Wolfgang & Heike Hohlbein

Frei nacherzählt nach dem gleichnamigen Märchen von Hans Christian Anders

Mit Illustrationen von Ludvik Glazer-Naudé

Vollständige eBook-Ausgabe der Hardcoverausgabe

© 2014 bloomoon, ein Imprint der ars Edition GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten

Text: Wolfgang und Heike Hohlbein

Lektorat: Dieter Winkler

Coverillustration und Vignetten: © Ludvik Glazer-Naudé

Umschlaggestaltung: Grafisches Atelier arsEdition unter Verwendung einer Illustration von Ludvik Glazer-Naudé

Umsetzung eBook: Zeilenwert GmbH

ISBN eBook 978 - 3-8458 - 0900-7

ISBN Printausgabe 978 - 3-8458 - 0794-2

www.bloomoon-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

1. Kapitel

» … zu jener Zeit, zu der sich die Geschichte zugetragen haben soll, da lebte ein stolzer König zusammen mit seinen elf Söhnen und deren einziger und jüngster Schwester in seinem prachtvollen Schloss in einem Land, dessen Bewohner selbst gerne sagten, es wäre das schönste der Welt, so friedlich und wohlhabend, dass sie jedermann beneidete und viele dem Teufel ihre Seele verpfändet hätten, es ihre Heimat nennen zu können, ein Land jenseits der Berge und aller Furcht, in dem immerwährender Frühling herrschte und wohin selbst die Schwalben flogen, wenn das Jahr zu Ende ging und der Winter kam. Die Menschen dort waren rechtschaffen und fröhlich und gingen ihrem Tagewerk fleißig nach und der König selbst war gerecht und gut. Seine Untertanen liebten ihn und verbeugten sich voller Ehrfurcht, wenn er seinen Palast verließ und auf seinem prachtvollen weißen Ross über seine Ländereien ritt, und … «

Und außerdem war das alles Blödsinn.

Prinzessin Elisa ließ den Federkiel sinken, auf dessen oberem Ende sie seit mindestens einer Viertelstunde herumgekaut hatte, ohne auch nur ein einziges vernünftiges Wort zustande zu bringen. Missmutig starrte sie auf den hässlichen Tintenklecks, der ihr von dort entgegengrinste, wo eigentlich die poetischsten Zeilen und geschliffensten Formulierungen stehen sollten, seufzte schließlich tief und knüllte das Pergament zu einem Ball zusammen, den sie auf den Fußboden warf – wo er sich zu zwei Dutzend ganz ähnlicher Papierkugeln gesellte, die dort ihr Unwesen trieben und sich schon mit ihrer bloßen Gegenwart über sie lustig zu machen schienen.

Jedenfalls kam es Elisa so vor.

Sie wusste nicht einmal, auf wen sie zorniger war: auf ihren Vater, der mit der aberwitzigen Idee an sie herangetreten war, eine Geschichte über ihn und sein Leben als König zu schreiben, oder auf sich selbst, dieses Ansinnen nicht rundheraus abgelehnt, sondern sich darauf eingelassen zu haben. Und das alles nur, weil sie die Einzige in diesem ganzen Schloss war, die halbwegs lesen und schreiben konnte!

»Das ist jetzt aber nicht gerecht, Prinzessin«, sagte eine Stimme hinter ihr, die gleichermaßen tadelnd als auch ein wenig belustigt klang. »Ihr seid nicht die Einzige hier, die des Lesens mächtig ist. Habt Ihr die große Bibliothek Eures Vaters vergessen? Früher war er fast jeden Tag dort, manchmal bis spät in die Nacht, und die allermeisten Bücher hat er sogar mehr als einmal gelesen.«

Elisa legte den Federkiel endgültig aus der Hand, drehte sich auf dem unbequemen Schemel um, auf dem sie seit Stunden saß und sich vergeblich das Hirn zermarterte, um wenigstens ein paar halbwegs sinnvoll klingende Sätze zusammenzubekommen, und begriff erst im Nachhinein (und mit sachtem Erschrecken), dass sie den letzten Satz wohl laut ausgesprochen hatte. Und vielleicht nicht nur diesen.

»Und auch Eure Brüder sind sehr wohl des Lesens und Schreibens mächtig«, fuhr die weißhaarige alte Zofe fort, die so unversehens hinter ihr aufgetaucht war, während sie sich bereits bückte und die verstreuten Papiermäuse vom Boden aufzusammeln begann.

Bei dem Anblick regte sich Elisas schlechtes Gewissen noch mehr, denn sie wusste, wie sehr Gertrud Unordnung hasste; vor allem in diesem Zimmer. Die kleine Turmkammer war bis zu ihrem Tod die private Kemenate ihrer Mutter gewesen, ihr ganz eigenes, persönliches Reich, in das sie sich zurückziehen konnte, wenn sie genug von Staatsgeschäften und dem offiziellen Leben bei Hofe hatte. Heute erinnerten lediglich das zierliche Himmelbett (in dem Elisa nur manchmal schlief; meistens zog sie es – zu Gertruds heimlichem Verdruss – vor, im großen Schlafsaal bei ihren Brüdern zu übernachten) und das prachtvoll in Gold gerahmte Porträt ihrer Mutter an die ehemalige Bewohnerin dieses Raumes. Aber Gertrud benahm sich noch immer so, als wäre die Königin nur auf einer Reise und müsste jeden Moment zurückkehren. Manchmal gab das Elisa das Gefühl, nur gelittener Gast in ihrem eigenen Zimmer zu sein, was sie ein bisschen verletzte. Aber sie wusste auch, wie sehr Gertrud ihre Mutter geliebt hatte, und nahm es ihr nicht übel. Wenigstens nicht sehr.

