Umschlag

Xaver Maria Gwaltinger ist im bayrischen Schwaben aufgewachsen und hat Germanistik, Theologie und Psychologie studiert und lange in Frankreich und Australien gelebt. Das Allgäu ist seine Heimat geblieben, vor allem wegen der Landschaft und der Sprache. Dort erholt er sich auf seiner Alm von seiner Tätigkeit in verschiedenen sozialen Feldern, indem er als Autor die Tiefen der Allgäuer Seele auslotet.

Josef Rauch, geboren 1968 in Eichstätt, lebt seit über zwanzig Jahren in Franken, wo er im Gesundheitswesen arbeitet. Seit 2007 ließ er seinen Fürther Privatdetektiv Philipp Marlein in drei Romanen und diversen Erzählungen vertrauliche Ermittlungen durchführen. »Schwarze Madonna«, sein erstes Werk bei Emons, ist ein »Duett-Krimi« zusammen mit Xaver Maria Gwaltinger, mit dem ihn ein früherer gemeinsamer Arbeitsplatz verbindet – und die literarische Vorliebe für hartgesottene Detektive.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2014 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: Peter Eberts/www.petereberts.de
Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch
Gestaltung Innenteil: César Satz & Grafik GmbH, Köln
Lektorat: Carlos Westerkamp
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-86358-594-5
Originalausgabe

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Maria hilft immer!

Volksmund

1  Marlein und der unfreiwillige Auftrag

Piep – piep – piep – piep – piiiieeeppp. »Es ist fünfzehn Uhr. Sie hören die Nachrichten des Bayerischen Rundfunks. Am Mikrofon: Xaver Maisbauer.

Altötting. Der Diebstahl der berühmten Schwarzen Madonna in Altötting hat bayern- und deutschlandweit Bestürzung und Empörung hervorgerufen. Nachdem zuvor schon der Bundespräsident und die Bundeskanzlerin dieses Verbrechen mit scharfen Worten verurteilt hatten, meldete sich jetzt auch der zurückgetretene Papst Benedikt zu Wort. Er zeigte sich entsetzt über diesen Versuch, das – so wörtlich – ›spirituelle Herz des Christentums in Europa‹ zu entweihen.

Wie berichtet war die weltberühmte Figur der Gottesmutter Maria in der vergangenen Nacht von Unbekannten gewaltsam entwendet worden. Von den Tätern und ihrer Beute fehlt bisher jede Spur. Die ermittelnden Behörden gehen in einer ersten Stellungnahme von einem Kunstraub aus. Ein Polizeisprecher teilte mit, es gebe im Moment keine Anhaltspunkte für einen religiösen oder islamistischen Hintergrund, man ermittle aber trotzdem in alle Richtungen. Die Bevölkerung wird um Mithilfe bei der Aufklärung dieses Diebstahls gebeten; für sachdienliche Hinweise, die zur Wiederbeschaffung der Schwarzen Madonna führen, wurde eine Belohnung in Höhe von …«

In dem Moment klopfte es an meiner Bürotür.

Ich schaltete das Radio aus.

Ich war bereit.

Die Tür würde sich öffnen, und der große Boss persönlich würde hereinkommen – der Papst, bekleidet mit seiner superschicken Ausgehsoutane –, und er würde eskortiert werden von zwei hartgesottenen Jungs seiner knallharten Leibwache, der Schweizergarde (auch wenn sie in ihren bunten Kostümen immer ein bisschen aussahen, als kämen sie frisch vom Rosenmontagszug). Seine Heiligkeit würde mein kleines, heruntergekommenes Büro in der Fürther Blumenstraße betreten und mich, Philipp Marlein, Privatdetektiv, vertrauliche Ermittlungen aller Art, beauftragen, mich auf die Suche nach der Schwarzen Madonna zu machen, sie den Händen der Heiden, die sie entwendet hatten, wieder zu entreißen und so das Christentum vor dem sicheren Untergang zu retten.

Wie gesagt, ich wäre bereit gewesen.

Die Person, die mein Büro betrat, war allerdings kein Mann, sondern eine Frau, sie trug kein sakrales Gewand, sondern eine schmutzige Küchenschürze, und sie würde von mir nicht die heilige und göttliche Mission der Rettung des Christentums fordern, sondern die profane und irdische Mission der Bezahlung der Miete, die ich ihr schuldete.

Frau Gaulstall baute sich breitbeinig vor meinem Schreibtisch auf – was gar nicht so leicht war bei ihren fetten, ödematösen Stampfern. Sie war nicht der Typ, der um den heißen Brei herumredete.

»Herr Marlein, Sie haben diesen Monat noch keine Miete bezahlt.«

»Tatsächlich? Sollte ich das verpasst haben?«

»Und die fünf Monate davor auch nicht.«

»Sapperlot. Ich werde immer vergesslicher. Ich muss unbedingt meine Ginseng-Kapseln wieder regelmäßig einnehmen.«

»Sie haben die Bezahlung also nur vergessen? Sie können die Miete also sofort nachzahlen?«

Ich zog die Stirn in Falten.

»Das ist eine Schlussfolgerung, die so nicht ganz korrekt ist.«

»Ich will Geld sehen, Herr Marlein, und zwar schnell.«

»Ich bin erstaunt, Frau Gaulstall, und, ja, ganz ehrlich, auch ein wenig enttäuscht von Ihnen. Wie können Sie in diesen dunklen Stunden nur an den schnöden Mammon denken?«

»Welche dunklen Stunden?«

»Hören Sie kein Radio? Sehen Sie nicht fern? Haben Sie noch nicht erfahren, was in Altötting Schreckliches passiert ist?«

»Sie meinen den Diebstahl der Schwarzen Madonna? Natürlich weiß ich das. Aber was hat das damit zu tun, dass Sie Ihre Miete nicht bezahlen wollen?«

Das war nun leider eine berechtigte Frage. Frau Gaulstall war eine äußerst pragmatisch denkende Frau, der Madonnenklau interessierte sie einen Scheißdreck. Was sie interessierte, war ihr monatlicher Kontoauszug.

Sie griff sich meinen Klientenstuhl und ließ sich darauf nieder. Er ächzte unter der Last.

»Reden wir Klartext, Herr Marlein. Wollen Sie die Miete nicht bezahlen – oder können Sie nicht?«

Ich versuchte mich an einem kindlichen, Unschuld suggerierenden, jedes noch so verhärmte Frauenherz erweichenden Bambi-Blick.

»Nun, Frau Gaulstall, das ist eine sehr komplexe Thematik. Im Privatdetektivgewerbe gibt es Höhen und Tiefen. Manchmal läuft es gut, und manchmal läuft es weniger gut. Es ist ein konjunkturelles Wechselbad, ein Auf und Ab der –«

»Bei Ihnen läuft es nie gut.«

Das mit dem Bambi-Blick hatte offenkundig nicht funktioniert.

