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INHALT

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ÜBER DIE AUTORIN

Claudia Schreiber wurde 1958 als das vierte von fünf Kindern geboren, die Eltern waren Landwirte, Obstbauern und später Konservenfabrikanten. Nach dem Studium wurde sie 1985 Redakteurin und Reporterin beim Südwestfunk Baden-Baden, später Redakteurin, Reporterin und Moderatorin beim Zweiten Deutschen Fernsehen Mainz, wo sie die Kinder-Nachrichtensendung logo! realisierte. 1992 begann – in Moskau – ihre Arbeit als Autorin, seit 1998 lebt und arbeitet Claudia Schreiber in Köln.

www.claudiaschreiber.de

ÜBER DAS BUCH

In Annies Leben waren die Dinge schon immer etwas anders als bei den anderen. Doch als würde es nicht reichen, dass sie ohne leiblichen Vater gezeugt wurde und ihr Großvater mit seiner jungen Geliebten kurzerhand in den Urlaub verschwindet, macht sich zugleich auch noch ihre gestresste Mutter aus dem Staub und lässt die 14-Jährige allein auf der Schattenmorellenplantage der Familie zurück. Als dann die hochschwangere Paula auftaucht, scheint die Katastrophe perfekt, doch wie so oft schafft die unerschrockene Annie, das Schlimmste zu verhindern, und wird fast nebenbei sogar erwachsen. Claudia Schreiber ist eine temporeiche Tragikomödie mit einer starken Heldin und jeder Menge skurriler Nebenfiguren mit unterschiedlichsten Lebensentwürfen gelungen. Vor allem aber schildert sie den Weg eines Mädchens zur jungen Frau – anschaulich, unterhaltsam und ohne jeglichen Kitsch oder Sentimentalität.

Für meine Mutter

Katharina Elisabeth Klemme,
geb. Zimmermann

Die besten Kirschen fressen die Vögel.

Volksmund

Kinder beruhigen sich niemals bei etwas Unbestimmtem oder Schwebendem, sondern aus instinktmäßigem Selbsterhaltungstrieb fordern sie stets ein reines Ja oder ein reines Nein, ein Für oder Wider, damit sie wissen, welchen Weg sie mit ihrer Liebe und welchen sie mit ihrem Hass einzuschlagen haben.

Jens Peter Jacobsen, Niels Lyhne, 1880

INHALTSVERZEICHNIS

Annie

Windbefruchter

Paula

Galle

Schule

Furcht

Nette

Opa

Mann

Allein

Ostwind

Haus und Hütte

Begegnung

Erntehelfer

Halt und Haltlosigkeit

Gäste

Ankunft

Fürsorge

Der Mensch

Polizei

Heim

Frost

Schnitt

Dresden

Blütezeit

ANNIE

Am liebsten stand Annie am höchsten Punkt der Kirschplantage und kletterte noch in einen Baum, um von dort aus alles zu überblicken. Ringsherum wuchs der Wald, ihr Horizont war eine grüne Linie aus Eichen, Buchen und Tannen. Die Felder lagen da wie braune oder gelbe Teppichfliesen, die Decke war blau und weiß. Hecken und Büsche schienen in Form geschnitten zu sein, als wären sie Schränke und Kommoden, das dichte Gras war weich und gemütlich wie ein Polster. Dies war ihr Wohnzimmer, geräumig genug und auf ihre Bedürfnisse abgestimmt, im Sommer hatte sie sogar immer frische Blumen und Obst parat. Annie fand es hier tausendmal gemütlicher, als im muffigen Haus der Familie zu sein.

Die Mutter hatte ihr schon früh eine Trommel um den Bauch gebunden, zwei kurze Stöcke gereicht und sie losgeschickt, damit sie mit ihrem Krach und Gebrüll die Stare aus der Kirschplantage verjagte – so sollten nicht nur die Vögel, sondern vor allem auch das Mädchen, das angeblich an den Nerven ihrer fahrigen Mutter pickte, zumindest den Hochsommer über keinen größeren Schaden anrichten.

Auch in diesem Jahr lief und lärmte Annie in den Feldern herum, obwohl sie inzwischen kein Kind mehr war, dies aber allem Anschein nach niemanden wissen lassen wollte. Ihre kurze sandfarbene Baumwollhose wurde von einem Gummiband gehalten, an der rechten Seite war eine Tasche eingenäht, die mit einem Reißverschluss zugemacht werden konnte; hier verwahrte sie, was ihr wichtig war – eine Handtasche zu tragen, wäre ihr lächerlich vorgekommen. Ihre dunklen Haare waren störrisch dick und von ihr selbst gestutzt. Der lange Pony hing ihr deshalb vor den Augen, die regelrecht schwarz waren, häufig wischte sie sich die Strähnen aus dem Gesicht. Meist hatte sie einen kritischen, wenn nicht gar aufsässigen Gesichtsausdruck, den Mund dabei leicht geöffnet – ein Fremder musste sich fragen, ob das ein Widerwort werden sollte oder ein erschöpftes Ausatmen.