»Auch wenn ich zugeben muss, dass die meisten von ihnen schon Mühe haben, ihren Namen fehlerfrei zu lesen, geschweige denn zu schreiben«, fuhr Gertrud fort, indem sie sich nach einem weiteren zerknüllten Blatt bückte und es mit einem leisen Ächzen aufhob und in der Tasche ihres Kittels verschwinden ließ. »Es sind eben Jungen, die lieber herumtollen, sich mit ihren Holzschwertern schlagen und die Schweine über den Hof jagen und sich einbilden, es wären Feuer speiende Drachen.«

Elisa behielt vorsichtshalber alles für sich, was ihr dazu auf der Zunge lag (es hätte Gertrud nicht gefallen), aber sie musste zugleich auch ein Lächeln unterdrücken. Ihre Zofe hatte ja recht. Ihre Brüder, tatsächlich elf an der Zahl, wie sie in ihrem letzten misslungenen Anlauf, ein dem Anlass gebührendes Epos zu Papier zu bringen, geschrieben hatte, waren wirklich das, was man gemeinhin richtige Jungs nannte. Manchmal fielen ihr auch noch ganz andere Bezeichnungen für sie ein, wovon Rüpel, Dummköpfe und Flegel noch die harmlosesten waren. Nichtsdestotrotz waren es ihre Brüder und tief in ihrem Herzen liebte sie sie.

Auch wenn es ihr manchmal schwerfiel.

Elisa sah noch einige weitere Augenblicke lang zu, wie Gertrud sich nach den Papierbällchen bückte und eines nach dem anderen in der Kitteltasche verschwinden ließ, dann meldete sich ihr Gewissen endgültig, und sie glitt hastig vom Stuhl herunter und plumpste auf die Knie, um ihr zu helfen.

»Nicht doch, Prinzessin«, sagte Gertrud. »Es gehört sich nicht, dass ein edles Fräulein vor einer gemeinen Zofe wie mir auf die Knie fällt.«

»Ich falle nicht auf die Knie, ich helfe dir«, belehrte sie Elisa, die mit diesem Einwand gerechnet hatte und auch wusste, dass er nicht ernst gemeint war. »Und außerdem will ich nicht, dass jemand diesen Unsinn liest.«

Eigentlich hätte sie sich ja denken können, dass Gertrud diese Worte zum Anlass nahm, eines der zusammengeknüllten Blätter aufzuheben und die Zeilen darauf zu lesen, nachdem sie es mit dem Handrücken glatt gestrichen hatte.

»Das gefällt mir«, sagte Gertrud.

»Das ist Unsinn!«, beharrte Elisa. »Ich will, dass du es verbrennst. Alles.«

Gertrud nickte zwar zum Zeichen, dass sie Elisas Befehl verstanden hatte und auch befolgen würde, widersprach aber trotzdem: »Vielleicht ist es noch keine große Poesie, aber es ist gut. Eines Tages werdet Ihr eine große Dichterin sein.«

»Ich bin nicht in der Stimmung für Schmeicheleien«, sagte Elisa unwillig und fügte dann zum dritten Mal hinzu: »Und es ist Unsinn. Bestenfalls eine Geschichte, wie sie sich das gemeine Volk abends am Lagerfeuer erzählt, um sich die Zeit zu vertreiben.«

Die Worte taten ihr bereits leid, noch bevor sie sie ganz ausgesprochen hatte, aber Gertrud nahm sie ihr nicht übel. Sie lächelte nur. »Märchen«, sagte sie. »Was ist schlecht an Märchen und Legenden?«

»Nichts«, fauchte Elisa. »Außer, wenn man in einem lebt! Ich komme mir gerade vor wie die arme Königstochter, die auf die Ankunft der bösen Hexe wartet!«

Gertrud machte ein Gesicht, als hätte sie in eine Pflaume gebissen und sich gerade einen Moment zu spät daran erinnert, welch harter Kern sich unter dem weichen Fleisch verbirgt. »So solltet Ihr nicht reden, Prinzessin. Ich weiß, Ihr mögt Königin Nessa nicht besonders, aber … «

»Sie ist keine Königin«, fiel ihr Elisa ins Wort. »Wenn du mich fragst, dann ist sie eine Hexe, die nichts Gutes im Sinn hat!«

»Wie gut, dass Euch niemand fragt, Prinzessin«, antwortete Gertrud in einem Ton, der einer Zofe ganz und gar nicht zustand. Aber sie schüttelte auch mit einem warmen Lächeln den Kopf, der diese kleine Unverschämtheit mehr als nur wettmachte. »Und mit solchen Anschuldigungen sollte man vorsichtig sein, Prinzessin. Ich weiß, Königin Nessa hat keinen guten Ruf, aber gebt ihr eine Chance. Euer Vater liebt sie. Und hat er kein Recht auf ein bisschen Glück, nach allem, was er erlitten hat?«

Darüber wollte Elisa nicht nachdenken. »Sie ist eine Hexe!«, beharrte sie. »Jeder sagt das!«

