Alberta von Brochow


Tante Toni und ihre Bande

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Klassiker als ebook herausgegeben bei RUTHeBooks, 2016


ISBN: 978-3-944869-98-8


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Kapitel 9 - Wie Lilly ein Geheimnis erfährt - Der große Tag und Ottos Entschluß - Auf Wiedersehen!



Am nächsten Tage, während Herr Mehring und Otto Tonichens Begräbnis beiwohnten, saß Lilly bei der Haushälterin, Fräulein Helene, im Zimmer. Trotzdem diese sehr eifrig mit Ausbessern von Strümpfen und Wäsche beschäftigt war, fiel es ihr bald auf, daß Lilly heute ungewöhnlich still war.

"Kind, du bist ja heute so brav, daß man dich gar nicht wieder kennt", sagte sie, ganz verwundert von ihrer Arbeit aufblickend; "du bist auch so blaß, du wirst doch nicht am Ende krank sein?"

"O, ich möchte ganz gern wieder mal krank sein", meinte Lilly nachdenklich.

"Was, du möchtest gerne krank sein? Aber ich danke dafür! Das darf man ja überhaupt gar nicht wünschen."

"O, das ist aber doch so schön! Dann kommt Papa sich manchmal an mein Bett setzen, und diesmal käme sicher Tante Toni mich pflegen, und sie bliebe vielleicht sogar den ganzen Tag bei mir."

"Ja, das gefiele dir wohl.... Aber das Kranksein ist drum doch nicht angenehm; es tut gewöhnlich recht weh."

"Ach, das will ich schon aushalten, wenn ich nur jemand bei mir habe, der mich recht lieb hat!"

Wieder blickte Fräulein Helene ganz erstaunt auf Lilly; sonst hatte das Kind doch gar nicht so nach dem Liebhaben gefragt. Laut aber sagte sie: "Ich hätte sicher nichts dagegen, wenn deine Tante dich pflegen käme, falls du wieder mal krank würdest; denn ich weiß noch recht gut, wie ich das letztemal hab' laufen und springen müssen; zehn Arme und zehn Beine hätte ich brauchen können, um dich zu bedienen, und trotzdem war's nie recht."

Lilly hatte schuldbewußt das Köpfchen gesenkt. Kleinlaut erwiderte sie: "Ja, ich kann mich noch erinnern; ich glaub', ich war recht bös, und du hast oft gesagt, du könntest's nicht mehr aushalten und du wolltest fort."

"Und ich glaub', ich wäre auch fort, wenn deine Tante, Frau Wulff, mir nicht gute Worte gegeben und zugeredet hätte, ich solle den Herrn Mehring doch nicht so im Stich lassen, der könne sich doch nicht auch noch um den Haushalt kümmern. Aber was schwätz' ich denn da? Davon verstehst du ja doch nichts!"

"Doch, doch, ich versteh' es recht gut. Ich weiß auch, daß du eine vorzügliche Haushälterin bist, aber von Kindererziehung verstehst du keine blaue Bohne."

"I du meine Güte! Da schau mal einer die Fräulein Weisheit an! Wo hast du denn das wieder mal her?"

"Ach, das hab' ich halt schon sagen hören von den Tanten, auch von Lina ..."

"Natürlich, die blaue Bohne, die stammt sicher von der Lina. Die wird wahrscheinlich etwas von Kindererziehung verstehen, die! Vom Haushalt, von Reinlichkeit und Ordnung versteht sie jedenfalls nichts, und wenn ich nicht immer hinter ihr drein wäre, dann sähe es hier bald aus wie in einem Stall!"

Fräulein Helene war sehr in Eifer geraten, und sie hätte wohl noch eine Weile fortgeredet, wenn nicht eben draußen ein arges Gepolter entstanden wäre, so daß Lilly ganz erschrocken zusammenfuhr. Fräulein Helene war aufgesprungen, aber sie schien zu ahnen, was der Lärm bedeutete; denn Arbeit, Fingerhut und Schere in den Korb werfend rief sie aus: "Da haben wir's ja gleich! Eine rechte Meisterleistung von der Lina, die so viel von Kindererziehung versteht! Sie sollte sich lieber um ihre Arbeit kümmern und nicht Eimer und Bürsten die Treppe hinunterwerfen. Eine nette Bescherung das und gerade gestern haben wir einen frischen Läufer auf die Treppe gelegt ..."