Die Plantage zog sich sanft den Hügel hinauf, reichte auf der anderen Seite runter bis zum Holzschuppen am Bach und dahinter wieder hoch bis zum Waldrand. Annie stellte sich gern vor, diese kleinen Neigungen des Geländes seien große Wellen und sie selbst ein Schiff mit schwarzen Segeln, das im Sturm ganz allein die Wasserwände anging. Und wenn es so brütend heiß war wie im Moment, wenn die Luft sich kaum bewegte, die Hitze über dem Asphalt flimmerte, wenn der Schweiß den Männern von der Stirn über den Hals ins Hemd floss und den Frauen feucht unter den Brüsten stand, wenn die Kuhherden eng gedrängt unter Bäumen einen letzten schattigen Platz fanden und die Hunde verzweifelt schnell hechelten, malte sich Annie aus, eine Beduinin zu sein, die der Hitze trotzte, die auf ihrem Kamel ritt, statt zu rennen, und die hohen Sandberge einer fernen Wüste bezwang, auch wenn es in Wirklichkeit nur erdige, trocken-harte Buckel waren. Oder ihr schien, als spiele sich in der Welt da draußen ein Kriminalfall ab und sie wäre mittendrin, denn Tausende schwarze Verbrecher schlitzten die Früchte auf wie die prallen Bäuche hilfloser Opfer, roter Saft spritzte auf die Blätter und Äste. Die Gier der hungrigen Tiere war sogar zu hören, sie schmatzten, besudelten einander mit Kirschblut und berauschten sich daran. An einem Ende der Plantage schlich Annie sich an die Räuber an, hob langsam beide Arme, schlug endlich auf die Trommel, so fest sie konnte, und schrie, so laut sie es fertigbrachte. Am frühen Morgen scheuchte ihr Krach die Vögel noch hoch, sie brachen ihren Raubzug ab, flogen auf und zerstreuten sich in der Luft, besannen sich dann, vom Hunger getrieben, fanden sich zum Schwarm und kamen am anderen Ende der Plantage wieder herunter, besetzten dort die Bäume und fraßen weiter.

Annie verfolgte die Horde, bis sie genau unter den Schädlingen war. Sie sah und hörte, wie die Stare mit scharfen Schnäbeln zupickten, das Fruchtfleisch an sich rissen, schlürften, schluckten. Kirschsaft tropfte auf Annie herab, dazu rieselten die Exkremente der Blattläuse auf sie nieder – ausgerechnet Honigtau wurde das genannt. All das sammelte sich den Tag über auf ihrer Haut wie Zuckerguss, klebte ihr im Nacken, im Haar, juckte ihr im Gesicht und unter den Achseln. Sie schlug zu, wenn es den Viechern am besten schmeckte, lärmte mit ihrer Trommel, brüllte wie eine Furie, die Meute schreckte hoch, Annie keuchte hinterher, zum anderen Ende der Plantage. Äste schlugen ihr bei diesen Wettläufen ins Gesicht, kratzten ihr die Wangen auf, mit bloßem Unterarm wischte Annie sich Schweiß, Tränen und Schmutz ab. Runter und rauf, immer den Vögeln nach, die schon vorausgeflogen waren, aussichtslos, wieder und immer wieder, ein andauerndes Hin und Her.

Doch die Stare gewöhnten sich an den Lärm, und Annie musste fester schlagen und schriller schreien, damit die Fresser sich überhaupt noch stören ließen. In der Mittagshitze zogen sie allerdings wie auf Kommando ab, verdauten in den Wipfeln des kühleren Waldes. Annie wusch sich im Bach, ruhte dann erschöpft im Schatten des Holzschuppens und hatte endlich eine Pause. An diesem Tag war sie bereits sechs Stunden unterwegs.

An der Außenwand des Schuppens stand ein altes Metallbett mit Sprungfedern, es war mit einer Schaumstoffmatte und viel frischem Heu gepolstert; dort lag sie nun, aß ihre mitgebrachten Wurststullen, las wenige Minuten in ihrer Zeitung und schlief ein.

Beinahe jeder Mensch kennt den Geruch seiner Kindheit, vielleicht ist es der von frischen Brötchen, die es immer zum Frühstück gab, oder vom rostigen Metall der maroden Schaukeln auf dem Spielplatz, je nachdem. Oder der von frischem Teer auf Straßen, wenn man in Gegenden aufwuchs, in denen die Straßen oft ausgebessert werden mussten; von mit Essigwasser geputzten Treppenhäusern oder muffigen Dachböden, wo sich alte Schätze finden ließen oder man die Tauben des Großvaters füttern durfte. Annies Erinnerung an ihre Heimat, ihr Lieblingsgeruch wird immer dieses würzige Heu sein, eben von der Sonne verbrannt, jene Mischung aus Gras, Klee, Sauerampfer, Kamille und etwas Minze. Hier schien die Sonne beständig, wie es sich Städter in ihren teuren Urlauben wünschen, Annie dagegen bekam das kostenlos. Weiße Wolken zogen über den hellblauen Himmel; dazu konnte sie den kühlen Bach jederzeit genießen, mit den nackten Füßen den glitschig-zarten Grund des Ufers spüren. Wenn die Schwärme zurückkehrten, arbeitete sie weiter, bis sich die Stare zur Abendruhe sammelten und abzogen.

Die Plantage lag drei Kilometer vom Haus der Familie entfernt, Annie wohnte mit ihrer Mutter und ihrem Großvater an der für Touristen eingerichteten Märchenstraße in einem der renovierten Fachwerkhäuser. Zur Zerstreuung gab es im Ort bloß eine Feuerwehr, die nie einen Brand, sondern maßgeblich den Durst der Herren löschte, und eine stocksteife Damenturntruppe, die jährlich eine Kirmes vorbereitete, den festlich-läppischen Höhepunkt des Jahres. Sowohl hier als auch in den benachbarten Ortschaften standen mittelalterliche Häuser, das Fachwerk in Schwarz-Weiß gehalten, die Straßen mit Basalt gepflastert, hübsche schmale Gefängnistürme wie aus einer Filmkulisse zu Rapunzel, oder im nahen Wald ein verwunschenes kleineres Schloss, in dem Dornröschen vor langer Zeit gelebt und geschlafen haben soll.

Das nordhessische Dorf wurde schon im neunten Jahrhundert nach Christi Geburt in Urkunden eines Klosters erwähnt, und Annie fragte sich, weshalb ausgerechnet aus ihrem Nest in all der Zeit nichts geworden war. Berlin war viel später entstanden und hatte es zur Hauptstadt gebracht.