»Die Leute reden viel«, erwiderte Gertrud. »Und umso mehr und schlechter, je weniger sie einen kennen. Ihr solltet abwarten, bis Ihr sie getroffen habt, und Euch dann eine eigene Meinung bilden. Oder seid Ihr am Ende gar eifersüchtig?«

Das spöttische Funkeln in ihren Augen nahm diesen Worten alle Schärfe, und Elisa zog auch nur eine übertriebene Schnute, aber tief in sich fragte sie sich dennoch, ob nicht ein winziges Körnchen Wahrheit daran war. Nach all den Jahren, die sie nun allein mit ihrem Vater und – fast – einem Dutzend Brüdern in diesem großen, zugigen Kasten wohnte, den ihr Vater beharrlich als Schloss bezeichnete, sollte sie sich doch eigentlich freuen, dass endlich wieder eine Frau ins Haus kam. Natürlich gab es Frauen im Schloss, Gertrud und etliche andere Bedienstete, aber irgendwie zählten die nicht. Als ihr Vater vor einem halben Jahr von einer Reise in ein Land zurückgekehrt war, dessen Namen sie noch nie gehört hatte und sich auch nicht merken wollte, und verkündete, dass es bald eine neue Königin geben würde, da hätte sie sich eigentlich für ihn freuen sollen, aber tatsächlich hatte sie einen dünnen Stich von Eifersucht verspürt, auch wenn sie sich dieses Gefühls selbst schämte.

Gertrud hatte recht: Sie sollte der zukünftigen Frau ihres Vaters eine Chance geben.

Man hätte auch sagen können, ihrer zukünftigen Stiefmutter.

»Aber eigentlich bin ich ja nur gekommen, um Euch Bescheid zu geben, dass ein Reiter eingetroffen ist, der die Ankunft unserer Gäste meldet. In längstens einer Stunde müssten sie hier sein, und Ihr wollt Euch doch sicher noch hübsch anziehen, um sie zu begrüßen.«

Elisa sah mit demonstrativ gefurchter Stirn an sich herab. Einmal davon abgesehen, dass nicht nur ihre Finger ziemlich mit Tinte bekleckert waren, gab es an ihrer Kleidung doch nichts auszusetzen. Sie trug einfache, aber praktische wadenlange Hosen, dazu robuste Stiefel und eine weiße Leinenbluse (mit Tintenflecken), und das alles wurde von einem praktischen Gürtel zusammengehalten. Jeder in ihrer Familie trug diese Art von Kleidung, alle ihre Brüder und außer bei offiziellen Anlässen auch ihr Vater.

Dann fiel ihr etwas ein und sie hob mit einem Ruck den Kopf. »In einer Stunde?«, vergewisserte sie sich. Gertrud nickte und das Lächeln auf ihrem gütigen alten Gesicht wurde noch wärmer.

»Aber dann müsste man sie ja schon fast sehen können!«, rief Elisa aus.

»Spätestens wenn sie aus dem Wald kommen«, bestätigte Gertrud. »Aber es zieht schlechtes Wetter auf und Ihr solltet Euch besser … «

Was immer sie noch hatte sagen wollen, behielt sie für sich, denn Elisa hätte es sowieso nicht mehr gehört. Sie war längst aus dem Zimmer, flitzte wie ein Wirbelwind den Flur entlang und steuerte den großen Turm am Nordende des Schlosses an. So schnell, dass ihr oben angekommen schon ein bisschen schwindelig war, hüpfte sie die gewundene Treppe hinauf und stürmte auf die von fast mannshohen Zinnen gekrönte Plattform hinaus.

Gertrud hatte recht gehabt: In der Zeit, in der sie in ihrer Kammer gesessen und vergeblich mit Worten gerungen hatte, war das Wetter schlechter geworden. Ein kalter Wind blies ihr von Osten her ins Gesicht und zerstrubbelte ihr Haar, und aus derselben Richtung schoben sich bauchige schwarze Wolken über den Himmel, in denen es unheimlich wetterleuchtete. Hätte ihr in diesem Moment der Sinn danach gestanden, dann wäre es ihr zweifellos wie ein böses Omen vorgekommen. Aber dazu war sie viel zu aufgeregt. Gute oder schlechte Neuigkeiten waren rar auf einem Schloss, in dem das Leben vielleicht bequem, aber auch ziemlich eintönig war; um nicht zu sagen: langweilig.

Heftig genug, dass es ihr mit einem leisen Ächzen die Luft aus den Lungen trieb, prallte sie gegen die steinerne Brustwehr und sah mit klopfendem Herzen nach Osten.

Nicht nur die Wetterfront näherte sich aus dieser Richtung. Elisa war gerade im richtigen Moment gekommen, um den kleinen Tross zu sehen, der am unteren Ende des gewundenen Pfades aus dem Wald hervorbrach, der Schloss und Stadt ihres Vaters wie ein wogendes grünes Meer in allen Richtungen umgab. Es war ein beeindruckender Anblick. Elisa konnte nur nicht sagen, ob er nun einfach nur beeindruckend oder schon ein bisschen furchteinflößend war: Insgesamt waren es fünf Wagen, vier davon schwere, hoch mit Kisten und Fässern beladene Fuhrwerke, der fünfte und in der Mitte fahrende eine wuchtige Kutsche, die von einem halben Dutzend nachtschwarzer Pferde gezogen wurde.

