Klaus Müller

Gehen, um zu bleiben

Aus der DDR nach Italien – und zurück

Travemünde, 1988

Klaus Müller, geb. 1941 in Dresden, lebt in Rostock. Ausbildung zum Maschinenschlos­ser. Nach der Abendschule, die er nicht beenden durfte, und Lehre als Kellner und Gast­stättenleiter viele Jahre im gastronomischen Gewerbe tätig. Für seine spektakuläre Italien­reise, bis heute Gegenstand des öffentlichen Interesses, eignete er sich umfangreiche nautische/seglerische Kenntnisse an. Nach der Wende war er als Projektleiter und ist nun als Sachbuchautor tätig.

Inhalt

Cover

Titel

Der Autor

Ein Wort vorab

1. Kapitel: Der Plan

Das Seebäderschiff

Die Krise kommt näher

Erste Schritte

Eine Nachlässigkeit bringt große Gefahr

Die große Gefahr

2. Kapitel: Die Vorbereitung

Segelsommer

Schon mal auf Seumes Spuren

Wieder bei der „Weißen Flotte“

Ein Winterhalbjahr in der Vorbereitungsphase

Hiddenseefähre und Mitropa

3. Kapitel: „Die Lauer“

Heimatgefühl

Hiddensee-Sommer 1986

„Jubiläum 25 Jahre Mauerbau“

Ein weiteres Winterhalbjahr auf der Lauer

Hiddenseesommer 1987

Im „Kugelfisch“ mit Don Avocado

Der Samurai

4. Kapitel: Der Grenzdurchbruch über die Ostsee

5. Kapitel: Im Westen

Ankunft

Erste Eindrücke

Hamburg

6. Kapitel: Italien

Nach Süden

Nach Rom

Rom

Weiter nach Syrakus

Syrakus

Mein Rückweg über Palermo

Durch Italien in die Emilia-Romagna

Parma

Durch die Lombardei

Von Verona über die Alpen zurück nach Deutschland

Rückreise durch Deutschland

7. Kapitel: Wieder daheim

Stasi-Empfang

Das Wiederaufnahmelager Röntgenthal

Wieder bei Penelope, und: Mein Jahr 1989

Ein Wort zum Schluss

Impressum

Klappentext

EIN WORT VORAB

1958 – ich hatte gerade meine Facharbeiterprüfung als Maschinenschlosser mit gutem Ergebnis abgeschlossen – wurde ich von SED-Agitatoren zum Studium vorgesehen. Nachgeborene müssen wissen, dass die SED-Führung vor dem Mauerbau 1961 den Studenten, die zumeist dem Bürgertum entstammten, ideologisch höchst misstrauisch gegenüberstand – viele „hauten nach dem Westen ab“, mit dem DDR-Hochschul-Diplom in der Tasche. Deshalb intensivierte die SED-Führung die Facharbeiterausbildung. Facharbeiter erschienen den neuen Machthabern braver als die selbstbewussten und unruhigen Studenten. Man brauchte die Arbeiterschaft nur ausreichend zu ernähren, denn bei Hungerrevolten wie am 17. Juni 1953 konnte auch sie ungemütlich werden. Obwohl ich herzlich wenig Interesse für die Maschinenbauerei verspürte, verfüge ich noch heute über fundierte Kenntnisse in Materialkunde, Mechanik, Statik und bin ein exakter Technischer Zeichner.

Als im September 1961 das Abiturvorbereitungsjahr unseres Hochschulbefähigungs-Lehrganges begann, war es mit der Idylle vorbei, die Mauer stand. Uns empfing ein Trio NVA-Offiziere, die, vom Schuldirektor sekundiert, uns eine Verpflichtungserklärung vorlegten. Jedes Wort traf mich wie ein Peitschenhieb: Wir sollten uns bereiterklären, die sozialistische Ordnung in der DDR (die mich vor drei Wochen gerade eingemauert hatte) mit der Waffe in der Hand (und in jener peinlichen Naziuniform der NVA), unter Einsatz des Lebens (mit dessen Genuss ich gerade begann) und im Bündnis mit der schrecklichen Sowjetarmee (die in meinen Augen das Böse schlechthin war) zu verteidigen. Das Schlimmste aber war die Argumentation: Wir, als zukünftige sozialistische Leitungskader, wären verpflichtet, mit gutem Beispiel voranzugehen und den übrigen Jugendlichen als Vorbild zu dienen. Diese Kampagne hieß: „FDJ-Aufgebot“. Die Wehrpflicht in der DDR begann acht Monate später.

Bisher war meine Distanz zum SED-Regime in der DDR eher ästhetischer Art gewesen. Ich kam schließlich aus der Arbeiterschaft, und die SED wollte ja den Arbeitern geben und es den reichen Kapitalisten nehmen. Damit konnte man als jugendlicher Angehöriger der Arbeiterklasse ohne volkswirtschaftliche Bildung durchaus leben, wenn auch alles, was die SED tat, hässlich war. Ihre Reden, ihre Aufmärsche und Kundgebungen, ihre Bauten, ihr persönliches Auftreten und das Schlimmste, ihr Militär. Ein unüberwindlicher Ekel packte mich, ich fand daher sogar den Mut, als Einziger unserer Klasse die Unterschrift unter dieser Erklärung zu verweigern. Diese Verweigerung bewirkte eine brüllende Schimpfkanonade aus dem Munde der Uniformträger gegen mich und meinen Hinauswurf aus dem Abiturkursus durch den Direktor der Abend-Oberschule. Herkunft aus der Arbeiterklasse und gutes theoretisches Wissen hatten als Kriterien für meinen Verbleib in dieser Bildungseinrichtung ausgedient. Die Militarisierung des Lebens in der DDR deutete sich an.

