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Ben Redelings/
Sascha Theisen (Hrsg.)

AUFASCHE

Unwiderstehliche Bolzplatz-Erinnerungen

von Axel Formeseyn, Frank Goosen,
Uli Hesse, Ronald Reng u.v.m

VERLAG DIE WERKSTATT

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Copyright © 2013 Verlag Die Werkstatt GmbH

Lotzestraße 22a, D-37083 Göttingen

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Alle Rechte vorbehalten

Satz und Gestaltung: Verlag Die Werkstatt, Göttingen

Coverfoto: Stockphoto.com/nikada

ISBN 978-3-7307-0029-7

Inhalt

Vorwort

Frank Goosen

Trainer, ey!

Axel Formeseyn

Sonst noch wer ein Bier?

Michael Wildberg

Wir waren dem Wahnsinn so nahe …

Jens Kirschneck

War richtig so

Michael Pahl

RACHE FÜR BIKINI –

oder: Als die Südsee doch nicht zurückschlug

Björn Schmidt

Niemand kämpft wie Nixon

Sascha Theisen

Gott segne Grün Weiss Brauweiler

Stefan Barta

Thomasmehl

Martin Meyer

Egal ist 88

Frank Baade

In der Halle der Gastfreundschaft

Matthias Berghöfer

Zeitreise

Uli Hesse

Im Jugendwahn

Oliver Birkner

Zwischen Köttelbecke und Schwarzbach

Sascha Theisen

Robert Mitchum und die Oma von Thomas Stick

Gregor Schnittker

Pinguine, Kloppo und andere Vögel

Clemens Herbstmeister

The Fainter

Arne Jens

Labonte

Christoph Nagel

Das süße Jenseits

Christoph Ruf

X-Beine und Y-Chromosome

Ben Redelings

Warum wollte der Weltmeister meinen Schnuller klauen?

Sascha Theisen

Die Bälle weg!

Ronald Reng

Der Rausch der goldenen Jahre

Danksagung

Die Autoren

Vorwort

Viele von uns haben den Fußball bis ins Kleinste analysiert. Wir haben unsere Frauen, viele unserer Freunde und manchmal sogar unsere Kinder damit genervt, dass wir ganze Spiele minutengenau nacherzählen konnten – zu jeder passenden und unpassenden Gelegenheit. Kein noch so kleiner Randaspekt des runden Leders ist vor uns sicher: Mannschaftsaufstellungen aus Jahren, in denen wir nicht mal geboren waren, Eigenheiten von argentinischen Stehplatztribünen oder der Geschmack von ostdeutschen Stadionwürsten – kein Problem! Doch um ein Thema haben wir viel zu lange einen Bogen gemacht: Wie fühlt es sich eigentlich an, wenn wir selber spielen? Eigentlich gibt es auch keinen Grund für dieses Schweigen. Denn der echte Fußball ist der, den man selbst spielt – alles andere vergessend, auf Asche, in einem Garagenhof, auf Kunst-, Roll- oder Echtrasen, einem Bolzplatz oder ganz einfach auf Linol in der eigenen Küche, wenn es mit dem IKEA-Plüschball gegen den eigenen Sohn hochhergeht. Fußball ist ein geiles Spiel. Es lebt im Jetzt, aber auch in den Erinnerungen an das eine Spiel, an dem man selbst teilnahm, in dem man nur ein einziges Mal an der Unsterblichkeit kratzte – und sei es auch nur die Unsterblichkeit in einem kleinen Dorf, das sonst niemanden interessiert, in dem man aber seine Kindheit verbrachte; meist mit dem Ball am Fuß und einem flatternden Trikot um die Hüften.

Wir haben Freunde aus dem Kreis der großen und sehr großartigen Fußballkultur-Familie gebeten, uns ihre Geschichte zu erzählen. Herausgekommen sind atemberaubende, witzige, leidenschaftliche und nicht zuletzt wunderbar zu lesende Fußball-Kurzgeschichten, die ein bisschen abseits von der täglichen Berichterstattung über Fußball stehen. Diese Geschichten sind vor allem eines: eine Verbeugung vor dem Kicken selbst. Danke dafür an alle Beteiligten – vor allem auch für die Gewissheit, dass wir oft Ähnliches erlebt haben und uns eine sinnliche Erfahrung eint: der unwiderrufliche Duft der Asche, auf der ein rundes Leder auf uns zurollt.

