Cover

Inhaltsübersicht

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, November 2014

Copyright © 2014 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung ZERO Werbeagentur, München

Umschlagillustration Patrick Wirbeleit

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Printausgabe 978-3-499-62909-9 (1. Auflage 2014)

ISBN E-Book 978-3-644-53481-0

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-53481-0

Es geht los: Kurzer Überblick über die bucklige Verwandtschaft

Weihnachten ist lustig. Deshalb lieben wir es. Und genießen jede Minute. Okay, vielleicht nicht jede einzelne Minute. Und wohl auch nicht jeden einzelnen Gast, der zu Besuch kommt. Genau genommen wäre das Fest schöner ohne diese eine Schwägerin und ohne den gewissen Onkel. Die beiden kommen trotzdem. Auf ein paar kreischige Kleine könnten wir ebenfalls verzichten. Aber sie sind dabei.

Bei manchen Gestalten wissen wir nicht mal, ob sie wirklich mit uns verwandt sind. Aber sie kommen. Je mehr Gäste eintreffen, einander Küsschen geben, schief lächeln, Witze machen, Kontaktlinsen verlieren, sich zerstreiten, fluchend aus dem Haus laufen, frierend zurückkehren und andere mitbringen – desto unklarer wird, wer zu unserem Patchwork gehört, wer nur so tut und wer sich in der Tür geirrt hat.

Wollen wir mal kurz sortieren? Da ist die Mutter, die die Kinder unter Schmerzen geboren, gestillt, gewickelt und gepäppelt hat, wenn sie auch nicht in jedem Fall mit der späteren Entwicklung einverstanden ist. Aus diesem oder jenem hätte mehr werden können. Doch sie hält Weihnachten für ein Fest des Verzeihens, der Wärme und des Beisammenseins. Und sie hat die eigentümliche Idee, dass Geschenke von Herzen kommen sollten. Vorsicht – sie ist schnell verstimmt und nutzt dann die vagen Schuldgefühle der anderen zur Herrschaft. Dann der Vater, offiziell Erzeuger einiger Kinder; bei einem wird er zunehmend unsicher. Er wollte ursprünglich gar keine Familie gründen, ist da mehr so reingerutscht, fühlt sich zu Weihnachten körperlich unwohl und versucht, wohlwollende Distanz zu halten. Er verteidigt einen Rest Souveränität, indem er sich kritisch über den Rummel äußert und das Fest als total kommerzialisiert bezeichnet, hat jedoch den Weihnachtsbaum besorgt und gibt sich in belastenden Momenten noch mal als echt strenger Erzieher.

Dann gibt es da so einen Sohn, der sich auf der Feier wie auf einem anderen Stern fühlt. Er will möglichst bald zur Anti-Feier, möchte aber vorher noch gründlich abkassieren. Er äußert angelesene politische Vorstellungen, singt nicht mit, hält sich für total überlegen und eignet sich deshalb großartig für Mobbingübungen. Seine Schwester ist tagelang durch die Shopping Malls gestreift, wollte cool bleiben, ist aber doch von Sehnsucht und Kuschelstimmung infiziert worden. Bei ausbleibender Wunscherfüllung provoziert sie eine tränenreiche Auseinandersetzung, behält aber durch die zerfließende Schminke hindurch ihren Facebook-Account im Auge und liest vor, was ihre Freundinnen gerade posten.

Der Großvater wundert sich seit vielen Jahren, dass er schon Großvater ist, und versucht immer noch zu verstehen, wie es so weit kommen konnte. Er wird es nie kapieren. Er ist zufrieden, wenn sich die Schenkerei finanziell regeln lässt, und will im Übrigen nur essen und nicht in Gespräche gezogen werden. Trägt dann leider selbst zum Tischgespräch bei, indem er seine Beschwerden im Urogenitalbereich beschreibt. Die liebe Großmutter sieht nach eigener Einschätzung erheblich jünger aus und wurde nach eigener Auskunft schon mehrmals für die Mutter ihrer Enkel gehalten. Ist in Wirklichkeit eindeutig die Alte im Abwärtstrend. Sie weiß recht präzise, wie man Kinder erziehen muss, hält sich aber zurück und gibt den Eltern lediglich diskrete Hinweise, das jedoch ununterbrochen.

Ein obskurer Onkel beginnt anfangs unbeobachtet, später unverhohlen mit dem Hinunterschütten betäubender Flüssigkeiten. Diese Schnäpse, erklärt er, förderten seine Gesundheit. Im fortgeschrittenen Stadium erkundigt er sich bei den jüngeren Anwesenden, ob sie ihren Organspendeausweis griffbereit hätten. Er möchte den ganzen Abend die Nichte auf dem Schoß halten. Die Tante hat Kinderfotos mitgebracht, weil das damals doch die schönste Zeit war. Motto: Hier, ratet mal, wer das ist! Und das? Da kommt ihr nicht drauf! Die Tante kennt das Weihnachtsoratorium, Teile 1 bis 3, und hat spirituelle Erlebnisse gehabt, über die sie nur mit Berufenen redet; zu später Stunde leider mit allen. Wer auf sie hört, wird im nächsten Leben auf einer höheren Stufe wiedergeboren, möglicherweise sogar an ihrer Seite.

Ein Cousin unklarer Herkunft brütet vor sich hin. Er gilt als traumatisiert, seit er im Kindergarten mit angeklebtem Bart den Joseph spielen musste. Jetzt kaut er Nägel und lässt durchblicken, dadurch lebe er die Schattenseiten seiner Eltern aus. Er wirkt latent schmuddelig, tendenziell verwahrlost und müsste vielleicht mal eine vernünftige Frau kennenlernen oder einfach irgendwann anfangen zu arbeiten. Die Cousine hat beim Friseur eine Zeitschrift gelesen, die sie sonst nie liest; im Horoskop stand, sie solle ihre eigenen Bedürfnisse artikulieren. Sie hegt verschwommene Herzenserwartungen und rekelt sich in der Sehnsucht nach Zuwendung. Sie hält ihre Magersucht für überwunden, hat aber noch Anspruch auf einen Therapieplatz.

Der Neffe will am Abend von der Patentante reiche Ernte einfahren und bietet als Gegenleistung streifige Computerausdrucke von zusammengeschusterten Collagen; zu erkennen sind Druiden, Drachen und Battle-Figuren des Onlinespiels, dem er seine Lebenszeit widmet. Er sitzt herum, nimmt Platz ein und atmet Luft weg, mit der andere mehr anfangen könnten. Die Nichte löst bei Onkeln und Cousins stille Phantasien aus. Ihretwegen hat sich die Zusammenkunft für manchen überraschend gelohnt, der jetzt so tut, als fotografiere er nur den Weihnachtsbaum. Sie hat angeblich weder die Lippen aufspritzen noch Implantate machen lassen. Sie wird aufgefordert, den Pullover auszuziehen, es sei doch so warm.