Der Hinauswurf traf mich nicht als eine besonders tiefe Zäsur. Akademiker hatten in der DDR ohnehin nicht mit hohem Einkommen zu rechnen. Mittlerweile hatte ich als Aushilfskellner eine Möglichkeit gefunden, meine Liquidität aufzufrischen, was etwas Freiheit bedeutete. Mein Lehrberuf als Maschinenschlosser war schlecht bezahlt und bot keine Möglichkeit, ein Zubrot zu verdienen, so dass ich ihn aufgab. Die Kellnerei hatte auch den Vorteil, dass ich mit vielen anderen verhinderten Akademikern und auch mit Studenten in Kontakt kam. Aber auch wirkliche Akademiker entzogen sich nicht dem Umgang mit einem forschen jungen Mann, der gepflegte Umgangsformen, einiges Wissen und immer die Taschen voller Bargeld hatte. Ähnlich wie Alexej Maximowitsch Peschkow, der unter seinem Kampfnamen „Der Bittere“ (russisch: „Gorki“) zu Weltruhm gelangte, nenne ich diese meine Zeit in Dresden und später in Rostock „meine Universitäten“.

Verschiedene Verbindungen da und dort bescherten Glücksansätze von Liebe und Familienleben, denn einige meiner Geliebten hatten eigene Kinder. Die Beziehungen führten aber nie zu einer standesamtlichen Bindung; es blieb immer nur bei dem, was das schöne, französische Wort „Liaison“ nennt oder der katholische Klerus mit dem Schmähwort „Konkubinat“ bedenkt. Meine Ablehnung von administrativen Bindungen blieb auch dann noch, als ich Penelope kennenlernte, mit der ich, im oben angedeuteten Verhältnis, noch heute zusammenlebe.

Sinnlich und materiell konnte ich mich nun nicht mehr beklagen – sommers an der Ostseeküste einträgliche Saisontätigkeit bewältigend und die übrige Zeit des Jahres unterwegs, zum Lebensgenuss und der Libido des Lernens nachgehend. Schließlich war mir ein geisteswissenschaftliches Studium verwehrt worden, aber ich legte dennoch großen Wert auf Bildung. So nebenbei wurde ich in Dresden zu einem erfolgreichen Antiquitätensammler, -händler und auch -restaurator, der das im Sommer gescheffelte Geld nicht zur Gänze verjubeln musste oder wollte, sondern langfristig sichern konnte.

Im Urlaub war ich natürlich oft in unseren östlichen Nachbarländern unterwegs. Das war immerhin ein Hauch von Freiheit, wenn man auch, speziell in Polen, noch eine tiefe Abneigung gegen Deutsche verspürte. Diese Abneigung gegen uns Deutsche gab es, wie ich mich damals wieder anhand der Berichte und Erzählungen älterer Menschen erinnerte, in Italien nicht. Immerhin hatten ja die Italiener Hitlers Eroberungskrieg viele Jahre klaglos mitgemacht und müssten nun, nach meiner Vorstellung, unter den gleichen Schuldgefühlen leiden wie wir und würden uns, die Hauptschuldigen am Kriege von der Nordseite der Alpen her, womöglich mit Milde und Freundschaft behandeln.

Damals kannte ich auch schon Seumes Buch „Mein Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802“ aus der Schule. Bei Klassenwanderungen zum Großen Winterberg zeigten uns die Lehrer Seumes Weg durch Böhmen nach Italien. In meinen nächtlichen Glücksträumen bin ich dann auf der Suche nach dem Weg nach Italien zwischen den böhmischen Kegelbergen umhergeirrt.

Mitten in meinem lockeren Lebenswandel war ich dann plötzlich 40, nun war „Schluss mit lustig“ – es hatte etwas Bedeutendes zu geschehen. Eine Italienreise war das absolute „Muss“ eines deutschen Bildungsbürgers. So sah ich das jedenfalls damals. Am besten erschien es mir natürlich, diese Reise auf den Spuren Johann Gottfried Seumes bis hinunter nach Syrakus zu unternehmen. Nach 40 Jahren Spießbürgerlebens begann ich endlich mit praktischen Schritten zu meiner Selbstbefreiung. Und doch hatte ich bei allem Reisefieber Angst nicht wieder hereingelassen zu werden. Schließlich liebte ich inzwischen dieses Land, nicht den Staat. Sachsen mit seiner langsam verrottenden Pracht, Berlin und die Mark, wo noch immer der Hugenottengeist waberte, und Mecklenburg, wo sogar noch im Winter die Atemluft erträglich war. Und Penelope band mich an dieses Land.

1. KAPITEL: DER PLAN

Das Seebäderschiff

Ich musste also unbedingt meinen „goldenen Käfig“ einmal von außen sehen. Doch die existenzielle Frage stand im Raum – wie wieder rein?!

Der Gedanke lag nahe, mit einem spektakulären Grenzdurchbruch und der publizistischen Zurückhaltung im Westen nach dem Erfolg Druck auf das SED-Regime auszuüben und so diskret wieder in die DDR einzureisen. Der Plan der Wiedereinreise lag so auf der Hand, wie nun aber raus?

Das Strafgesetzbuch der DDR bedrohte Grenzverletzer im schweren Fall (§ 213 [2. Absatz] Ungesetzlicher Grenzübertritt) mit fünf Jahren Freiheitsstrafe. Schwerer Fall lag vor, wenn:

„1. Die Tat durch Beschädigung von Grenzsicherungsanlagen oder Mitführung geeigneter Werkzeuge oder Geräte oder Mitführen von Waffen oder durch die Anwendung gefährlicher Mittel oder Methoden durchgeführt wird. 2. Die Tat durch Mißbrauch oder Fälschung von Ausweisen oder Grenzübertretungsdokumenten, durch Anwendung falscher derartiger Dokumente oder unter Ausnutzung eines Verstecks erfolgt.

3. Die Tat von einer Gruppe begangen wird.

4. Der Täter mehrfach die Tat begangen oder im Grenzgebiet versucht hat, oder wegen ungesetzlichen Grenzübertritts bereits bestraft ist.“

Und in Absatz 3: „Vorbereitung und Versuch sind strafbar.“

Die Überwindung der Mauer an der Westgrenze war mir ohne Regime-Kenntnisse zu gefährlich. Über die Grenze der ČSSR nach Bayern oder Österreich zu gehen war durch die diplomatischen Verwicklungen, die es gebracht hätte, nicht als Druckmittel für die Rückreise geeignet. Vielleicht gab es einen Weg durch die Luft? Dazu hätte ich aber Flugkünste und gewiss einen Mitwisser benötigt. Es blieb also nur die Ostsee.