Unter dem Papiercontainer an der Kreuzung zum Feldweg lag geschützt vor Regen regelmäßig die Süddeutsche Zeitung vom Vortag, ordentlich gefaltet, die Seiten in der richtigen Reihenfolge. Der Apotheker des Ortes überließ Annie auf diese Art regelmäßig seine Lektüre. Zur Plantage führte ein ungewöhnlich breit geteerter Luxus-Feldweg, der das Gewerbegebiet erschloss, auf dem sich abgesehen von ein paar Füchsen niemand sonst angesiedelt hatte, schon gar kein Gewerbe. Teure solarbetriebene Straßenlaternen standen dort neben nicht genutzten Grundstücken, von denen Annies Großvater bitter behauptete, er habe für sie mit seinen Steuergeldern persönlich aufkommen müssen, für nichts und wieder nichts.

»Weißt du, was ich bin?«, schimpfte er und nahm einen Schluck aus seiner Bierflasche. »Sponsor dieser Bundesrepublik bin ich, so siehts aus, ohne dass mich einer fragt, was ich alles löhnen will.«

»Zahlen wir denn noch Steuern?«, fragte Annie, die genau wusste, wie es um die Einkommensverhältnisse der Familie stand. Er blieb ihr die Antwort schuldig.

Die Dinge standen nicht zum Besten, entweder fiel die Ernte schlecht aus, oder die Obstpreise waren im Keller. Bereits seit Jahren ließen viele Bauern die Früchte an den Bäumen hängen und verderben, weil es sich nicht mehr lohnte, sie für teures Geld pflücken zu lassen. Die Schattenmorellen aus dem Osten waren allesamt billiger, heimische Plantagen wurden abgeholzt, das eigene Land gewöhnte sich den Obstbau ab. Das hatte der Familie zugesetzt, Annies Mutter war inzwischen sichtlich eine verzagte Frau geworden.

Die Aufregung über deren Namen ging los, sobald man ihn nannte: Nette-Marie.

»Die nette Marie?«, zweifelten die neu Hinzugezogenen.

»Nein!«, giftete die keineswegs immer nette Nette, weil sie es satthatte, das beinahe täglich klarstellen zu müssen. Sie machte ihrem Vater Vorwürfe deswegen: »Weshalb hast du mir diesen Namen gegeben?«

Opa seufzte: »Weil es in Norwegen damals so schön war«, und fügte bitter hinzu: »Hat ja keiner ahnen können, dass das Gegenteil von dem herauskommt, wenn’s älter wird.«

Die vielen Sticheleien ihrer beiden Erzieher verdarben dem Mädchen die Stimmung nicht, für Annie fing das gute Leben mit der Kirschblüte an und hörte mit den Herbstfeuern auf. In dieser Zeit erwachte sie frühmorgens und dachte nur ein einziges Wort: Sommer. Sie zog sich in Windeseile Unterhose, Shorts, Hemd und Sandalen an und war schon draußen. Noch immer lief sie manchmal mit freiem Oberkörper in der Plantage herum, weil es schlicht nichts zu verdecken gab, allenfalls warf sie sich ein verwaschenes T-Shirt über, wenn ein wenig Wind ging.

Fünfzehnhundert Bäume standen in dreizehn langen Reihen, ein hoher Maschendraht zäunte sie ein. Hier schuftete Annie im Sommer, im Winter ruhte sie wie die Bäume – die draußen im Frost, sie drinnen in eine Wolldecke gehüllt flach auf der Couch, genau wie ihr Opa in seinem Liegesessel. Der schimpfte weiter, als gehöre sein Meckern zum Lebensrhythmus wie Zähneputzen: »Ein Scheißleben haben wir auf dem Land.«

Mindestens einmal die Woche sagte er das. Dann schaute Annie ihn an, hob die Hände, wollte ihn besänftigen: »Wir können doch zufrieden sein.«

Er schüttelte den Kopf: »Ein Bauer ist nie zufrieden, auch wenn er’s ist. Schreib dir das endlich hinter die Ohren.«

»Ich bin kein Bauer, ich bin Schülerin.«

Er winkte ab, wollte von ihr keine Einwände hören: »Du arbeitest mehr im Feld als in der Schule. Meckern ist bei unsereins eine Umgangsform, die sich geradezu gehört. Das Ringen um eine gute Ernte ist ein Streit des Menschen mit der Natur«, sagte er gestelzt, »wie die Bäume und die Erde brauchen wir eine lange Winterruhe.«

»Ich streite nicht mit der Natur.«

Er grinste ihr zu: »Wie oft soll ich dir das noch sagen? Leg die Füße hoch, so oft du kannst, Hauptsache, du findest eine komplizierte Begründung dafür.«

Seit einem Jahr schoss Annie die Vögel auch mit einem Luftgewehr ab und hängte die Leichen in die Äste, um die anderen Fresser zu warnen. Doch die machten sich genau so wenig daraus wie aus dem Getrommel und Geschrei. Annies Mutter hatte kürzlich weiter aufgerüstet und eine regelrechte Knarre gegen die Stare angeschafft, eine Browning mit dickem Lauf, die so echt aussah, dass man damit eine Bank hätte ausrauben können.

Nette warnte ihre Tochter: »Du musst sie hochhalten und die Signalraketen in den Himmel schießen, kapiert?«

»Logisch.«

Zu Anfang schoss sie tatsächlich noch vorschriftsmäßig in die Luft, aber die frechen Stare hopsten bloß kurz auf und fraßen gleich danach weiter. Als Annie es daraufhin mal waagerecht versuchte und die Raketen im Zickzack über die Baumspitzen zischten, machten sie grausige, heulende Geräusche und scheuchten wahrhaftig ein paar sensible Vögel auf. Leider ging ausgerechnet während dieser Schießübungen ihr Opa zwischen den Baumreihen spazieren, gemeinsam mit dem uralten Bürgermeister und dem Großvater des Bäckers. Opa blieb erstaunt stehen wie ein Kugelfänger, die beiden Greise jedoch duckten sich unter Annies Beschuss flach ins Unkraut, legten die Arme über die Köpfe und zitterten noch Tage später, weil sie auch Jahrzehnte zuvor oft in Deckung hatten gehen müssen. Verflucht haben sie das Kind, ihm Schläge angedroht, gestorben seien sie fast, und kreuzten doch nie wieder in der Plantage auf, ohne vorher Bescheid zu geben.