Überhaupt war alles an der sonderbaren Kolonne schwarz oder doch zumindest dunkel: die Wagen, die Ochsen und Pferde, die sie zogen, und selbst die Kleidung des guten Dutzends Reiter, die den Tross eskortierten. Sie waren noch zu weit entfernt, um Einzelheiten zu erkennen, aber Elisa meinte dennoch zu sehen, dass es sich um ausnahmslos groß gewachsene und auch bewaffnete Männer handelte, und wenn das stimmte, dann war es wirklich ein bisschen unheimlich, denn warum sollte ihre zukünftige Stiefmutter mit einer ganzen Armee zu ihrer Hochzeit anreisen?

Elisa erinnerte sich gerade noch rechtzeitig an Gertruds Warnung, sich ihre eigene Meinung zu bilden, und beantwortete sich auch gleich ihre eigene Frage: weil Nessa eine weite und gefahrvolle Reise aus ihrer Heimat hinter sich hatte und ein Wagenzug wie dieser durchaus dazu angetan war, allerlei Gesindel oder sogar Räuber anzulocken.

Lärm und das Lachen heller Kinderstimmen drangen in ihre Gedanken, und Elisa beugte sich vor, um in den Hof hinabzusehen, wo sich gerade etwas tummelte, das durchaus auch als kleine Armee durchgehen konnte. Aber es waren nur ihre Brüder, elf an der Zahl, die die Neuigkeit auch gehört haben mussten und nun im Burghof zusammenliefen, um ihre Gäste zu begrüßen. Von der Höhe des Turms herab betrachtet, war es selbst für Elisa schwer, sie auseinanderzuhalten, denn alle waren auf dieselbe Art gekleidet, und alle hatten dasselbe lockige Blondhaar, das sie von ihrer Mutter geerbt hatten; genau wie auch Elisa selbst. Tatsächlich hätte man sie glatt für Zwillinge (oder um genau zu sein: Zwölflinge) halten können, hätten zwischen Elisa als der Jüngsten und ihrem ältesten Bruder Mattis nicht auch zwölf Jahre gelegen.

Das Gefühl, nicht mehr allein zu sein, ließ Elisa ihre Beobachtung unterbrechen und sich umdrehen. Sie erwartete, Gertrud zu erblicken, die den langen beschwerlichen Weg die Treppe herauf in Kauf genommen hatte, um sie daran zu erinnern, dass zum Empfang ihres hohen Besuchs noch gewisse Vorbereitungen zu treffen waren.

Stattdessen war es jedoch Johann, ihr jüngster Bruder – der immer noch ein Jahr älter war als sie und auch keine Gelegenheit ungenutzt verstreichen ließ, sie daran zu erinnern. Dass er bei der Meute unten im Hof gefehlt hatte, war ihr gar nicht aufgefallen, wunderte sie aber im Nachhinein kaum. Johann war nicht nur der jüngste ihrer Brüder, sondern auch der stillste, der selten an den manchmal derben Spielen der anderen teilnahm und lieber für sich blieb. Vielleicht lag es an seinem Arm, den er sich im Alter von kaum einem Jahr – nur ein paar Tage vor Elisas Geburt – gebrochen hatte. Er war nie wieder richtig zusammengewachsen, sodass er ihn seither verkrüppelt und nutzlos in einer Schlinge trug. Niemand aus der Familie hatte sich je abfällig darüber geäußert, nicht einmal Mattis, der manchmal zu wirklich derben Scherzen neigte, aber Elisa wusste, wie sehr Johann darunter litt. Manchmal, wenn sie nachts im großen Schlafsaal des Schlosses lag und alle schliefen, hörte sie ihn leise weinen, obwohl es doch gar keinen Anlass dafür gab. Auch darüber hatte sie nie ein Wort verloren, aber vielleicht war es ja der Grund, weshalb sie von allen ihren Brüdern Johann am meisten ins Herz geschlossen hatte. Auch jetzt erschien wieder ein Lächeln auf ihrem Gesicht, ohne dass sie selbst es auch nur merkte.

»Wusste ich doch, dass ich dich hier finde«, sagte ihr Bruder und zog eine Grimasse, die Elisa nicht richtig deuten konnte. »Willst du nicht runterkommen, um unsere neue Mutter zu begrüßen?«

Es lag Elisa auf der Zunge zu antworten, dass sie nicht ihre Mutter war und auch niemals werden würde, aber da war etwas in Johanns Stimme, das sie die Worte lieber für sich behalten ließ. »Das klingt aber nicht so, als würdest du dich freuen.«

»Sollte ich das?« Johann trat neben sie und fixierte den näher kommenden Wagenzug aus eng zusammengekniffenen Augen. Sein verkrüppelter Arm bewegte sich, und aus irgendeinem Grund musste Elisa plötzlich an einen sonderbaren großen Vogel denken, der vergeblich versuchte, sich mit einer gebrochenen Schwinge in die Luft zu erheben. Es war ein unheimliches Gefühl, das ihr ein bisschen Angst machte.

»Und warum nicht?«, fragte Elisa.