Der Schwager ist nur versehentlich angeheiratet. Er betrachtet sich als Opfer der Familie. Aus Rache bringt er Reizthemen auf den Tisch und erfreut sich am folgenden Streit. Er verbreitet unüberprüfbare Informationen über schädliche Rückstände in Weihnachtsbäumen und in Bienenwachskerzen sowie über Nahrungsmittelgifte in Spekulatius, Zimtsternen und Marzipan. Der am schwersten zu entsorgende Schadstoff ist er selbst. Die Schwägerin gibt bekannt, dass die Frauen jetzt die Regie übernehmen müssten, womit sie sich selbst meint. Live und vor aller Augen faltet sie eine Serviette zu etwas, das ein Schwan, eine Bischofsmütze, eine Lilie oder ein Osterhase sein könnte. Sie verschenkt Blumentöpfe, die sie mit Serviettentechnik verziert hat, und verweist auf eine Ausstellung ihrer Aquarelle in der Rats-Apotheke.

Die Enkelin ist eine sogenannte Süße. Sie kann sich darauf verlassen, dass alle ihr nachgeben. Schon in der Wiege hat sie eine lautstarke Anspruchshaltung entwickelt. Die Wartezeit aufs Christkind füllt sie mit Quengeleien in quälender Tonlage. Sie saugt am eigenen Zeh und knabbert an ihren Nägeln. Der Enkel gilt als zukünftiger Entdecker und Ingenieur. Forschend bedeckt er schon mal den neuen Plasmafernseher mit Abdrücken seiner Klebehändchen. Er gießt Kakao über die Fernbedienung, reinigt sie mit Kräutertee und bemalt mit Fingerfarben den Touchscreen des neuen Tablets. In die Schlitze der wichtigsten technischen Geräte hat er Legosteine und Mikadostäbchen gesteckt, sodass sich weder Musik noch Filme abspielen lassen.

Ach ja, da ist natürlich die Schwiegermutter, zu erkennen an der Frisur einer evangelischen Pfarrersfrau. Sie ist fest davon überzeugt, dass sie gar nicht so schlimm ist wie ihr Ruf. Erteilt dann aber doch Ratschläge zur Lebensführung und mahnt Tischmanieren an. Sie schwört auf Montessori oder anthroposophische Pädagogik und arbeitet selbst seit Jahren an der Vervollkommnung ihrer Persönlichkeit. Ihretwegen eilen Minderbegabte in die Küche und atmen im Bratendunst tief durch oder fliehen auf den Balkon und stürzen sich ein Stockwerk tiefer, wo prollig Bier getrunken wird. Der Schwiegervater ist derjenige mit dem elefantösen Oberbauch. Er hat sich fest vorgenommen, sich an diesem Abend nicht aus der Ruhe bringen zu lassen, ernsthaft und klar zu bleiben, notfalls zu erläutern, wo seine Grenzen sind. Sagt aber nichts. Schaufelt sich lieber schweigend zu, während seine Frau von gutem und bösem Cholesterin spricht. Als Einziger macht er nicht mit beim abendlichen Vergnügen «Wir messen jetzt mal alle unseren Blutdruck».

Die Patentante ist alleinstehend, mit keinem Anwesenden verwandt und darüber sichtlich erleichtert. Sie erkauft sich Zuneigung durch Großzügigkeit. Sie hegt eine Neigung zu veganer Ernährung und kennt die Unterschiede zwischen Tofu, Seitan und Lupinensteaks. Sie streut mitgebrachtes Fleur de Sel aus der Camargue übers Essen. Es gibt noch einen Halbbruder, eine Promenadenmischung unklarer Herkunft. Er wolle, solange er in der Stadt sei, möglichst viele Freunde und Bekannte treffen, behauptet er. Jeder weiß, dass er weder Freunde noch Bekannte hat. Er kann sich nicht erklären, warum er alle Jahre wieder Deos und Seifen bekommt. Die Stiefschwester ist diejenige mit dem Tattoo. Sie erklärt sich selbst für verhaltensauffällig und führt das auf die frühkindliche Wunde der Ungeliebtheit zurück. Sie befindet sich mitten im Selbstfindungsprozess und posaunt als Neuigkeit hinaus, dass sie sich durch die Zuweisung der Geschlechterrollen unzureichend beschrieben fühlt.

Der Schwippschwager weiß von Beginn an nicht, wo er hier ist, und gibt sich früh die Kante. Lallt die anderen an, sie sollten vom Fernseher weggehen, weil da Breaking News kämen. Er möchte, dass die Welt untergeht, damit er wenigstens in diesem einen Punkt recht gehabt hat. Von Beruf ist er unkündbarer Oberstudienrat mit reduzierter Stundenzahl. Hinter vorgehaltener Hand wird er als früher normal und freundlich bezeichnet. Die Schwippschwägerin gilt als gefährlich, weil sie erklären kann, was eine Schwippschwägerin ist. Weiß außerdem, wieso der Neffe dritten Grades der Sohn der Cousine zweiten Grades ist und was der gemeinsame Urgroßvater damals getan hat und warum das niemals herauskommen darf. Sie hat Familiengeheimnisse auf Lager und muss unbedingt eingeladen werden, wenn der Abend Feuer bekommen soll und einigermaßen voraussehbar ist, wer gegrillt wird.

Und dann ist da noch ein Adoptivkind auf Identitätssuche. Früher soll es niedlich gewesen sein, was jedoch niemandem im Gedächtnis ist. Zu Weihnachten wünscht es sich, dass seine Adoptiveltern ihr eigenes Verhalten kritisch betrachten und denselben Therapeuten aufsuchen wie es selbst. Es möchte die Fragen diskutieren: Wo komme ich her? Wo gehöre ich hin? Warum habt ihr mir das angetan? Es wird behandelt wie ein rohes Bio-Ei. Dann, zu unser aller Bedauern, eine Witwe. Sie verschönt ihre Augen mit Hyaluron-Tränen und nimmt Schüßler-Salz Nr. 5 für Nerven und Psyche, seit sie unter Tinnitus leidet. Sie hält es für ihre Pflicht, Erinnerungen an frühere Feste zu rekapitulieren, als noch alle dabei waren, freut sich jedoch über die Anwesenheit junger Männer, denen sie auf den Hintern klatscht mit Ermahnungen wie «Fall nicht auf jedes Mädchen rein» oder «Komm bloß nicht unter die Räder». Und schließlich ist da noch ein Kuckuckskind. Muss sein! Denn laut Statistik sind dreizehn Prozent aller Bundesbürger Kuckuckskinder. Das heißt: Der Mann, den die Mutter als Vater ausgegeben hat, ist keineswegs der genetische Vater. Schon wenn zehn Personen feiern, ist einer ein Kuckuckskind. Wer wohl? Das ergibt ein heiteres Ratespiel, ganz im Sinne des Jesuskindes.