Opa erklärte Annie, in den Ohren seiner beiden alten Stammtischbrüder hätten diese Schüsse gepfiffen und gezischt wie die Artilleriegeschosse. Seitdem wusste Annie, wie der Zweite Weltkrieg geklungen haben muss, und versprach, in Zukunft auf ausgediente Soldaten Rücksicht zu nehmen.

Da besann sich Opa plötzlich: »Nein, tu das nicht, wer weiß, was die beiden bei der Wehrmacht angestellt haben. Da schadet ein später Schrecken nicht.« Er hielt kurz inne: »Auch denen vom TÜV, wenn sie hier rumlaufen. Aber nicht treffen, nur verscheuchen«, warnte er. »Und vergiss die vom Finanzamt nicht, falls die überhaupt durch Plantagen gehen, diese asthmatischen Stubenhocker.«

Die Alten hatten Früchte probiert, sie durften das, weil es Opas Freunde waren und es sich dabei um wenige Kirschen handelte. Wenn weder er noch Nette das Ernten gestattete, war es natürlich verboten. Im Sommer hatte Annie deshalb in der Plantage nicht nur die Stare zum Feind, sondern zusätzlich die Diebe. Spaziergänger durften ruhig mal die Hand über den Zaun strecken und einzelne Kirschen kosten, dagegen hatte niemand etwas. Doch es gab fremde Leute, die kamen mit Eimern oder großen Körben, stiegen über den Zaun, pflückten die Früchte und wollten sie wegschleppen, ohne zu bezahlen.

Sie schlich sich leise an, duckte sich, atmete so leise wie möglich und ließ die Leute gewähren. In der Zwischenzeit fraßen die Stare wie verrückt, aber was sollte sie machen? Man konnte ja schließlich nicht laut und leise zugleich sein. Ihr Versteck verließ Annie erst, wenn die Fremden gehen wollten, dann rannte sie los und brüllte mal wieder. Immer brüllen, nie sprechen, das war ihre Methode bei Erwachsenen.

Die Ertappten bekamen einen Riesenschreck, wenn sie so plötzlich auftauchte – ein Mädchen, das offensichtlich am halb nackten Körper mit Blut bespritzt war. Verdattert liefen sie davon und ließen ihre Ernte zurück. Diese lieferte Annie daheim ab und behauptete, die Früchte selbst gepflückt zu haben. Dafür bekam sie von Nette einen Extralohn, das nannte sie Business.

Es gab andere Diebe, die stehen blieben, sich schämten und entschuldigten. Wenn Annie dann kein Wort sagte, sondern nur dastand und die flache Brust rausstreckte, um sich auf diese Art wichtig zu machen, fragten die Fremden verschämt, ob sie die Kirschen bezahlen durften. Das war der Moment, in dem sie einfach nur zu nicken brauchte, sie bekam ihr Geld bar auf die dargebotene Hand und verschwieg die Sache daheim, das nannte sie Stil.

In diesem Sommer nun, kurz vor Annies vierzehntem Geburtstag, kam unerwartet eine Gruppe Jugendlicher nicht vom Dorf, sondern von der anderen Seite her, mit Mopeds durch die Kornfelder; sie hatten keine Gefäße dabei. Es sind Bekloppte, die sich benehmen werden wie Affen, wenn sie erst einmal in die Plantage eindringen, das war Annie klar. Mittendrin erkannte sie Fritzi, ihre im Grunde einzige Freundin, die jeden Unsinn mitmachte und immer von einer Meute umgeben war. Sie stürmten tatsächlich den Zaun, rissen die halb reifen Früchte von den Bäumen und warfen sie auf den Erdboden, grölten dummes Zeug, kletterten schließlich auf die dürren Äste und sprangen heftig darauf herum, bis sie brachen.

Annie brüllte vor Zorn, hätte die Eindringlinge liebend gern von den Bäumen geschossen, sie rannte unüberlegt eine kleine Erhebung hinauf, wo sie sonst nie lief, blindwütig den Feinden entgegen, brüllend natürlich. Da brach eine dünne Kruste, Annies Füße tauchten in einen zähen Brei, sie kippte nach vorn und versank. Seit Jahren war hier am Rand der Plantage zähflüssiger Dünger gelagert, ein riesiger Haufen Hühnerkot, den sie komplett vergessen hatte und der längst mit Unkraut überwachsen war. Annie rappelte sich auf, schimpfte verzweifelt vor sich hin, am ganzen Körper mit Scheiße bekleckert. Ihr war sofort klar: Diese Menschen werden noch dreißig Jahre später grölen, weil sie sonst nichts weiter erleben in ihren armseligen Leben mit ihren billigen Berufen. In ihren popligen Discos werden sie es verbreiten, werden weiterlachen in den Festzelten ihrer faden Viehmärkte. Sogar am Spielfeldrand des erfolglosen FC Wolke Null Sechs werden sie wieder und wieder erzählen, was passiert ist. All das sah Annie auf sich zukommen, ewig würde der Tratsch währen, erbärmlich war ihr bei diesem Gedanken zumute. Sie werden sich nicht mal scheuen, in goldenen Buchstaben Hühnerkacke auf ihren Grabstein zu meißeln, fürchtete sie, als sie versuchte, aus dem Schlamassel zu kommen, alles stank höllisch und war klebrig zäh. Sie atmete durch den Mund und hoffte, dass ihr so besser würde, doch der Ekel ließ sie würgen, beinahe zusammenbrechen.

Schließlich sprach Fritzi ein kurzes Machtwort, und schon machten sich alle davon, Motoren heulten, Stille. Nur ein Typ mit Moped blieb in respektvoller Entfernung stehen, auf dem Rücksitz lag ein zweiter Helm. Fritzi hob ihre Hand zur Beruhigung: »scheis kacke«, stellte sie fest. Sie sagte es nicht höhnisch, es klang eher mitleidig.