»Das ist ein sehr hartes Urteil, Frau Gaulstall!«

»Es ist eine Tatsache. Können Sie die Miete zahlen? Und jetzt bitte nicht wieder irgendein Geschwafel, sondern ein einfaches Ja oder Nein.«

»Wenn Sie es partout auf diese beiden undifferenzierten Kategorien reduzieren wollen: nein.«

Sie fuhr sich mit ihren Wurstfingern durch ihre Schmalzlocken. »Eigentlich sollte ich Sie rausschmeißen.«

»Ich brauche nur einen einzigen lukrativen Auftrag, dann ist alles wieder im Lot. Vielleicht werde ich auf eigene Faust nach der Schwarzen Madonna suchen. Von der Belohnung könnte ich nicht nur die Miete bezahlen, sondern Ihnen den ganzen Schuppen hier abkaufen. Und halb Fürth dazu.«

»Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass Sie die Schwarze Madonna finden.«

»Ihre Boshaftigkeit wird Sie schnurstracks in die Hölle führen, Frau Gaulstall. Da nutzen Ihnen auch Ihre biblischen Vergleiche nichts.«

»Wenn Sie jetzt auch noch unverschämt werden, Herr Marlein, überlege ich mir das mit der letzten Chance, die ich Ihnen noch geben wollte.«

»Letzte Chance? Was heißt das? Sie erlassen mir die ausstehenden Mieten?«

»Nein, natürlich nicht. Aber Sie könnten einen Teil Ihrer Schulden abarbeiten.«

»Abarbeiten? Und wie haben Sie sich das vorgestellt? Soll ich mich als Klofrau vor die Toilette unten in Ihrer Wirtschaft setzen und um Zwanzig-Cent-Stücke betteln? Oder einen Strip veranstalten, um Gäste anzulocken?«

Der Raum im ersten Stock über Frau Gaulstalls Wirtschaft, in dem ich mit meiner Ein-Mann-Privatdetektei residierte, war ursprünglich eines von drei Fremdenzimmern gewesen, aber da nie alle belegt waren, hatte sich Frau Gaulstall dazu entschieden, nur noch zwei davon für Gäste zu nutzen und das dritte fest zu vermieten. Die Miete war eigentlich lächerlich gering, aber in letzter Zeit verirrten sich so wenige Klienten zu mir, dass es momentan selbst für die Begleichung dieses Rechnungspostens nicht mehr reichte.

Frau Gaulstall schüttelte den Kopf. »Ich hätte einen Auftrag für Sie. Einen Ermittlungsjob.«

Mein Magen drehte sich um. Ein Auftrag von Frau Gaulstall. Das verhieß nichts Gutes.

»Und um was geht’s? Soll ich die kriminelle Vergangenheit Ihres kasachischen Küchenhelfers durchleuchten, bevor Sie eine Scheinehe mit ihm eingehen, damit er nicht abgeschoben wird? Soll ich herausfinden, wer in der Schafskopfrunde am Stammtisch mit gezinkten Karten spielt? Oder soll ich die Burschen in den dunklen Anzügen und mit den schwarzen Sonnenbrillen einschüchtern, damit sie nicht mehr hier auftauchen und Schutzgelder einfordern?«

»Es geht gar nicht um mich, sondern um eine Bekannte. Ihr gehören ein paar Appartements, die sie vermietet. Eine ihrer Mieterinnen, eine junge Frau, war offenbar schwanger.«

»Das soll vorkommen, dass junge Frauen schwanger werden. Wenn dem nicht so wäre, würde die Menschheit aussterben. Wo liegt das Problem? Verdächtigt sie ihren Ehemann der Vaterschaft?«

»Jetzt ist sie nicht mehr schwanger.«

»Auch das scheint mir der natürliche Lauf der Dinge zu sein. Neun Monate sind eh eine lange Zeit, bei fast allen anderen Lebewesen geht das schneller. Wo ist der Haken?«

»Der Haken ist: Es ist kein Kind da.«

»Was heißt das?«

»Das, was ich gesagt habe: Die junge Frau war offenbar schwanger, sie hatte einen Bauch, jetzt ist der Bauch weg, die junge Frau ist immer noch da, aber sie hat kein Kind bei sich.«

»Wie wär’s, wenn sich Ihre Bekannte einfach mal ganz unverfänglich bei ihrer Mieterin nach deren süßem kleinen Nachwuchs erkundigt?«

»Das hat sie ja getan, sich erkundigt, schon als sie schwanger war. Aber sie hat abgestritten, überhaupt schwanger zu sein.«

»Vielleicht war sie auch gar nicht schwanger, sondern hat einfach nur zu viel Pommes und Popcorn in sich reingefuttert.«

»Nein. Meine Bekannte ist sich sicher, dass es eine Schwangerschaft war, auch wenn die junge Frau stets versucht hat, ihren Babybauch mit entsprechender Kleidung zu verbergen. Und jetzt ist der Bauch weg, aber kein Baby da.«

Ich versuchte, meiner Stimme den Klang des großen, alten, weisen Mannes zu verleihen, der ich nicht war. Wahrscheinlich würde es genauso in die Hose gehen wie die Bambi-Nummer.

»Frau Gaulstall, die Welt hat sich gewandelt in den letzten Jahren und Jahrzehnten. Dass eine Frau ein Kind bekommt, das sie eigentlich gar nicht will, und es dann nicht bei sich behält, ist keine Ausnahme mehr. Das kann alles Mögliche bedeuten. Vielleicht hat die Mieterin das Kind direkt nach der Geburt zur Adoption freigegeben.«

Ich sackte stimmlich noch mal eine Oktave tiefer.

»Und jetzt muss ich Ihnen noch etwas verraten, auch wenn Sie das schockieren wird: Sie können heutzutage kleine Kinder auf dieselbe Weise entsorgen wie Ihren Restmüll – indem Sie sie einfach in die dafür vorgesehene Öffnung reinwerfen. Man nennt das Babyklappe. Manche Eltern würden sich wünschen, dass es das auch noch für Teenager gäbe.«

»Das weiß ich alles, Herr Marlein, ich lebe ja nicht hinter dem Mond. Mich persönlich interessiert das Ganze ja auch gar nicht, aber meine Bekannte kann gar nicht mehr schlafen wegen dieser Geschichte, und da sie eine sehr gute Freundin ist, würde ich ihr gerne helfen. Finden Sie einfach heraus, was mit dem Kind passiert ist, und ich erlasse Ihnen zwei Monatsmieten.«

Ich konnte sie in zähen und langwierigen Verhandlungen auf vier Monatsmieten hochhandeln.

Das war nun wahrlich kein Job, auf den ich mein Leben lang gewartet hatte, aber die Alternative wäre gewesen, mir ein neues Büro suchen zu müssen, und darauf hatte ich erst recht keinen Bock, zumal ich wusste, dass ich keines finden würde, das auch nur annähernd so billig war.

Wenn ich allerdings gewusst hätte, was mir dieser vordergründig so simple Routineauftrag am Ende an Strömen von Blut, Schweiß und Tränen bescheren würde, hätte ich ihn kategorisch abgelehnt und stattdessen jedes verfügbare andere Büro mit Kusshand genommen – und wenn es in einem havarierten Atomkraftwerk gewesen wäre.

2  Bär fröstelt

Ich schaue zuerst immer auf den Busen. First things first. Man muss Prioritäten setzen.

Ihr schaute ich in die Augen.

Was für ein Fehler.

Sie irrlichterte mich an.

Ich fror.

Dreißig Grad im Schatten. Gleißende Alpensonne. Biselalm, Allgäu. Höhe: eintausendsiebzig Meter über dem Meeresspiegel. Sommer brutal. Und das schon im Mai.

Ich fror.

Sie war vielleicht zwanzig oder so.

Braune, strähnige Haare. Könnten auch mal ein Schampon vertragen.

Pummelig.

Jeans.

Joggingschuhe.

T-Shirt.

Volle Brüste. Kein BH.

Ich rief mich zur Ordnung: Schau nicht so lüstern, du alter Bock, das könnte deine Enkelin sein!

Über der Jeans wölbte sich ein Bauch.

Bäuchlein. Babybäuchlein?

Sie stand vor mir.

