen entgegen. Nur die Hälfte der Teilnehmer war gekommen, und die sahen eindeutig übermüdet aus. Anscheinend hatten alle außer mir gefeiert. Außer mir und Tom, aber der war auch nicht erschienen. Kein Wunder, er hatte gestern Abend noch weitere fünf Schnäpse gekippt.

Die Stellwand klemmte, als ich sie aufzog, um Platz für das Flipchart zu schaffen, meine Unterlagen rutschten aus der Mappe, und ich sah Patricias Grinsen, als mir zu guter Letzt auch noch der Marker herunterfiel. Ich hob ihn auf, räusperte mich und fing an zu sprechen, so laut und deutlich, wie es eben nur ging.

Während meines Vortrags herrschte fast andächtige Stille. Als ich das Licht dimmte und den kleinen vorbereiteten Videofilm anlaufen ließ, seufzte ein junger Mann in der ersten Reihe auf, lehnte sich zufrieden zurück und schloss behaglich die Augen.

„Ich wünsche eine angenehme Nachtruhe!“, sagte ich und nahm meine Unterlagen vom Pult. Patricia lachte, sonst keiner.

Beim Abschlussplenum am Nachmittag saß ich beleidigt dabei, während der Tagungsleiter zufrieden die Ergebnisse der Arbeitsgruppen referierte. Die meisten Teilnehmer schienen sich jetzt, nach der langen Mittagspause, wieder von ihren nächtlichen Strapazen erholt zu haben, denn die Stuhlreihen waren fast vollständig besetzt. Nur neben mir war noch ein Platz frei, und auf den setzte sich Patricia, die ein wenig zu spät kam. Ich rückte ein Stück von ihr ab, aber sie rutschte mit ihrem Stuhl nach.

„Da bist du ja, Manu“, flüsterte sie. „Ich dachte schon, du bist entnervt zum Sportfest gefahren.“

„Ha ha. Sehr komisch.“

„Dein Vortrag war übrigens toll“, sagte sie.

„Noch lustiger.“

„Nein wirklich“, sagte sie. „Das meine ich ernst.“

„Pfft“, zischelte ich, und Patricia hob die Hand vor den Mund und lachte. „Beleidigte Leberwurst!“, flüsterte sie. Ich sah stur geradeaus und bemühte mich, ihren köstlichen Duft einfach zu ignorieren. Der Tagungsleiter vorne legte seine Blätter nieder und klopfte aufs Pult.

„Und nun“, sagte er und lächelte glücklich in die Runde, „und nun beschließen wir diese wunderbare Tagung mit einem gemeinsamen bunten Abend. Aber nicht hier, sondern beim Griechen nebenan!“

Augenblicklich kam Stimmung auf. Die Teilnehmer jubelten und klatschten, und die ersten Eiligen sprangen schon auf und strebten hinaus.

„Super“, sagte Patricia und grinste mich an. „Dann kannst du ja mal mit mir tanzen!“

„Pöö. Ich werde mich hüten“, sagte ich bissig und stand hastig auf.

Es brauchte eine ganze Weile guten Zuredens von Tom und Berit Niesel, um mich schließlich tatsächlich dazu zu bewegen, mit nach drüben zu kommen. Mürrisch trabte ich den anderen hinterher. Das griechische Lokal hatte vorgesorgt, ein paar Tische waren zu einem großen Buffet zusammengeschoben, und lustige Sirtakimusik dröhnte aus den Lautsprechern. Schnurstracks steuerte ich auf das Buffet zu, deckte mich mit ein paar gefüllten Weinbättern ein und gesellte mich dann wieder zu Berit und Tom, die bereits Sektgläser in den Händen hielten. Tom reichte mir auch eins. „Los, Manu, jetzt komm. Sei nicht so miesepetrig! Jetzt wird gefeiert!“

Krampfhaft hielt ich mein Sektglas fest und sah zu, wie sich die Menge vergnügte. Das Buffet war in Windeseile leergefegt, und es dauerte keine zwei Stunden, da tanzten Berit und Herr Nizowicz eng umschlungen zu griechischen Klängen. Die Schweizer versuchten unter Anleitung des griechischen Wirtes einen Gruppensirtaki, den der Tagungsleiter mit einem Papierhütchen auf dem Kopf wild gestikulierend zu dirigieren versuchte. Und mittendrin tanzte natürlich Patricia, ausgelassen lachend, von ihren schwitzenden Verehrern umringt.