Johann gab ein trotziges Schnauben von sich, das in Elisas Ohren ebenfalls wie das Tschilpen eines großen, zornigen Vogels klang. »Sieh dir das doch an!«, sagte er mit einer Kopfbewegung auf den langsam näher kriechenden Wagenzug. Ein bisschen erinnerte der Anblick Elisa an einen gefräßigen schwarzen Riesenwurm, der sich dem Schloss näherte. »Die Leute sagen, sie wäre eine Hexe, und ich glaube, sie haben recht.«

»Rede nicht so!«, sagte Elisa streng. »Du kennst sie doch gar nicht!«

»Muss ich auch nicht«, versetzte Johann. »Schau es dir doch an! Ist das eine Art, zum ersten Mal bei seiner neuen Familie zu erscheinen?«

Elisa hätte ihm ja gerne widersprochen. Aber das konnte sie nicht.

Fast auf die Minute genau mit Ablauf der Frist, die Gertrud vorausgesagt hatte, erreichte der Wagenzug die Burg, und hätte es überhaupt noch eines Beweises bedurft, dass an Elisas ungutem Gefühl etwas dran war, dann wäre es die Art gewesen, auf die die Ankömmlinge sie in Besitz nahmen.

Der Burghof war wie die gesamte Burg (die ihr Vater oft voller Stolz als sein Schloss bezeichnete) nicht besonders groß. Jetzt hatte sich der karge Hof mit Menschen gefüllt, sodass man kaum noch wusste, wo man hintreten sollte. Nicht nur Elisas Vater und alle ihre Brüder waren gekommen, um die neue Königin zu begrüßen, auch alle Bediensteten und selbst die vier Soldaten (aus denen das gesamte Heer ihres Vaters bestand) hatten ihre Posten verlassen und waren hier zusammengelaufen. Elisa, die zusammen mit Johann als Letzte auf den Hof hinaustrat, hatte im ersten Moment beinahe Mühe, sich auch nur einen Weg zum Tor zu bahnen, aber natürlich machte ihnen jeder Platz, sodass sie gerade noch rechtzeitig ankamen. Und was sie beobachtete, das war … na ja, bemerkenswert.

Johann und sie hatten der kleinen Kolonne noch eine ganze Weile zugesehen. Sie hatte sich den gewundenen Pfad zur Stadt und dann über die breite, ordentlich gepflasterte Straße (die der größte Stolz ihres Vaters war) zum Schlosstor heraufbewegt, und natürlich waren alle zusammengelaufen, um die Besucher zu begrüßen und nebenbei neugierig anzugaffen. Elisa war jedoch weder entgangen, dass die schwarz gekleideten Reiter eifersüchtig (und wenn es sein musste, auch ziemlich rabiat) darüber wachten, dass niemand der Kutsche nahe kam, als wollten sie verhindern, dass man sah, wer sich hinter den zugezogenen Gardinen verbarg. So war sie auch nicht überrascht, dass es vier der schwarz gepanzerten Krieger waren, die als Erste durch das Tor geritten kamen und mit ihren gewaltigen Schlachtrossen einen Halbkreis bildeten, in den die schwarze Kutsche hineinrollte. Als einer der Bediensteten ihres Vaters einen Schritt auf die Kutsche zumachte, um seiner Pflicht nachzukommen und ihren Insassen beim Aussteigen behilflich zu sein, stieß ihn einer der Reiter grob zurück und ein anderer zog sogar sein Schwert. Ringsum erhob sich ebenso erschrockenes wie unwilliges Murren, und vielleicht wäre es auch noch schlimmer gekommen, hätte Elisas Vater nicht rasch die Hand gehoben und mit einer entsprechenden Geste für Ruhe gesorgt. Zugleich trat er auf den Reiter zu, der den armen Bediensteten so grob behandelt hatte, und zwang einen leicht verärgerten, aber nicht zu strengen Ausdruck auf sein Gesicht.

»Ich bitte Euch!«, sagte er scharf. »Was ist das für ein Benehmen? Ihr seid Gäste auf meinem Schloss und solltet euch auch wie solche betragen!«

Und nicht wie Eroberer, fügte Elisa in Gedanken hinzu, denn genau diesen Eindruck erweckte das halbe Dutzend Bewaffneter, und das offensichtlich nicht nur auf sie, denn das unwillige Murren und Flüstern ringsum wurde nun deutlich lauter. Einer der Soldaten ihres Vaters legte gar die Hand auf den Schwertgriff, doch nichts von alledem schien das halbe Dutzend Reiter auch nur im Geringsten zu beeindrucken. Elisa las allenfalls so etwas wie Verachtung auf ihren Zügen, aber auch eine kalte Aufmerksamkeit, die sie in ihrer allerersten Einschätzung nur noch bestärkte.

Bevor der Reiter etwas auf die Worte ihres Vaters erwidern konnte, ging die Tür der Kutsche auf und drei ganz in Schwarz gekleidete Frauen stiegen aus. Zwei von ihnen waren noch sehr jung – kaum älter als Elisa selbst, schätzte sie, und ausgesprochen hübsch –, die dritte dafür umso älter. Sie trug ein kostbares Kleid aus schwarzer Spitze und musste sich beim Gehen auf einen Stock mit einem goldenen Knauf in Form eines Löwenkopfes stützen. Ihr Gesicht verbarg sie hinter einem schwarzen Schleier, der wenig mehr als ihre Augen frei ließ. Doch Elisa konnte trotz der noch großen Entfernung und des Schleiers erkennen, wie alt diese Augen waren und wie wenig Güte ihnen innewohnte. Sie musste nicht fragen, um zu wissen, wem diese Augen gehörten.