»Lachst du mich aus?«

»nee.«

»Du lachst doch?!«

»nee, escht net.«

Annie hasste es, ausgelacht zu werden: »Ich sehe deine Zähne, du lachst!«

»zähne eh, die tu ich trocknen!«

»Deine Zähne sind nass?«

»hab wasser im zahn.«

Ihre verlotterten Kumpel kamen einige Hundert Meter weiter an einer Abzweigung zum Dorf zum Stehen, sie warteten auf ihre Freundin, ließen die Motoren aufheulen und riefen sie damit.

Annie litt nicht nur unter dem Dreck, der an ihr hing, sondern auch daran, dass sie meist nur in Gesellschaft von Bäumen und Staren war und keinen Motor zum Mitheulen besaß.

Fritzi wies auf den triefenden Hühnerdünger: »un sons?«

»Hau bloß ab.«

Da setzte Fritzi ihren Helm auf, sprang zu dem Jungen aufs Moped und machte sich davon.

Annie riss sich auf der Stelle die stinkende Shorts vom Leib, Unterhose und Hemd ebenfalls, ließ alles auf der Erde liegen und lief nackt durch die Plantage, allein die Sandalen hatte sie anbehalten, da der Boden mit Disteln übersät war. Ihre Füße schmatzten bei jedem Schritt im Hühnerkot, es war widerlich. Der Gestank machte aus der Isolierten eine Aussätzige, mit der nun erst recht keiner zu tun haben wollte. Sie erreichte den Bach und wusch sich, bis sie ganz wund war, fluchte und jammerte weiter vor sich hin. Sie legte ihre gewaschenen Sandalen in die Sonne und fiel zu guter Letzt erschöpft auf das Metallbett, atmete durch, beruhigte sich, wühlte ihren nackten Körper ins Heu, weinte leise und schlief endlich erschöpft ein.

WINDBEFRUCHTER

Das Haus, in dem die drei wohnten, gehörte der Familie schon seit Generationen. Im Erdgeschoss waren die Küche und ein großzügiges Wohnzimmer mit Kachelofen. Im ersten Stock hatte jeder ein Zimmer mit Holzdielen. Vorn an der wenig befahrenen Straße lag der Gemüsegarten, hinter dem Haus ein Hof mit Moos zwischen den Steinen, und neben dem Küchenfenster wuchsen gelbe Rosen.

Jahre zuvor hatte Annie bei Herbstmanövern der Bundeswehr ein Tarnnetz ergattert, das über einen Panzer gespannt war. Das hatte sie über ihr Bett gehängt und sich so eine herrlich schützende Höhle eingerichtet. Auf dieser Tarnung hatte sich inzwischen ungeheuer viel Staub gesammelt. Wenn sie dann und wann von unten dagegenschnippte, regneten die weichen Staubflocken auf sie herab wie in einem Wintermärchen. Nette dagegen hatte für diese Form von Schutz oder Romantik keinerlei Verständnis.

»Bring den dreckigen Mist zum Müll!«

»Das ist kein Mist, ich unterstütze die NATO damit«, provozierte die Heranwachsende, die genau wusste, wie sie ihre Mutter auf die Palme bringen konnte.

»Was weißt du denn von der NATO

Annie verkniff sich ein Grinsen: »Die sichert den Frieden.«

»Hast du sie nicht alle? Den Frieden? Eine Waffentruppe!«, fluchte Nette und verließ das Zimmer, nicht ohne zu schimpfen: »Und so was hab ich großgezogen!«

Mitten im Gemüsegarten stand der einzige Süßkirschenbaum, den die Sauerkirschbauern hatten. Wenn ihre Mutter im Sommer darin auf einem Ast saß, zwischen Blättern versteckt, und sich den Bauch mit den Früchten vollschlug, schien sie endlich mal zufrieden, strahlte beinahe wie eine Braut, fand Annie. Bloß ohne Schleier und Blumenstrauß, und ohne Kleid oder Bräutigam, also eigentlich gar nicht wie eine Braut. Sie besaß ein Foto, das sie gern betrachtete: Nette lächelnd in genau diesem Baum. Die Familie hätte sich gänzlich für Süßkirschen entscheiden sollen, dann wäre das Leben von Nette beschwingt und reich verlaufen, die Kilopreise von Herzkirschen waren auf dem Frischmarkt enorm hoch. Nun war es dafür zu spät, Bäume wachsen ja nicht über Nacht, und sie hatten die falsche, die saure Sorte am Hals.

Im Haus wellten sich die matten Tapeten an den Klebekanten, vor den Fenstern hingen trostlose Gardinen aus den Sechzigern mit vergilbten Stores, die aussahen wie Fliegengitter. Die angeschlagenen braunen Küchenschränke hingen schief, die Armaturen im grün gefliesten Bad klemmten, wackelten oder tropften.

Obgleich diese Tristesse sie schon lange umgab, konnte Nette sie verschmerzen, wenn sie sich verliebte. Darum tat sie das oft, ohne auf den Mann zu achten, sondern bloß auf den Zustand.

Einige Zeit zuvor war eine Gruppe gut aussehender Wissenschaftler ausgerechnet hierher gekommen, um die eigentümliche Neigung der Landschaft genauer zu untersuchen. Normalerweise, so erklärten sie den Bewohnern bei einer Versammlung, komme solch eine Schüsselform geologisch nur an der Küste vor oder bei Seen, aber hier habe man eine riesige Delle identifiziert, die in der Geologenfachsprache »Depression« genannt werde.

»Allen Ernstes?«, fragte Opa. »Wir liegen in einer Delle, die leidet?«

»Ich hab schon immer gewusst«, merkte Nette trocken an, »dass was nicht in Ordnung ist mit der Stimmung hier.«

Darüber lachte ein blonder Geologe besonders fröhlich und mietete sich kurz darauf bei ihnen ein. In beinahe jedem Haushalt des Ortes wurde ein Wissenschaftler untergebracht, weil hier kein Gasthaus existierte und das einzig in Frage kommende Hotel in der Stadt lag. Kost und Logis waren für die Einheimischen ein gutes Geschäft, die eigenen Kinder wurden dafür aus ihren Zimmern vertrieben und in die Heuböden gelegt, die Wissenschaftler schliefen in zu kurzen Betten, wurden dafür aber von den Dörflern mit gutem Essen verwöhnt und nahmen im Laufe der Wochen ordentlich zu.