Ist Weihnachten nicht lustig? Wir lieben es. Wir genießen jede Minute! Los geht’s!

Lena Hach

Der immerwährende Weihnachtsbaum

Ich kann Ihnen schon jetzt sagen, dass Sie sich wundern werden, wenn Sie uns das erste Mal besuchen. Das geht allen so. Und ehrlich gesagt, kann ich es unseren Gästen nicht verdenken. Ich meine, da kommen sie in ein wunderbar aufgeräumtes Zuhause, laufen über blitzblankes Parkett geradewegs ins Wohnzimmer, betreten einen nahezu fusselfreien Teppich, und dann sehen sie dort – ja, was ist das eigentlich? Ist das nicht …? Kann es sein, dass …? Der 6. Januar liegt doch schon über ein halbes Jahr zurück! Spätestens da hätte das alte Ding doch eigentlich entsorgt werden sollen?!

Die irritierten Blicke nehme ich mittlerweile gelassen zur Kenntnis.

«Ja, richtig», sage ich und unterdrücke ein Gähnen. «Unser Weihnachtsbaum steht noch.»

Wobei «Weihnachtsbaum» ein zu großes und üppiges Wort scheint für das dürre Etwas, das entfernt Ähnlichkeit hat mit einem zu lang und zu krumm geratenen Spazierstock. Wären da nicht die Äste, die hilflos in alle Richtungen abstehen. Von Tannennadeln ist seit Fasching nichts mehr zu sehen.

Ich gebe es zu: Der Baum sah schon Weihnachten nicht besonders gut aus. Es war einer von denen, die man zum halben Preis kriegt. Wir feiern «Weihnachten der Inklusion», auch die Krummen und Buckligen dürfen kommen. Was sowohl auf die Nordmanntanne als auch meinen Schwiegervater zutrifft.

Matthias und die Kinder – das heißt die Zwillinge, denn die Kleine war noch zu klein – haben die Schwächen der Tanne gekonnt kaschiert. Matthias mit Hilfe der Kugeln, die von einem so schreienden Rot waren, dass sie alle Blicke auf sich zogen. Und die Jungs mit Hilfe dieser Salzteigwürste, die … nun ja … wegen ihrer Größe und Unförmigkeit auch nicht gerade zu übersehen sind. Über alles warf ich geschickt unsere Lichterkette, hundert Birnen, vorsorglich «warmweiß», da meine Schwiegermutter sich schnell geblendet fühlt. Ich wollte vermeiden, dass sie uns und dem Baum an Heiligabend den Rücken zukehrt. Alles schon vorgekommen.

Es ist möglich, dass Sie beim Anblick unseres Tannenskeletts nicht an einen Spazierstock denken, sondern vielleicht eher an eine essgestörte Vogelscheuche, die so jämmerlich auftritt, dass sie nicht mal einen Spatz vertreiben würde. Mein Vater, der sich für kunstverständig hält, nennt den Baum «unseren Giacometti». Diese Sicht wertet die Tanne ein wenig auf.

Wenn unsere Gäste sich sattgesehen haben, gehe ich meist dazu über, unsere ganz eigene Weihnachtsgeschichte zu erzählen. Die Kleine war gerade mal vierzehn Wochen alt, hatte also noch nicht das Stadium erreicht, in dem man in Monaten rechnen darf, da stand auf einmal Weihnachten vor der Tür. Ein bisschen plötzlich, wie mir schien. Ja, es kam nahezu unangekündigt. Ich nehme an, dass Matthias und ich bei unseren täglichen Besuchen im Supermarkt so fixiert waren auf Windeln, dass wir all die lockenden Anzeichen für die Feiertage einfach übersahen: Schokoladennikoläuse und Lebkuchen und Paletten voller Zimtsterne und Spekulatiustüten. Vielleicht sahen wir auch nichts vor lauter Schlaf in unseren Augen.

Wie auch immer: Wäre es nach Matthias und mir gegangen, wir hätten Weihnachten großzügig ausfallen lassen. Genauso wie Silvester, das wurde ja noch später am Abend gefeiert! In diesen Wochen waren wir so übermüdet, dass wir die Feiertage am liebsten im Bett verbracht hätten. Aber da waren ja unsere beiden Großen, die ihr Recht auf Geschenke ebenso vehement einforderten wie die Verwandten ihr Recht auf Würstchen und Kartoffelsalat. Außerdem wollten sie die Kleine sehen, was gut nachzuvollziehen ist, denn sie ist wirklich ein ausgesprochen süßes Baby.

An dem Tag, als die Jungs ihr zwanzigstes Türchen aufmachen durften und die Kleine gerade ein von uns lang herbeigesehntes Nickerchen machte, fiel Matthias und mir schlagartig ein, was wir alles noch zu erledigen hatten. Nämlich so ziemlich alles. Wir also los: Zuerst wurde die Kleine so umständlich wie möglich in den Kinderwagen gehievt, wo sie tatsächlich weiterschlief – zumindest bis ich mit dem Wagen gegen den Rahmen der Wohnungstür donnerte. Die Kleine wachte also auf und war recht ungehalten, weil wir ihren Schnuller nicht auf Anhieb parat hatten. Irgendwann entdeckte Matthias ihn unterm Sofa, neben dem verloren geglaubten Gutschein für einen Friseurbesuch und drei Euro siebzig in kleinen Münzen. Um den Schnuller von Staub zu befreien, steckte ich ihn kurz in den Mund, was man angeblich nicht machen soll wegen Karies und so. Kaum befand sich der Schnuller dort, wo er hingehörte, im Mund der Kleinen, spuckte sie ihn angewidert aus, als hätte sie im Wartezimmer des Kinderarztes auch diesen Artikel gelesen über die Mundhygiene von Säuglingen.