»Aber das kann doch nicht sein«, flüsterte Johann neben ihr. »Ich meine, unser Vater kann doch nicht diese … «

Aber offensichtlich konnte er und er tat es auch. Ohne auf die finsteren Blicke der bewaffneten Reiter zu achten, ging er mit schnellen Schritten auf die drei Frauen zu. Einer der Krieger wollte ihm mit seinem Pferd den Weg verstellen, ließ aber von seinem Vorhaben ab, als Nessa eine kaum merkliche Bewegung mit der linken Hand machte. Mit der anderen schlug sie den Schleier vor ihrem Gesicht beiseite, und nun war Johann nicht der Einzige, der ein überraschtes Keuchen von sich gab.

Nessa war nicht nur alt – das hatte man schon an ihren Augen und ihrer gebückten Haltung gesehen –, sie war uralt, hatte verschrumpelte Haut und ein Gesicht, das nur aus Runzeln und Falten zu bestehen schien, und war so abgrundtief hässlich, dass sich Elisas Magen bei ihrem Anblick schier umdrehte. Und das sollte die Frau sein, die sich ihr Vater als neue Gemahlin ausgesucht hatte? Sie war alt genug, um seine Großmutter sein zu können! Um ein Haar hätte sich Elisa die Augen gerieben, um sich zu überzeugen, dass sie nicht schlief und nur einen besonders üblen Traum erlitt.

Doch wenn, dann war es einer, den alle hier träumten. Das ungläubige Raunen und Murren ringsum nahm noch einmal zu und wurde zu einem regelrechten Chor aus Staunen, Erschrecken, aber auch ein bisschen Empörung, und als Elisa sich rasch umsah, da erblickte sie auch auf den Gesichtern ihrer Brüder nichts als völlige Fassungslosigkeit.

Dann sah sie etwas, das ihr noch viel unglaublicher erschien: Mit jedem Schritt, den sich ihr Vater den drei schwarz gekleideten Frauen näherte, hellte sich sein Gesicht weiter auf und seine Haltung straffte sich. Am Ende breitete er die Arme aus und lächelte so strahlend wie ein kleiner Junge beim Anblick eines süßen Kandiskuchens, und zweifellos hätte er die Alte auch sofort in die Arme geschlossen, wäre nicht eine ihrer jüngeren Begleiterinnen im letzten Moment dazwischengetreten und hätte ihn mit einem so strengen Blick gemessen, dass er mitten in der Bewegung erstarrte.

»Ich bitte Euch, mein Herr!«, sagte sie scharf. »Ob Ihr nun ein König seid oder nicht, wisst Ihr denn nicht, was sich gehört?«

Elisas Vater blinzelte verdutzt über diese unverschämte Art, und das unwillige Murren und Raunen ringsum nahm noch einmal eine neue Qualität an, doch nun war es Nessa, die mit einer raschen Bewegung für Ruhe sorgte und sogar so etwas wie ein verzeihendes Lächeln auf ihr zerknittertes Gesicht zauberte, auch wenn es Elisa eher wie die Karikatur eines solchen vorkam.

»Verzeiht meiner Zofe, mein lieber zukünftiger Gemahl«, sagte sie mit einer schrillen Fistelstimme, die an das Geräusch von Fingernägeln auf Glas erinnerte. »Sie neigt leider dazu, gar zu leicht über das Ziel hinauszuschießen. Und doch hat sie recht, fürchte ich. Solange wir nicht offiziell vermählt sind, geziemt es sich nicht, dass Ihr Euch mir so weit nähert.«

»Äh … ja, natürlich, meine Königin«, stammelte der König. »Es war nur … «

»Eure überschwängliche Freude, mich wiederzusehen, ich weiß«, unterbrach ihn Nessa. Ihr Lächeln geriet zu etwas, bei dessen bloßem Anblick es Elisa kalt über den Rücken lief, zumal sie dabei zwei Reihen der schlechtesten faulen Zähne erblickte, die ihr jemals untergekommen waren. »Ich kann Euch nur zu gut verstehen, mein lieber Freund, doch ich muss Euch noch um ein wenig Geduld bitten. Die Reise war weit und anstrengend und ich brauche ein wenig Ruhe. Ihr seid mir doch nicht böse, wenn ich Euch bitte, unsere Vermählung auf heute Abend zu verschieben?«

»Heute Abend?!«, ächzte Elisa. Neben ihr schnappte Johann nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen, und darüber hinaus lief eine Welle allgemeinen Erschreckens durch den ganzen Hof. Unmutsäußerungen wurden laut, und jemand begann etwas Unflätiges zu rufen und verstummte augenblicklich wieder, als Nessa einen scharfen Blick in seine Richtung abschoss. Gleich darauf schenkte sie dem König jedoch ein weiteres zahnlückiges Lächeln, machte einen halben Schritt zurück und stampfte mit ihrem Stock auf, und etwas durch und durch Unheimliches geschah: Mit jedem Klopfen ihres löwenköpfigen Gehstocks wurde es stiller auf dem überfüllten Hof; und da schien noch etwas anderes und Unsichtbares zu sein, das die pochenden Laute begleitete. Elisa meinte regelrecht zu spüren, wie etwas ihre Seele und ihre Gedanken berührte und sie veränderte, auf eine Art, die sie nicht verstand, die ihr aber große Angst machte. Ihre Gedanken begannen sich zu verwirren, wurden eingelullt und zu etwas anderem geformt, das auf schreckliche Weise falsch war.