Nette überließ ihrem Geologen ihr eigenes Zimmer. Vorher brachte sie es fertig, innerhalb von nur einem Tag alles sauber zu putzen und aufzuräumen, was vorher für Wochen, ja Monate herumgelegen hatte, vergammelte oder verstaubte. Sie möbelte nicht nur die Einrichtung, sondern auch sich selbst auf, hatte mit einem Mal frisch frisierte Haare, eine gebügelte Bluse und sogar einen Rock mit Blumenmuster – kein Mensch wusste, wo sie den so schnell aufgetrieben hatte.

»War das nicht mal die Küchengardine?«, feixte ihr Vater.

Zaghaft klärte Nette ihren Geologen auf: »Bedingung bei uns ist, dass Sie grüne Bohnen essen. Die gibt es bei uns beinahe täglich.«

»Beinahe?«

»Stangenbohnen ohne Faden.«

»Großartig«, grinste er.

Opa musterte seine Tochter belustigt und führte sie prompt vor: »Du hast ja sogar neue Schuhe.«

Nettes stahlharter Blick verriet, dass sie ihm etwas antun würde, wenn er weiterspräche.

Die Zeit mit dem Fremden ging als »die guten Geologenwochen« in die Familiengeschichte ein. Nette flüsterte vor sich hin und sang, hatte endlich mal das Gegenteil von einer Delle in ihrem Herzen, rasierte sich bald am ganzen Körper, puderte jede Falte und studierte schwer verständliche Berichte über Geomorphologie. Wenn sie wollte, konnte sie sehr nett sein, sie musste nur können wollen.

»Wie kommt es, dass ihr so viele Bohnen habt?«, fragte er beim Abendessen, als ihn das Gemüse nach zehn Tagen dann doch verdutzte. Annie und Opa zogen den Kopf ein und schwiegen.

Nette dagegen goss sich einen Schnaps ein, ihr Bericht würde sie sonst zu heftig treffen. Es hatte so einige Desaster in ihrer Karriere gegeben, aber die Bohnengeschichte beeinträchtigte den Speiseplan der Familie nachhaltig: »Vor zwei Jahren habe ich einem Händler aus Frankfurt die halbe Kirschernte verkauft, er hatte mir einen guten Preis geboten, allein das hätte mich misstrauisch machen müssen. Er holte die Früchte selbst ab und versprach, prompt zu zahlen, das tat er aber nicht. Zwei Wochen später bin ich hin, wollte schauen, was zu machen war, irgendwas zum Tausch ergattern. Der Kerl hat sogar tatsächlich mit sich reden lassen, er stand selbst kurz vor der Pleite und hat mir das Letzte mitgegeben, was er noch hatte, bevor die Gläubiger kamen.«

Der Geologe ahnte es: »Bohnen.«

»Einen ganzen Lastwagen voll Büchsen, ein Drittel süße weiße Pfirsiche waren auch dabei, schmecken klasse, der Rest ist Gemüse«, klärte Annie ihn auf.

Ihre Mutter atmete tief durch, damit die alte Frustration sie nicht wieder übermannte: »Ich hab gedacht, ich kann die Ware irgendwo verkaufen. Das Problem aber ist, die Dosen haben keine Etiketten. Also kein Haltbarkeitsdatum, und man weiß nie, was wirklich drin ist. Du kannst sie wiegen, schütteln und daran horchen, du kannst sie auspendeln oder beten und bekommst es nicht raus. Obst und Gemüse klingen exakt gleich, es ist zum Verzweifeln. Wer eine Büchse öffnet und Glück hat, erwischt weiße Pfirsiche, ansonsten muss er Bohnen essen. Was offen ist, wird natürlich verzehrt.«

Der Geologe verstand: »Wir hatten bisher kein Glück.«

»Meinst du, man kann sie röntgen oder anders untersuchen?«

Er verneinte: »Zu teuer, und schädlich. Habt ihr sie mal gewogen?«

»Immer gleich schwer. Sie reichen noch für Jahre. Wir verschenken die Dosen inzwischen, jeder Freund und Bekannte bekommt ein paar zum Geburtstag, zur Hochzeit oder zu Weihnachten geschenkt. Uns lädt schon niemand mehr ein. Annie muss sie an Advent zum Wichteln mit in die Schule nehmen – wer sie zieht, hat verloren.«

Schließlich führte Nette den Geologen in den Keller, dort lagerten die Dosen in Kisten zu je achtundvierzig Stück in zwei von vier Kellerräumen bis unter die Decke.

»Wir können froh sein, dass wir überhaupt was zu essen haben!«

»Genau«, antwortete der Mann, legte Nette den Arm um die Taille und zog sie an sich: »Sie schmecken doch ganz prima.«

Tage später fuhr Nette vor lauter guter Laune mit Annie in die Stadt, dort sollte das Mädchen partout ihren ersten BH bekommen, obwohl es keinen körperbaulichen Grund dafür gab.

»Wozu also?«, fragte Annie misstrauisch, weil sie wusste, wie schnell sich bei ihrer Mutter gute Laune ins Gegenteil verkehren konnte.

»Einfach nur aus Spaß«, meinte die.

»Was für ein Spaß?«

»Na, die Freude, bald eine Frau zu werden. Vielleicht triffst du ja auch mal einen Geologen.«

»Und für so eine Begegnung braucht man Wäsche?«

»Genau!«

»Auch wenn im BH nichts drin ist?«

»Kommt schon, mach dir keine Sorgen.«

»Weshalb macht dich ein fremder Mann so froh? Ich oder Opa aber nicht?«

»Das ist doch was ganz anderes.«

»Was denn genau?« Annie gab nicht auf.