Die meisten Fluchtwilligen, welche die Ostsee als Grenzdurchbruchsort im Hinterkopf hatten, dachten an das Fischland oder den Weststrand der Halbinsel Darß, wo es nur 36 Kilometer bis zur dänischen Insel Falster sind, andere an die Insel Poel, die noch näher an der Küste Ostholsteins liegt.

Ohne schon konkrete Pläne im Auge zu haben, bemühte ich mich für die Sommersaison 1981 um die Bewirtschaftung eines von der Mitropa betriebenen Seebäderschiffs der „Weißen Flotte“, das in den östlichen Boddengewässern und an der Ostküste der Insel Rügen Urlauber in Tagesfahrten herumschipperte. Ich wollte auf keinen Fall mehr mit Tablett und Armserviette knechten müssen, es wurde aber dennoch höchst anstrengend, dabei jedoch äußerst einträglich – dies sei voraus gesagt.

Nach einigen Wochen hatte ich einen Saisonvertrag als Buffethaftungsleiter auf der MS SEEBAD WARNEMÜNDE, beginnend am 3. Mai 1981, im Briefkasten. Das Schiff sollte in Wolgast liegen und auch von dort seine Tagesfahrten unternehmen.

Die MS SEEBAD WARNEMÜNDE war ein alter Eisenschlorren von ca. 350 tons und wurde wie ein stolzes Hochseeschiff mit vierzehn Mann ganz seemännisch betrieben. Der Kapitän war ein großer, dicker Mann von Mitte fünfzig, der in den 60ern einmal Erster Offizier auf der VÖLKER-FREUNDSCHAFT gewesen war. Schließlich hatte das Schiff zwei nautische Offiziere an Bord, von denen einer mehrere Jahre bei der Hochseefischerei der DDR als Steuermann gefahren war. Er war an Bord der erfahrenste Mann. Dann gab es noch zwei Mann für die Maschine, einen Offizier und einen Assistent. Die acht Matrosen führte ein Bootsmann. Für die Verpflegung der Passagiere und der Mannschaft waren eine Küchenmeisterin, zwei Kellner und ich, der die Getränkelast unter sich hatte, zuständig. Alle achtzehn Menschen lebten auf dem Schiff, die Offiziere im Oberdeck, die Matrosen achtern und die Gastronomen im Bug.

Bei der ersten Verholreise mit dem noch leeren Schiff von Stralsund nach Wolgast bekam ich meinen ersten nautischen Hinweis, hatte beim Besuch auf der Brücke die Luvtür geöffnet – der Bootsmann brüllte mich an: „Luvdöör tau!“

Mit bis zu 130 Fahrgästen begannen in den nächsten Tagen die Törns, die Peene abwärts, durch den Greifswalder Bodden und aus der Landtiefrinne hinaus in die Ostsee, wo die Reise über die Prorer Wieck nach Saßnitz ging. Bei starkem oder steifem Wind aus östlichen Richtungen holte das Schiff gewaltig über. So dicht vor der Küste der Halbinsel Stubnitz und des Mönchguts baute sich dann eine eklige Kreuzsee auf. Das Schiff hatte keinerlei Stabilisatoren, hätte, um das Schlingern zu dämpfen, gegen den Ostwind angehen müssen, doch dort wollten wir nicht hin. Für die Kellner, die das Mittagessen schon im ruhigen Peenestrom mittels ausgegebener Essenmarken kassiert hatten, war die Schlingerfahrt des Schiffes natürlich eine fette Beute, die sie mit der Köchin teilten, da keiner der Gäste mehr Appetit verspürte.

Bei Schlechtwetter fuhren wir oft leer nach Wolgast zurück, da die Landratten lieber mit dem Zug von Saßnitz aus in ihre Quartiere in Zinnowitz oder in den „Kaiserbädern“ zurückfuhren.

Manchmal führte der Törn auch aus dem Osttief hinaus, um die beiden winzigen Inseln Greifswalder Oie und Ruden zu umrunden und dann auf der Rückfahrt durch das Landtief wieder in den Greifswalder Bodden hinein. Wir schipperten dann nur noch einige Meilen durch den Bodden, das waren allerdings nur Halbtagsfahrten. Wobei die Fahrwässer, die hier Tiefs oder Rinnen genannt werden, nicht nur betonnt, sondern auch regelmäßig ausgebaggert werden mussten. Dieser Archipel war vor wenigen Jahrhunderten noch zusammenhängendes Land. 1629 landete hier Gustav Adolf mit seinem aus über 10.000 Mann bestehenden Schwedenheer, um von Wolgast aus das „Heilige Römische Reich deutscher Nation“ fast zur Gänze zu erobern. Im Frühmittelalter hatten Rügen und Usedom noch eine gemeinsame Landbrücke, so dass die Peene erst westlich von Stralsund bei Hiddensee in die Ostsee mündete. Die Gewässer waren daher denkbar flach und die Ausfahrten schmal, brachten potenzielle Grenzdurchbrecher daher, besonders bei diesigem Wetter, notgedrungen auf kühne Gedanken.

Daher waren unter den Fahrgästen auch oft Leute, die von ihrem Auftreten und ihrem Gehabe sowie von ihren Fragestellungen her für mich als Stasileute erkennbar wurden. Den Matrosen waren diese Leute schon bekannt. Sie berichteten von der Furcht der Stasi vor Schiffsentführungen, wie sie angeblich kurz nach dem Mauerbau auf der Ostsee von einer Greifswalder Abiturklasse versucht worden sei. Damals fuhr die „Weiße Flotte“ noch bis kurz vor Bornholm, machte aber nicht mehr im Hafen von Nexø fest, was jene Abiturklasse aber mit Gewalt angeblich hatte erzwingen wollen. Die Möglichkeit eines Grenzdurchbruchs mit einem Seebäderschiff der Weißen Flotte oder überhaupt einem Passagierschiff war für die SED-Machthaber seither ein Horror in ihrer Gedankenwelt., Deshalb auch die überdimensionierte Besatzung auf dem kleinen Schiff ‘, dachte ich.

