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ÜBER DIE AUTORIN

Sun-Mi Hwang ist Autorin und Professorin für Literatur in Seoul. Sie veröffentlichte bereits zahlreiche Bücher und erhielt diverse Preise, doch der internationale Durchbruch gelang der Autorin erst mit ihrem Roman Das Huhn, das vom Fliegen träumte. Er wurde in neunzehn Sprachen übersetzt, prägte zehn Jahre lang die Bestsellerliste Koreas und war Vorlage für den Animationsfilm Liefi. Ein Huhn in der Wildnis.

ÜBER DAS BUCH

Gelangweilt von ihrem monotonen Dasein, bricht die Legehenne Sprosse eines Tages aus ihrem Gehege aus. Doch das Leben in Freiheit ist viel härter und unbarmherziger, als sie es sich vorgestellt hat. Bis sie in einem verlassenen Nest ein Ei findet und neue Hoffnung schöpft: Die Freiheit birgt nämlich auch das größte Glück.

Eine wunderschöne Geschichte über das Träumen und die Liebe – und den Mut, sein Leben in die eigene Hand zu nehmen.

„Sprosse ist eine der sympathischsten Figuren des Jahres. Sie missachtet Regeln, ist neugierig und unermüdlich und inspiriert selbst lange nach dem Lesen noch.“

Bookreporter

INHALTSVERZEICHNIS

Ich lege keine Eier mehr!

Flucht aus dem Stall

In der Scheune

Das Ei im Dornenstrauch

Abschied und Ankunft

Eine Schande für den Kamm

Eine Ente, kein Zweifel

Teil des Schwarms

Reisende aus einer anderen Welt

Der abgekämpfte, einäugige Jäger

Frei wie eine Feder

Das darf nicht wieder vorkommen, dachte sie. Würde ihr die Bäuerin auch dieses Ei wegnehmen? Die anderen hatte sie auch eingesammelt und sich beschwert, dass sie kleiner und kleiner wurden. Dieses hier würde man ihr wohl kaum lassen, nur weil es hässlich war, oder?

Sprosse war zu schwach, um aufzustehen. Kein Wun-der – irgendwie hatte sie es geschafft, ein Ei zu legen, ohne etwas gefressen zu haben. Sie fragte sich, wie viele sie noch in sich hatte, und hoffte, dass dieses das letzte gewesen war. Seufzend warf sie einen Blick durch den Maschendraht. Weil ihr Käfig in der Nähe des Eingangs stand, konnte sie nach draußen schauen. Die Stalltür hing schief in ihrem Rahmen, und durch einen Spalt sah Sprosse einen Akazienbaum. Sie liebte diesen Baum so sehr, dass ihr weder der kalte Wind, der im Winter durch den Spalt pfiff, noch der prasselnde Sommerregen, dessen Spritzer bis zu ihr gelangten, etwas ausmachten.

Sprosse war eine Legehenne. Sie war vor über einem Jahr in den Hühnerstall gekommen und hatte seitdem nichts anderes getan, als Eier zu legen. Sie konnte weder herumlaufen noch mit den Flügeln schlagen, geschweige denn ihre eigenen Eier ausbrüten. Sie hatte den Stall zwar noch nie verlassen, aber seit sie im Hof vor dem Gebäude eine Henne mit ihren hinreißenden Küken erspäht hatte, hegte sie insgeheim einen Wunsch: ein Ei auszubrüten und ein Küken schlüpfen zu sehen. Aber das war nur ein Traum. Der Käfig war nach vorne hin abschüssig, sodass die Eier nach dem Legen sofort hinter eine Absperrung rollten, die sie von ihren Müttern trennte.

Die Tür öffnete sich, und der Bauer kam mit einer Schubkarre in den Stall. Die Hühner gackerten ungeduldig und machten einen Riesenlärm.