Lilly sah der Haushälterin, die sehr erzürnt und aufgeregt das Zimmer verlassen hatte, etwas ängstlich nach; aber dann lächelte sie wieder: nein, sie wußte ja, Fräulein Helene würde der Lina doch nichts tun, sie würde sie auch nicht fortschicken; obwohl sie viel mit den Mädchen zankte, mochten diese sie doch gut leiden, denn im Grunde war sie recht gutmütig, die Fräulein Helene, und Lilly war ganz erstaunt zu bemerken, daß sie selbst sie auch gern hatte. Und sie hatte sich doch so oft eingebildet, sie könne sie gar nicht ausstehen! Wie war das doch nur?... Lilly versuchte nachzudenken, aber ihr Köpfchen war so eigentümlich schwer, in ihren Schläfen klopfte es so. Auch kam es ihr auf einmal so heiß vor im Zimmer und sie hätte gerne das Fenster aufgemacht; aber sie hatte das Gefühl, als ob sie hinfallen würde, wenn sie nun aufstände. Sie breitete die Arme auf den Tisch und legte das Köpfchen darauf. Über was wollte sie denn eben nachdenken? Sie wußte es schon gar nicht mehr, aber sie wunderte sich über das Sausen und Brausen in ihren Ohren und über das Hämmern im Kopf. Sie wollte ein bißchen schlafen, vielleicht würde es ihr dann wieder besser. Nach einiger Zeit war es ihr auf einmal, als ginge die Türe auf und sie hörte, wie jemand ausrief: "Lieber Gott, das Kind ist krank!" Aber es klang ihr wie aus weiter Ferne. Sie fühlte sich emporgehoben und getragen, aber es war ihr alles wie ein Traum. Dann lag sie in ihrem Bettchen, sie wußte gar nicht, wie sie hineingekommen war, und sie wollte fragen: "Muß ich jetzt sterben wie die kleine Toni?" aber sie konnte gar kein Wort herausbringen. Sie konnte kaum die Lippen bewegen, und die waren so heiß und trocken; aber dann gab ihr jemand etwas zu trinken und eine kühle, weiche Hand legte sich auf ihr schmerzendes Köpfchen. O wie wohl das tat!

Klein Lilly schlief ein; aber sie hatte allerhand wirre Träume, beängstigende, dann auch wieder schöne und freundliche. Einmal war es ihr, als stände eine abscheuliche Hexe in der Ecke des Zimmers, und die lachte spöttisch und winkte ihr mit ihrem langen, knöchernen Finger; sie wollte schreien, aber ihre Kehle war wie zugeschnürt, sie konnte keinen Laut hervorbringen; die Hexe kam aber immer näher und näher, und in wilder Angst wendete Lilly den Kopf ab; da stand auf einmal Anna an der andern Seite des Bettes, die lachte und sagte: "Sei doch nicht so dumm! Es ist ja die Babett; die ist doch gar keine Hexe, und die tut dir nichts!" und als sie nun, noch recht ängstlich, wieder hinüberschaute, da stand dort wirklich die Babett, die sah ganz freundlich aus und sagte: "Ich tu niemand was zu leid, und ich hab' auch schön für dein Mutterle gebetet; es läßt dich schön grüßen."

Ein andermal, als Lilly stöhnend aus einem wüsten Traum aufwachte und ganz verstört um sich blickte, da neigte sich Tante Toni über ihr Bettchen: "Sei ruhig, mein Liebling, ich bin ja bei dir, und ich verlaß dich nicht; schlafe nur."