Die Autorenhonorare für dieses Buch gehen an die Sepp-Herberger-Stiftung und das dort geförderte Projekt „Fußballfreunde“, das behinderte Kinder mit gesunden zum gemeinsamen Fußballspiel zusammenbringt. Wir hoffen, dass wir mit der Spende ein bisschen dazu beitragen können, dass diese Kinder ähnlich grandiose Erlebnisse teilen können wie die, über die in diesem Buch geschrieben wird.

Sascha & Ben

Frank Goosen

Trainer, ey!

Jeder Verein sucht ja den jungen, hungrigen Trainer, der junge, hungrige Spieler jungen, hungrigen Umschaltfußball spielen lässt. So viel Hunger war in Deutschland zuletzt im berüchtigten Winter 46/47.

Auch die E1-Jugend der DJK Arminia Bochum 1926 war auf der Suche nach dem Tuchelklopp und fand – mich.

Zum Spieler hat es bei mir nie gereicht. Über die Wiese am Springerplatz in Bochum bin ich nicht hinausgekommen. Rätselhafterweise aber habe ich zwischen dem zwölften und achtzehnten Lebensjahr sechs Jahre Hallenhandball gespielt. Ein Dach überm Kopf war in der Gegend, in der ich aufgewachsen bin, schon eine Menge wert. Außerdem meinte ich beim Handball mangelnde Schnelligkeit und Kondition durch rücksichtslose Brutalität ausgleichen zu können. Was auch stimmte.

Mit den Asche-, Kunst- und Naturrasenplätzen der Amateurvereine des Fußballkreises Bochum kam ich erst durch meine Söhne in Berührung. Eine Trainerkarriere war dabei allerdings nie Teil meiner Lebensplanung gewesen. Fast fünf Jahre lang war ich mit einer Existenz als Fußballvater ganz zufrieden gewesen. Nur selten bin ich Sechsund Siebenjährigen, die meinen Sohn gefoult hatten, in die Kabine gefolgt, um sie in verschwitzten Klamotten unter die kalte Dusche zu stellen und dann bei offenem Fenster im Klo einzusperren. Meistens gelang es mir auch, meinen Unmut über Schiedsrichterentscheidungen, falsche Auswechslungen und grobe taktische Fehler nicht in Handgreiflichkeiten münden zu lassen. Auch wollte ich ja nie der Vater sein, der seinen Kindern vorheult, dass früher alles besser gewesen sei, man selbst vor allem härter im Nehmen. Manchmal aber konnte ich nicht anders.

Kaum hatten wir bei den Minikickern der DJK Arminia Bochum angefangen, wurde aus dem pittoresken Ascheplatz ein cooles Kunstrasenareal. Die Kinder machte das schnell anspruchsvoll. Ein paar Monate später traten wir etwa beim SV Bommern in Witten an, wo am Vereinsheim geschrieben steht: Die Macht vom Goltenbusch! Der Platz bestand noch aus körniger Asche, so dass ein Mitspieler meines Sohnes verwirrt ausrief: „Wo ist denn hier der Fußballplatz?“ Trotz der Tore hatte er die Fläche für den Parkplatz gehalten.

Und wenn es um richtige Natur geht, sind einige Blagen heute ja maximal überfordert. Das Spiel gegen Teutonia Ehrenfeld nämlich fand auf einem Spielfeld aus Naturrasen statt. „Ah!“, rief Vattern. „Echtes Gras! Kühe fressen es, Menschen rauchen es!”

Das Spiel ging 1:2 verloren, und hinterher hob großes Wehklagen an: „Der Platz war so holperig!”, beschwerte sich einer. „Ey, wir wären früher froh gewesen, wenn wir bei uns an der Alleestraße Gras auch nur von Weitem gesehen hätten!”, wies ich den Bengel zurecht. Ein anderer klagte darüber, der Gegner habe so hart gespielt. „Dann müsst ihr noch härter spielen! Hat der Trainer euch denn nicht gezeigt, wo es richtig wehtut?”