Siebzehn Jahr, blondes Haar, so stand sie vor mir …

Ich fragte: »Willst dich nicht hinhocken?«

Im Allgäu duzt man sich über tausend Meter.

Deutete auf die Bank, neben mir war noch reichlich Platz.

»Bist du der Dr. Bär?«

Sie schaute sich um.

Gehetzt.

Gejagt.

Verfolgt.

»Ja, der bin ich.«

Sie schaute auf die Alm, das alte Bauernhaus mit den vielen Fenstern.

»Sind da noch Leut da?«

»Nein, niemand. Die Wohnungen sind gerade alle leer, nur ich wohn oben unterm Dach. Warum fragst du?«

»Ach … nix.«

»Hock dich halt her, keine Angst, keiner ist da, keiner hört uns.«

Das Irrlichtern in ihren Augen dimmte etwas runter.

Ich fror noch immer.

Sie setzte sich auf den Rand der Bank. Fusselte nervös mit ihren Fingern.

Ich fragte: »Also, um was geht’s denn?«

»Ich hab gehört, du bist so eine Art … Pfarrer … und so ein Psy…«

»Psychologe. Ja, so was. War ich einmal. Wo ich noch jung war.«

Sie schaute mich von oben bis unten an. Konnte sich wohl nicht vorstellen, dass ich einmal jung war.

»Ich muss beichten.«

»Und warum gehst dann nicht zu deinem Pfarrer?«

»Der kennt mich. Hat mich getauft, gefirmt, alles. Der kennt auch meine Mutter und meinen Vater …«

»Aber er steht unter Schweigepflicht.«

»Vielleicht …«

»Wie kommst dann ausgerechnet auf mich?«

»Du bist ein Fremder. Die Leut im Dorf sagen, du bist nicht ganz recht im Hirn.«

»Da kann was dran sein.«

»Sie sagen, du hast rausgefunden, wer den Pfarrer damals umgebracht hat … aber du sagst es nicht.«

»Stimmt.«

»Deshalb.«

»Deshalb was?«

»Deshalb muss ich mit dir reden. Weil du nix sagst. Es darf nix rauskommen … sonst schlagen die mich tot.«

»Wer ist ›die‹?«

»Alle.«

Oh Gott, oh Gott. Ist das Mädchen paranoid?

Sie schaute auf ihre Armbanduhr.

Sagte: »Ich muss wieder runter, sonst merken die was. Kann ich morgen zu dir kommen?«

»Ja. Mittag, wenn d’ magst.«

»Lieber am Abend. Wenn uns keiner sieht.«

»Um achte wird’s Nacht. Kommst halt um neune.«

»Ja.«

Sie stand auf.

»Ich geh jetzt. Pfüadi.«

Sie schaute mir kurz in die Augen.

Ich erwiderte ihren Blick. Kurz.

Fröstelte.

»Pfüadi! Und pass auf dich auf!«

Sie verließ den Hof, ging aber nicht auf der schmalen Asphaltstraße ins Tal. Sie rannte zum Waldrand und verschwand.

Die sanfte Hügellandschaft glühte in der Frühsommerhitze. Kühe ruhten im Schatten der Bäume. Wedelten aufdringliche Bremsen fort.

Mir war nach einem Glühwein.

Der See ruhte im Tal.

Der Grünten stand unbeweglich. Wie immer.

Der Grünten, der »Wächter des Allgäus«. Trotz seiner schlappen eintausendsiebenhundertachtunddreißig Meter ein erhabener Berg.

Mittagszeit. Zeit zum Mittagessen.

Ich hatte keinen Appetit.

3  Marlein und die erfolgreiche Anmache

Ich betrat das Café, in das die junge Frau, die ich beschattete, gegangen war, nahm an einem Tisch in ihrer Nähe Platz, bestellte ein Glas Mineralwasser und tat so, als würde ich über mein verpfuschtes Leben nachdenken.

Zuvor war ich ein paar Stunden vor einem kleinen Appartementhaus im Fürther Norden in meinem alten Ford gesessen und hatte darauf gewartet, dass sich die frisch gebackene Mutter ohne Kind zu irgendeiner Aktivität aufraffte und ihre Bude verließ. Was sie dann schließlich auch getan hatte. Ein kurzer Fußmarsch hatte sie hierhergeführt. Ich war ausgestiegen und ihr unauffällig gefolgt.

Tags zuvor, als ich den Auftrag angenommen hatte, hatte ich mir von Frau Gaulstall noch ein paar Basisinformationen über die junge Dame geben lassen. Sie hieß Lena Wiga, war Ende zwanzig, arbeitete als Krankenschwester, war ledig und lebte alleine. Praktischerweise konnte mir meine Auftraggeberin auch noch ein Foto vom Zielobjekt geben, das ihre besorgte Freundin heimlich geknipst hatte, sodass ich wusste, auf welche Person ich lauern musste, und sie identifizieren konnte.

Jetzt konnte ich sie, während ich meditative Versunkenheit vortäuschte, in Ruhe in natura betrachten.

Sie hatte eine gute Figur, war nicht dick, aber auch nicht so dürr, dass ihre weiblichen Kurven nicht zur Geltung gekommen wären. Sie hatte lange, leicht gelockte brünette Haare und ein hübsches Gesicht. Bekleidet war sie mit einer Bluse mit Blumenmuster, einer hellblauen Jeans und schwarzen Sportschuhen. Um ihren Hals trug sie ein goldenes Kettchen mit einem Medaillon.

Attraktive Frauen ihres Formates sah man bei jedem Gang durch die Fußgängerzone dutzendweise, aber sie hatte noch etwas an sich, das mich faszinierte. Ich konnte aber nicht genau sagen, was es war. Esoteriker hätten vermutlich von »Aura« gesprochen.

Sie hatte einen Tee und ein Stück Obstkuchen geordert und las jetzt in einem Buch.

Um etwas über sie herausfinden zu können, musste ich in irgendeiner Weise eine Beziehung zu ihr aufbauen. Ich musste sie ansprechen, musste Bekanntschaft mit ihr schließen, musste versuchen, einen Grund zu finden, um mich öfter mit ihr treffen und sie näher kennenzulernen.

Wenn man nicht gerade zufällig feststellte, dass man Mitglied im selben Kaninchenzüchterverein war, war es ziemlich schwierig, mit einem wildfremden Menschen spontan Freundschaft zu schließen.

Ich sah nur eine Möglichkeit, einen Zugang zu ihr zu bekommen: Sie war eine Frau, und ich war ein Mann.

Sie war offenbar beziehungstechnisch frei, also konnte ich versuchen, so zu tun, als wäre ich an ihr als meiner potenziellen zukünftigen Ehegattin interessiert.

Mit anderen Worten: Ich musste sie anbaggern.

Ich ging das Repertoire meiner Anmach- und Aufreißsprüche durch. Ich kannte keine wirklich guten. Ich hatte es schon mit Sachen wie »Glaubst du an Liebe auf den ersten Blick, oder soll ich noch mal reinkommen?«, »Ich habe meine Telefonnummer vergessen – kann ich deine haben?«, »Ich bin neu in der Stadt – kannst du mir den Weg zu deiner Wohnung zeigen?« oder »Dein Kleid würde wunderbar zu meinem Schlafzimmerfußboden passen« probiert und grandios Schiffbruch erlitten.

Während ich so überlegte, welche Masche am erfolgversprechendsten war – oder welche am wenigsten peinlich war –, konnte ich einen Blick auf das Cover des Buches erhaschen, das sie las. Es hatte den Titel »Marienwallfahrtsorte in Bayern«.