Bei mir hatte sich nun aber schon der Gedanke festgesetzt: , Über die See geht der Weg, um einmal den Käfig von außen zu betrachten.‘

Die offene See mit dem freien Blick zum Horizont, der die Freiheit verheißt, oder zu Schiffen, die an der Kimm deutlich auftauchen, sind für Insassen in einem eingemauerten Land natürlich sehr verführerisch – heute ist das kaum noch zu verstehen. Diese permanenten Gedanken der Insassen nach draußen korrespondierten mit der permanenten Arbeit der Wächter oder der Teilhaber des Käfigs an der Verschlusssicherheit ihrer Anstalt.

Wie gesagt, war der Job höchst anstrengend. Morgens um fünf Uhr ging der Bootsmann durchs Schiff und brüllte jedem, der noch nicht aus der Koje war, sein „Reise, reise!“ ins Ohr. Um sechs Uhr war Dienstbeginn, obwohl wir dann zumeist noch beim Frühstück saßen. Bis zur Abfahrt mit den Tagespassagieren, zumeist zwischen sieben und acht Uhr, musste die Ware beschafft und eingelagert werden, dann ging die Arbeit mit mehreren Stunden Mittagspause im Zielhafen bis gegen 21 Uhr fort, was uns, an sechs Tagen pro Woche, immerhin neunzig Arbeitsstunden brachte. Jeden Freitag aber war Ruhetag für Schiff und Leute.

Jeden zweiten Ruhetag ersparte ich mir die 250 Kilometer auf mecklenburgischen Landstraßen nach Rostock und wieder zurück nach Wolgast, blieb an Bord. Diesen einzigen freien Tag alle zwei Wochen verbrachte ich dann zumeist in den Badeorten des nördlichen Usedom, in Zinnowitz oder Koserow.

Und hier hatte ich im Hochsommer 1981 ein berichtenswertes Erlebnis. Es war die Zeit des ultrarechten, francistischen Putschversuches in Spanien, über den auch im DDR-Fernsehen berichtet wurde, speziell über die Pistolenattacke jenes francistischen Majors in den Cortez, wo jener gestiefelt und gespornt in vollem Wichs die Parlamentarier mit Schüssen in die Decke unter die Tische trieb und nur die Tapfersten auf den Bänken sitzenblieben, wie ich mich noch entsinne.

Just an einem dieser freien Tage, ich saß zum Dinner im „Hotel am Strande“ in Zinnowitz, stiefelte der hiesige ABV mit seinem Gehilfen im Gleichschritt durch die Gasträume. Sie wollten gewiss nur ihr Personalessen einnehmen. Obwohl die beiden, mitten im Sommer, ihre leichte Sommerdienstuniform hätten anlegen können, lärmten sie aber gestiefelt, lederbekoppelt, mit Pistolentaschen und Sturmriemen-Dienstmütze, mürrischen Gesichts durch den Raum. Es wirkte geradezu albern, ich konnte mir ein feixendes Kopfschütteln nicht verkneifen. Ein älteres Ehepaar, das soeben die Mahlzeit beendet hatte und sich auf den Weg machen wollte, duckte sich aber nun verschüchtert und saß noch einen Moment stumm am Tisch. Als sie sich dann aber doch auf den Weg machten, sagte der Herr noch zu mir: „Für Sie, junger Mann, sind diese Leute wohl spaßig, wir haben sie aber noch in anderer, weniger spaßiger Erinnerung!“

Die Sommersaison bei der „Weißen Flotte“ ging Mitte Oktober zu Ende. Es war eine schwere Arbeit getan, die mir kaum Zeit gelassen hatte, die Geschehnisse in der Welt zu verfolgen. Die Ermordung von Präsident Sadat im Sommer wurde nur beiläufig erwähnt, die persönliche Verbindung nach Polen war bereits im Vorjahr durch die Stornierung der Visumsfreiheit durch die DDR-Behörden unterbrochen worden. Mir war klar, dass ich einen solchen Knochenjob nicht wieder annehmen durfte, wenn ich mein Ziel verwirklichen wollte. Die Schinderei auf dem Schiff hatte meine Liquidität aber noch einmal gewaltig aufgefrischt.

Erst nach unserem Jahresurlaub, den ich mit Penelope wieder im „Tal der Ahnungslosen“, in Rosenthal, verbrachte, kam die Lage in Polen deutlicher in mein Bewusstsein. Hier hatte die Solidarność das kommunistische Regime arg in Schwierigkeiten gebracht.

Die Krise kommt näher

Im Dezember 1981 stellte der Präsident der Volksrepublik Polen sein Land unter Kriegsrecht. Man vermutete, dass er zu dieser Maßnahme gegriffen hatte, um die Sowjetunion von einem militärischen Eingreifen in seinem Land abzuhalten, was zweifellos zu einem blutigen Krieg mitten in Europa geführt hätte.

Unglücklicherweise befand sich Bundeskanzler Schmidt zu diesem Zeitpunkt gerade bei Erich Honecker in dessen Gästehaus in der Schorfheide zu Besuch. Er konnte aber auch nicht so einfach aus Protest abreisen, wollte ja noch in Güstrow die Barlach-Gedenkstätte besuchen und auf der Orgel im Dom der Stadt dem Orgelspiel frönen. Vor allem aber wollte er die weltpolitische Situation nicht noch weiter aufheizen, die durch den Nachrüstungsbeschluss, der ja auf Schmidts Initiative zurückging, einen weiteren Höhepunkt erreicht hatte.