Und als im Auto der eigene Zweitgeborene dann auch noch jammerte, der Ball sei aber „total hart” gewesen, da war Vattern nicht mehr zu halten: „Mensch, Leute, wir wären froh gewesen, wenn wir überhaupt mal einen richtigen Ball gehabt hätten und nicht mit umwickelten Lumpen spielen mussten, damals, in der entbehrungsreichen Zeit der siebziger Jahre! Und wenn wir dann mal einen richtigen Lederball hatten, und wenn es dann auch noch geregnet hat …”

„Ja, Papa”, unterbrach mich der ebenfalls anwesende Erstgeborene „… dann hat sich der Ball immer voll Wasser gesogen, und du hast trotzdem Kopfball gemacht, die Mama sagt, das merkt man heute noch, und die Omma hat erst gestern gesagt: Ja, der Papa hat es immer schwer gehabt, ich hatte ja Glück, bei mir war nur Krieg!”

So hätte es bis zur A-Jugend weitergehen können, doch es kam anders …

Der Jüngere hatte mit seinen Trainern immer Glück, der Ältere hatte bis zum Frühjahr 2011 sehr unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Sein erster Trainer war ein Zahnarzt, der von der Seite vor allem Fragen hineinbrüllte. Einmal stand ein schmächtiger Fünfjähriger blank vor einem 5 × 2 Meter großen Tor, mit einem vor Angst schlotternden, gleichaltrigen Keeper auf der Linie – und der Angreifer semmelte den Ball etwa drei Meter über den Kasten. Wo andere Minikicker-Trainer Mut zusprechen, dass es beim nächsten Mal sicher besser klappen werde, krakeelte der Dentist: „Warum machst du das?” Gute Frage? Spielte das Kind gegen den Trainer?

Der nächste Übungsleiter machte seine Sache ganz ausgezeichnet, und wahrscheinlich ist mein Sohn nur deshalb bei der Stange beziehungsweise am Ball geblieben. Dann kam einer, der seinen Sohn, der gefälligst möglichst noch mit zwölf Profi werden sollte, gleich mitbrachte und bald meinte, die Mannschaft könne im Prinzip gar nichts, vor allem aber nicht hart genug schießen. Die einzige Lösung? Torschusstraining mit Medizinbällen! Mit Neunjährigen. Ein zufällig vorbeikommender Felix Magath wäre weinend zusammengebrochen.

Nach einem 0:25 gegen Wattenscheid 09 (und nachdem mindestens ein halbes Dutzend Kinder den Verein gewechselt oder ihre Karriere beendet hatten) erklärte der gescheiterte Schleifer seinen Rücktritt. Danach hatte das Team ein halbes Jahr gar keinen Coach. Das Training wurde mal vom Jugendleiter, mal vom Platzwart, von Minderjährigen oder von wehrlosen Passanten beaufsichtigt. Und als man nach der Sommerpause noch immer keinen gefunden hatte, sagte ich: Ich habe ja eigentlich keine Zeit, aber ich mache das ein paar Wochen.

Doch gleich nach der ersten Trainingseinheit war ich angefixt. Eigentlich sogar schon in dem Moment, da die Jugendgeschäftsführerin mir den Schlüssel zum Platz überreichte. Wow, dachte ich, da gibt es jetzt einen Fußballplatz, da kann ich auch nachts hin! Ich ging nach Hause und sagte zu meiner Frau, wenn wir nicht schon zwei Kinder hätten, wüsste ich jetzt, wo wir welche machen könnten, stellte dabei aber auch mal wieder fest, dass unsere Vorstellungen von Romantik ziemlich weit auseinanderliegen.

Als Halbwüchsiger war ich begeistert, als ich zum ersten Mal gesiezt wurde. Heute weiß ich, das ist gar nichts gegen das Gefühl, von einem Zehnjährigen mit „Trainer” angesprochen zu werden. Wobei ich noch eine Zeit lang korrigieren musste: „Wie heißt das?” – „Oh, ‘tschuldigung: Trainer, ey!“

Nun gut, am Anfang war ich vielleicht etwas streng: „Trainer, darf ich mal zur Toilette?” – „Okay, aber auf dem Hinweg kurze Sprints, auf dem Rückweg Sidesteps. Und beim Pinkeln selber auf der Stelle tänzeln, um nicht kalt zu werden.” – „Ich muss aber groß!” – „Da kannst du immer noch im Takt die Knie anheben!”