»Frühstück!«

»Kohldampf, her damit, her damit!«

Mit einem Eimer teilte der Bauer das Futter aus. »Immer hungrig! Sorgt dafür, dass es sich lohnt. Das Futter ist nicht billig.«

Sprosse schaute durch die weit geöffnete Stalltür auf die Welt dort draußen. Sie hatte schon lange keinen Appetit mehr, und sie wollte nie wieder ein Ei legen. Jedes Mal, wenn die Bäuerin ihr eines wegnahm, blieb Sprosse mit leerem Herzen zurück: Ihr Stolz über das gelegte Ei verwandelte sich in Traurigkeit. Jetzt, nach über einem Jahr im Hühnerstall, fühlte sie sich ausgebrannt. Sie konnte ihre eigenen Eier nicht einmal mit den ausgestreckten Krallen berühren. Und sie wusste nicht, was mit ihnen geschah, nachdem die Bäuerin sie in einem Korb aus dem Hühnerstall trug.

Draußen war es hell. Die Akazie am Rande des Hofs war voller weißer Blüten, und ihr süßer Duft wurde von einer Brise eingefangen und in den Stall getragen. Er berührte Sprosse zutiefst. Sie erhob sich, schob den Kopf durch die Drahtmaschen und scheuerte sich dabei den nackten, federlosen Hals wund. Die Blätter haben wieder Blüten ausgebrütet! Sprosse beneidete sie. Wenn sie die Augen zusammenkniff, konnte sie die hellgrünen Blätter ausmachen, die herangereift waren und schließlich duftende Blüten geboren hatten. Die Akazie hatte auch an dem Tag geblüht, an dem man sie in den Hühnerstall gesperrt hatte. Ein paar Tage später waren die Blüten wie Schneeflocken heruntergerieselt, und nur die grünen Blätter waren am Baum zurückgeblieben, bis sie sich im Spätherbst gelb gefärbt hatten und lautlos zu Boden geschwebt waren. Staunend hatte Sprosse beobachtet, wie die Blätter bis dahin rauen Winden und schweren Regentropfen getrotzt hatten. Als Sprosse in diesem Frühling bemerkt hatte, wie die Blätter in leuchtendem Grün wiedergeboren wurden, war sie vor Freude ganz aufgeregt gewesen.

Sprosse war der beste Name der Welt. Sprossen bildeten Blätter heraus, die von Wind und Sonne berührt wurden, bevor sie abfielen, vermoderten und zu Erde wurden, auf der wohlriechende Blumen wachsen konnten. Sie wollte etwas aus ihrem Leben machen, wie die Sprossen, die sich zu Akazien entwickelten. Deshalb hatte sie sich diesen Namen gegeben. Zwar rief sie niemand so, und sie wusste, dass ihr Leben anders war als das von Sprossen, aber der Name gab ihr ein gutes Gefühl. Er war ihr Geheimnis. Seitdem sie sich so nannte, hatte sie es sich zur Gewohnheit gemacht, alles zu beobachten, was außerhalb des Stalls vor sich ging, vom Zu- und Abnehmen des Mondes über das Auf- und Untergehen der Sonne bis hin zum Gezänk der Tiere auf dem Scheunenhof.

»Nur zu, fresst, damit ihr viele große Eier legen könnt!«, knurrte der Bauer. Das sagte er bei jeder Fütterung, und Sprosse konnte es nicht mehr hören. Sie ignorierte ihn und spähte in den Hof.

Auch die Tiere außerhalb des Stalls waren beim Frühstück. Eine große Entenfamilie drängte sich mit himmelwärts gereckten Schwänzen um den Trog und schlang das Futter in sich hinein, ohne auch nur ein Mal die Köpfe zu heben. Der alte Hund schlug sich ebenfalls den Bauch voll. Er hatte zwar einen eigenen Napf, aber er musste ihn schnell leer fressen, bevor der Hahn es mitbekam. Als er sich einmal geweigert hatte, den Hahn aus seinem Napf fressen zu lassen, hatte er sich eine blutige Nase geholt. Nur am Napf des Hahns und der Henne herrschte kein Gedränge. Weil sie im Moment keinen Nachwuchs hatten, waren sie die Einzigen, die sich Zeit lassen konnten. Trotzdem erhob der Hahn Anspruch auf den Napf des alten Hundes. Er festigte seinen Status als Oberhaupt der Scheune, indem er selbst dann nicht zurückwich, wenn der Hund den Schwanz senkte und knurrte. Er war ein schöner Hahn, mit prachtvollem Gefieder, knallrotem Kamm, furchtlo-sem Blick und scharfem Schnabel. Seine Aufgabe war, bei Sonnenaufgang zu krähen, danach streifte er mit der Henne über die Felder.