Dann war er aber doch in Güstrow, das keine dreißig Minuten Fahrzeit mit dem Bummelzug von Rostock entfernt liegt. Ich bin eigentlich kein Jubler, äußere meine Zustimmung zu politischen Dingen eher im privaten Kreis; dem geachteten deutschen Kanzler Schmidt wollte ich aber doch durch Anwesenheit meine Reverenz erweisen. Es fuhren an diesem Tag jedoch keine Züge nach Güstrow. Wer nach Waren oder nach Berlin löste, dem wurde gesagt, dass der Zug nicht in Güstrow hält. Wer aber glaubte, pfiffig zu sein und nach Karow oder nach Plau lösen wollte, der wurde auf den Schienenersatzverkehr verwiesen, der natürlich im weiten Bogen um Güstrow herumfuhr. Wem es aber doch gelungen war, seine Person in die Stadt hineinzuschmuggeln oder wer darin wohnte, der hatte weitere Hindernisse zu gewärtigen. Das deutsche Fernsehen hat nach der Wende mehrere eindrucksvolle Sendungen gebracht, die jene Schande besser dokumentiert haben, als es meine Zeilen jemals tun können.

Für alle Welt sichtbar, hatte die Sowjetunion durch Nach-Nachrüstung, Afghanistan-Invasion und polnische Solidarność-Bewegung gewaltige Probleme, zu Beginn der 80er Jahre kam ein weiteres Problem hinzu. In den baltischen, belorussischen und zentralrussischen Kartoffelanbaugebieten der Sowjetunion gab es eine schreckliche Missernte, die mit der Kartoffelfäule in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts in Irland vergleichbar war. Die DDR-Landwirtschaft musste in die Bresche springen. Bereits im Sommer 1981 bemerkte ich, wie man an der Küste bei Lubmin Kliffhäfen in den Bodden hineinbaute. Nun konnten die flachgehenden sowjetischen Wolgabaltschiffe, die für die Ostsee genauso wie für die großen russischen Flüsse gedacht waren, große Mengen Kartoffeln gleich vom LKW in die Laderäume kippen lassen. Bis zur Mitte der 80er Jahre habe ich diese Kartoffelexport-Praxis auch in den östlichen Hafenstädten der DDR beobachten können.

Die DDR war vom zehntgrößten Industrieland der Welt zum Lebensmittellieferanten geworden, denn auch Fleisch (Jungrinder nach Westen und Schweine nach Osten) wurde fleißig exportiert. Hafenarbeiter witzelten: „Demnächst kommen die Russen mit dem Tanker und holen sich die Soße, damit sie die Kartoffeln und das Fleisch einditschen können.“ Andere waren aber weniger pessimistisch, sagten: „Jetzt wird’s ja bald besser, auch in der DDR. Wir haben doch einen Handelsvertrag mit der Insel Dari!“ Wer nun zurückfragte, wo die Insel Dari denn gelegen sei, bekam zur Antwort: „In der Inselgruppe zwischen Soli und Tät.“

In dieser Situation brach im Frühjahr 1982 in den Nordbezirken der DDR die Maul- und Klauenseuche aus. Nach einigen Wochen machte sich in der gesamten DDR ein deutlicher Fleischmangel bemerkbar.

Zu dieser Zeit lief in den Kinos der DDR die überwältigende englische Verfilmung von Swifts „Gullivers Reisen“. Darin kommt eine Szene vor, in der es um Querelen der Liliputaner mit den Bewohnern der Nachbarinsel geht. Gulliver schlichtet hier den Streit, ob man das Ei oben oder unten aufschlagen sollte, indem er den Streithähnen empfiehlt, doch aus den Eiern einfach Omelette, verlorene Eier, Spiegeleier, Rührei, Senfei oder Hoppelpoppel zu machen. Diesen Hinweis befolgten die Gaststättenleiter in den Gaststätten der DDR. Es gab fast nur noch Eiergerichte oder Broiler dort, aber trotz der Solidarität mit den darbenden Sowjetmenschen keinen Lebensmittelmangel in der DDR.

Das Lebensmittelüberangebot im Westen, das durch das Westfernsehen in die Wohnzimmer der DDR-Bürger zumindest visuell gelangte, wurde von den Leuten lange Zeit als Propaganda angesehen, man log nun mal im Fernsehen. Westwerbung galt als Westpropaganda, und sozialistische Produktionserfolge waren die Ostpropaganda. Erst als die größere Zahl von Verwandtenbesuchen im Westen möglich wurde und auch normale Menschen berichteten, dass es im Westen tatsächlich ein überquellendes Kaufangebot gab, und das in für jeden zugänglichen Geschäften, kippte diese Meinung etwas.

Erste Schritte

Für mich war aber klar, im Sommer 1982 musste ich das Segeln erlernen und ein entsprechendes Boot erwerben, machte mich schon mal theoretisch mit der Sache vertraut. Ich muss voraussagen, dass ich ein Typ bin, der aus dem geschriebenen Wort leicht Kenntnis zu erlangen vermag und der für Kräfte, Größen, Orte und Zeiten äußerst zugänglich ist. Deshalb begriff ich nicht nur die Grundlagen des Segelns aus einem einfachen Segellehrbuch heraus, sondern wurde bald, allein aus dem tagtäglichen Hören des Seewetterberichts, zu jemandem, der zuverlässig die meteorologische Navigation erkannte und bald auch beherrschte.

Seit einigen Jahren hörte ich also schon den Seewetterbericht, den das DLF auf der Mittelwelle 1.289 KHz um 6.40 Uhr zur schönsten Frühstückszeit aussendete. Von den zwanzig Wetterstationen des Seewetterberichts kannte ich elf noch aus dem Erdkundeunterricht, die restlichen neun Stationen lagen zweifellos dazwischen, denn die Orte kreisten gegen den Uhrzeigersinn um die Nordsee, um Jütland herum und im Uhrzeigersinn um die Ostsee bis zur Halbinsel Hel. Bald entstand nach der Meldung des Luftdrucks der einzelnen Stationen ein Bild in meinem Gehirn, das man wissenschaftlich die Isobaren nennt, also die Linien gleichen Luftdrucks. Es genügte nun ein Satz aus dem Segelhandbuch, das auch Grundbegriffe der Meteorologie beinhaltete, wonach der Wind auf der Nordhalbkugel aus dem Hoch heraus im Uhrzeigersinn von der Corioliskraft abgelenkt und gegen den Uhrzeigersinn ins Tief hineinweht, um die Windrichtung vorherzusagen. Als ich dann noch las, dass sich mittels der Isobaren-Abstände der Gradient berechnen ließ, war die Grundlage für die Erstellung der Seewettervorhersage gelegt. Ich kann sagen, dass derjenige, der seine gesamte Lebenszeit nicht ausschließlich mit Erwerbsarbeit vertrödelt, sondern sich ihn interessierenden Wissensgebieten intensiv widmet, durchaus entsprechende Kenntnisse und Fähigkeiten erwerben kann. In Umkehrung des Ergehens vieler Sanitäter während des Krieges, die mit dem Skalpell auf den Feldsanitätsplätzen agierten, Verwundete behandelten, dabei Erfolge erzielten und nach dem Krieg nicht als Chirurgen tätig sein durften, weil sie die medizinische Theorie nicht an der Universität studiert hatten, hatte ich mir bald autodidaktisch die Navigation beigebracht, ohne jemals praktisch auf der Kommandobrücke eines Schiffes gestanden zu haben und mich nun auch nicht Navigator nennen darf.