Über Kinderfußball sagt man gern: Du kriegst so viel zurück! In meinem Falle ist es so, dass ich das, was ich „zurückbekomme”, sogar beruflich verwerten kann. In meiner Mannschaft wächst nämlich nicht nur astreiner Fußballnachwuchs heran, sondern mindestens ein talentierter Komiker. Und der heißt Yussuf.

Im letzten Sommer ging es in der ersten Runde des Kreispokals gegen den SV Phönix, gegen den man niemanden in Bochum großartig motivieren muss, denn die spielen in Gelb-Schwarz. Aus einem 0:1-Rückstand machte mein Haufen junger Hunde tatsächlich noch ein umjubeltes 2:1. Nach dem Spiel wurden aus den elfjährigen Kampfschweinen wieder elfjährige Kinder, die sich gar nicht vom Schauplatz ihres Triumphes trennen konnten und noch eine Runde „Fangen/Verstecken” anhängten. Der Sportkamerad Kerim versteckte sich dabei in einer Papier-Mülltonne, was seinen Mannschaftskollegen Yussuf zu der Bemerkung veranlasste: „Guck mal, Frank, der Kerim ist schon zu Hause!”

Völlig überraschend kam der Scherz nicht. Schon drei Monate vorher hatte der Bülent Ceylan von Bochum eine Pointe platziert, die bemerkenswert mit den kulturellen Unterschieden in einer multiethnischen Fußballmannschaft mitten im Ruhrgebiet spielte.

Zu Beginn unseres E-Jugend-Turniers im Juni hatte ich mich in unserer Kabine aufgebaut und den Jungs erklärt, dass sie sich um die Verpflegung keine Gedanken machen und zwischen den Spielen garantiert nicht auf das am Vereinskiosk angebotene, leistungsmindernde Junkfood zurückgreifen müssten. Das Trainerteam habe, unterstützt von einer fleißigen Mutter, Gesundes besorgt: „Wir haben Bananen und wir haben Brötchen. Die Brötchen sind belegt mit Wurst und mit Käse. Natürlich nicht mit Schweinefleisch!” Das veranlasste einen Spieler zu dem Ausruf: „Höhöhö! Schweinefleisch!” Um nur ja keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, fügte der Trainer hinzu: „Es gibt eben Menschen, die essen bestimmte Dinge aus religiösen Gründen nicht.” Darauf Yussuf: „Stimmt, ich esse keine Bananen!” Und mit einem Seitenblick auf den Coach fügte er hinzu: „Trainer, ey!”

Ich kann diesen Job nur empfehlen.

Axel Formeseyn

Sonst noch wer ein Bier?

Es ist Sonntagmorgen in Hamburg-Altona. Offenbar hängt es von der Qualität der Fußballspiele ab, wann sie angepfiffen werden. Die Champions League beginnt um 20 Uhr 45, die Bundesliga um 15 Uhr 30, die Zweite Liga um 14 Uhr, unsere Erste auch, unsere Zweite um 12 und ganz unten – bei uns – fängt die Scheiße an. Um 10 Uhr. Ich spiele bei Altona 93, in der dritten Herrenmannschaft. Auf Grand. In der Betonliga Hamburg.

Wer bei Trost ist, schläft jetzt noch. Meine Freundin zum Beispiel. Nur vereinzelte Fischmarktbesucher und Besoffene schlendern auf dem Weg nach Hause an unserem Platz am Trenknerweg vorbei. Ansonsten sind bis auf Werner Biskup nach seinem Zug durch die Gemeinde mal wieder keine Fans da, als ich mit der geschulterten Sporttasche die rumplige Sportanlage betrete. Ich stoße die Tür zu unserer Kabine müde auf. „Moin.” Keine Antwort. Ich greife in die Trikottasche. Für mich sind einmal mehr nur noch Nummern jenseits der 11 oder die 2 übrig. Grrr. Ich sollte definitiv früher aufstehen, wenn ich als der technisch weitaus beschlagenste Spieler unserer Truppe Wert darauf legen will, auch einmal die 10 tragen zu dürfen.