Und es erging nicht nur ihr so: Wohin sie auch sah, erblickte sie nichts als Verwirrung und eine sonderbare Benommenheit auf den Gesichtern ringsum, selbst auf denen ihrer Brüder.

»Aber natürlich macht es mir nichts aus, meine Liebe«, sagte ihr Vater, und ein so strahlendes Lächeln erschien auf seinem Gesicht, dass sich Elisas Herz zu einem harten Ball reinen Entsetzens zusammenzuziehen schien. »Auch wenn es mir schwerfällt, auf diesen glücklichsten Moment meines Lebens zu warten, wie Ihr Euch sicher denken könnt.«

»Nichts anderes hätte ich erwartet, mein König.« Nessa kicherte mit ihrer schrillen Hexenstimme und drohte ihm spielerisch mit einem Zeigefinger, der so dürr und verschrumpelt war wie ein in der Sonne vertrockneter Ast. »Und ich weiß Euer Opfer zu schätzen. Doch nun seid so gut und weist meinem Gefolge eine Unterkunft zu … und jemand sollte sich um mein Gepäck kümmern, meint Ihr nicht?«

»Selbstverständlich!«, sagte der König erschrocken. Hastig fuhr er auf dem Absatz herum, klatschte ein paar Mal in die Hände und fuhr mit strenger und weithin tragender Stimme fort: »Ihr habt eure zukünftige Königin gehört! Zeigt ihren Bediensteten ihre Unterkünfte und bringt die Wagen in die Remise. Beeilt euch und macht mir keine Schande! Vor euch steht eure zukünftige Königin!«

Augenblicklich brach überall auf dem Hof hektische Aktivität aus. Diener eilten herbei, halfen den Kriegern der Königin aus den Sätteln und führten ihre Pferde weg, und andere kümmerten sich um die Kutsche, schirrten die nachtschwarzen Zugtiere aus und luden zwei eisenbeschlagene Kisten ab, die so schwer waren, dass es jeweils zweier kräftiger Männer bedurfte, um sie zu tragen. Und kaum war das geschehen, da stampfte Nessa erneut mit ihrem Stock auf, und nun rollten auch die vier von Ochsen gezogenen Fuhrwerke in den Hof. Sie waren so hoch beladen, wie Elisa es bereits vom Turm aus gesehen hatte, doch etwas mit dieser Ladung … stimmte nicht. Sonderbarerweise konnte Elisa nicht sagen, was damit nicht in Ordnung war, doch sie hatte das unheimliche Gefühl, dass all diese Kisten, Ballen und Fässer nicht das waren, was sie zu sein vorgaben.

Während weitere Bedienstete herbeiströmten und mit der Arbeit anfingen, das kleine Gepäck abzuladen, mit dem Königin Nessa reiste, begann der König aufgeregt mit den Armen zu fuchteln, um seine Familie um sich zu versammeln.

Elisa war die Letzte, die sich in den Kreis gesellte, und sie musste sich zu jedem einzelnen Schritt zwingen. Nessa war so alt und hässlich, dass ihr fast schon dabei übel wurde, sie nur anzusehen. Elisa erinnerte sich an Gertruds Ermahnung und sagte sich selbst, dass Nessa weder für das eine noch das andere etwas konnte. Jedermann wurde alt und längst nicht alle waren von der Natur mit Schönheit gesegnet.

Aber es nutzte nichts. Es war nicht ihr verhutzeltes Antlitz, dessen Anblick sie so abstieß. Unter der faltigen Haut schien eine innere Hässlichkeit zu lauern, etwas, das nicht zu sehen war, aber dafür umso deutlicher zu spüren, als bestünde Nessas Inneres nur aus Neid, Gier und Gestalt gewordener Schlechtigkeit. Elisa versuchte vergeblich, sich in Gedanken zur Ordnung zu rufen. Was sie fühlte, war ungerecht, dumm und auch ziemlich gemein. Aber es war nun einmal so, basta.

»Meine Diener bereiten gleich ein Zimmer für Euch und Eure Zofen vor, damit Ihr Euch von der anstrengenden Reise erholen könnt, Nessa«, sagte Elisas Vater. »Doch bis es so weit ist, könnt Ihr die Zeit nutzen, um meine Kinder kennenzulernen.«

»Kinder?« Nessa blinzelte, als wüsste sie mit diesem Wort nichts Rechtes anzufangen. Dann nickte sie zögernd. »Ach ja, ich erinnere mich, dass Ihr Kinder erwähnt habt.« Ihr Blick tastete aufmerksam über das Dutzend Gesichter, das sie umgab, und schließlich nickte sie noch einmal. »Das sind … eine Menge.«

»Zwölf«, sagte der König stolz.

»Zwölf!«, ächzte Nessa und sah sich noch einmal hastig um, als müsse sie sich mit eigenen Augen davon überzeugen, dass diese Zahl auch der Wahrheit entsprach.