Ihre Mutter schaute sie an, dachte nach: »Der ganze Körper kribbelt, ’ne Stimmung, als hätte man viel Geld gemacht. Diese Nähe zu einem fremden Körper, der Geruch dabei. Man macht Dinge, die man sonst nie macht.«

»Also ist er besser als ich, der Sex?«

»Besser als du? Quatsch, anders halt, wirst schon sehen, wenn’s so weit ist.«

Wenige Meter vor dem Wäschegeschäft ließ sich Nette von einer schmierigen Wahrsagerin anquatschen, die an ihrem Ärmel zupfte: »Du haben gute Augen, sehr gute Augen, Traurigkeit ist auch drin. Komm, gehen wir Straße runter, du haben nicht viel Glück gehabt. In Stirn ist eine Sieben, es werden alles gut. Was schon zwanzig Euro für Seele, wenn tröstet.«

Nette fragte ihre Tochter: »Brauchst du wirklich schon einen BH

»Ja, wer hatte denn die Idee?«

Annie gab das Geld ohne Zögern her.

»Siebenundachtzig werden du«, machte die Frau Nette ungeniert vor, »nett und freundlich ist der Mann, der meinen gut. Nix von hier, von weit weg. Noch ein Kind kommt in Haus.«

Auf dem Rückweg im Auto schwiegen beide. Annie schaute aus dem Fenster und ersehnte sich alles Mögliche für zwanzig Euro, sie hätte gern mal einen Lenkdrachen ausprobiert, ein richtiger Busen wäre auch nicht verkehrt, selbst den konnte man kaufen, kostete bloß mehr. Wieso hatte sie keinen, fragte sie sich, wann würde das bei ihr losgehen, was so losgeht bei Mädchen in ihrem Alter? Nette dagegen erträumte, dass es anders käme, als sie bisher vermutet hatte, ganz anders! Eine Beziehung, vielleicht eine ehrliche Ehe, ein weiteres Kind sogar? Noch war sie nicht zu alt für einen völligen Neubeginn.

Die Geologen verließen den Ort nach genau sieben Wochen, wie vorausgesagt. Nettes junger Liebhaber stellte anschließend in einem letzten Telefonat aus seinem Institut klar, dass er bereits verheiratet sei, drei eigene Kinder habe, süß wie Pfirsiche, und nie wieder zu Nettes zarten Bohnen zurückkehren werde. Von da an hatte sie noch grauenhaftere Laune als zuvor.

»Die Wahrsagerin hat gelogen«, stellte Annie lakonisch fest.

»Halt die Schnauze!«

Opa wunderte sich: »Für so ’nen Scheiß hast du Geld?«

Nette verbarg ihr Gesicht in den Händen und weinte am Küchentisch; der Alte sah sich veranlasst, seine Tochter zu trösten: »Nicht alle Kirschen kennen die glückliche Liebe«, kommentierte er ihr Malheur. »Liebliche Bienen befruchten die Blüten der Süßkirsche mit ihrem pelzigen Po, drum ist ihr so süßlich zumute. Der Schattenmorelle dagegen reicht, wenn ein anständiger Wind den Samen durch ihre Äste fegt. Kein Wunder, dass dich die zugige Liebe, die du bekommst, so sauer macht.«

Zur Bekräftigung streichelte er ihr sogar über den Kopf. Dass Nette keine Süß-, sondern eine Sauerkirsche war, war bereits zur Legende geworden. Sie selbst versicherte allen, die es wissen wollten oder nicht, seit jeher gehöre die Obstbauernfamilie wie die hauseigenen Bäume zu den Windbefruchtern, diese Art der Fortpflanzung sei auch bei ihnen daheim üblich, ihre Tochter sei darum ohne leiblichen Vater gezeugt.

Annie stellte ihre Mutter zur Rede: »Du willst doch nicht ernsthaft behaupten, mein Vater sei der Wind gewesen?«

Nette schnäuzte sich, augenscheinlich tröstete sie dieser Unsinn, sie blieb dabei: »Es gibt eine Menge solcher Leute, die Jungfrau Maria kennt jeder, über andere wird seltener geredet. Wird Zeit, dass du davon erfährst.«

»Meine Mutter ist eine Jungfrau!«, johlte Annie spöttisch. Sie wollte sicher nicht erfahren, auf welche Weise ein männlicher Same an der Blüte ihrer Mutter hängen geblieben war, zumindest redete sie sich heftig ein, dass sie es nicht wissen wollte. Sie war irgendwann auf natürliche Art entstanden, das war ja mal sicher. Aber ein richtiger Vater war doch ein Mann, der anwesend war. Bei uns daheim ist keine starke Schulter außer Opa, an die ich mich lehnen kann, sagte sie sich. Da schenkt mir auch keiner was, also habe ich keinen Vater. Aber eine normale Besamung wird es doch gegeben haben.

»Wer ist es gewesen? Wo ist es passiert?«

»Schluss mit dem Thema«, wünschte sich Nette.

Annie zeigte ihr den Vogel: »Ja, hör mir auf, Windbefruchter!«

Wegen ihrer Arbeit im Sommer und den faulen Wintern auf der Couch war Annie ständig offline, nur ihr Opa besaß einen Computer, den sie nicht benutzen durfte. Auch ein Handy hatte sie nicht.

»du bis steinzeit«, hatte Fritzi zu ihr gesagt. Vor allem Annies Klamotten waren der Gleichaltrigen ein Gräuel: »style ne haste wie in bukarest aufm fischmarkt die verkäufer ne.«

»Wir haben kein Geld.«

»musste abziehn, idi.«

Was Fritzi »abgezogen«, sprich geklaut hatte, trug sie am Leib, seit der Woche zuvor zum Beispiel eine eng anliegende weiße Hose mit Reißverschluss an der Seite, ein lila Top, das oben spät begann und unter der Brust früh endete, dazu einen silberfarbenen Gürtel mit riesiger Schnalle, Sonnenbrille mit Strasssteinen, starkes Make-up mit Rouge von den Augen bis zum Hals und unten wieder silberfarbene Pumps. Annies Opa behauptete gemein, Fritzi zeige ihr Äußeres so her, weil innen nicht viel sei. Ihr Intelligenzquotient ließe sich mit einem Fieberthermometer messen. Tatsächlich gab es gewisse Anzeichen dafür, legendär war etwa die Sache mit dem Speiseeis, inzwischen schon Jahre her.