Bingo. Ab in die Mülltonne mit den bescheuerten Anmachsprüchen.

Dass sie ausgerechnet dieses Buch las an dem Tag, an dem der Diebstahl der Schwarzen Madonna überall Thema Nummer eins war, war fast wie ein Geschenk Gottes.

Ich ließ keine Zeit verstreichen, stand auf, ging zu ihrem Tisch und setzte mich neben sie.

»Entschuldigung, ich möchte Sie nicht belästigen, aber ich habe gesehen, dass Sie ein Buch über Marienwallfahrtsorte lesen, und ich bin noch völlig erschüttert vom Diebstahl der Schwarzen Madonna in Altötting. Ich würde mich gerne mit jemandem darüber austauschen. Wollen Sie mir vielleicht verraten, was Sie über diese Sache denken?«

Sie klappte ihr Buch zu und führte mit ihrem Blick einen Ganzkörperscan an mir durch.

»Interessieren Sie sich für unsere Gottesmutter Maria?«

Nicht die Bohne, Mädchen. Aber du scheinst es zu tun, und deshalb muss ich die Chance nutzen und über diese Schiene versuchen, mit dir anzubandeln. Wenn ich mich auch aktuell nicht mehr sonderlich für die Gottesmutter Maria interessierte, es hatte mal eine Zeit gegeben, in der das anders war: Ich war als Kind und Jugendlicher Messdiener gewesen. Das war allerdings schon eine ganze Weile her, und ich versuchte jetzt verzweifelt, in Sekundenschnelle mein Halbwissen von damals zusammenzukratzen.

»Ja, sehr. Ich habe sie wiederentdeckt als eine Quelle des Trostes und der Kraft in meinem Leben. Ich finde es toll, dass ihr hier in Bayern und besonders in Franken so hohe Verehrung entgegengebracht wird, dass sie die Schutzheilige unseres Landes ist, die ›Herzogin Frankens‹ und die ›Patrona Bavariae‹. Auch die Feste, die wir zu Ehren unserer Gottesmutter feiern, wie Mariä Namen, Mariä Geburt oder Mariä Himmelfahrt, haben für mich eine ganz besondere Bedeutung und stehen für mich beinahe auf einer Stufe mit Ostern, Pfingsten und Weihnachten. Der Mai als Marienmonat ist mir die liebste Zeit im ganzen Jahr, und ich möchte in den nächsten Wochen mehrere Wallfahrten unternehmen zu den großen Gnadenorten unserer Heiligen Frau, unter anderem eben natürlich auch nach Altötting, wo für mich das spirituelle Herz des Christentums in Europa schlägt.«

Damit hatte ich alle Munition verpulvert. Ich hoffte, dass das reichen würde, um ihr Interesse an einer weiter gehenden Bekanntschaft mit mir zu wecken.

Und es schien zu reichen.

Sie musterte mich noch einmal ausgiebig – und zauberte dann ein verheißungsvolles Lächeln in ihr Gesicht.

»Ich wohne nicht weit von hier. Wollen wir unsere nette Unterhaltung nicht bei mir in meiner Wohnung fortsetzen?«

4  Bär wartet

Ich brauchte zwei Stunden, bis ich nicht mehr fröstelte.

Der Blick … ihr Blick …

Am nächsten Morgen gleißte die Sonne wieder. Wieder ein Bombentag. Man konnte nichts als rumhängen. Im Schatten.

Ich stand unter Strom.

Was wird sie mir beichten?

Was treibt sie um?

Ich schreckte von meinem Mittagsschlaf auf.

Ein Hubschrauber ackerte sich durch die Luft.

Unten. In Tal. Überm See.

Martinshörner.

Viele.

Muss wohl wieder ein Badeunfall gewesen sein.

Da fischen sie einen raus und fliegen ihn ins Krankenhaus nach Kempten.

Hoffentlich kein Kind.

Kinder waren immer das Schlimmste, wie ich noch im Krankenhaus gearbeitet hab. Tote Kinder. Tote Eltern. Mit dem Kind sterben die Eltern.

Nein, bitte irgendein Rentner. In meinem Alter. Entlastet die Rentenkasse. Krankenkasse. Sozialkasse. Ein Segen.

Die Sirenen wollten nicht aufhören.

Ist vielleicht ein ganzes Rudel ersoffen? Ein Rudel Rentner.

Dafür wäre ein Helikopter zu klein. Sie müssten einen Shuttleservice einrichten.

Kommt teuer. Zu teuer.

Und welchen Rentner nehmen sie dann mit? Zum Retten?

Den rüstigsten?

Den reichsten?

Den Nichtraucher?

Den privat Versicherten?

Am Klinikum Kempten haben sie sicher ein Ethik-Komitee, das das entscheiden kann. Dazu sind Ethik-Komitees ja da.

Ich war nie in einem. Solange ich Klinikseelsorger war.

Gequatsche.

Komitee. Das ist, wenn der Arsch mehr arbeitet als das Hirn.

Die Sirenen verebbten.

Ich nickte wieder ein auf meiner Rentnerbank vor der Alm.

Schreckte auf.

Nickte ein.

Und so weiter.

Bis ich die Schnauze voll hatte.

Ich zog mir meinen Trachtenjanker an. Trotz der Hitze.

Schaut offizieller aus.

Mal sehen.

Der See lag unbeteiligt und faul in seinem Bett.

Die Segelboote hatten aufgegeben zu segeln. Kein Wind. Flaute.

Kinder plätscherten am Ufer.

Mütter plärrten ab und zu in Richtung Kinder, sie sollen aufpassen.

Auf was?

Ich ging hinab zum Kiosk am Rande des Badebereiches, sagte: »A halbe Weizen, bitt schön.«

Der junge Mann gab sich Mühe, einen schönen Schaum hinzukriegen. Das dauert.

Ich sagte ganz beiläufig: »Der Unfall heut Nachmittag … War ja eine Riesengaudi. Man hat’s bis auf die Alm hinauf gehört. Weiß man, was passiert ist?«

»A Tote hams g’funden.«

»Ersoffen?«

»Keine Ahnung. Sie war tot. Sie ist aufm Wasser getrieben. Sie wollten sie noch reanimieren, aber keine Chance … tot. Weiß Gott, wie lang die schon tot war.«

»Und weiß man, wer’s war?«

»Keine Ahnung. A Frau halt …«

»Alt, jung?«

Ich fror schon wieder.

Der junge Mann machte eine wunderbare Schaumkrone auf das Weizenglas.

»Net zu alt … eher jung. Ich hab’s selber nicht gesehen. Da sind so viele rumgestanden, Sanitäter, Notarzt … Ham gearbeitet wie die Ochsen, ich hab denkt, wenn die nicht tot ist, dann machen die sie hin mit ihrem Wiederbeleben. Brechen ihr alle Rippen. Aber Tote kann man nicht wiederbeleben …«

Ein reifer junger Mann.

Ich setzte mich mit meinem Weizen in der Hand auf die Bank und blickte über den See.

Er war schwarz geworden. Gewitterwolken zogen auf.

Die Sonne gleißte brutal hernieder. Eine schwarze Sonne.

Das Weizen schmeckte nach Brunze.

Ich schüttete es ins Gras.

Schleppte mich die drei Kilometer hoch zu meiner Alm.

Schaute auf die Uhr.

Alle fünf Minuten.

Noch zwei Stunden bis neun.

»Lieber Gott … bitte nicht!«

Mein Gebet erfüllte sich nicht.

Dafür aber meine Befürchtung.