Na, irgendwie kamen wir doch noch aus dem Haus, kauften am Christbaumstand die allerletzte Tanne – im doppelten Sinn –, kehrten zurück, fuhren wieder los, weil unser Ständer nicht zu finden war, nicht mal unterm Sofa, kehrten zurück und mussten wieder los, weil wir noch Geschenke brauchten, und schließlich ein letztes Mal, weil diese Geschenke in buntes Papier gewickelt werden sollten. Kurz überlegten wir, einfach Spucktücher über die schnell zusammengesuchten Bücher und DVDs zu schmeißen; diese Tücher lagen sowieso überall rum. Aber das schien uns nicht feierlich genug. Wenn die Tücher frisch gewaschen gewesen wären …

Heiligabend sollte dafür desto entspannter werden. Da waren wir uns alle einig, das hatten wir uns alle am Telefon gegenseitig versichert. Interessanterweise bot jeder an – auch meine seit Jahren für den Pfarrer schwärmende Mutter –, während des Gottesdienstes zu Hause auf die Kleine aufzupassen. Ob das wohl damit zu tun hatte, dass jeder von uns möglichst viel Zeit mit dem süßesten Familienmitglied verbringen wollte? Oder ob der Grund einfach war, dass eigentlich niemand Lust darauf hatte, anderthalb Stunden in einer übervollen Kirche zu sitzen und den Vorwürfen zu lauschen, die von der Kanzel tönten und sich an all jene richteten, die sich nur einmal im Jahr hier blicken ließen? An Menschen wie uns? Es spielt keine Rolle. Wir beschlossen einvernehmlich, den Kirchgang ausfallen zu lassen. Dafür konnten wir ja Neujahr gehen. Oder Ostern. Und möglicherweise würde auch eine Beerdigung anfallen.

«Dieses Mal machen wir es ganz entspannt», sagten wir uns also immer wieder. «Schon allein wegen der Kleinen.» Wir sagten es so oft, dass wir am Ende sogar selbst davon überzeugt waren. Und ich behaupte mal: Von dem gehetzten Einkauf abgesehen, lief es gar nicht so schlecht. Anfangs. Der 24. Dezember begann entspannter denn je, vor allem, weil wir mit den Zwillingen so etwas wie amerikanische Weihnachten feierten. Die Jungs durften morgens, gleich nach dem Aufwachen, ihre Geschenke auspacken. Noch vor dem Zähneputzen. Ich kann das empfehlen: Erstens fällt die ständige Fragerei nach der Bescherung weg, die fast so nervig ist wie das «Sind wir bald da?» während einer Autofahrt, und zweitens können sich die Kinder danach mühelos selbst beschäftigen, mit all den Legobausätzen und Ballerspielen. Während die Jungs also selig waren, schälten Matthias und ich in aller Ruhe Kartoffeln – die Kleine lag neben uns auf der Krabbeldecke – und lauschten der CD mit den Weihnachtsliedern, fest entschlossen, in die angemessene Stimmung zu kommen.

Meine Eltern kamen eine Stunde früher als vereinbart, meine Schwiegereltern eine Stunde später. Damit hatten wir gerechnet – und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Den einen hatten wir gesagt, die Feierlichkeiten begännen um fünf; den anderen, dass es um sieben losginge, sodass zu unserer präferierten Zeit um sechs dann alle da waren.

«Es war einfach kein Parkplatz zu finden», entschuldigte meine Schwiegermutter ihr vermeintliches Zuspätkommen.

«War alles dicht», sagte mein Schwiegervater, der seine Frau in allem unterstützt.

Matthias und ich waren guter Dinge, denn genau so hatten wir es geplant. So sehe ich das: Verwandte sind kein Drama, man muss nur wissen, wie man mit ihnen umzugehen hat. Genau wie mit Heuschnupfen, der ja auch ziemlich lästig sein kann.

Dabei hilft mir meine Erfahrung als Sozialpädagogin; ich arbeite mit schwer erziehbaren Jugendlichen. Viele der Methoden lassen sich auch auf meine Verwandtschaft anwenden. Vor allem die positive Verstärkung erweist sich immer wieder als nützlich: Räumt mein Vater nach dem Essen seinen Teller in die Küche, findet er bei seiner Rückkehr sein Schnapsglas wie von Zauberhand wieder gefüllt vor. Nimmt er bei seinem Weg in die Küche alle Teller mit, steht auf dem Tisch vor ihm die ganze Flasche. Es ist so einfach.

Nachdem sämtliche Großeltern eingetroffen waren und jeder die außerordentlich vergnügte Kleine eine Runde durchs Haus geschleppt hatte, sollte es losgehen. Wir Erwachsenen machten es uns auf dem Sofa bequem, die Zwillinge bauten sich vor dem Baum auf, die Blockflöten unheilverkündend in der Hand. Wie jedes Jahr wollten sie uns etwas vorspielen. Von wem sie die absurde Idee haben, dass das Heiligabend dazugehört, das wüsste ich wirklich gern! Wahrscheinlich haben die Jungs es aus der Schule, wie ihre Schimpfwörter. Wenn es nach Matthias und mir gegangen wäre, hätten wir auf die musikalische Einlage verzichtet, doch die Großeltern schienen ganz begeistert. Ich vermute, dass sie ihre Hörgeräte vorher unauffällig aus den Ohren nahmen.

Die Jungs führten die Flöten an die Lippen, mit einem wild entschlossenen Gesichtsausdruck, als hätte jeder ein Blasrohr vor sich, als würden sie gleich in Spucke getränkte Papierkügelchen auf die geliebten Verwandten feuern. Sie holten tief Luft, und in genau dem Moment fing die Kleine an zu schreien. Dabei war aus den Blockflöten noch nicht ein Ton zu hören gewesen.

«So kann ich nicht spielen», beschwerte sich der eine Zwilling.

«Ich auch nicht», jammerte der andere.

«Jetzt sind wir dran!»

«Sie soll still sein!»

Das war leichter gesagt als getan. Es war wie mit einem Marmeladenglas, das sich nicht öffnen lässt und bei dem jeder mal sein Glück versuchen darf, um seine Superkräfte zu beweisen. Die Kleine wurde herumgereicht, von Matthias zu mir, von mir zu meinem Vater, von meinem Vater zu meiner Mutter, von meiner Mutter zu meiner Schwiegermutter, die ihren eigenen Mann gnadenlos überging und die Kleine wieder an Matthias weiterreichte. Meine Schwiegermutter findet ihren Mann ungeschickt, daher darf er auch das schöne Geschirr nicht spülen. Dann ging es von vorne los, von Arm zu Arm, eine besondere Form des Ringelreihens. Aber die Kleine war einfach nicht zu beruhigen.

«So viel zum Thema Stille Nacht, Heilige Nacht», hörte ich meinen Vater flüstern. Ich beschloss, dass er auf seinen zweiten Schnaps verzichten musste. Abgeräumter Tisch hin oder her.