Zeitparallel zu meinen theoretischen, nautischen Vorbereitungen eines Grenzdurchbruchs über die Ostsee unternahm ich auch legale Versuche einer Ausreise. Im Dezember 1981 bereits stellte ich einen Antrag auf Mitgliedschaft in der Liga für Völkerfreundschaft, Sektion „Italien“. Das neue Jahr war erst wenige Wochen alt, als ich schon ein Ablehnungsschreiben in meinem Briefkasten fand. Mir wurde darin mitgeteilt, dass die Liga für Völkerfreundschaft nicht für private Interessen gedacht sei, sondern für Delegierte der gesellschaftlichen Massenorganisationen der DDR, welche die Politik von Partei und Regierung in den entsprechenden Ländern zu vertreten hätten. Mir war schon vorher klar, dass ich auf legalem Wege nie aus dem Käfig hinauskommen würde, ich führte aber auch später noch meine Antragsflut fort, nicht in der Hoffnung auf Erfolg, sondern um das Bild des naiven Antragstellers zu festigen, der, unfähig zur couragierten Tat, leicht abzuwimmeln, weil harmlos ist.

Mit dem hereinbrechenden Frühjahr rückte die praktische Vorbereitung meines Planes immer dringlicher in den Fokus. Private Segelschulen gab es in der DDR nicht, ich musste mich also zeitweise einer sogenannten Betriebssportgemeinschaft (BSG) anschließen. Diese gab es jedoch als Segelsparte in den direkt an der Ostsee gelegenen Orten nicht. Der Rostocker Universitätssegelclub oder die in Warnemünde ansässigen Segelvereine waren für mich nicht zugänglich. Ich wollte das Segeln natürlich auch nicht in binnenländischen Gewässern oder in mitteldeutschen Talsperren erlernen und praktizieren.

Es hieß für mich, in den Boddengewässern entsprechenden Anschluss zu finden. In der Betriebssportgemeinschaft des Fischereikombinats Saßnitz, die im Großen Jasmunder Bodden einen kleinen Seglerhafen hatte, wurde ich schon bei meiner freundlichen Begrüßungsrede von einem schrecklichen Rüpel, der dort wohl Vereinsvorstand war, ‚weggebissen‘. In den Rostock nahen, kleinen Hafenstädten Ribnitz und Barth verlangte man von mir, den Hauptwohnsitz im Ort zu haben, was ich in beiden Fällen freilich nicht wollte.

Mehr Erfolg zeigte sich für mich in Groß Zicker, wo die Fischereiproduktionsgenossenschaft (FPG) des Mönchgutes in ihrer BSG ein halbes Dutzend 420er Jollen und eine Baracke für das Segelzubehör zu liegen hatte. Der hier Zuständige machte mir Hoffnung, als vorübergehendes Mitglied am Boddensegeln teilnehmen zu können, wenn ich im Kreis Rügen eine Saisonarbeiterstelle annehmen würde. Das war für mich die Chance. Ich bemühte mich daraufhin um einen Job beim HO-Kreisbetrieb Rügen, das heißt, ich fuhr zum Saisonbeginn in Binz vor und bekam spontan die Barleiterstelle in der Binzer Nachtbar „Fass“. Hier musste ich den Bartresen mit allen in der DDR gängigen Barangeboten und die ca. dreißig Tischplätze des Ladens bedienen. In einer Ecke des dunklen Raumes ‚schaffte sich‘ ein Einzelmusiker mit einem Synthesizer, lärmte aber nicht allzu sehr. Wie überall in den Nachtläden des Ostens war das Haus vom ersten Tag an bis auf den letzten Platz gefüllt. In Binz gab es damals, 1982, schon eine Türsteherszene, welche die Gewalttätigkeiten, die nun mal zum Nachtlokalgeschäft gehören, von mir fernhielt. Binz war schon von jeher das bevorzugte Seebad der Berliner Schickeria, auch zu DDR-Zeiten. Es gab einen Seebädersonderzug, der die Liebhaber des Seebades Binz in zweieinhalb Stunden vom Berliner Bahnhof Lichtenberg nach Binz brachte, er fuhr gegen 18 Uhr in Berlin ab und brachte die Leute kurz vor der Öffnungszeit des „Fass“ nach Binz. Besonders hauptstädtische Künstler und ihr Umfeld, aber auch andere Gestalten der Berliner Lebewelt fielen pünktlich um 21 Uhr vom Bahnhof Binz aus im „Fass“ ein. Die meisten Gäste dort waren aber im Ort ansässige Stammurlauber.

Obwohl diese Leute mir schon in den ersten Tagen meines Jobs bedeutende Einnahmen brachten, haben sie bei mir wenig Eindruck hinterlassen, ich hatte ja andere Ziele im Blick. Nur die „Römerin“ ist mir heute noch gut in Erinnerung. Sie war eine große, stolze Mittvierzigerin, trug eine füllige schwarze Mähne auf dem Haupt, zeigte ein tiefes Dekolleté über ihrem beeindruckenden Busen und wurde immer von einem Halbdutzend blonder Jünglinge begleitet, die der Größe nach geordnet lächelnd wie ein Schwanz hinter ihr hertänzelten, wenn sie das Lokal betrat und später ihre Herrin devot umschwärmten.