Sie kam nicht. Die junge, pummelige Irrlichternde.

Ich wartete eine Viertelstunde.

Ich wartete eine halbe Stunde.

Ich hielt das Warten nicht länger aus.

Ging vors Haus, im Haus war kein Empfang für mein Mobil.

Ich musste es wissen.

»Dr. Bär hier. Können Sie mich mit der Notaufnahme verbinden? … Warum geht das nicht? … Ich weiß, Sie haben viel Betrieb. Verbinden S’ mich mit der Chefärztin, der Frau Dr. Graf.«

Die Krankenschwesternstimme wollte mich abwimmeln.

»Verbinden S’ mich, es hat mit Ihrem Betrieb zu tun. Es ist wichtig. Lebenswichtig. Dr. Graf. Sagen S’ ihr, der Dr. Bär ist da. Dringend. Sofort.«

Die Frau Dr. Vasthi Graf war eine alte Bekanntschaft von mir. Ihr Vater und ich waren befreundet. Er ist tot. Ich habe Dr. Grafs Tochter getauft. Eine lange, tragische Geschichte.

»Hallo, Vasthi!«

Sie: »Ich wollt dich auch grad anrufen. Bei uns ist der Teufel los.«

»Bei mir auch. Ich muss wissen, ob die Tote vom See bei euch ist … Ja, ich weiß, dass sie tot ist … Wie heißt sie … Nein? … Also doch! … Weil die war gestern bei mir. Hat mir beichten wollen. War ganz verstört. Ich hab keine Ahnung, was sie wollte, ich weiß nur, sie hatte eine Himmelangst. Sie wollt heut Abend um neun da sein. Beichten. Sie ist nicht gekommen. Klar. … Keine Ahnung, warum sie ins Wasser ist … Nein, geh weiter, wegen einem Kind, einem unehelichen, geht doch keine junge Frau mehr ins Wasser. Das war vor hundert Jahr so … Du, ich glaub, da ist was nicht ganz sauber. Sag dem Pathologen, er soll schauen, ob er Spuren von Gewalteinwirkung findet … ja, vielleicht ist sie unfreiwillig ersoffen … oder ersoffen worden … oder schon vorher tot gewesen … Ja, ruf mich an, wennst was weißt. Aber warum wolltst du mich anrufen?«

Sie erzählte mir gehetzt, dass das Personal auf ihrer Station mit den Nerven am Ende sei. Ob ich nicht Supervision oder so was machen könnte. Notfallseelsorge. Traumatherapie. Irgendwas.

»Die hocken nur noch rum und heulen und schreien sich an.«

»Ja, wieso denn?«

»Wir haben nach dem Einsatz in Tal noch einen Notarzteinsatz in Maria Rain gehabt. Das Kind war schon tot, der Notarzt hat’s mitgebracht, und wie sie das Kind gesehen haben, da war’s aus. Ich hab’s gesehen und …«

Ihre Stimme wurde dünn und weinerlich, sie schluchzte.

»Ich kann nimmer, ich hab so was noch nie gesehen … und wenn man selber ein Kind hat …«

Sie schluchzte hemmungslos.

»Was war so schlimm dran, du bist doch allerhand gewohnt?«

»Aber so was nicht.«

»Ja, was denn?«

»Das Herz …«

Ich verstand sie nicht vor Schluchzen.

»Was war mit dem Herz? Plötzlicher Herzstillstand?«

Sie konnte kaum reden. Dann sagte sie es. Ein Wort nur.

»Herausgerissen!«

Mein Herz stoppte.

»Nein, das gibt’s doch nicht!«

Sie schluchzte. »Wir sind alle so fertig hier …«

Ich sagte: »Horch, ich mach eure Supervision. Gleich morgen früh. Von mir aus auch noch heut Nacht. Aber du musst mir auch einen Gefallen tun.«

Schluchz.

»Sag dem Pathologen, er soll die junge Leiche vom See in Tal auf Gewalteinwirkung untersuchen. Und auf Schwangerschaft. Und einen DNA-Abgleich mit dem Kind, das ihr gefunden habts.«

»Meinst …«

»Kann sein, dass da was zusammenhängt. Die Polizei wird vermutlich auch drauf kommen und dasselbe wissen wollen. Aber ich will’s schneller und von dir wissen. Für die Supervision. Okay?«

»Okay.«

5  Marlein und die seltsame Wohnung

Ich hatte gedacht, ich sei der Checker.

Ich hatte gedacht, ich hätte es nicht nur geschafft, die Aufmerksamkeit von Lena Wiga zu erwecken und sie in ein Gespräch zu verwickeln, sondern sie gleich dazu gebracht, mich abzuschleppen.

Ich hatte gedacht, sie wollte mich mit in ihre Wohnung nehmen, um vielleicht gleich mit mir in die Kiste zu hüpfen.

All das hatte ich nach ihrem Angebot, das ich natürlich angenommen hatte, gedacht.

Bis ich ihre Wohnung betrat.

Von wegen Checker. Vollidiot.

Ich saß alleine auf dem Sofa in ihrem Wohnzimmer. Sie hatte mir einen Tee gemacht und gesagt, sie müsse mal kurz ins Bad.

Ich sah mich um.

Es sah nicht wie ein Wohnzimmer aus. Es sah auch nicht wie eine Wohnung aus. Ich hatte vielmehr das Gefühl, in einer Kapelle zu sitzen. Und zwar in einer von diesen Wallfahrtskapellen, deren Wände komplett mit Votivtafeln bedeckt sind. Auch im Flur und im Schlafzimmer, dessen Tür einen Spalt offen stand – überall hingen Bilder. Die Wände waren regelrecht zutapeziert mit Bildern.

Und all diese Bilder zeigten nur ein einziges Motiv: die Gottesmutter Maria. Maria in allen möglichen Varianten. Bilder, Drucke, Poster, Gemälde, Fotos von Gemälden, farbig und schwarz-weiß, Holzschnitte, Kupferstiche, altertümliche, mittelalterliche, neuzeitliche und moderne Darstellungen – in welcher Form diese göttliche Person auch immer verewigt worden war, hier schienen alle diese Darstellungen gesammelt worden zu sein.

Manche davon waren traditionell, konventionell, kitschig, altbekannt, andere waren ungewohnt, avantgardistisch, befremdlich, verstörend, aber alle zeigten ausschließlich die Himmelskönigin, manchmal mit einer Krone auf dem Kopf und einem Zepter in der einen Hand und dem Jesuskind auf dem anderen Arm, manchmal als einzelne Person, manchmal nur als Porträt, manchmal in Handlungsszenen.

Aber nicht nur die Wände waren komplett von der heiligen Maria eingenommen – es gab auch Skulpturen und sogar Schreine und Altäre, die auf dem Boden standen, jedes freie Fleckchen, das nicht von einem Möbelstück besetzt war, vereinnahmten und die Wohnung gänzlich in eine Marienhochburg verwandelten. Auch hier gab es Altes und Neues bunt gemischt. Bei einigen der Skulpturen hatten Mutter und Kind dunkelfarbige Gesichter, und ich fragte mich unwillkürlich, ob eine von ihnen vielleicht die gestohlene Schwarze Madonna aus Altötting sein konnte.

Ich hatte schon tiefreligiöse Menschen kennengelernt, die ihre Wohnungen reichlich mit sakralen Bildern, Symbolen und Gegenständen geschmückt hatten, aber ich war noch niemandem begegnet, der seine Verehrung einer göttlichen Person so extrem auslebte.