«So viel zum Thema Dieses Mal machen wir es ganz entspannt», kicherte meine Mutter. Für sie würde ich mir noch etwas einfallen lassen.

Jeder hatte eine eigene Theorie, was der Kleinen fehlte.

«Sie ist hungrig», meinte mein Vater, der stets von sich auf andere schloss.

«Bestimmt ist sie müde», sagte meine Mutter.

«Bauchweh», diagnostizierte meine Schwiegermutter.

«Das haben Babys häufig», lautete der kostbare Kommentar meines Schwiegervaters.

Nun gab mein Vater der Kleinen das Fläschchen, während meine Mutter versuchte, sie in den Schlaf zu singen, und meine Schwiegermutter ihr den Bauch streichelte, im Uhrzeigersinn. Mein Schwiegervater erwärmte das Kirschkernkissen.

Matthias und ich sahen zu. Wir hatten uns längst damit abgefunden, dass die Kleine manchmal einfach schlecht drauf war. So wie ihre Brüder.

«Können wir jetzt unser Lied spielen?», murrte der eine.

«Wir haben extra geübt», maulte der andere.

Das war eine dreiste Lüge. Die Flötenetuis hatten zentimeterdick Staub angesetzt und waren seit Weihnachten im vergangenen Jahr nicht mehr berührt worden. Ich beschloss, die Zwillinge vorerst zu ignorieren. Wenn man Glück hat, funktioniert das.

Kennen Sie den Fliegergriff? Es ist eine bewährte Tragetechnik bei Koliken. Dafür legt man sich das Baby bäuchlings auf den Unterarm. In genau der Position ließ meine Schwiegermutter die Kleine nun durch den Raum fliegen.

«Hui, hier kommt der Weihnachtsengel», rief sie. «Hui, hui!», immer und immer wieder. Das Engelchen pupste laut. Die Jungs und mein Vater jubelten. Aber beruhigen wollte sich die Kleine nicht.

Mein Schwiegervater stand auf, um ein Foto zu machen. Er wollte festhalten, wie seine Frau den von Blähungen geplagten Engel durch die Wohnung schweben ließ.

«Hui», machte meine Schwiegermutter. «Hui, hui!»

Sie ließ die Kleine direkt auf ihren Großvater zufliegen, der durch die Linse seiner Kamera blickte. Um alles aufs Bild zu kriegen, trat er einen Schritt zurück. Und noch einen. Und noch einen.

«Achtung!», warnte Matthias. «Der Spielbogen!»

«Der was?!», fragte mein Schwiegervater und stolperte über das Holzding, das wir in der lächerlichen Hoffnung angeschafft hatten, die Kleine hätte vielleicht Spaß daran und könne sich damit mal für drei Minuten selbst beschäftigen. Neben undefinierbaren Figuren aus Holz, mit denen die Salzteigmännchen der Jungs durchaus konkurrieren konnten, hingen an unserem Spielbogen jede Menge Glöckchen, die in diesem Augenblick zu hören waren. Bis ein lautes «Autsch» sie übertönte. Denn mein Schwiegervater war bei dem Versuch, sich abzufangen, in der Tanne gelandet. Ich nehme an, dass ihn ein Zweig ins Hinterteil pikste, sein Hüpfer zur Seite wirkte auf jeden Fall unelegant. Der Baum schwankte. Eine Christbaumkugel fiel wie in Zeitlupe zu Boden und zerbrach. Als meine Mutter sich nach den Scherben bückte, verhedderte sie sich im Kabel der Lichterkette, sodass sie den Stecker aus der Dose zog.

«Hey!», rief ich wegen der plötzlichen Dunkelheit. Immerhin trug ich gerade einen Teller Plätzchen in das Zimmer und wollte nicht stürzen. Bei uns gab es mehr als den Spielbogen, über das man stolpern konnte. Das Wohnzimmer war ein Hindernisparcours aus Spielzeug.

Wie auch immer, das Licht ging wieder an, die Jungs begannen ungefragt mit dem Flötenkonzert. Ich glaube, es sollte Alle meine Entchen sein. Weihnachtslieder hatten sie nicht im Repertoire. Und es passierte noch etwas: Die Kleine lachte! Das Finale der Ereigniskette übernahm völlig unverhofft ein prustendes Baby. Wir sahen uns an, verblüfft und erleichtert. Das eben noch unsagbar schlecht gelaunte Kindchen wackelte vor Vergnügen, immer noch auf dem Schwiegermutterunterarm liegend, es lachte und lachte. Für genau zehn Sekunden. Als die Kleine bemerkte, wie wir sie anstarrten, verzog sie wieder den Mund, bereit, direkt loszuschreien.

«Noch mal!», rief ich, und alle wussten, was ich meinte. Es war, als ob man einen Film zurückspult, jeder beeilte sich, auf seine Ausgangsposition zurückzukehren. Dann ging es von vorne los: Matthias rief «Achtung, der Spielbogen!», mein Schwiegervater stolperte absichtlich darüber und ließ die Glöckchen erklingen, landete in den Tannenzweigen, rief «Autsch», sprang zur Seite, meine Mutter wackelte am Baum, bis sich eine der Kugeln löste, dann zog sie den Stecker der Lichterkette, ich rief «Hey», der Stecker kam wieder rein, und die Jungs flöteten los. Und die Kleine? Na, die lachte!

So verbrachten wir den Abend. Wann immer ihre gute Laune nachließ oder wir ebendies auch nur befürchteten, legten wir los. Wir spielten unser kleines, ganz persönliches Weihnachtsstück für genau eine Zuschauerin. Und wir wurden immer besser! Matthias rief sein «Achtung» mit immer mehr Inbrunst, mein Schwiegervater traf die Glöckchen bald zielsicher und ohne über seine Schulter zu schielen, meine Mutter brauchte den Baum mit der einen Hand nur noch anzutippen, und schon fiel eine weitere Kugel zu Boden, während sie mit der anderen Hand den Stecker der Lichterkette zog und auf mein «Hey» wieder reindrückte, nur um ihn direkt wieder zu ziehen, rein und raus und rein und raus, damit die Lichter im Takt zu Alle meine Entchen aufleuchteten. Die Lightshow war ein kleines Extra, auf das meine Mutter ziemlich stolz war, weil es bei der Kleinen besonders gut ankam.

Wie es meiner Schwiegermutter erging? Nun, sie ließ das Engelchen mal auf dem einen und mal auf dem anderen Arm fliegen. Muskelkater wird sie trotzdem gehabt haben. Aber ehrlich gesagt: Opfer bringen wir alle.