Fritzis Oma trug den Schlüssel zur Gefriertruhe immer an ihrem Hosenbund und hatte dann trotzdem mal vergessen abzuschließen. Die Enkelin nutzte diese Chance unmittelbar, aber sie griff nicht einfach zu und futterte, bis ihr übel wurde, oder teilte ihre Beute sinnvoll mit Annie oder ihrer Bande, die damals noch auf Fahrrädern und Rollern herumstreunte. Nein, sie schnappte sich einen ganzen Karton Eis am Stiel und lief damit in den Garten, grub mit dem Spaten ein Loch und stellte den Karton hinein. Mitten im Sommer.

Annie sah dem dusseligen Mädchen zu: »Fritzi, was machst du denn?«

»eh du, fapiss dich eh.« So in etwa klang schon damals ihre Antwort.

»Fritzi, der Boden ist warm, das Eis wird schmelzen, du wirst es nie wiedersehen.«

»is das weg, schlagisch schädel ein.«

»Du musst es sofort essen, sonst ist es verloren. Ich helfe dir dabei!«

Statt eine Antwort zu geben, hat das Gör nach Steinen gegriffen und Annie damit beworfen, sie wollte nichts von Teilen wissen. Nach einer Woche hatte Fritzi endlich Lust auf Eis, schaufelte den Karton frei, fand jedoch nichts außer dem Papier und der Pappe und machte sich daraufhin natürlich auf die Suche nach der einzigen Augenzeugin. Sie wollte sie töten, »hast mein eis gefressen!«, hat sie geschrien. Wochenlang war Annie nicht mehr vor ihr sicher.

Fritzi war die Chefin im Ort, Annie konnte froh sein, dass sie ansonsten friedlich mit ihr umging. Ein halbes Jahr vorher hatte Fritzi einem Jungen aus der sechsten Klasse einen Finger gebrochen, weil der ihr vier Euro schuldete. Doch an Annie hatte sie einen Narren gefressen: »tu annie was, schlag isch fresse ein, is meine freundin.«

»Wieso ausgerechnet die?«, fragten ihre Mopedkumpels.

»gibs sonst kein mädchen in scheißkaff, drum.«

Was Annie durch den Kopf ging, interessierte Fritzi nicht, und umgekehrt. Annie kannte keine Bands und keine Stars, nicht eine Soap, nicht eine Show, weder die Mode noch das Geld. Sie war ein Relikt aus Zeiten, als gelernte Schauspieler noch auf Brettern spielten und Musik von Hand gemacht wurde.

PAULA

Die letzten Bilder von Paula stammten von der Überwachungskamera vor der Garage. Sie zeigten einen Teenager in dunkler Daunenjacke mit Kapuze, dem für Mai ungewöhnlich nasskalten Wetter dieser Nacht angemessen. Über ihrer Schulter hing eine kleine Reisetasche, die für wenige Tage gepackt schien, doch wurde Paula nun bereits seit Wochen vermisst. Die Eltern hatten schon am Morgen nach ihrem Weggang die Polizei gerufen, die Ermittlerin hatte diese aufgezeichneten Bilder wieder und wieder angeschaut, sie vor- und zurückgespult, angehalten. Ihr schien es, als wenn das Mädchen zum Abschied gar gewinkt hätte, das war allerdings nicht klar zu erkennen. Möglich war auch, dass sie bloß eine Strähne aus ihrem Gesicht wischen wollte.

Ein Porträt von ihr zeigte eine junge Frau mit orangefarbenen Haaren und blauen Augen, etwas blasiertem Blick und dickem Kajalstrich auf dem oberen Lid. Sie musste in letzter Zeit wohl zugenommen haben, oder die Aufzeichnung hatte ihr Gesicht verzerrt und runder wirken lassen.

Die Familie lebte am Körnerweg direkt an der Elbe, das Haus war am Hang gebaut, das blaue Wunder linker Hand, die prächtige Stadt rechts.

Wer könnte schöner leben, fragte sich die Polizistin, weshalb läuft so eine fort? Die Eltern wirkten auf sie eher wie ihre Großeltern, er war Professor an der Technischen Universität Dresden, an seiner Seite hatte er eine schmale, gepflegte Frau. Viel Geld steckte im Haus: dreistöckiger Bau, allerhand großflächige Glasfronten. Paulas Zimmer hatte eine eigene Dachterrasse, sie verfügte über einen Flachbildschirm, eine teure Musikanlage, ein Himmelbett.

An jenem Abend waren alle drei zeitig schlafen gegangen. Paula hatte sich nicht anders verhalten als üblich, versicherte der Vater. Sie musste kurz vorher noch in der Küche gewesen sein, man fand ein benutztes Glas mit Orangensaftresten, sie hatte scheinbar in eine kalte Entenkeule gebissen und den Knochen anschließend auf den Marmorboden geworfen. Der Kühlschrank stand offen.

»Wieso tut Ihre Tochter so was?«

Die Mutter schüttelte ratlos den Kopf: »Wie kann sie uns das antun?« Es klang beinahe empört statt besorgt.

»Sollte das eine Provokation werden? Der offene Kühlschrank?«, fragte die Polizistin. »Und das Essen auf dem Boden?«

»Paula hat öfter mal was fallen lassen«, erklärte der verzweifelte Vater.

Die Beamtin runzelte die Stirn: »Erklären Sie mir das genauer, bitte.«

»Nun«, er hob erschöpft seine dünnen Arme, »eine Jacke im Flur, ein Äpfelbutze, ein Radiergummi, so was eben.«

»Ein Äpfel-was?«

»Butze.«

»Meinen Sie ein Äppelgriebs?«

»Ja, Herrschaften!«, rutschte es ihm zu laut heraus. »ä«