Verdammt, ich hatte gedacht, Lena Wiga sei ein offenherziges Mädchen, das mich mit in ihre Bude geschleppt hatte, um mit mir zu poppen.

In Wirklichkeit war ich offenkundig an eine Reinkarnation von Mutter Teresa geraten, die mich nur mit in ihre Wohnung genommen hatte, um mir ihre Marienbildchensammlung zu zeigen.

Eine peinliche Fehleinschätzung meinerseits, aber nicht weiter schlimm.

Mein erstes Teilziel war perfekt und in Rekordzeit erreicht worden: Es war mir bereits bei der ersten Begegnung mit ihr gelungen, einen Zugang zu ihr zu finden; ich saß in ihrer Wohnung, und gleich würde ich mich weiter mit ihr unterhalten und damit beginnen können, sie subtil nach ihren Lebensumständen auszufragen.

Vielleicht konnte ich die ganze Aufklärung schon an diesem Nachmittag erledigen. Nicht schlecht, vier ganze Monatsmieten in ein paar Stunden abgearbeitet. Vielleicht war ich ja doch der Checker.

Sie kam zurück ins Wohnzimmer.

Und haute mich komplett um.

Sie trug immer noch das goldene Kettchen mit dem Medaillon um den Hals.

Das war allerdings auch das Einzige, was sie noch trug.

Ansonsten war sie splitterfasernackt.

Lena Wiga kniete sich vor mich hin, öffnete den Reißverschluss meiner Hose und lächelte mich lasziv an.

»Ich lutsche jetzt deinen Schwanz, bis er knüppelhart ist, und dann gehen wir in mein Bettchen, und du fickst mich so richtig durch, okay?«

6  Bär supervidiert

Am nächsten Morgen marschierte ich runter ins Kaufhaus. Früh um sieben. Zeitung kaufen …

Das Kaufhaus von Tal war ein altes beschindeltes Bauernhaus. Mit großen Lettern aus Gold stand überm Eingang: »Kaufhaus«. Wie »Kaufhaus des Westens«. Wie die großen Lettern »Forum Allgäu« in Kempten. Ein fotokopierter Pfeil zeigte um die Ecke. Zum Nebeneingang.

Ich öffnete die Tür. Sie quietschte. Stand in einem winzigen Laden.

Reichlich Konserven.

Knorr.

Maggi.

Mehl.

Teebeutel. Meßmer. Schwarz. Die einzige Marke. Da fällt die Entscheidung leicht.

Ein Korb voll Semmeln und Brezen.

Ein Tante-Emma-Laden.

Ich schaute die Ansichtskarten an.

Hübsch.

Tal.

Tal am See.

Der See.

Der Grünten.

Glückliche Kühe.

Die barocke Kirche St. Marien mit dem kuscheligen Zwiebelturm.

Eine ältere Frau von sechzig aufwärts, mehr auf siebzig zu, erschien.

»Ich hätt gern eine Zeitung.«

»Zeitung gibt’s nicht«, sagte sie. »Die müssten Sie bestellen.«

Ach ja, hatte ich ganz vergessen.

»Zu spät. Ich brauch die heutige.«

Ein Mann schlurfte herein.

Das Kemptener Tagblatt unter die Achsel geklemmt. Zum Glück war es erst sieben und noch nicht so heiß. Die Zeitung war noch trocken. Nahm ich an.

Ich kaufte zwei Semmeln und eine Breze. Weil ich schon mal da war.

»Sie können aber unsere Zeitung haben, mein Mann hat’s schon g’lesen. Wenn’s Ihnen nix ausmacht.«

»Solang noch alles drinsteht …«

Ich hasse gebrauchte Zeitungen mehr als gebrauchtes Klopapier.

Der Mann nahm die Zeitung aus seiner Achselhöhle und legte sie auf die Theke.

Ich sagte: »Ja, gern, die nehm ich.«

Sie berechnete mir zwanzig Cent weniger. Für die Zeitung. Sie war sogar noch trocken.

»Dank schön. Pfüad Gott!«

»Pfüad Gott.«

Im Gehen las ich die Zeitung.

Schlagzeile: Schwarze Madonna von Altötting gestohlen!

Was geht mich die Scheiß-Madonna von Altötting an …

Die Polizei hat eine Belohnung von fünfhunderttausend Euro ausgesetzt. Sachdienliche Hinweise …

Uninteressant. Ich blätterte ungeduldig weiter. Dann fand ich, was ich suchte.

Zwei Leichenfunde. Am gestrigen Sonntag wurde im See von Tal die Leiche einer jüngeren Frau gefunden. Rettungskräfte waren in großer Zahl im Einsatz. Man nimmt an, dass die Frau ertrunken ist. Näheres muss die Obduktion im Klinikum Kempten ergeben, die noch vorgenommen wird. – Am Abend wurde bei der Kirche Maria Rain die Leiche eines Kleinkindes entdeckt. Über die Todesursache hat das Klinikum Kempten keine Angaben gemacht. Aus unterrichteten Kreisen war zu erfahren, dass es sich um eine ungewöhnliche Todesursache handle, das Personal stehe noch unter Schock. In beiden Fällen ermittelt die Polizei.

Soso. Sie ermitteln. Ich wusste bereits von den gut unterrichteten Kreisen, dass die ertrunkene Frau jene war, die gestern Abend nicht zur Beichte erschienen war. Ich wusste auch, dass sie vor Kurzem noch schwanger gewesen war. Und ich wusste, dass die DNA dieser Frau mit der DNA des toten Kindes ohne Herz übereinstimmte. Und: keine Zeichen von Gewalteinwirkung an ihrem Körper.

Der gut unterrichtete Kreis war Dr. Vasthi Graf. Sie hatte mich noch mitten in der Nacht angerufen und informiert. Ihr Mann war der Chefredakteur vom Kemptener Tagblatt. Er hatte schnell gearbeitet.

Ich faltete meine Zeitung zusammen. Ich sollte schlafen.

Konnte ich nicht. War übermüdet wie ein kleines Kind. Es war niemand da, der mich ins Bett gebracht hätte.

Und einen eigenen Leibarzt konnte ich mir von meiner Rente nicht leisten.

Ich bin ja kein Bismarck.

Bismarck, der Reichskanzler, konnte auch nicht einschlafen.

Sein Leibarzt, ein Dr. Schweninger, hockte jeden Abend an seinem Bett.

Da konnte der Eiserne Kanzler schlafen.

War wahrscheinlich privat versichert.

Den größten Teil der Nacht hatte ich im Klinikum Kempten verbracht. Mein Versprechen an Dr. Vasthi Graf eingelöst: mich um die Krankenschwestern, Pfleger, Ärztinnen, Ärzte gekümmert.

»Supervision«. Nein, eher Notfallseelsorge. Krisenmanagement.

Jedenfalls hockten wir im Kreis.

Scheiß-Kreis. Aber wenn man mit einer Gruppe reden will, braucht man den Kreis. Was Besseres wurde noch nicht erfunden.

Meine erste Supervision nachts um zwei.

Schweigen.

Die Pfleger und Ärzte trugen steinerne Gesichter. Tough. Männer.

Die Krankenschwestern und Ärztinnen wie ägyptische Mumien.

Stumm.

Dann fing eine zu heulen an.

Am Ende heulten alle.

Sogar die Mannsbilder kriegten wässrige Augen.

Ein Kind. Herz herausgerissen.

Das hatten sie noch nie gehabt.

Tote Kinder schon. Tot geboren.

Aber das war eine andere Liga.

Nach dem Heulen phantasierten sie.

Suchten Zusammenhänge.

Gut.