Noch etwas war anders an diesem Heiligabend. Nicht wie sonst verabschiedete sich der Besuch, als alle Plätzchen aufgefuttert waren. Sondern als alle Christbaumkugeln zerbrochen am Boden lagen. Kurz überlegte ich, ob ich die grasgrüne Vase als Ersatz holen sollte, doch dann fiel mir gerade noch ein, dass die ja ein Geschenk der Schwiegereltern gewesen war, und so ließ ich das Ungetüm im Schrank, wo es auf den nächsten Polterabend warten musste. Außerdem war die Kleine mittlerweile in Tiefschlaf gefallen.

«Wie schön sie schlummert», lobte meine Schwiegermutter und rieb sich den Arm.

«So friedlich», stimmte mein Schwiegervater zu. Ich klopfte dreimal auf das Holz der Blockflöten.

Wie sich am nächsten Tag zeigte, war die Besänftigung der Kleinen kein Weihnachtswunder gewesen. Und wie sich ebenfalls herausstellte, reichte es ihr völlig, wenn die Lichterkette flackerte. Das ganze Programm war ein unnötiger Zusatz gewesen, schön anzusehen, aber nicht weiter wichtig. Wie ein bisschen Petersilie auf dem Kartoffelsalat. Oder wie Hagelzucker auf dem Butterplätzchen.

Es genügte der Kleinen, unter dem Baum zu liegen, mitten im raschelnden Geschenkpapier, mit Blick nach oben in die Lichterkette, die, wie wir jetzt herausfanden, über einen Blinkmodus verfügte. Einmal angestellt, leuchteten die Augen der Kleinen wie die hundert warmweißen Birnchen der Lichterkette. Und alle Tage und Nächte wurden zu stillen, um nicht zu sagen heiligen Nächten.

Deshalb steht die Tanne immer noch in unserem Wohnzimmer. Sie ist unser Retter in der Not, nach wie vor. Wir wissen, dass das nicht übertrieben schön aussieht, dass der ein oder andere es merkwürdig findet. Wir kümmern uns nicht weiter darum. Wer Kinder hat, versteht uns. Und in einem halben Jahr wird das traurige Gestrüpp ersetzt – durch ein immergrünes Exemplar aus Plastik. Das bleibt dann so lange stehen, bis die Kleine aus dem Gröbsten raus ist. Dass das dauern kann, sehen wir an den Zwillingen. Aber ganz ehrlich: Ich finde, so eine Pflanze – egal aus welchem Material – macht sich gut in unserem Wohnzimmer. Gerade mit energiebewusster Lichterkette. Wir finden das nachhaltig.

Alexandros Stefanidis

Heiligabend, 18 Uhr 59

Als Serena ihrem Vater offenbarte, dass sie einen neuen Freund hat, stellte er ihr zwei ernste Fragen.

Erstens: «Ist er Italiener?»

Zweitens: «Ist er katholisch?»

Beide Antworten gefielen ihm nicht.

 

Als ich meinem Vater erzählte, dass ich es mit meiner neuen Freundin ernst meine, stellte er mir zunächst nur eine Frage.

«Ist sie Griechin?»

Als ich verneinte, hakte er nach:

«Nicht mal griechisch-orthodox?»

 

Das nur kurz vorweg, zur Vorgeschichte. Weil: Mit 30, wenn man es ernst meint mit der Beziehung, sollte man sich eigentlich über die erste Zusammenkunft der Schwiegereltern in spe keine großen Sorgen mehr machen. Man ist ja erwachsen, hatte schon die eine oder andere gescheiterte Beziehung, weiß, worauf es wirklich ankommt im Leben, und so weiter. Eigentlich und sollte. Doch wenn ein Grieche einer Süditalienerin in Deutschland den Hof macht, ist nichts so, wie es eigentlich sein sollte.

Klar, es gibt wahrscheinlich hundertachtundsiebzigtausend gute Gründe, warum man Schwiegereltern nicht gerade an Weihnachten zum ersten Mal zusammenbringen sollte. Und wahrscheinlich noch weitere dreihundertvierzigtausend Gründe, warum man griechische und italienische Schwiegereltern auf keinen Fall an Heiligabend einander vorstellen sollte (das beginnt schon damit, dass Weihnachten für Katholiken das größte Fest ist, wohingegen Ostern bei den Orthodoxen noch höher im religiösen Kurs steht). Doch die Wahrheit ist: Wir hatten keine Wahl. Meine Eltern führten damals noch ein griechisches Restaurant, das nur an Weihnachten für ein paar Tage geschlossen war. Und Serenas Vater bestand für seinen Besuch auf einen vorgeschobenen Grund – ausgerechnet Weihnachten! –, um nicht gleich bei der ersten Begegnung seinen Segen für die wenige Monate alte Liaison geben zu müssen. Schließlich hatte ihm seine Tochter damals geantwortet: «Er ist Grieche, griechisch-orthodox und arbeitet als freier Autor.» Er schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn. «Per dio! Kein Italiener! Kein Katholik! Che miseria! Autor? Das heißt, er lebt von der Hand in den Mund, nicht wahr!?»

Na ja – so ganz falsch lag er mit seiner Vermutung nicht.

 

Ein Abend im Mai 2005. Nein, es war nicht auf einer dieser Ü-30-Single-Partys, als Serena und ich uns kennenlernten. Unsere erste Begegnung fand in einer Shisha-Kneipe statt, wo wir beide nur ein einziges Mal waren. Nie davor und nie danach haben wir diese Kaschemme betreten, an deren Namen wir uns nicht einmal erinnern. Sie glaubt, es war Schicksal. Ich weiß nicht, ob ich so weit gehen würde. Aber was wir beide sofort wussten: Es war Liebe. Und vielleicht wäre es deshalb auch klüger, wenn ich diese Geschichte nicht erzählte. Weil: Sie reißt alte Wunden auf. Nicht bei uns. Eher bei den zwei Vätern, von denen diese Geschichte handelt. Zwei Männer, die sich an Heiligabend im Jahr 2005 zum ersten Mal eher unfreiwillig und nur eine Minute gegenüberstanden.