Klein Lilly lächelte beim Ton dieser leisen, lieben Stimme, sie suchte mit ihrem Händchen auf der Bettdecke umher, bis sie es warm und fest von den Fingern der Tante umschlossen fühlte, und nun schloß sie wieder beruhigt die Augen; sie war ja geborgen, sie wußte, daß die gute Tante an ihrem Bettchen wachte, und diesmal hatte sie einen wunderschönen Traum: sie sah Tonichen, ganz weiß gekleidet, mit goldenen Flügeln vom Himmel herabschweben; als sie verlangend die Arme ausstreckte, da winkte Tonichen ihr freundlich zu und sagte mit einem leisen, feinen Stimmchen: "Sei nur recht brav, und vor allem lüge nicht mehr, es ist gar nicht so schwer." Dann wurde Tonichen immer heller und durchsichtiger, bis sie ganz verschwand wie ein Nebel, der zergeht und endlich schlief Lilly sanft, ruhig und traumlos, lange, lange.

Einmal wurde sie auf einen Augenblick wach; sie hörte Stimmen im Zimmer, und als sie die Augen aufschlug, da stand ihr Vater mit einem Brief vor Tante Toni. Lilly wollte sich aufrichten und rufen, allein sie war zu schwach und zu müde, ihre Augen fielen gleich wieder zu; aber sie hörte doch, wie ihr Vater eben zur Tante sagte: "Nun kommt Ernst also doch endlich zurück, und Papa kann sich zurückziehen und sich die wohlverdiente Ruhe gönnen."

Tante Tonis Stimme antwortete: "Ja, und ich glaube, du kannst dich nach einem Häuschen für uns umsehen; denn ich denke, Papa wird doch wieder hierher in seine alte Heimat zurückkehren wollen."

Lilly kam es vor, als spräche ihr Vater in etwas ärgerlichem, erregtem Tone, als er jetzt sagte: "Was nicht gar, ein Häuschen! Wo denkst du denn hin? Mein Haus hier ist groß genug für uns alle, und es soll das Haus meines alten Vaters sein. Und", nun klang die Stimme weich und bittend, "du weißt ja, Toni, wie nötig wir dich haben, meine Kinder und ich; versprich mir, daß du mit dem Vater zu mir ziehst."

"Gern, Robert, gern, aber laß das noch ein Geheimnis sein, bis alles fest und entschieden ist. Es gibt dann eine schöne Überraschung für die Kinder."

Lilly lächelte ein wenig, ein ganz klein wenig. O, was für ein schönes Geheimnis sie nun wußte! Da mußte man freilich brav sein, um so etwas zu verdienen! Und der Großpapa, der ... aber weiter kam Lilly nicht mit ihren Gedanken, denn sie war wieder eingeschlafen, und als sie das nächstemal aufwachte, da waren ihre Äuglein wieder hell und fielen ihr nicht gleich wieder zu vor Müdigkeit, und ihr Stimmchen versagte nicht, als sie ausrief: "Papa, Tante Toni!"

Da stand auch schon Tante Toni neben ihr: "Gott sei Dank! Nun wird unser Kindchen bald wieder gesund sein! Wie wird der Papa sich freuen, wenn er heimkommt!"

Aber auch Otto freute sich, als er, von der Schule zurückgekehrt, zu seinem Schwesterchen gehen durfte; er bot ihm gleich alle seine Spielsachen an, sogar seine Soldaten und seine Festung.

Ach, was war das für eine schöne Zeit, die dann kam, bis Lilly wieder ganz gesund war! Tante Toni war fast immer bei ihr, und gegen Abend setzte sich Papa an ihr Bettchen, plauderte mit ihr und erzählte; unter Tags kamen oft die Tanten, die Vettern und die Cousinen, und immer brachte man ihr etwas mit. Wie gut sie doch alle waren und wie man sie verwöhnte! Am besten war aber der Rudi; der brachte ihr sogar seinen Star, an dem er doch so sehr hing und der schon allerhand Worte sagen konnte.

"Gib ihm mal ein kleines Stückchen Zucker", riet Rudi, als er den Vogel brachte. Und als Lilly ein Stück Zucker zwischen die Stäbe des Käfigs schob, da pickte der Star danach, und nachdem er verkostet hatte, schrie er: "Danke, Lilly, danke schön!"