Außerhalb der Kabine ist ein beherztes Rülpsen deutlich zu hören. Die Tür geht auf. Kulle ist jetzt auch da. Unser – das hört er gerne – „Sturmführer”. Er komme grad direkt vom Saufen, tut er lauthals kund: „Bei solchen Anstoßzeiten lohnt sich das Hinlegen doch eh nicht, Männer!” Fertig sieht er zwar aus, mit Saufen ist er es aber noch lange nicht. „Hat jemand noch ein Bier für den Meister über?” Man kommt ob solch obskurer Fragen kaum zum Lächeln, da meldet sich aus der anderen Ecke der Kabine unser knapp 70-jähriger Linksverteidiger Uwe zu Wort. „Für dich doch immer, Chef! Ist aber leider nicht mehr kalt!” Ob kaltes Bier, ob warmes Bier, Kulle nimmt es damit nicht so genau. „Du hast mir grad das Leben gerettet, Kumpel! Sportfreunde, wir trinken auf ,Uns Uwe‘, unseren besten Mann!” Und er setzt sich neben besagten „besten Mann”, umarmt diesen theatralisch, zerzaust ihm nebenbei die Haare und prostet dann jedem Einzelnen von uns zu. Wir nicken stumm zurück. Im Gegensatz zu unserem Trainer, der soeben mit ernster Miene hereinspaziert ist und Kulle anraunzt: „Sach mal, bissu wahnsinnig?! Was glaubst du eigentlich, wo du hier bis‘?! Unser Saisonziel heiss’ Aufstieg! Da kann ich keine Besoffenen bei gebrauchen!” Betretenes Schweigen. Rülps! Das war Uwe. „‘schuldigung, Coach!” Der verlässt wütend die Kabine. Die Tür knallt zu. Uwe fragt in die Runde: „Außer Kulle sonst noch wer ein Bier?”

Als wir den Platz betreten, ist immer noch kein Schiedsrichter in Sicht. Nicht das erste Mal müssen also wir als Heimteam einen der Unseren auswählen, der sich eineinhalb Stunden lang von verkaterten Betonfußballern anpöbeln lassen darf. Klar, dass sich niemand um den Job reißt. Muss auch keiner. „Kulle, dich kann ich auffem Platz heude sowieso nich’ gebrauchen. Du machst das!”, legt unser Trainer fest. Meine Hoffnung, der Auserwählte möge sich ob seines fragwürdigen Zustandes zurückhalten und abwinken, verpufft wie die meisten unserer Angriffe: wirkungslos. Neu-Schiri Kulle baut sich vor uns auf, nimmt einen erneut tiefen Schluck aus der Pulle und kündigt lauthals an: „Heute hagelt es Rote Karten, Leute! Und zwar nicht für uns!”

Unser Coach rollt mit den Augen und schickt alle zum Warmmachen. Das übliche Pflichtprogramm vor dem Spiel sieht bei uns allerdings kein sportwissenschaftlich fundiertes „Dehnen” oder „kurze Sprints”, sondern Lattenschießen und Ballhochhalten vor: Einmal auf den Fuß, einmal auf die Erde, einmal auf den Fuß, einmal auf die Erde. Muss man auch erst mal hinkriegen. Während einer kurzen Verschnaufpause sehe ich unseren heutigen Gegner sich hochprofessionell in Reih und Glied warmmachen. Es sind die vierten Herren von Teutonia Hamburg, die, seien wir mal ehrlich, so rein gar nicht teutonisch aussehen. Und die fünfzehn dunklen Schnauzbärte vom Bosporus haben sich offensichtlich eine Menge vorgenommen.

Neben dem Platz klatscht sich auf Teutonia-Seite die womöglich größte Delegation in der Geschichte des deutschen Amateurfußballs ab: Masseur, Teammanager, Co-Trainer, Trainer, Präsident, Mäzen, Zeugwart, Platzwart, Tankwart, bummelig acht Ersatzspieler und zusätzlich noch eine unübersichtliche Anzahl an Fans, die allerlei Bohei neben dem Platz machen. Zu allerlei Bohei auf dem Platz kommt es, als auch den Teutonen klar wird, dass ausgerechnet dieser „dicke Mann mit die zu kleine Trikot” das Spiel zu leiten gedenkt. Kein Wunder, gibt sich dieser „dicke Mann mit die zu kleine Trikot” doch so überhaupt keine Mühe, seine Sympathien zu verhehlen: „Dritte Herren, bleibt cool! Teutonia hat doch längst verloren. Lasst das mal den Kulle machen!” Was die Offiziellen und Fans des Gegners klar und deutlich hören können, schließlich ruft er es mehr in deren Richtung, als dass er es uns verschwörerisch zuflüstert. Logisch, dass auf der anderen Seite „eine krasse Betrug!” gewittert wird. Das kann ja was werden heute …