 

Ich darf kurz vorstellen: Antonio Fontane, Serenas Vater, mein Schwiegervater in spe. Das – per Geburtsurkunde bestätigte – Patenkind eines ruchlosen Clanoberhaupts der neapolitanischen Camorra. Ein mit allen Wassern gewaschener Süditaliener, der auf alten Fotos Adriano Celentano ähnelt und es gewohnt ist, dass man ihm schon allein deshalb mit Ehrfurcht begegnet, weil er einen knurrenden Jack Russell namens «Vito» besitzt. Auf der Rückfahrt aus dem Italienurlaub hat Antonio einst eine Bananenschale aus dem Fenster geworfen. Man stand im Stau. Der Fahrer hinter ihm, ein Norditaliener, stieg aus seinem Wagen und klopfte an die Beifahrerscheibe. Antonio ließ das Glas nur einen Spalt herunter. Der Norditaliener nahm Haltung an und rüffelte auf Hochitalienisch seinen Landsmann: «Mit Verlaub, ich habe beobachtet, wie Sie diese Bananenschale weggeworfen haben. Das macht man nicht! Das ist Umweltverschmutzung! Ich könnte Sie anzeigen!»

Antonio – so erzählte es mir Serena, die den Wagen fuhr – ließ in aller Seelenruhe das Fenster ganz herunter, winkte den Norditaliener näher zu sich, drehte seinen Kopf leicht in dessen Richtung, ohne ihn aber direkt anzusehen, und flüsterte in neapolitanischem Dialekt: «Und ich könnt dich auf der Stelle erschießen.» Der Norditaliener wurde blass, entschuldigte sich mit einer angedeuteten Verbeugung für die Störung und huschte zurück in seinen Wagen. Noch während das Fenster per Knopfdruck wieder nach oben surrte, lächelte Antonio spitzbübisch.

Ich darf ebenso vorstellen: Christo, mein Vater, Serenas Schwiegervater in spe. Ein Alexis Zorbas, wie er bei Nikos Kazantzakis im Buche steht. Unverschnörkelt, offen und geradeheraus, aber manchmal auch jähzornig und etwas kantig. Ein Waisenkind, aufgewachsen in den Straßen Thessalonikis, ein Mann, der schon allein deshalb jeden duzt, weil er siezen für Zeitverschwendung hält. «Du, Gregor, unter uns, du warst bei der Stasi, oder?», hat er einst Gysi bei einem launigen Gespräch plötzlich gefragt, als der damalige PDS-Politiker nach einem Wahlkampfauftritt im Restaurant zu Gast war. Empörung kein Ausdruck! Nicht bei Gysi, der schlicht mit «Nein» antwortete, sondern Empörung bei den Vasallen um ihn herum, die um seine Gunst buhlten.

Antonio versus Christo oder Celentano versus Zorbas. So könnte die Geschichte dieser Begegnung also heißen. Und, ich sag’s mal so: Schwiegerväter kann man sich nicht aussuchen. Man muss sie so nehmen, wie sie sind. Aber so weit sind wir ja noch nicht.

 

29. Juni 2005. Noch knapp sechs Monate bis Heiligabend. Mein Bruder Jorgo wird 40 Jahre alt. Er lebt in Köln und hat einen kleinen Rheindampfer gemietet. Großes Fest. Wir stehen am Steg. Serena soll meine Eltern kennenlernen. Meine Mutter schließt Serena sofort ins Herz, umarmt sie, als wären wir schon verheiratet, als gehörte sie schon immer zu unserer Familie. Mein Vater steht daneben.

«Du bist also Serena?», fragt er.

Serena nickt. Sie trägt eine Sonnenbrille und ein weißes Kleid mit blauen Blumen oder Punkten, oder vielleicht war es auch nur blau umrandet, dieses weiße Kleid, ich weiß es nicht mehr genau. Sie sah jedenfalls toll aus. An was ich mich aber genauer erinnere, ist dies:

«Du bist hübsch», sagt mein Vater. Serenas Gesichtsfarbe ändert sich ein wenig, sie schaut verlegen. Zum Niederknien.

«Alex liebt dich», sagt mein Vater trocken. Ihre Verlegenheit wird röter.

«Liebst du ihn auch?»

Das ist so verdammt typisch für ihn! Sie haben sich noch nicht einmal gegenseitig vorgestellt, und er stellt schon die Frage aller Fragen. Ich muss dazwischen, die Situation retten. Irgendwie. Aber wie?

Plötzlich höre ich nur ein lautes «Ja!». Stille. «Sonst noch etwas, das Sie von mir wissen möchten?», fragt Serena etwas distanziert, aber höflich. Sie lächelt jetzt nicht mehr verlegen, sie lächelt überlegen. Was für eine Frau!, denke ich. Und dasselbe denkt wohl auch mein Vater.

«Bravo, Mädchen!», ruft er und gibt ihr eine hätschelnde Ohrfeige. «Und: Nein, sonst muss ich nichts wissen.» Kaum hat er die Worte ausgesprochen, lässt er uns stehen und spaziert pfeifend aufs Schiff.

«Er mag dich», sagt meine Mutter grinsend zu Serena. «Er ohrfeigt nur Menschen, die er mag», erklärt sie.

Serena starrt mich fragend an, ich zucke mit den Schultern. «Ist doch gut gelaufen», sage ich und nehme sie in den Arm. Was Besseres fällt mir nicht ein.

 

26. Oktober 2005. Noch rund zwei Monate bis Heiligabend. Serenas Mutter hat Geburtstag. Ich bin zum ersten Mal zu Hause bei den Fontanes eingeladen. Sie wohnen in Konstanz am Bodensee. Kleines Fest. Küchentisch. Hab Blumen und eine Flasche Rotwein mitgebracht. Natürlich Chianti. «Schleimer!», kommentiert Serena grinsend meine Wahl. Sie ist gut drauf. Und bis jetzt ist ja auch alles gut gelaufen. Ihre Mutter mag mich, glaube ich. Ihr jüngerer Bruder Alfi und ich erzählen uns gegenseitig Witze, lachen. Antonio, ihr Vater, ist noch nicht da. Frühschicht in der Spinnerei. Knochenjob. «Nach einer Frühschicht hat er nicht immer gute Laune», warnt mich Alfi. Mir wird ein bisschen flau im Bauch, obwohl es herrlich nach original italienischer Mama-Bolognese riecht. Ich sag’s besser gleich: Wenn einer einen Mordshunger hat und ihm gleichzeitig übel ist – keine gute Kombi. Im Türschloss dreht sich der Schlüssel des Hausherrn. Kotzübel trifft es besser.

Antonio hat eine Schiebermütze auf, er hängt sie an einen Haken in der Garderobe. Seine Jacke zieht er fast in Zeitlupe aus. Nächster Haken. Sein hellblaues Hemd kommt an den letzten Haken in der Reihe. Er schlüpft in Hausschuhe, streicht sich über die hohe Celentano-Stirn, rückt seine Brille zurecht und steht im Unterhemd im Türrahmen. Muskulöse Oberarme. Alfi und Serena sitzen am Tisch. Ihre Mutter steht mit der Schürze am Herd und ich etwas unbeholfen daneben. Mit der Chianti-Flasche in der Hand. Antonio blickt zuerst ein paar Sekunden auf das Etikett der Flasche, dann in mein Gesicht. Es ist ein teurer Chianti, der teuerste, den ich im Supermarktregal finden konnte.