Jeder Zusammenhang, noch so falsch, ist besser als gar kein Zusammenhang.

Der Zusammenhang war schnell klar.

Die Mutter hatte ihren Säugling gekriegt, gepanikt, ihn umgebracht, den winzigen Buben, an die Kirche gelegt, und dann ist sie in den See gesprungen. Sie musste verrückt gewesen sein. Ein Fall für die Psychiatrie. Aber selbst die Psychiatrie kann keine Toten behandeln. Die Psychopharmaka greifen einfach nicht. Nicht mehr. Und wer hatte dem Kind das Herz entrissen?

Dann kam die Wut.

Auf die Mutter.

Auf die Männer.

Auf mich.

In der Reihenfolge.

Fragen wie Maschinengewehrfeuer:

»Was wollen Sie überhaupt hier?«

»Was soll das Gerede?«

»Was soll das bringen?«

»Und einfach rumhocken und nix sagen nützt noch weniger!«

Sie meinten mich.

Ich sagte: »Was wollen Sie denn, dass ich sage?«

Hysterisches Aufheulen. Die Mannsbilder schauten verdutzt.

Eines von den Weibern schrie mich an: »Das müssen doch Sie wissen, was sie uns sagen sollen. Dafür sind Sie doch da. Was soll denn das, nachts um zwei nur rumhocken … und überhaupt, eine Unverschämtheit ist das … da geht man gescheiter raus eine rauchen.«

Ich: »Vielleicht hilft das.«

Giftige Tränenblicke trafen mich.

Zwei Krankenschwestern standen auf, ruckten laut mit den Stühlen, nahmen Gauloises- und Marlboroschachteln aus den Kitteln, Tür auf, Tür knallt zu.

»Herzlos«, sagte eine zur andern.

Als die Hälfte der Runde draußen war, sagte ich: »Die Gruppe löst sich auf.«

Um drei waren alle weg.

Ich saß allein in meinem Stuhlkreis.

Alleingelassen.

Nutzlos.

Sprachlos.

Ich blieb noch eine Weile sitzen, bis drei.

Drei Uhr war vereinbart.

Dann schlich ich mich davon.

Mission erfüllt.

7  Marlein und die große Irritation

Ich lag auf dem Bett, starrte an die Decke und versuchte, das Chaos in meinem Kopf irgendwie zu ordnen.

Mir entgegen starrte – wie sollte es auch anders sein – die Gottesmutter Maria.

Die Schlafzimmerdecke in Lena Wigas Wohnung war mit einem großen Fresko bemalt.

Und natürlich war auch das gesamte restliche Schlafzimmer mit Mariendarstellungen übersät.

Bevor das mit dem Ordnen im Kopf auch nur ansatzweise gelang, kam Lena Wiga zurück aus dem Bad, wohin sie sich kurz verzogen hatte. Sie trug jetzt einen Bademantel. Ich war noch nackt unter der Bettdecke.

Sie setzte sich auf die Bettkante und lächelte aufmunternd.

»Alles okay bei dir?«

Ich nickte. Offenbar nickte ich nicht überzeugend, denn sie runzelte die Stirn.

»Was ist los? War es nicht gut?«

Doch, es war gut. Verdammt gut sogar. Und zwar jede Minute der vergangenen zwei Stunden. Aber ich war irritiert.

»Doch, es war gut. Verdammt gut sogar. Ich bin nur etwas – wie soll ich sagen – irritiert.«

»Und wovon?«

»Zum einen von der Geschwindigkeit deines Vorgehens. Wir haben gerade mal ein paar Sätze gewechselt, und schon hast du mich ins Bett gezogen.«

»Das Leben ist zu kurz, um darauf zu warten, dass irgendwann Mr. Right auf einem weißen Schimmel dahergeritten kommt. Und solange auf Sex zu verzichten. Ich habe sowieso keine Lust auf diese Nur-wir-zwei-bis-ans-Ende-unserer-Tage-Nummer. Ich nehme mir die Freiheit, Sex zu haben, wann immer ich will und mit wem immer ich will – und ich will es nun mal mit ganz vielen verschiedenen Männern erleben. Als du mich angesprochen hast, hatte ich eben gerade Lust. Du warst ganz einfach zur richtigen Zeit am richtigen Ort, und ich habe mir dich gegönnt. Irgendein Problem damit?«

»Nein, nein, alles wunderbar.«

»Und zum anderen?«

»Bitte?«

»Du sagtest, zum einen wärest du irritiert von der Geschwindigkeit. Und was ist zum anderen?«

Ich ließ meinen Blick durch den Raum schweifen.

»Nun ja, deine Wohnung – all diese Marienbilder …«

»Ich finde sie schön, aber über Geschmack lässt sich streiten. Was ist damit?«

»Ich meine nur, das ist doch ein Widerspruch. Einerseits deine Frömmigkeit, andererseits deine große sexuelle Freizügigkeit. Das verstehe ich nicht. Das ist es, was mich irritiert, denn das passt doch nicht zusammen.«

Sie lachte.

»Dass Religiosität und Sexualität Widersprüche sind, ist einer der größten Irrtümer und Denkfehler der Menschheit. Aber diese Reaktion erlebe ich immer wieder. Die meisten Jungs, die ich mit in meine Wohnung nehme, finden es irgendwie shocking, in einem solchen Ambiente Sauereien zu veranstalten. Aber das liegt nur daran, dass ihr alle eine völlig falsche Vorstellung von Maria habt. In Wirklichkeit ist sie nämlich etwas völlig anderes als das, was ihr denkt.«

Ich schaute mich um, betrachtete einige der Darstellungen.

»Ja, mir ist schon aufgefallen, dass einige der Bilder sehr ungewöhnlich sind. Nicht so, wie man sich eine Gottesmutter vorstellt: fromm und ernst und puritanisch. Auf einigen wirkt sie eher – ja, aufreizend, erotisierend, sinneshungrig, ekstatisch. Erklär mir doch, was falsch an der herkömmlichen Marienvorstellung ist, das interessiert mich. Außerdem habe ich immer noch nicht deine Meinung zum Diebstahl in Altötting gehört …«

Sie erhob sich, sammelte meine Klamotten zusammen, die auf dem Boden verstreut lagen, und legte sie mir auf die Bettdecke.

»Hör mal, mein Junge, das ist nett von dir, dass du versuchst, Interesse an Maria zu heucheln, und über diese Tour hast du mich ja auch ins Bett bekommen. Aber seien wir mal ehrlich, in Wirklichkeit interessiert dich Maria doch so viel wie ein Sack Reis, der in Peking umfällt, und was ich dir über Maria erzählen würde, würde dich nur verwirren, deshalb lassen wir das lieber. Wir müssen jetzt nicht krampfhaft Small Talk machen. Wir hatten zwei Stunden lang wilden, geilen Sex, daran ist nichts Ehrenrühriges, aber damit sollten wir es auch gut sein lassen. Ich würde vorschlagen, dass du dich jetzt anziehst und gehst.«

Ich war so perplex, dass ich genau das tat.

8  Bär trauert

Die Toten waren aus Tal.

Die Totenmesse war in Tal.

In der Kirche, die ich fürchtete.

Drei Tote hatte ich darin gesehen.

Drei Mal unnatürlicher Tod.

Gibt es einen natürlichen Tod? Jeder Tod ist gewaltsam.

Außer der von meiner Großmutter. Sie war beim Fernsehen eingeschlafen, wie viele Leute, die fernsehen, aber sie war nicht mehr aufgewacht, das ist nur wenigen vergönnt.