Das Spiel beginnt mit Verzögerung, schließlich muss sich Kulle („Aber nur unter Protest!”) nach dem ganzen Tohuwabohu zunächst noch eine Trainingsjacke über sein Altona-Trikot drüberziehen, wegen „unparteiisch” und so. Selbstredend, dass wir trotzdem Anstoß haben und es schon bei der ersten brenzligen Situation lichterloh brennt – zumindest die Teutonen auf und neben dem Platz tun dies: „Der Ball war aus, Schierri!” Doch der „Schierri” lässt sich nicht beirren: „Weitermachen! Immer weitermachen!” Schon wenige Sekunden darauf drehen die teutonischen Türken das nächste Mal frei. Kulle hat auf Freistoß für Altona entschieden. „Das ist doch die große Scheiße hier! Ein Betrug ist das!” So geht das alle paar Sekunden. Wir lassen uns, na logen, auch nicht die Butter vom Brot nehmen. Im Schnacken, Lamentieren, Arme Rumfuchteln und „Was willst du denn, hä!?”-Brüllen sind wir ganz groß!

Es ist fast Mittag, als Rechtsverteidiger Dieter auf seine Uhr schaut und um Weiterspielen bittet. „Seht zu, Leute! Meine Alte wartet zu Hause mit dem Essen!” Was Dieter sagt, hat bei uns Gewicht. Das Spiel läuft also wieder. Zumindest für etwa dreißig Sekunden. Dann beginnt die gleiche Prozedur aufs Neue. Nebenbei holt Kulle Altona-Rechtsaußen Fuzzi zur Seite: „Mach mal, dassu in den Strafraum kommst, Digger! Ich pfeif gleich Elfmeter! Wir können ruhig noch was fürs Torverhältnis tun.”

Eigentlich sollte ich längst geduscht beim Frühschoppen in der Kneipe sitzen. Stattdessen steht es nach bummelig vierzig Minuten reiner Spielzeit 3:0 für uns. Fuzzi hat zweimal, Blacky einmal getroffen, Letzterer per Elfmeter, nachdem Fuzzi im Strafraum ominös zu Fall gekommen war. Teutonias Vierte versucht nach wie vor alles. Doch vergeblich. In unserer Spielhälfte wird restlos jeder Ballbesitz von ihnen seitens Kulle mit dem deutlichen Hinweis „Klares Abseits, Sportsfreund!” abgepfiffen. Außerdem beklagt unser Gegner bereits gut und gerne sieben gelbe Karten, allesamt „absolut berechtigt”, wie Kulle später selbstsicher klarstellt, dazu ein Feldverweis. Dem Elfmeter ging laut „Schierri” eine Notbremse voraus. Eigentlich läuft für die „Dritte” also alles nach Plan. Uwe marschiert nach dem 4:0 dann auch schnurstracks zum Trainer und erklärt: „Ich geh jetzt einen saufen. Hier brennt ja heute eh nichts mehr an.” Unser Trainer schon, glaubt der doch, seinen Ohren nicht zu trauen: „Du bleibst schön hier, Freundchen! Das Ding hier is’ noch lange nich’ gewonnen!” Als Schiedsrichter Kulle das hört, prustet er laut los: „Noch lange nich’ gewonnen?! Trainer, ich bitte dich! Ihr habt doch mich!”

Die türkische Delegation ist mit den Nerven eh zu Fuß, doch nun läuft das Fass über. Vieles mussten sie heute schon ertragen, doch spätestens jetzt ist der Teufel, um nicht zu sagen, der Teutone los. Unser Trainer versucht zu vermitteln: „Das meint der doch nicht so! Der ist nur betrunken!” Doch für Deeskalation ist es längst zu spät. Sämtliche Teutonen gehen auf Kulle los, und auch unser Trainer muss reichlich einstecken. Der Rest von uns schaut sich das bunte Treiben eine Weile an und trottet dann gemächlich in Richtung Kabine. Die erste Halbzeit scheint endgültig beendet zu sein. Für Dieter das ganze Spiel: „Ich muss los. Bei uns zu Hause gibt’s heute Schweinebraten!” Auch Uwe klinkt sich da nur zu gerne ein: „Wer hat Lust auf ein kühles Bier? Ich fahr mal kurz zur Tanke.”