Sprosse konnte es kaum ertragen, die Henne im Scheunenhof zu sehen – dadurch fühlte sie sich in ihrem Drahtkäfig noch mehr eingeschränkt. Wie gern hätte sie mit dem Hahn im Misthaufen gescharrt, wie gern wäre sie Seite an Seite mit ihm herumstolziert und hätte ihre eigenen Eier ausgebrütet. Aber sie würde nie im Hof leben wie die Enten, der alte Hund, der Hahn und die Henne, ganz egal, wie weit sie den Hals durch die Maschen streckte; alles, was sie dadurch erreichte, war, sich noch mehr Federn auszureißen. Warum bin ich im Hühnerstall eingesperrt, während die Henne frei im Hof herumlaufen darf? Sprosse wusste nicht, dass der Hahn und die Henne einheimische koreanische Hühner aus ökologischer Aufzucht waren und dass aus den Eiern, die Sprosse allein legte, nie ein Küken schlüpfen würde, ganz gleich, wie lange sie darauf saß. Hätte sie es gewusst, hätte sie vielleicht nie davon geträumt, ein Ei auszubrüten.

Die Enten hatten ihre Mahlzeit beendet und watschelten in einer Reihe an der Akazie vorbei auf den nahegelegenen Hügel zu, gefolgt von einem etwas kleineren Vogel mit anderer Färbung. Sein Kopf war grün wie ein Akazienblatt – war er etwa keine Ente? Doch er quakte und watschelte wie die anderen. Sprosse hatte keine Ahnung, dass er eine Wildente war, sie wusste nur, dass er irgendwie anders aussah. Sie starrte immer noch nach draußen, als der Bauer kam, um sie zu füttern. Er legte den Kopf schräg, als er das Futter vom Vortag in ihrem Napf sah. »Hm. Was ist denn mit dir los?«, brummte er. »Frisst nicht mehr. Bist bestimmt krank.« Der Bauer schüttelte den Kopf und starrte Sprosse missbilligend an. Normalerweise sammelte seine Frau die Eier ein. Heute übernahm er diese Aufgabe: Er bückte sich und griff nach dem Ei, dessen Oberfläche unter seinen Fingern nachgab und feine Fältchen warf. Sprosse war geschockt. Das Ei war zwar klein und hässlich, aber sie hatte nicht erwartet, dass es weich war. Die Schale hatte nicht einmal aushärten können! Der Bauer runzelte die Stirn.

Es zerriss ihr das Herz. Die Trauer, die sie jedes Mal empfand, wenn man ihr ein Ei wegnahm, war nichts gegen diesen Schmerz. Er schnürte ihr den Hals zu und ließ sie erstarren. Das arme Ding hat nicht einmal eine Schale. Der Bauer warf das weiche Ei achtlos auf den Boden. Sie kniff die Augen zu und wappnete sich. Es zerplatzte ohne ein Geräusch. Der alte Hund trottete hinüber, um es aufzu-lecken. Zum ersten Mal in ihrem Leben ließ Sprosse ihren Tränen freien Lauf. Ich lege keine Eier mehr! Nie wieder!

Als sie am fünften eierlosen Tag aus einem tiefen Schlaf erwachte, hörte sie die Bäuerin schimpfen: »Wir nehmen es aus dem Stall. Es muss gekeult werden.« Sprosse hätte nie erwartet, dass sie den Stall noch einmal verlassen würde. Sie wusste zwar nicht, was »keulen« bedeutete, aber der Gedanke, dem Stall zu entkommen, verlieh ihr neue Kraft. Mühsam rappelte sie sich auf und trank einen Schluck Wasser. Auch am nächsten Tag legte sie kein Ei. Sie spürte, dass ihr Körper keine Eier mehr bilden konnte, trotzdem nahm sie wieder Wasser und Futter zu sich. Sie konnte es kaum abwarten, ihr neues Leben zu beginnen. Wenn sie es nur irgendwie schaffte, in den Hof zu kommen, könnte sie auch ein Ei ausbrüten und ein Küken aufziehen. Ungeduldig wartete sie auf den nächsten Morgen. Sie schlief unruhig und malte sich aus, wie sie mit dem Hahn auf den Feldern spielen und im Boden scharren würde.