«Die Nudeln sind fertig», sagt Mama Fontane und übertönt unabsichtlich mein viel zu leises «Hallo!». Eigentlich wollte ich mich ganz förmlich vorstellen, aber dazu kommt es nicht.

«Gut, dann lasst uns essen», sagt Antonio, gibt seiner Frau einen Kuss auf die Wange und setzt sich an den Tisch. Ich meine vor dem Kuss ein kurzes Nicken in meine Richtung erkannt zu haben und deute es als Aufforderung, erst mal nichts weiter zu sagen.

Das Besteck glänzt silbern, die Teller haben einen silbernen Rand. Worauf man alles achtet, wenn man es partout vermeiden will aufzuschauen. Ich sitze Antonio direkt gegenüber.

Die ersten Augenblicke am Tisch vergehen wortlos. Mama Fontane schaufelt mir einen Berg dampfende Spaghetti in den tiefen Teller, auf die Spaghetti kommt die duftende Bolognesesoße und darauf der geriebene Parmesan. Und wie mir Dampf und Duft so in die Nase steigen, ertappe ich mich dabei, wie ich vor mich hin grinse.

«Was gibt’s zu lachen?», fragt Antonio plötzlich.

«Äh, nichts», sage ich, «ich freu mich nur auf die Spaghetti!»

«Du magst Spaghetti?»

«Nein! Ich liebe Spaghetti!», antworte ich wahrheitsgetreu.

«Gut», sagt Antonio und nickt mit dem Kopf.

Unsere erste – wenn man es so nennen will – Unterhaltung.

Nach ein paar Minuten, in denen Antonio und Alfi über ein bevorstehendes Spiel des örtlichen Fußballvereins debattieren und Mama Fontane Serena darauf aufmerksam macht, dass Oma Fontane bald Geburtstag hat und sie nicht vergessen darf, sie anzurufen, stellt mir Antonio ohne Vorwarnung erneut eine Frage.

«Glaubst du an Gott?»

Ich spüre die Blicke Serenas, Alfis und ihrer Mutter auf meinem Gesicht, schaue aber nur Antonio an. Auf diese Frage habe ich mich äußerst sorgfältig vorbereitet. Meine Antwort sollte klar und unmissverständlich wie aus der Pistole geschossen kommen. Ein kurzes Ja ist alles, was es braucht. Ein kurzes Ja erspart unnötigen Ärger. Aber ich zögere. Soll ich sagen, was ich denke? Oder lieber antworten, was er hören will?

Antonio hebt eine Augenbraue. Ich brauche für die Antwort anscheinend schon viel zu lange, tausche einen Blick mit Serena. In ihrem Gesicht formiert sich dieser «Das haben wir doch lange genug geübt»-Ausdruck: zwei kleine Stirnfalten zwischen ihren leicht zugekniffenen Augen.

«Ja, ich glaube an Gott», höre ich mich schließlich sagen. Erleichterung am Tisch. Jeder widmet sich wieder seinen Spaghetti. Antonios Augenbraue fällt in ihre gewohnte Position zurück, er dreht seine Spaghetti um die Gabel. «Gut», sagt er. Diesmal nickt er mehrere Male nacheinander.

Vor seiner dritten Frage – wieder ging eine kurze Pause voraus, in der die Fontanes über Familiäres geplaudert haben – räuspert er sich. «Ein Autor», sagt er schließlich, «was arbeitet ein Autor?»

Gute Frage, einfache Antwort. «Ich schreibe», sage ich.

«Briefe?», fragt er grinsend. Alfi lacht. Auch Serena kann sich ein Lächeln nicht verkneifen.

«Nein, keine Briefe. Interviews und Reportagen, hauptsächlich. Ich bin Journalist.»

Diesmal nickt er nicht. «Journalist, hm? Bei welcher Zeitung?»

«Äh, bei keiner. Ich arbeite freiberuflich.»

Antonio sieht hinüber zu seiner Frau. Schon diese wenigen Minuten Kennenlernen reichen aus, um zu ahnen, dass er alles andere als glücklich ist über meine Antwort. Ich weiß ja: Antonio malocht seit Jahrzehnten in der Spinnerei, hat seiner Tochter ein BWL-Studium ermöglicht und hofft darauf, dass sein Sohn das Lehramtsstudium bald abschließt. Der Blick zu seiner Frau – ich kann in etwa seine Gedanken lesen: Haben wir unser Leben lang geschuftet, damit sich unsere kluge, hübsche Tochter in einen mehr oder weniger arbeitslosen Schreiberling verknallt? Ist dieser Typ gut genug für Serena? Hat sie nicht was Besseres verdient?

Meine Lungen ziehen sich zusammen, weil meine Brust sich anfühlt, als quetsche sie jemand in einen Schraubstock. Schnell, lass dir was einfallen, denke ich. Und: Angriff ist die beste Verteidigung. Ich hole tief Luft.

«Mein Vater ist ein Waisenkind», sage ich in die eingetretene Stille. Antonio hebt den Kopf. Ich sehe abwechselnd zu ihm und zu seiner Frau. Die Worte purzeln ohne langes Nachdenken aus meinem Mund. «Er hat mit meiner Mutter aus dem Nichts etwas aufgebaut. Meine Eltern sind wie Sie beide Gastarbeiter gewesen, haben sich den Rücken krumm gearbeitet, um mir mein Studium zu finanzieren. Sie erwarten von mir, dass ich etwas aus meinem Leben mache. Und ich habe nicht vor, sie zu enttäuschen.»

Mein Blick wandert zu Serena. Ihr Blick zu ihrer Mutter. Ihre Mutter lächelt mich an, wie es nur Mütter können. Antonio nickt mehrmals mit dem Kopf. Dann sagt er etwas Erlösendes: «Diese Flasche Wein, die du mitgebracht hast – warum ist sie noch zu?»

Ich darf diese Nacht bei den Fontanes übernachten. Natürlich nicht bei Serena im Zimmer, sondern bei Alfi. Aber: immerhin. Vor lauter Aufregung am Tisch esse ich aber zu viele Teller Spaghetti (vier an der Zahl, ich wusste schlicht nicht, dass die Nudeln nur primo piatto waren, danach erst der Hauptgang kam) und muss mich nachts übergeben. Tue das so lautlos wie möglich.

 

You never get a second chance to make a first impression.