Es ist irgendein Sonntag in Hamburg-Altona. Mittlerweile 13 Uhr. Halbzeit in der Betonliga. Ich sitze in der Kabine, habe den Frühschoppen zwar verpasst, dank Uwe nun aber zumindest ein kühles Bier in der Hand, und denke so bei mir: Gut, dass bei uns in der Betonliga die Spiele so früh angesetzt werden. Zumindest zu Kaffee und Kuchen müsste ich es noch rechtzeitig nach Hause schaffen …

Michael Wildberg

Wir waren dem Wahnsinn so nahe …

Wir hatten sie diesmal bereits auf der Fähre gesehen. In ihrem Rücken tummelte sich ein wild grölender und feist grinsender Betreuerstab. Widerliche Kreaturen, die sich eine Palette Bier nach der anderen reinschaufelten. Wir hassten sie von Anfang an, und wir wollten sie umbringen, nicht mehr und nicht weniger. Sie waren berühmt-berüchtigt, für ihr Aussehen, ihre Spielweise und ihre anarchistische Haltung zu diesem Sport. Aber auch wir hatten unseren Ruf zu verteidigen, Kinder von Traurigkeit waren auch wir nicht gewesen, niemals, über die ganzen Jahre hinweg, und gerade gemacht haben wir uns immer wieder, so hart es auch war. Es gab Partien, in denen brutalste Fouls von beiden Trainerteams mit Schreien wie „Der Bastard soll mal nicht so rummemmen!” kommentiert wurden, und dies ist nur der geschönte Teil einer ganzen Batterie hochkreativer Beleidigungsformeln, mit denen wir wechselseitig über Jahre hinweg von Abwehr bis Angriff alles traktierten, was nicht rechtzeitig an uns vorbeirennen konnte. Jedes Jahr aufs Neue standen wir uns gegenüber. Es waren Schlachten epischen Ausmaßes dabei, ebenso wie herbe Niederlagen, knappe Siege und torlose Gekicke im Regen. Wir hatten die ganze Derbygeschichte hinter uns, und wir spielten das Spiel trotzdem immer wieder. So sehr hassten wir uns.

Das Traineramt hatte ich bereits im Februar übernommen. Mein Vorgänger war unter Schimpf und Schande gegangen. Manchmal reicht eben eine Niederlage, um in Ungnade zu fallen, und es war schließlich eines dieser Duelle gewesen, das ihm das Genick brach. Es war ein ruhiger Dienstagnachmittag, als ich den Kugelschreiber in aller Ruhe auf dem Papier aufsetzte und die womöglich entscheidende Unterschrift meines Lebens setzte, während vor dem Fenster die Rentner verwelkten und vor uns drei grinsende Betreuer den letzten Schnörkel abwarteten. Schon im Vorfeld wurde klargestellt, dass man mir, wollte man diesen Plan wirklich angehen, den Kollegen Singh zur Seite stellen müsste, ein Fußballfachmann vor dem Herrn, ehemaliger Landesligist, seinerzeit kurz vor dem Sprung in die ganz hohen Weihen, dann aber wie immer: Schnaps, Party und Frauen, jedes Wochenende last man standing, und schon war er zu Ende, der Fußballertraum. Eine Karriere an der Theke verschleudert, wie so viele. Aber er wusste ein Spiel zu lesen, war Menschenkenner und Motivator in einem, und ich wusste, wie man solche Talente einzusetzen hatte.

„Wir werden sie fertigmachen”, sagte er bei der Vertragsunterzeichnung mitten in Homberg-Hochheide und hielt mir feierlich seine Hand hin. Vor wenigen Jahren hatten wir noch gemeinsam auf diesem Feld gestanden. Ich im Tor, er im kreativen Mittelfeld oder in der vordersten Reihe. Er verschoss entscheidende Elfmeter oder erzielte Tore in letzter Minute, ich griff daneben oder flog wie ein Adler. Unsere Karriere hatten wir an den Nagel gehängt, wir waren mittlerweile gezeichnete Männer geworden, aber immer noch loderte in uns dieses gierige Feuer.

„Wir werden sie nicht fertigmachen”, antwortete ich und tippte ihm an die Schulter. „Wir müssen sie fertigmachen.”

Er nickte.