Ich zog meinen Trachtenjanker an, weißes Hemd, schwarze Krawatte, schwarze Feiertagsjeans.

Gerammelt voll war das Gotteshaus.

Die Frauen vorn, die Männer hinten.

Vor dem Altar ein Sarg. Groß. Weiß.

Auf dem Sarg ein Sarg. Klein. Weiß.

Der Anblick schon haute die meisten um.

Mich auch.

Ein schwangerer Sarg.

Der Priester fasste sich kurz, Gott segne ihn.

Er sprach von einem tragischen Tod.

Einer Mutter.

Die früher als Ministrantin in der Kirche von Tal gedient hatte.

Ihres Kindes.

Beide nun bei Gott.

Besser als im See. Vielleicht.

Geheimnis des Glaubens.

Die Orgel spielte wackelig, zittrig, weinerlich.

Die Männer schnäuzten sich.

Die Frauen schluchzten, wischten sich in einer Tour die Tränen ab.

Viele junge Frauen waren da.

In der ersten Reihe sah ich von hinten ein graues gebücktes, gedrücktes Paar mit Tonnen Trauer auf den Schultern.

Alt. Uralt. Sie konnten nicht viel älter als fünfzig sein. Vermutlich die Eltern. Großeltern?

Ich atmete schwer ein. Den Weihrauch. Weihrauch ist eine Droge. Vielleicht hilft sie.

Hilft nicht.

Macht alles nur schlimmer.

Nach einer Ewigkeit von vierzig Minuten wurden die beiden Särge hinausgetragen.

Der große weiße Sarg wurde hinabgelassen.

Ein Lied:

»Segne du, Maria, segne mich, dein Kind

Dass ich hier den Frieden, dort den Himmel find

Segne all mein Denken, segne all mein Tun

Lass in deiner Liebe Tag und Nacht mich ruhn.«

Dann der kleine Sarg.

Wie das Space Shuttle auf dem Trägerflugzeug.

Als sich der kleine weiße Sarg auf den großen weißen Sarg senkte, brachen die Dämme.

Selten eine so große Gemeinde so herzzerreißend schluchzen gesehen.

Auf den Leichenschmaus wurde verzichtet.

Es gab jedenfalls keinen.

Man stand auf dem kleinen Friedhof vor der Kirche herum.

Ich hörte:

»Ja, die Lea, wer hätte das gedacht … sie ist einfach nicht damit fertiggeworden …«

»Aber deswegen muss man doch nicht gleich …«

»Wer weiß, was in die gefahren ist …«

Ich dachte: der Teufel.

»… und ausgerechnet bei uns in Tal …«

»So eine Schand!«

»Und die armen Eltern … der Posserhofbauer und seine Frau … das einzige Kind … ihre Lea.«

»Wie kann man seinen Eltern nur so was antun …«

Ich machte mir eine mentale Notiz: »Posserhof«.

Die Tote musste etliche Freundinnen gehabt haben. Jedenfalls stand ein halbes Dutzend junger Frauen herum. Alle mit weiten Kleidern. Wie Umstandskleider. Aber die konnten nicht alle schwanger sein. Oder doch?

Sie schauten zu mir hin, unsere Blicke begegneten sich, ich konnte nicht mehr ausweichen.

Ich fror plötzlich.

So von innen raus.

Spürte die Kältewelle in der Hitzewelle.

Vielleicht war ich krank. Oder verrückt. Oder in den Wechseljahren. Verspätet.

9  Marlein und die philosophische Diskussion

Einen Tag später stand ich mit einem Blumenstrauß vor der Tür von Lena Wigas Wohnung.

An dem Blumenstrauß klebte ein Umschlag, in dem sich zwei Karten für das nächste Heimspiel der Spielvereinigung Greuther Fürth befanden.

Ich hatte sie von einem Spieler der Mannschaft bekommen, der mich vor einiger Zeit beauftragt hatte, zu überprüfen, ob in der Zeit, in der er zu Auswärtsspielen unterwegs war, seine Ehegattin nicht vielleicht auch auswärts spielte. Sie spielte tatsächlich auswärts, aber nicht in der Form, wie der Fußballer es befürchtet hatte. Es waren extrem harte Observationen für mich, die mich durch sämtliche Schuhläden in Fürth, Nürnberg und Erlangen führten, wobei ich an die Worte des großen Fußballphilosophen Mehmet Scholl denken musste, der auf die Frage, als was er im nächsten Leben gerne wiedergeboren werden würde, voller Weisheit mit »Als Spielerfrau« geantwortet hatte.

Es hatte sich am Vortag alles so gut angelassen – und dann hatte ich es vermasselt. Es war einfach alles zu verwirrend gewesen – diese Frau war zu verwirrend. Sie hatte mich überrascht und überrumpelt.

Erst hatte ich nicht damit gerechnet, dass sie mich so schnell ins Bett ziehen würde, und dann hatte ich nicht damit gerechnet, dass sie mich so schnell wieder rausschmeißen würde.

Und was dazwischen passierte, gehörte zum Groteskesten, was ich je erlebt hatte. So skurrilen Sex hatte ich noch nie gehabt. Nicht dass er schlecht gewesen wäre – ganz im Gegenteil, Lena Wiga war keine Anfängerin. Aber die Atmosphäre war irgendwie absurd – man hatte das Gefühl, es in einer Kirche zu tun und dabei von ganz oben beobachtet zu werden.

Und es war nicht nur die Umgebung, die seltsam war.

Diese ganze Person war ein einziges Rätsel. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr. Das mit ihrer Marienverehrung war schon ziemlich krankhaft. Selbst auf ihrem Körper trug sie mehrere Marienbilder – als Tattoo, wie ich feststellen konnte, als sie nackt war.

Ich hatte natürlich auch darauf geachtet, ob vielleicht Schwangerschaftsstreifen auf ihrem Körper zu sehen waren, hatte aber keine erkennen können. Was allerdings nichts hieß. Ich war alles andere als ein Experte im Feststellen früherer Schwangerschaften. Genau genommen wusste ich noch nicht einmal, wie Schwangerschaftsstreifen aussahen.

Aber die fragliche Schwangerschaft war eben das Entscheidende in dieser Geschichte, nur um die ging es. Mein Auftrag lautete, zu klären, ob Lena Wiga ein Kind bekommen hatte, und falls ja, was mit diesem Kind passiert war. Nur die Beantwortung dieser Fragen zählte. Ihr Marienwahn konnte mir hingegen völlig egal sein.

Aber vielleicht hing das eine ja auch mit dem anderen zusammen?

Wie auch immer, ich hatte diesen Auftrag angenommen, und ich würde ihn erledigen, koste es, was es wolle.

Schade, dass ich am Vortag nicht souveräner gehandelt hatte. Aber noch war nichts verloren – ich musste nur zusehen, dass ich wieder in die Spur kam. Und genau das wollte ich mit meinem Überraschungsbesuch erreichen.

Ich klingelte.

Ich hörte näher kommende Schritte, dann wurde die Tür geöffnet.

Lena Wiga sah mich verdutzt an.

»Nanu? Du? Hast du deine Unterhose vergessen?«

Ich holte mein nettestes Frauenversteher-Lächeln aus der Mottenkiste.

»Nein, ich habe nichts vergessen. Aber ich habe dir was mitgebracht.«

Ich streckte ihr den Blumenstrauß mit dem Kuvert entgegen. Sie nahm ihn aber nicht an, sondern betrachtete ihn, als hätte er Cholera. Dann betrachtete sie mich, als hätte ich Cholera, Lepra, die Pest und die Krätze.