War das eine Freude! Es war aber doch auch gar zu nett von Rudi, daß er dem Star gerade das beigebracht hatte. Der gute Rudi doch! Und den hatte sie früher gar nicht leiden mögen! Lilly begriff das einfach nicht mehr.

"Eile dich, gesund zu werden, Lilly", sagte Otto, "du mußt doch dabei sein, wenn ich zur ersten heiligen Kommunion gehe." Und Lilly eilte sich so gut, daß sie wirklich an diesem schönen Tage im neuen weißen Kleidchen mit in die Kirche fahren durfte.

Ach, wie war das so schön, so schön! Lillys Herzchen erzitterte, als Otto sich dem Tisch des Herrn nahte, und voll Seligkeit dachte sie: "Nächstes Jahr komme ich dran!" Und nun mußte sie wieder an die liebe kleine Toni denken. Ängstlich und mitleidig schaute sie Tante Maria, Tonichens Mutter, an. Ja, die hatte freilich die Augen voll Tränen und doch sah sie nicht unglücklich aus. Sie wußte ja, daß Toni glücklich, o so glücklich im Himmel war! Und der kleine Leo, der hier neben Lilly kniete, der wußte es auch; denn der betete jeden Tag nach seinem Abendgebet: "Liebe heilige Toni, bitte für uns!" Und Lilly fand, daß er ganz recht hatte, so zu beten.

Am Abend dieses glücklichen Tages suchte Otto Tante Toni auf. Er lehnte den Kopf an ihre Schulter und sagte: "Hast du recht sehr für mein Anliegen gebetet, Tante, wie du es mir versprochen hattest?"

"Nach besten Kräften hab' ich für dich gebetet, mein lieber Otto."

Ernst und doch lächelnd schaute der Knabe zur Tante auf.

"Ach, Tante, und wenn nun der liebe Gott dein Gebet erhört, dann werde ich doch nicht Papas Nachfolger, dann werde ich doch kein Redakteur!"

Tante Toni lächelte: "Dann wirst du wohl noch etwas viel Besseres und Schöneres!"

Otto sah sie überrascht an: "Ja, Tante, errätst du denn alles? O, glaubst du, daß es gelingt, daß ich das erstreben darf und kann?"

"Mit Gottes Hilfe gewiß, mein Otto! Aber es ist schwer, und wer diesen hohen Beruf erwählt, der muß sich auf ein Opferleben gefaßt machen."

"Ein Opferleben ...", wiederholte Otto leise und nachdenklich. Er war noch zu jung, er faßte und verstand das noch nicht ganz, und es überkam ihn fast etwas wie Furcht, aber nur einen Augenblick lang; gleich hob er wieder mutig den Kopf, und er sagte freudig wie Tante Toni: "Mit Gottes Hilfe!"

Zwei Tage nachher schlug für Tante Toni die Abschiedsstunde. Da gab es viele und heiße Tränen, aber Onkel Robert lächelte geheimnisvoll, während er tröstete: "Weint nicht, Kinder, weint nicht! Ich versprech' euch ein baldiges Wiedersehen."

Alle schauten ihn erstaunt und fragend an, allein Onkel Robert lächelte nur und legte den Finger auf den Mund. Aber Lilly lächelte auch, und sie flüsterte dem Rudi etwas ins Ohr; der schrie auf und machte drei Purzelbäume hintereinander; Lilly lief ihm nach und bat: "Pst, Rudi, verrat' doch nichts; es ist doch ein Geheimnis und es soll eine Überraschung geben!"

"Ich sag' nichts, verlaß dich drauf", versicherte Rudi; "aber ich freu' mich halt so schrecklich!" Und er machte schnell noch ein paar Luftsprünge, aber der letzte fiel etwas unglücklich aus und er landete mit seinem Stiefelabsatz gerade auf Ottos Fußspitze.

"Au weh!" schrie der. "Rudi, was ist denn in dich gefahren? Du bist gerade nicht von Buttermilch!" Und er hüpfte auf einem Bein herum, den verletzten Fuß in die Höhe streckend.

Mariechen wechselte einen verständnisvollen Blick mit Tante Toni. Beide hatten denselben Gedanken: Wenn dies vor sechs Wochen geschehen wäre!