Elisa räusperte sich unecht, und ihr Vater beeilte sich, auf sie zu deuten und Nessa zu korrigieren: »Es sind elf Söhne und eine Tochter. Das ist Elisa, die Jüngste. Und ihre Brüder Johann, Markus, Heinrich, Franz, Theodor, Peter, Hans, Jakob, Klaus und Adalbert, und schließlich Mattis, der Älteste.«

Nessa nickte zwar bei jedem einzelnen Namen, aber ihr Blick ließ Elisas Gesicht dabei nicht los, und Elisa hatte auch nicht das Gefühl, dass sich Nessa die Mühe machte, sie sich zu merken. So alt ihre Augen auch waren, war ihr Blick doch stechend und so durchdringend, dass Elisa das Gefühl hatte, bis auf den Grund ihrer Seele durchleuchtet zu werden. Es gab keinen Gedanken, kein noch so gut gehütetes Geheimnis, das diesen unheimlichen Augen verborgen blieb. Und es war auch Nessa, deren Blick den ihren endlich losließ, nicht etwa Elisa, die den unheimlichen Bann aus eigener Kraft zu brechen vermochte.

»Du bist also Elisa«, sagte Nessa schließlich. So wie sie den Namen aussprach, klang er in ihren Ohren fast wie ein Fluch. »Da muss man aber dreimal hinsehen, um zu erkennen, dass du ein Mädchen bist.«

Elisa antwortete gar nicht darauf, sah aber demonstrativ an sich herab. Sie hatte sich umgezogen, ganz wie Gertrud es von ihr verlangt hatte, und trug nun saubere Wadenhosen, Stiefel und Bluse. Was war denn daran auszusetzen?

Als hätte sie ihre Gedanken gelesen (und irgendetwas sagte Elisa mit schrecklicher Gewissheit, dass sie genau das hatte), fuhr Nessa fort: »Du bist eine Prinzessin, mein Kind. Irgendwann einmal wirst du eine Königin sein. Du solltest dich schon so kleiden, dass man diesen kleinen Unterschied sieht und dich nicht etwa für einen deiner Brüder hält, meinst du nicht?«

Jetzt wollte Elisa widersprechen, doch Nessa brachte sie mit einer raschen Handbewegung zum Schweigen, die es ihr vollkommen unmöglich machte, auch nur ein einziges Wort zu sagen.

»Aber das wird sich ändern, wenn ich erst einmal die Stelle eurer Mutter eingenommen habe«, fuhr sie fort und seufzte dann tief. »Man merkt wirklich, dass in diesem Haus die Hand einer Frau fehlt. Auch das wird sich ändern. Überhaupt«, fügte sie mit einem weiteren und noch tieferen Seufzen hinzu, »wird sich hier eine Menge ändern.«

Niemand sagte etwas dazu, doch Elisa konnte ein eisiges Frösteln nun nicht mehr unterdrücken; nicht einmal so sehr wegen dem, was Nessa gesagt hatte.

Viel unheimlicher fand sie die Frage, wieso sie eigentlich die Einzige zu sein schien, der diese Worte Angst machten.

Noch beinahe bis Sonnenuntergang versuchte sich Elisa einzureden, dass ihre unheimliche Besucherin nur einen Scherz gemacht hatte, als sie davon sprach, dass die Vermählung noch am selben Abend stattfinden sollte, und sie hätte auch ihre rechte Hand (oder jedes beliebige andere Körperteil) darauf verwettet, dass es ganz und gar unmöglich war, eine Hochzeit – noch dazu die eines Königspaares – in so kurzer Zeit vorzubereiten.

Aber es war kein Scherz gewesen, und es war möglich, auch wenn sich das gesamte Schloss und die dazugehörige Stadt in ein Tollhaus zu verwandeln schienen, um dieses kleine Wunder zu bewerkstelligen.

Ach ja, und dass sich die Dinge hier im Schloss änderten, bekam Elisa schon nach wenig mehr als einer Stunde zu spüren.

Sie hatte noch eine ganze Weile versucht, zuerst mit ihrem Vater und dann – mit einem nach dem anderen und ohne auch nur einen einzigen auszulassen – mit ihren Brüdern zu sprechen, aber es war bei allen dasselbe gewesen und auch bei den Bediensteten, die sie danach angesprochen hatte: Mit wem auch immer sie über die angebliche Königin Nessa hatte reden wollen, der hatte sie nur verständnislos angesehen und dann mit einem glückseligen Lächeln geantwortet, dass sie da irgendetwas falsch verstanden haben musste und Königin Nessa doch eigentlich ganz bezaubernd sei und ganz bestimmt keine böse Hexe, wie die Leute behaupteten, und überhaupt das Beste, was ihrem Vater und dem ganzen Königreich passieren konnte.

Was sie ganz gewiss nicht war, war das Beste, was Elisa hatte passieren können, und das wurde ihr spätestens klar, als sie vor der Tür ihres Zimmers stand und diese verschlossen war.

Noch ungestümer als sonst war sie den Flur entlanggeflitzt und hatte die Klinke heruntergedrückt, und der unerwartete Widerstand kam so plötzlich, dass sie zurückprallte und weder merkte, dass sie das Gleichgewicht verlor und beinahe gestürzt wäre, noch dass sie sich gleich mehrere Fingernägel abgebrochen hatte – auch wenn es ziemlich wehtat.

Die Tür war verschlossen? Aber das … das war unmöglich! Diese Tür war noch niemals abgeschlossen gewesen, solange sie sich zurückerinnern konnte!

Jetzt war sie es.