Es war also für mich wieder viel zu tun, das Geschäft ging bis zum Morgen um vier Uhr, ich war danach erst immer gegen fünf Uhr im Bett. Nach diesem Knochenjob schlief ich auch zumeist bis in den frühen Nachmittag. Danach fuhr ich mit meinen klapprigen „Mossi“ nach Groß Zicker, wo ich mir bei dem Vorstand des Segelvereins den Barackenschlüssel holte, um mir eine der 420er Jollen aufzutakeln und nach meinem theoretischen Segelwissen die ersten selbstständigen Einhand-Segelversuche im Zicker See zu unternehmen. Von Mal zu Mal wurde das besser. Ich hatte zuerst nur das Großsegel gesetzt, um das Grundgefühl des Segelns zu beherrschen, Gefühl für den Winddruck am Segel und die Balance auf dem kiellosen Boot, aber auch beim Ab- und Anlegen der Jolle, den Druck aus den Segeln nehmen, immer die Windrichtung im Blick, zu erlangen.

Dann setzte ich zusätzlich die Kreuzfock als zweites Segel, was schon schwieriger war. Als ich die Jolle sicher beherrschte, verlangte es mich natürlich nach einem längeren Törn in die größeren Boddengewässer hinein. Doch dazu musste ich auf einen Ruhetag warten, hatte ja jeden Abend noch vor 20 Uhr meinen Dienstpflichten und Vorbereitungsarbeiten zu genügen. Der Job im „Fass“ war natürlich wieder eine Goldgrube für mich, früher hätte ich ihn für einen ausgesprochenen Glücksfall angesehen. Jetzt hatte ich aber andere Ziele, zumal der „Mossi“, nun schon elf Jahre alt, zusammenzubrechen drohte.

Auf meinem Fahrweg zwischen Binz und Groß Zicker kam ich immer in Lobbe, ganz nah am Strand, an einem barackenähnlichen Gasthaus namens „Leuchtfeuer“ vorbei. Eines Tages machte ich hier Halt und ging hinein, traf dort einen ruppigen Typ, der mir aber sofort sympathisch war. Er betrieb den Laden gemeinsam mit seiner Frau, hatte aber kaum Angebote, weil die Maul- und Klauenseuche warenmäßig schon unerbittlich zugeschlagen hatte. Es gab kaum noch etwas, was man in einer Küche zu einem vollwertigen Mittagsgericht zusammenquirlen konnte. Der Typ, der Jochen hieß, nahm das aber locker, zeigte schon die richtige Endzeitstimmung, die sich immer weiter in der DDR ausbreitete. Der Laden befand sich kurz hinterm Strand, war also ideal gelegen, und hier war wenig zu tun. Nach einiger Zeit fragte ich Jochen, ob er für mich hier Quartier und Job hätte. Er war höchst erfreut von meinem Angebot, meinte: „Gern, wenn du auf die dicke Kohle verzichten willst, die das ‚Fass‘ abwirft, kannst du hier immer mal das Abendgeschäft machen und in dem Bungalow am Strand wohnen!“

Die Binzer wollten es erst nicht glauben, dass ich die Goldgrube im „Fass“ mit dem traurigen „Leuchtfeuer“ vertauschen würde, hielten mich wohl für einen verrückten Naturliebhaber.

Nun segelte ich täglich mit der 420er Jolle, war doch das Sommerhalbjahr 1982 wettermäßig eines der schönsten des 20. Jahrhunderts, nur in der zweiten Augustdekade regnete es ungewöhnlicherweise fast ununterbrochen. Hin und wieder blies bei klarem Himmel starker bis steifer Wind (Bf 6 und 7); „Kaiserwetter“, sagt der Seemann, hierbei sollte man aber Jollen an Land lassen. Ich wollte es aber doch wissen und ging mit der 420er Jolle in den Zicker See.

Der Wind blies steif aus Westen, und ich segelte, nachdem ich nur das Großsegel gesetzt hatte, mit diesem in Richtung Süd auf die Halbinsel Klein Zicker zu, hatte das Großschot weit gefiert. Eine hohe See konnte sich in dem kleinen Gewässer natürlich nicht aufbauen, es blies mir aber reichlich Gischt gegen Brust, Rücken und ins Gesicht. Als ich mitten im Zicker See wenden wollte, warf der steife Wind die Nussschale um, ich lag, glücklicherweise ohne Verletzung, aber auch ohne Lifejacket im Wasser. Das Segel drückte mich unter Wasser, ich versuchte, unter dem Segel herauszutauchen, was aber schwierig war, da ich es in der ganzen Länge nach abtauchen musste. Endlich war ich draußen und konnte wieder Luft schnappen.

Kurzzeitig hatte ich Todesangst empfunden, war aber nun belehrt, wie man sich im Falle des Kenterns verhält. Nach dem losgeworfenen Großschot gelang es mir, die Jolle mit Hilfe des Schwertes vor dem Wind wieder aufzurichten, mich in die Plicht zu schwingen und das Boot ans Ufer zu segeln.

Einige Tagestörns, wiederum im „Einhand“ (engl. „single-hands“) um die Insel Vilm herum und durch den ziemlich großen Greifswalder Bodden gaben mir das Selbstbewusstsein; ich war auf dem besten Wege, ein passabler Segler zu werden, der sich später auch auf die hohe See wagen konnte.

In dieser Zeit fochten die Briten im Südatlantik den „Falklandkrieg“ aus, von dem ich aber auf meiner westfernsehenlosen Insel fast nichts mitbekam. Nur bei einem Besuch im heimatlichen Rostock sah ich die Bilder im Fernsehen: von den Kämpfen im winterlichen Südatlantik und später, wie die siegreichen Männer der Royal Navy durch die Straßen Londons marschierten. Ich freute mich, dass eine westliche Macht den exotischen Tyrannen einmal siegreich die Zähne gezeigt hatte.

Ende August 82 teilte mir der Vorstand des Seglervereins mit, dass in den nächsten Tagen ein Instrukteur der BSG hier erscheinen und allen, die sich dafür interessierten, die praktische Segelprüfung für den Segelschein abnehmen würde. Natürlich wollte ich das!