Am folgenden Tag öffnete sich die Tür, und der Bauer und seine Frau kamen mit einer leeren Schubkarre in den Stall. Sprosse war zu schwach, um aufzustehen, aber geistig hellwach wie nie zuvor. Zum ersten Mal seit Langem sprach sie wieder. »Ich komme aus dem Stall raus!«, gackerte sie. Der neue Tag brach an, und es war der schönste, seit man sie in den Hühnerstall gesperrt hatte. Die Luft war von Akazienduft erfüllt.

»Vielleicht kriegen wir noch was für das Fleisch, was meinst du?«, fragte die Bäuerin ihren Mann.

»Schwer zu sagen. Es sieht krank aus …«

Der Gedanke, endlich im Hof leben zu dürfen, versetzte Sprosse in solche Aufregung, dass sie nichts von der Unterhaltung mitbekam. Der Bauer packte ihre Flügel und hob sie aus dem engen Käfig. Mit einem dumpfen Aufprall landete sie in der Schubkarre, zu schwach, um sich zu wehren oder auch nur mit den Flügeln zu schlagen. Sie reckte den Hals, aber nur kurz, denn gleich darauf wurden weitere kranke Hühner auf die Schubkarre geworfen, sodass Sprosse fast erdrückt wurde. Die alten Legehennen, die ihre eierlegenden Jahre hinter sich hatten, aber ansonsten gesund waren, steckten der Bauer und seine Frau in einen separaten Drahtkäfig, der von einem Laster abgeholt wurde. Sprosse dagegen blieb in der Schubkarre zurück, begraben unter einem Berg anderer Hühner an der Schwelle des Todes. Das letzte Huhn landete direkt auf Sprosse. Sie fürchtete sich, kämpfte darum, wach zu bleiben, und fragte sich, was jetzt mit ihr geschehen würde. Das laute Gackern war verstummt, und bald war kein Laut mehr zu hören. Sie konnte nicht mehr atmen. Das heißt es, gekeult zu werden? Die Augen fielen ihr zu. So will ich nicht sterben. Sie versuchte, all ihren Mut zusammenzunehmen, bekam aber nur noch größere Angst. Verzweiflung wallte in ihr auf: Sie durfte nicht sterben, bevor sie in den Scheunenhof kam. Sie musste fliehen, aber die Hühner über ihr zerquetschten ihr alle Knochen.

Sprosse konzentrierte sich auf das Bild der blühenden Akazie, die Blüten, die grünen Blätter, den betörenden Duft und die glücklichen Tiere im Hof und hatte nur einen Wunsch: ein Ei auszubrüten und die Geburt eines Kükens mitzuerleben. Es war ein ganz gewöhnlicher Wunsch, aber jetzt würde sie sterben, ohne dass er sich erfüllte. Während sie das Bewusstsein verlor, fing sie an, Dinge zu sehen. Sie sah sich auf einem Nest sitzen und ein Ei wärmen. Der stattliche Hahn hielt an ihrer Seite Wache, und um sie herum fielen Akazienblüten wie Schneeflocken. Ich wollte doch nur ein Ei ausbrüten. Ein einziges Ei, ganz für mich allein. Ich wollte flüstern: »Komm, zerbrich die Schale, damit ich dich kennenlernen kann. Hab keine Angst!« Und nach dem Schlüpfen mein Küken an mich drücken. In dem Glauben, tatsächlich ein Ei auszubrüten, verlor sie lächelnd das Bewusstsein.

Sprosse schlug die Augen auf. Wie viel Zeit war vergangen? Es regnete, und sie war nass bis auf die Haut. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war. Tot bin ich anscheinend nicht. Ihr war kalt. Doch auch, als ihre Gedanken langsam wieder klar wurden, konnte sie sich nicht rühren. Sie würde sich besser fühlen, wenn sie ihre Federn ausschüttelte, aber selbst dazu fehlte ihr die Kraft.

Da hörte sie, wie jemand etwas sagte, doch sie verstand es nicht.

»He, du. Kannst du mich hören?«, rief die Stimme zum zweiten Mal.