Hungrig sah ich an ihrem schlanken Körper hinunter, betrachtete ihre langen, sehnigen Beine, die sanft schimmernde Haut, die anmutige Form ihrer Brüste unter dem engen Kleid.

Tom neben mir seufzte. „Mein Gott, was für eine Frau!“

Patricia winkte mir zu. „Manu, komm, tanzen!“

Einen winzigen Moment lang war ich unschlüssig. Aber dann sah ich all die grinsenden, fröhlichen Gesichter ringsum und schüttelte den Kopf. Patricia würde mich doch nur zum Tanzen verführen, um sich hinterher über mich lustig zu machen. Sie winkte noch einmal, aber ich stellte mein Bier ab, nickte Tom zu und marschierte aus dem Lokal, schnurstracks auf mein Zimmer.

Auf einem Münchner Privatsender lief eine Kurzzusammenfassung der Eurogames. Meine Freundinnen, die Bankdrückerinnen, waren zu sehen, wie sie ihre Medaillen entgegennahmen, dann kamen die Läuferinnen dran. Griesgrämig schaltete ich aus, putzte mir die Zähne und zog meinen Schlafanzug an. Auf Socken lief ich zum Bett, warf mich hinein und vergrub das Gesicht in meinem Kissen. Sollte Patricia doch tanzen und lachen und allen die Köpfe verdrehen! Ich jedenfalls würde jetzt schlafen. Nur meine Socken musste ich noch ausziehen. Gleich. In ein, zwei Minuten.

Ich wachte auf, weil es an meiner Tür klopfte. Müde schleppte ich mich hinüber und öffnete einen Spalt breit.

„Lass mich rein“, sagte Patricia und drückte sich an mir vorbei.

Verblüfft wich ich zurück.

„Du Langweilerin“, sagte sie und knuffte mich in die Seite. „Los, schließ mal ab.“

„Was?“

„Schließ ab“, sagte Patricia lässig und warf ihre Jacke über meinen Stuhl.

Verwirrt folgte ich ihrem Befehl. Dann lehnte ich mich mit dem Rücken gegen die Tür und versuchte, mein verstrubbeltes Haar zu glätten.

Patricia stand einen Moment da und musterte mich, dann kam sie zu mir herüber und legte ihre langen, schlanken Arme um meinen Hals. Mein Herz blieb fast stehen.

„Ich hab dich ausgesucht“, flüsterte sie. Ihr Duft stieg mir in die Nase, ein betörender Duft nach einem leichten Parfum und frisch gewaschener Wäsche, die im Sonnenschein auf einer Bergwiese flattert. Oder so ähnlich.

„Wozu hast du mich ausgesucht?“, fragte ich.

Patricia lachte und trat einen Schritt zurück. „Du sollst es mir zeigen“, sagte sie und stupste mir ihren Zeigefinger in den Bizeps. Automatisch spannte ich meine Armmuskeln an.

„Was? Was soll ich dir zeigen?“

„Na, wie ihr Lesben Sex macht. Zeig mir das mal.“

„Aber … ich … warum?“

Patricia griff nach dem Saum ihres enganliegenden Kleides, ohne mich aus den Augen zu lassen, dann zog sie es mit Schwung über den Kopf und warf es hinter sich.

Zum zweiten Mal innerhalb einer Minute blieb mein Herz fast stehen. Sie trug weder BH noch einen Slip. Nur noch ihre Schuhe, schwarze Trittchen aus Leder mit einem Riemen.