Ich bestand die Prüfung und bekam das entsprechende Zertifikat ausgehändigt, so dass ich mich im Winter 1982/​83 in Rostock nur noch um den theoretischen Teil des Segelscheins zu bemühen brauchte. Diesen Schein wollte ich aber auf alle Fälle erwerben.

Jetzt benötigte ich nur noch eine eigene Jolle, um mich auch real an meinen großen Plan zu machen. In einer Sportzeitung, die in der Segelzubehör-Baracke herumlag, fand ich die Anzeige eines Berliners, seine xy-Jolle für 8.200 Mark verkaufen zu wollen. Das war genau das richtige Segelboot für mich. Ich schrieb dem Anbieter und kam mit ihm für die Übergabe noch im laufenden Jahr überein.

Im September fuhr ich dann mit dem „Mossi“ und einem geliehenen Trailer nach Berlin- Köpenick, wo der Anbieter in unmittelbarer Nähe des Müggelsees wohnte. Wir testeten gemeinsam die Jolle bei idealer Brise (Bf 4) auf dem nahen Gewässer, wobei der Verkäufer besonders die Geschwindigkeit des Bootes herausstrich. Er hielt mich wohl eher für einen Sportstypen als für einen Erkenntnissucher, der mit dieser Plasteschale die Seegrenze der DDR durchbrechen wollte.

Die Jolle, eigentlich eine Wanderjolle, hatte zwei Schwerter und zwei Schwertkästen, so dass auf dem Boden des Fahrzeuges eine rechteckige Fläche entstand, auf der eine größere Luftmatratze leicht Platz fand. Zudem hatte die xy-Jolle eine große, die gesamte Decks- und Plichtfläche überspannende Persenning, die wie ein geräumiges Zelt wirkte. Es war also das ideale Fahrzeug für meine Zwecke.

Mit dem Trailer hinter meinem klapprigen „Russenpanzer“ brachte ich die Jolle nach Groß Zicker, wo sie bis zum Segelsaisonbeginn 1983 bleiben sollte. Ich hatte im Jahr 1982 alles erreicht, was ich mir für mein Vorhaben vorgenommen hatte; das Jahr war aber noch nicht vorüber, und es würden sich noch gefährliche Situationen ergeben, die mich zu weiterer Vorsicht veranlassen sollten.

Eine Nachlässigkeit bringt große Gefahr

Noch vor dem Beginn von Penelopes Jahresurlaub war die Wartezeit für meinen PKW Škoda 105 (Nachfolger des MP 1000, den die Tschechen mit „1.000 kleine Fehler“ übersetzen) vorüber, nach elfjähriger Wartezeit konnte ich den Wagen in der DHZ-Zentrale auf der Dresdener Bremer Straße abholen. Das bescheidene Gefährt kostete 16.800 Mark, verbrauchte auf 100 Kilometer nur 6,5 bis 9 Liter Normalbenzin und besaß einen Heckmotor.

Unglaublicherweise gelang es mir damals, meinen ruinösen, von Rostlöchern zerfressenen, aber noch immer fahrbereiten „Moskwitsch“ für 2.200 Mark zu veräußern. Mit dem neuen Škoda gedachte ich nun, meine liebe Gefährtin Penelope durch die peripheren Gebiete unseres wunderschönen „Käfigs“ zu karren.

Mitte Oktober begann die Urlaubsreise. Ich wollte den Käfig möglichst dicht an der Staatsgrenze zur BRD entlang abfahren, ohne allerdings die strengen Bestimmungen, die dort herrschten, zu verletzen. Ich steuerte den neuen PKW also bei Salzwedel und bei Ilsenburg so nahe an die Grenze heran, bis Schilder am Straßenrand darauf hinwiesen, dass die Weiterfahrt nur mit Sondergenehmigung erlaubt sei.

Südlich des Harzes machten wir in Sondershausen Zwischenstation, einem gediegenen Residenzstädtchen mit völlig verrotteter Bausubstanz. Während Penelope in den leeren Geschäften des Ortes nach Brauchbarem Ausschau hielt, begab ich mich in ein hübsches kleines Kaffeehaus am Markt. Das Lokal gab einen wunderschönen Blick auf das Städtchen frei und hatte eine charmante Bedienung. Ich musste daran denken, dass der Tag unseres Aufenthaltes hier zugleich der Tag war, an dem im Bundestag das konstruktive Misstrauensvotum gegen Bundeskanzler Helmut Schmidt abgehalten werden sollte. Ich fragte deshalb die Kellnerin: „Haben Sie schon gehört, wie es im Bundestag ausgegangen ist?“ Da traten der Frau Tränen in die Augen, und sie sagte: „Der Andere hat gewonnen!“

Um sich nicht vor mir, dem fremden Gast, die Tränen aus dem Gesicht wischen zu müssen, zog sie sich wortlos in den Hinterraum des Cafés zurück. Ich musste zwar nicht weinen, war aber genauso traurig, dass der große Hoffnungsträger Schmidt aus dem Bundeskanzleramt scheiden musste.

Am nächsten Tag ging es weiter an der „Zonengrenze“ entlang, Treffurt, Vacha und Römhild blieben für uns verbotene Ortschaften. Im „Kunstführer durch die DDR“ (Urania Verlag, 4. Auflage 1973) wurde das Schloss Heldburg gepriesen, es lag jedoch in einem südlichen Zipfel der DDR, wo die Fünf-Kilometer-Sperrzone wenig Platz für Besucher ließ. Dort wollte ich aber mit meiner verängstigten Begleiterin natürlich hin. Und hier geriet ich, trotz großer Vorsicht, doch in das Sperrgebiet hinein. Ein hämisch-freundlicher Mensch, den ich nach dem Schloss Heldburg fragte, teilte mir mit, dass der gesamte Zipfel bis Heldburg Sperrgebiet sei und wir schleunigst umkehren sollten. Ich sah noch, wie er mein Kfz-Kennzeichen notierte, als ich mich wieder entfernte.

 SED-Machthaber