Das gab eine wahre Prozession zum Bahnhof. Als Tante Toni eingestiegen war, stellte sie sich ans Fenster, und jedes wollte ihr noch einmal "Adieu" sagen: "Auf Wiedersehen, auf baldiges Wiedersehen, liebe, gute, goldige Tante Toni!" riefen die Kinder, und "Auf Wiedersehen!" antwortete die Tante, "und wenn ich wiederkomme, dann nehmen wir auch unsere Spaziergänge wieder auf, die wir diesmal unterbrechen mußten."

"Ja gewiß, Tante!"

"Wir werden inzwischen schöne, neue Wege auskundschaften!" rief Paul, und Kurt eiferte: "O, ich hab' mir schon einige ausgedacht; wir müssen doch auch in die Rickersbacher Schlucht und auf den ..." Aber der Zug setzte sich in Bewegung, und die Rufe "Adieu!" und "Lebt wohl! Auf Wiedersehen!" übertönten Kurts Stimme. Man sah noch eine Zeitlang Tante Tonis Taschentuch wehen, dann machte der Zug eine Biegung; bald darauf war er verschwunden.

"Ich bin nur froh, daß Onkel Robert uns gesagt hat, Tante Toni käme bald wieder", sagte Philipp auf dem Heimweg; "sonst wäre es doch gar zu traurig."

Mariechen entgegnete mit einem Seufzer: "Ich finde es trotzdem noch traurig genug. Ich kann überhaupt das Fortgehen nicht leiden; die Leute sollten immer nur ankommen!"

"O, das kommt drauf an!" rief Anna in entschiedenem Tone. "Den Herrn Schulinspektor und den Prüfungskommissar zum Beispiel sehe ich viel lieber fortgehen wie ankommen!"

Alle lachten, und Onkel Robert sagte, Anna freundlich auf die Schulter klopfend: "Na, Kinder, seid nur froh, daß ihr die Änne habt, die bewahrt euch wenigstens vor Trübsinn!"

Lilly war still zu Tante Maria Wulff geschlichen. Sie dachte: "Als Tante Toni ankam, da war Tonichen noch mit uns, und jetzt ist es nicht mehr da, es ist im Himmel." Sie stahl ihr Händchen in die Hand der Tante und blickte mit feuchten Augen zu ihr auf. Tante Maria verstand den Gedanken des Kindes. "Mein gutes Kind!" sagte sie leise und gerührt, fest die kleine Kinderhand umschließend.

 

 

Inhalt



Kapitel 1 - Tante Toni kommt!


Kapitel 2 - Es wird Krocket gespielt und Tante Toni macht dabei Charakterstudien


Kapitel 3 - Was die Kinder werden wollen


Kapitel 4 - Es wird spazierengegangen - Man begegnet der alten Babett - Anna wird Prophetin und Rudi Schwanenritter


Kapitel 5 - Minnichen wird geimpft


Kapitel 6 - Tante Toni geht mit ihrer Bande auf den Wetterstein - Otto spielt einen schlimmen Streich


Kapitel 7 - Bambula, der Puppenfresser - Otto, weißt du nun, wie es tut?


Kapitel 8 - Klein Tonis Wunsch geht in Erfüllung!


Kapitel 9 - Wie Lilly ein Geheimnis erfährt - Der große Tag und Ottos Entschluß - Auf Wiedersehen!

 

 

Kapitel 1 - Tante Toni kommt!



Frau Wulff saß am Fenster und nähte. Ihre vier ältesten Kinder waren noch um den Tisch versammelt und beendeten ihren Nachmittagskaffee.

"Eilt euch ein wenig", drängte die Mutter, "damit ihr bald an die Aufgaben kommt und hernach noch in den Garten gehen könnt."

"Ich bin fertig", sagte Kurt, und er trat zur Mutter ans Fenster. Hinausblickend gewahrte er den Briefträger.

"Mutter, da ist der Briefträger!" rief er eifrig aus. "O, darf ich schnell hinunterlaufen? Er hat vielleicht einen Brief von Tante Toni!"