„Ich hab dich ausgesucht“, sagte Patricia und ließ sich rücklings aufs Bett fallen, wobei sie ihre langen Beine mit einer schwungvollen Bewegung nach oben warf, „weil ich mir vorstellen könnte, dass du gut im Bett bist.“

Panik stieg in mir hoch, aber zugleich fühlte ich mich äußerst geschmeichelt. „Ach ja?“, fragte ich. „Sieht man mir das so sehr an?“

„Ich sehe dir in erster Linie an, dass du lesbisch, und in zweiter Linie, dass du sportlich bist“, sagte Patricia und schleuderte ihre Trittchen von sich, und jetzt war sie wirklich vollkommen nackt. „Das sind doch beste Voraussetzungen, oder? Und jetzt komm endlich her. Aber zieh deine Socken aus, ja?“ Sie winkte mir zu, und ich löste mich von der Tür und ging langsam zu ihr herüber, mit heftig klopfendem Herzen.

Ich weiß, was ich kann, das ist klar. Und ich bin gut im Bett. Aber es gibt Phasen im Leben, da gerät diese Gewissheit doch ein wenig ins Wanken. Und die nächsten drei Stunden gehörten eindeutig dazu.

Was ich auch tat, es fühlte sich falsch an. Beim ersten Kuss traf ich knapp neben Patricias Lippen. Der zweite war besser, aber während ich gleichzeitig versuchte, meine Socken abzustreifen, rutschte ich fast aus dem Bett, und Patricia fing an zu lachen.

„Komm“, rief sie. „Jetzt mach schon!“

Ich gab mein Bestes, aber nichts davon gelang. Im Nu geriet ich ins Schwitzen. Patricia auch, aber wohl eher, weil sie sich so heftig bewegte. Wie ein Gummiball sprang sie in meinem schmalen Hotelbett hin und her, wechselte die Positionen, drehte sich auf den Rücken, den Bauch, hockte sich hin, lehnte sich an die Wand und grätschte die Beine. Ich bekam sie einfach nicht zu fassen, und meine schweißnassen Hände machten das ganze Unterfangen nicht gerade einfacher. Jedes Mal, wenn ich Patricia endlich im Griff zu haben meinte, meine Arme um sie schlang und ihr Bein zwischen meine klemmte, wand sie sich blitzschnell wieder hinaus. Aber Spaß schien es ihr trotzdem zu machen. „Ja!“, rief sie. „Weiter! Mach weiter!“

Es war mehr Zufall als sonst was, dass es mir schließlich gelang, in sie einzudringen. Aber den Rhythmus fand ich irgendwie auch nicht. „Schneller!“, rief Patricia fordernd. „Tiefer! Und jetzt ein bisschen höher!“ Ich kam jedem Wunsch nach, aber stets ein Tickchen zu spät.

„Nun mach doch!“, rief sie. „Ja! Uh! Gleich komme ich, gleich!“

Der Schweiß brach mir erneut aus. Mittlerweile waren wir auf dem Boden gelandet. Patricia hockte auf mir, den Kopf in den Nacken gelegt, eins ihrer Knie in meine Rippen gerammt. Ihre Brüste wippten hoch über mir vor und zurück, ihre samtige Haut glänzte. Das war ja alles sehr schön, aber mein rechter Arm klemmte unter ihr fest. Ihr ganzes Gewicht lastete auf meiner Hand, und meine beiden Finger steckten in ihr fest.

„Weiter!“, rief sie laut. „Weiter! Ja, mach! So ist es gut!“ Sie hob ihren Hintern und presste ihn dann wieder auf meine Hand, und ich stöhnte vor Schmerz.

Das aber feuerte Patricia nur noch mehr an. „Ja, gut, endlich, mach, gut so, weiter, nun mach schon, ja, gut!“

Von irgendwoher klang ein Klopfgeräusch an meine Ohren, aber das war jetzt egal. Ich biss die Zähne zusammen und versuchte, meine Finger zu bewegen. Patricia jaulte auf, zitterte, ächzte und sank schwer wie ein Sack grunzend auf mir zusammen. Ihre schweißnasse Stirn lehnte an meiner, mit geschlossenen Augen seufzte sie wohlig.

Ich zählte bis drei, dann versuchte ich sie sanft von mir zu schieben. Sie öffnete die Augen.

„Komm“, flüsterte sie rau, „komm, lieb mich noch mal.“

Drei Stunden später lag ich platt wie eine Flunder auf meinem Bett. Noch nie, ich schwöre es, noch nie im Leben war ich so erschöpft gewesen wie in diesem Moment. Jeder einzelne Muskel im Leib tat mir weh. Meine Knie waren von der Auslegeware fast blutig gescheuert, meine linke Hüfte tat weh, weil ich mich am Nachttisch gestoßen hatte, als ich versucht hatte, Patricia im Stehen zu beglücken, und meine rechte Hand fühlte sich an wie gebrochen.

Patricia neben mir gluckste zufrieden. Kein Wunder, nach sechs oder sieben Orgasmen.

„Und du hast wirklich das erste Mal Sex mit einer Frau gehabt?“, fragte ich vorsichtig.

Patricia setzte sich auf und fing an zu lächeln, dieses typische, leicht verschlagene Lächeln, das ich nur allzu gut kannte. Mein Magen zog sich zusammen. „Quatsch“, sagte sie. „Ich hab dich verarscht. Hast du das denn nicht gemerkt?“ Sie stupste mir in den zitternden Bizeps. „Aber das war ja ganz ordentlich, würde ich sagen. Nicht gerade spektakulär, aber okay.“ Und damit ging sie ins Bad.

Ich blieb liegen und sah schockiert an die Decke. Ordentlich war das gewesen? Ich hatte alle Register gezogen und mich abgemüht wie noch nie, und Patricia fand es ordentlich?

„Wie meinst du denn das, ordentlich?“, fragte ich, als sie aus dem Bad kam.

„Na ja“, sagte Patricia. „So, wie ich es gesagt habe. Ordentlich eben.“ Sie pflückte ihr Kleid vom Boden auf und zog es sich über. Dann schlüpfte sie in ihre Trittchen. Ihre Augen glitzerten, als sie mich ansah. „Aber sportlich bist du auf jeden Fall.“ Sie beugte sich zu mir herunter und küsste mich schallend auf den Mund. „Also, bis dann!“ Sie winkte mir zu, und dann ging sie hinaus.

Und das war’s dann fürs Erste. Mehr hat sie mir zu diesem Thema nicht mehr verraten. Am nächsten Morgen war sie schon fort, als ich zum Frühstück ging. Nur Tom, Berit Niesel und Herr Nizowicz saßen noch da. Tom sah sehr verkatert aus, Herr Nizowicz sehr amüsiert, und Berit beugte sich verschwörerisch zu mir hinüber.

„Na!“, sagte sie fröhlich und zwinkerte mir zu. „Noch sportlich gewesen heut Nacht?“

Ich starrte sie an. Herr Nizowicz kicherte albern. Tom biss in einen Rollmops, und Berit stieß mir den Ellbogen in die Seite. „Ich hab mal geklopft“, flüsterte sie. „Aber ihr wart wohl einfach zu gut dabei, was? Na, macht ja nichts. Hauptsache, ihr hattet es schön!“

Aber das ist es ja eben: Hatten wir es denn schön? Und fand Patricia mich nun eigentlich gut im Bett oder nicht? Oder wollte sie mich nur ärgern, wie üblich?

Hätte ich doch nur bei den Eurogames mitgemacht und nicht bei der Tagung! Im Sport bekommt man Medaillen, da werden Zeiten gemessen, Zentimeter gezählt, Gewichte gewogen.

Im Bett leider nicht. Da zählt nur die Erregung, die man verspürt. Die Leidenschaft. Und die Lust.

Wie gesagt, immer noch rätsele ich daran herum.

Aber manchmal sag ich mir dann einfach: Schwamm drüber. Denn ich weiß, was ich kann: Ich bin sportlich. Stummfilmspezialistin. Und gut im Bett, das bin ich auch. Unzählige glückliche Frauen sind der Beweis.

Patricia Folaji hin oder her.

Stimmt doch. Oder nicht?

Cora kennt sich aus

Die Erste hatte Cora an einem heißen Sommerabend im August gesehen. Es war der heißeste Tag des Jahres gewesen, und Cora und Milli waren nach einem Ausflug an den Badesee spätabends in Coras Wohnung gekommen. Milli war im Badezimmer verschwunden, um sich frisch zu machen, und Cora hatte sich erschöpft an den Küchentisch gesetzt. Sie hatte eine Zigarette aus der Schachtel geklopft, sie angezündet, den Aschenbecher zu sich heranzogen, während sie genüsslich den Rauch einsog, und dann, als sie ihn mit einem wohligen Seufzen wieder ausstieß, hatte sie den Blick gehoben und zur Anrichte an der gegenüberliegenden Wand hinübergesehen, und da hatte sie gesessen.

Sie hatte vollkommen teilnahmslos dagesessen, mitten auf Coras Brotdose. Ihre langen, dunklen Flügel waren leicht gespreizt, und ihre Fühler zitterten in der immer noch heißen Abendluft, die durch die weit geöffneten Fenster hereinstrich. Und noch während Cora mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen zu ihr hinüberstarrte, setzte sie sich in Bewegung. Träge kroch sie ein paar Zentimeter vorwärts, streckte die Fühler noch höher in die Luft und verharrte wieder.

Aus Coras Kehle kam ein leises Krächzen. „Milli“, flüsterte sie und legte ihre brennende Zigarette in den Aschenbecher. Dann holte sie tief Luft.

„MILLIIIII!“

Milli kam aus dem Badezimmer geschossen, ein Handtuch über der Schulter, die Reinigungsmilch in der einen Hand und einen Wattebausch in der anderen.

„Was ist? Was ist los?“

„Ist das“, fragte Cora und zeigte mit einem zitternden Finger auf die Brotdose, „ist das etwa eine Kakerlake?“

Milli hob die Brauen und sah aufmerksam zu der Kakerlake hinüber, die sie jetzt ihrerseits zu beobachten schien. „Glaube ich nicht.“ Sie machte einen Schritt auf sie zu, aber Cora griff nach Millis Hose und hielt sie fest.

„Nicht hingehen!“

„Wieso denn nicht?“, fragte Milli. „Wieso soll ich denn da nicht hingehen? Die beißt doch nicht, oder?“

Die Kakerlake saß immer noch bewegungslos da, die Fühler steil in die Luft gestreckt. Dann, unvermittelt, drehte sie sich um und trippelte los, an der Brotdose herunter und quer über die Arbeitsfläche in Richtung Kaffeemaschine.

„Tu doch was, Milli!“, schrie Cora, und Milli sah sie verdutzt an, bevor sie einen zögernden Schritt auf die Kakerlake zumachte, die jetzt die Kaffeemaschine erreicht hatte.

„Ich glaube, du hast Recht. Das sieht wirklich aus wie eine Kakerlake.“

„Tu was!“, brüllte Cora. Milli machte noch einen Schritt auf die Kakerlake zu, die gerade die Heizplatte überquerte, hob den Wattebausch und drückte ihn fest auf die Kakerlake.

Cora schlug die Hände vors Gesicht. „Ogottogottogott!“

„Wo soll ich denn jetzt damit hin?“, fragte Milli, und Cora ließ die Hände wieder sinken.

„Weg! Mach sie weg!“

„Ja, aber wohin denn? In den Müll oder lieber ins Klo?“ Milli hob die Hand mit dem Wattebausch, und Cora schrie hysterisch auf.

„Aus dem Fenster, tu sie aus dem Fenster! Weg, mach sie weg!“

Milli betrachtete den Wattebausch einen Moment lang, dann drehte sie sich um und warf ihn einfach aus dem Fenster. „So“, sagte sie ruhig.

Cora sprang auf, lief zum Fenster und beugte sich hin­aus. Milli lehnte sich neben sie. Gemeinsam sahen sie auf den Gehsteig hinunter. Dort, dicht neben der Hauswand, lag der kleine weiße Wattebausch. Sogar von hier oben aus konnte Cora den kleinen dunklen Fleck in der Mitte erkennen.

„Du hast sie umgebracht“, flüsterte sie. Milli sah sie schräg von der Seite an.

„Na klar“, sagte sie und schwenkte die Reinigungsmilch. „Ich hab sie umgebracht. Eiskalt und ohne Gefühl.“

Cora betrachtete immer noch mit zusammengekniffenen Augen den Wattebausch. „Die Eier!“, sagte sie plötzlich. „Wir müssen die Eier vernichten!“

„Welche Eier?“, fragte Milli verständnislos.