"Ja, geh nur. Aber sei so gut und bringe mir den Brief uneröffnet. Du weißt, es schickt sich nicht, daß Kinder die Briefe ihrer Eltern öffnen."

Kurt wurde rot und sprang hastig hinaus. Wenige Augenblicke später stürzte er wieder ins Zimmer und schrie, wie im Triumph einen Brief hochhaltend: "Hurra, ein Brief aus Walden; der ist sicher von Tante Toni!"

Die vier Kinder drängten sich an die Mutter heran.

"Schnell, Mütterchen, mach' auf und sieh, ob sie kommt!"

"Nur gemach, nur gemach, Kinder!" wehrte diese lächelnd, aber sie beeilte sich doch sehr mit dem Öffnen des Briefes; sie wartete ja selbst mit Sehnsucht auf den Besuch ihrer Schwester, der schon lange geplant war, aber wegen eines Unwohlseins ihres Vaters schon mehrmals hatte verschoben werden müssen.

Schnell durchflog sie den Brief und rief dann freudig aus: "Ja, Kinder, die Tante Toni kommt, und zwar schon morgen!"

Diese Nachricht wurde mit einem solchen Freudengeschrei begrüßt, daß die Mutter sich die Ohren zuhalten mußte.

"Kommt der Großpapa auch mit?" fragte Paul, Kurts Zwillingsbruder.

"Nein; Großpapa geht zu seiner Erholung für ein paar Wochen zu Onkel Karl und zu Tante Klara aufs Land; deshalb kann Tante Toni diesmal etwas länger bleiben."

"Hurra, sie bleibt lange diesmal!" schrie Anna, und sie wirbelte springend und hopsend durchs Zimmer, während die kleine Toni, das Patenkind der Tante, in die Hände klatschend ausrief: "O, wie froh bin ich, wie froh!"

"Höre, Paul", wendete sich nun die Mutter an diesen, "du gehst gleich zu Onkel Robert und teilst ihm Tante Tonis Ankunft mit. Da er jedenfalls keine Zeit haben wird, an die Bahn zu gehen, so bitte ihn, er möge doch morgen nachmittag zum Kaffee kommen oder wenigstens das Fräulein mit den beiden Kindern schicken. Und du, Kurt, du springst hinüber zu Onkel und Tante Helmer und ladest sie ebenfalls ein und sagst, sie möchten die drei größeren Kinder mitbringen. Haltet euch aber nicht auf, denn es muß noch gelernt werden; sonst gibt es morgen Verdruß in der Schule!"

"Sei ruhig, Mutter, wir sind gleich wieder da!"

Und wie der Wind stürzten Paul und Kurt hinaus, stolz darauf, die Überbringer einer so wichtigen Botschaft zu sein.

Tante Tonis Zug traf am nächsten Tage gegen 3 Uhr ein; es war glücklicherweise ein schulfreier Nachmittag, so daß die Zwillinge, Anna und Toni ihre Mutter an die Bahn begleiten konnten. Dort trafen sie auch schon Tante Luise Helmer mit ihren zwei Ältesten, Mariechen und Philipp.

Als der Zug einfuhr, waren die Kinder kaum zurückzuhalten. Jedes wollte die Tante zuerst sehen, sie zuerst begrüßen, und kaum war diese ihrem Wagenabteil entstiegen, da war sie auch schon umringt, umarmt, geschoben, gestoßen, daß sie sich kaum zu helfen wußte und lachend ausrief: "Das ist ja der reinste Überfall! Gebt acht, die guten Sachen, die ich euch mitgebracht habe, werden ganz zerbröckelt und zu Brei gedrückt sein, bis wir heimkommen!"

Das wirkte ein wenig, und Tante Toni konnte nun endlich auch ihre beiden Schwestern begrüßen.

"Und nun im Triumphzug nach Hause!" rief Kurt.

Aber es war nicht leicht, etwas Ordnung in diesen Triumphzug zu bringen; denn die liebe Tante hatte leider nur zwei Seiten, und es stritten sich sechs Kinder um den Vorzug, neben ihr gehen zu dürfen. Mama Wulff machte endlich dem Streit ein Ende, indem sie erklärte: