Kurt Fricke

Mr. Edens
Garten

Roman

mitteldeutscher verlag

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Kurt Fricke

Widmung

I.

II.

III.

IV.

V.

VI.

VII.

Weitere Bücher

2014

© mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale) www.mitteldeutscherverlag.de

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagabbildung: Björn Raupach

Gesamtherstellung: Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014

ISBN 9783954623723

Kurt Fricke, geboren 1967 in Halle (Saale), nach Berufsausbildung zum Maschinen- und Anlagenmonteur mit Abitur und Armeedienst Studium der Geschichte und Philosophie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, anschließend u. a. freiberufliche Tätigkeit als Historiker, 2000 Promotion (»Spiel am Abgrund. Heinrich George – eine politische Biographie«, Mitteldeutscher Verlag 2000), seit Herbst 2000 Lektor für Fach- und Sachbücher im Mitteldeutschen Verlag Halle. Diverse Veröffentlichungen zur deutschen Zeitgeschichte.

Im Mitteldeutschen Verlag erschienen die Short-Story-Bände »Der Flug der Wale« (2011) und »Im Untergrund« (2012).

In memoriam Klaus Fricke

I.

»Ellen?« Adam Tayler schlurfte suchend durch das Haus. Seine Frau hatte versprochen, ihm die Zeitung zu bringen, doch sie war nicht gekommen. Nun war er ungeduldig geworden und hatte sein Arbeitszimmer verlassen.

»Ellen, wo steckst du bloß?«, sprach er mehr zu sich selbst, wobei seine Stimme keineswegs gereizt klang. Er öffnete ein Fenster zur Hinterseite des Hauses, als er den Kopf hinaustreckte, kitzelte die Sonne seine Nase.

»Ellen, bist du hier?!«, rief er nun etwas lauter, und schon kam die Antwort, von irgendwo aus den Tiefen ihres zweiten Heims.

»Ja, Schatz, ich bin im Garten!«

Das Haus befand sich schon sehr lange im Besitz der Familie, aber der Garten gehörte Mr. Eden, der ihn allerdings seit einer halben Ewigkeit an die Taylers verpachtet hatte. Hier waren die beiden am liebsten, vor allem in den Sommermonaten, wenn überall das Leben sprießte, das dunkle, saftige Grün des Rasens und der Bäume für die unzähligen Farben der Blumen ein Passepartout bildete, die Luft angefüllt war von den Geräuschen der Insekten und der ihnen nachjagenden Vögel. In den Nächten, in denen es warm genug war, schliefen sie sogar hier. Adam hatte eine Art transportablen Baldachin gebaut, den er bei diesen Gelegenheiten aus der Garage holte und zwischen den Bäumen aufstellte. Arm in Arm lagen er und Ellen dann beieinander und sahen den unruhigen Bewegungen der Kerzenlichter auf dem alten Gartentisch zu, und hin und wieder bekamen sie einen Igel zu Gesicht, der noch auf später Nahrungssuche war. Ihre Katze Molly hatte sich an den sporadischen Besuch des stachligen Gesellen gewöhnt. Als junges Ding war sie noch regelmäßig aufgesprungen und hatte versucht, aus diesem merkwürdigen Gartenbewohner schlau zu werden. Obwohl er sich wie ein Ball zusammenrollte, sobald man sich ihm näherte, war er nicht zum Spielen aufgelegt. Sehr schnell war Molly klar geworden, dass es recht schmerzhaft sein kann, seine Nase in anderer Leute Angelegenheiten zu stecken, und nun schaute sie in der Regel nur noch träge in die Richtung des Raschelns im Laub und wandte sich dann Interessanterem und Ungefährlicherem zu.

Adam schloss das Fenster und ging durch die Hintertür in den Garten. An dessen Ende, bei den Stachelbeersträuchern, entdeckte er schließlich das grünblaue Kopftuch seiner Frau. Sie winkte ihm kurz zu und verschwand dann wieder in den Sträuchern. Langsam bewegte er sich zum Gartentisch. Er hatte eine Zeitung und einen Stift dabei. Wenn er es sich erst in dem Liegestuhl gemütlich gemacht hätte, würde er in Ruhe das tägliche Kreuzworträtsel lösen. Adam liebte Kreuzworträtsel, hier hatte alles seine Ordnung, und Wissen war die Macht, die diese Ordnung aufrechterhielt. Inmitten der überwiegend schlechten Nachrichten aus aller Welt war das Zeitungsrätsel eine Oase des Guten, der Sinnhaftigkeit.

Die Sonne hatte ihren Zenit bereits überschritten, das Nachmittagslicht tat den Augen gut. Adam ging leicht in die Hocke, dann ließ er sich in den Liegestuhl sinken. Er streifte seine Sandalen ab und hob die Füße auf den Stoffbezug. Ein leichter Wind blies, die Brise strich angenehm über die Haut, er schloss kurz die Augen. Ruhe, vollkommene Ruhe.

»Soll ich dir was aus dem Haus mitbringen, Darling?« Er hatte Ellen nicht kommen gehört. Sie stand über ihm und schaute ihn fragend an.

»Etwas zu trinken wäre nicht schlecht.«

»Vielleicht eine Limonade, oder doch schon ein Bier?«

Er überlegte kurz. »Eine Limonade wäre wunderbar.«

Ellen verschwand im Haus; kurz darauf hörte er Geräusche aus der Küche, das Klingen eines Löffels in einem Glas.

Adam blätterte die Zeitung durch, auf Seite vier war eine Annonce mit einem Pärchen vor einem Palmenhintergrund. Die beiden sahen jung und erfolgreich aus, offensichtlich hatten sie gute Jobs und konnten sich eine Fernreise leisten. Seine Gedanken schweiften ab, er erinnerte sich, wie Mr. Eden ihnen den Ehemann seiner Tochter Michaela vorgestellt hatte. Gabriel Lawer arbeitete als Supervisor in einem Logistikunternehmen in London. Michaela selbst war Eventmanagerin in einer Konzertagentur. Offen gesagt hatte Adam bis heute keine Ahnung, was sie genau machten, aber es schienen wichtige Jobs zu sein, da sie fast immer gestresst wirkten. Selbst nachdem Michaela mit einem Mädchen, Lucy, niedergekommen war, hatten sie kaum Zeit für sich. Nach ein paar Wochen hatte Michaela eine Nanny eingestellt und war mit Gabriel wieder in den alten Rhythmus von viel Arbeit und wenig Freizeit verfallen.

Die Taylers hatten ebenfalls eine Tochter, Laura; sie und Michaela waren im selben Jahr, 1960, geboren und als Kinder die besten Freundinnen gewesen. Während der Studienzeit hatten sich ihre Wege dann jedoch getrennt. Vor elf Jahren war Laura nach Kanada ausgewandert, sie hatte bei einem Urlaub in Irland einen Mann kennengelernt, sich in ihn verliebt und ihn Hals über Kopf geheiratet. Ein Jahr später bekam sie ihr erstes Kind, Jenny, drei Jahre später folgte mit Luke ein Stammhalter. Nun hieß Laura mit Nachnamen Danson, wohnte in einer Stadt namens Joliette – Adam musste sich einen Kanada-Reiseführer kaufen, um den Ort auf der Landkarte zu finden –, und der Kontakt zu ihren Eltern beschränkte sich auf Briefe, Telefonate und die Karten zu den Feiertagen. Laura hatte Adam eine Zeitlang gedrängt, sich einen Computer anzuschaffen, damit man sich E-Mails schreiben oder sogar mit einer Kamera telefonieren könnte. Aber diese Technik war nichts mehr für ihn, Adam brachte der Schnelligkeit der modernen Welt nur wenig Verständnis entgegen. Wenn man sich nicht sehen konnte, war es kein Problem, einen Brief zu schreiben. Man nahm sich Zeit, um zu schreiben, und der Empfänger, um zu lesen, die Gedanken und Gefühle des anderen nachzuempfinden. Heutzutage überschwemmten sich die Leute mit Botschaften, die kaum noch einen Inhalt aufwiesen, außer der Tatsache, dass man darüber informierte, dass man die neueste Kommunikationstechnik besaß und weitgehend beherrschte. Ellen, die ihm das Technische im Haus überließ, hatte eine Weile probiert, ihn zu überzeugen, doch noch einen Computer anzuschaffen. Eines Abends, als sie beim Abendbrot auf das Thema gekommen war, hatte er wütend auf den Tisch gehauen und war dann aus dem Raum gestürmt. Ellen hatte steif dagesessen, sie kannte ihren Mann, wenn er so reagierte, waren weitere Versuche, seine Meinung zu ändern, sinnlos.

Für Adam war die Sache klar: Laura lebte mit ihrer Familie auf der anderen Seite des Atlantiks, tausende Kilometer von ihnen entfernt. Charles Danson war bekennender Kanadier und wollte nicht von seiner Heimat wegziehen, Laura hatte ziemlich schnell eine Arbeit gefunden, den Kindern ging es gut, Punkt. Sicher wäre es schön gewesen, die Enkel beim Aufwachsen zu begleiten, ihre Gesichter zu sehen, wenn sie Weihnachten ihre Geschenke öffneten, mit ihnen in den Zoo oder in einen Zirkus zu gehen. Das ließ sich nun mal nicht ersetzen durch ein Gespräch, das man alle paar Wochen vor dem Computer führte. Im Fernsehen war in einem Film so eine Unterhaltung zu sehen gewesen. Die Hälfte der Zeit hatten die Protagonisten damit verbracht, die richtige Kameraposition zu finden, das Ganze hatte wie eine Übertragung aus dem Weltall gewirkt. »Hallo Erde, hier spricht Laura.« Knirsch, knacks, Kamerageschiebe. Vielen Dank, darauf konnte er verzichten.

Natürlich hätte man sich auch mal besuchen können, es ging ihnen gut genug, um zumindest alle zwei Jahre einen Flug zu buchen, aber Charles war strikt dagegen, dass seine Familie flog. Einer seiner Onkel war mit Frau und Sohn bei einem Flugzeugunglück ums Leben gekommen. Charles war zu dieser Zeit noch ein kleiner Junge gewesen. Über die Jahre hatte er eine so starke Abneigung gegen das Fliegen entwickelt, dass er sich nicht einmal im Fernsehen Flugzeuge ansehen konnte. Das war auch der Grund, warum Laura nach der Hochzeit allein nach Chippenham kam, um ihre persönlichen Sachen aus dem Elternhaus abzuholen. Adam und Ellen waren ziemlich sauer gewesen. Adam hingegen stieß vor allem auf, dass seine Tochter ihn nicht vor der Heirat um Erlaubnis gefragt oder wenigstens um seine Meinung gebeten hatte. Ellen war eher um Lauras Wohlergehen besorgt, sie sah sich immer wieder die Fotos von der Trauung an, die sie mitgebracht hatte, und suchte das Gesicht ihres unbekannten Schwiegersohnes nach positiven oder negativen Anzeichen zu ergründen.

Adam legte die Zeitung zur Seite, er dachte häufig an seine Tochter, an seine Enkel und natürlich auch an seinen Schwiegersohn, über den sie nach und nach einiges von ihrer Tochter erfahren hatten. Ellen, die hauptsächlich Kontakt zu Laura hielt, informierte ihn regelmäßig über Neuigkeiten. Es wäre schön, seine Tochter wieder in die Arme zu schließen und vor allem die beiden Enkel leibhaftig kennenzulernen, aber er grollte immer noch ein wenig wegen der unangekündigten Hochzeit – und überhaupt, es wäre ihre Pflicht, sie zu besuchen, Charles’ Ängste hin oder her.

»Hier, mein Liebling.« Ellen stand neben dem Liegestuhl und hielt ihm ein Glas entgegen. Er nahm es dankend an und stellte es neben sich ins Gras. Seine Frau verschwand wieder im Garten, irgendwo zwischen den Pflaumen- und den Birnenbäumen.

Ja, die Enkel. Adam atmete tief durch. Besonders für Ellen war das nicht leicht, er kannte sie, sie war ein Familienmensch. Möglich, dass sie sich darüber ärgerte, dass er sich dem Kauf eines Computers widersetzt hatte, doch auch sie war dem neumodischen Zeugs, wie sie es nannte, nicht besonders zugetan. Zwar waren die Küchengeräte und die Waschmaschine auf dem neuesten Stand, aber bei jedem notwendigen Kauf musste Adam streng darauf achten, dass es einfach zu bedienende Geräte waren, die Ellen keine Schwierigkeiten bereiteten. Möglichst einheimische Produktion, was die Sache oft nicht leichter machte. »Wenn ich eine Gebrauchsanweisung lese, will ich sie auch unmittelbar verstehen und mir nicht erst den Originaltext aus dem Koreanischen oder Japanischen übersetzen lassen müssen«, hatte sie ihm mehr als einmal erklärt und damit offene Türen eingerannt. Im Gegensatz zu ihm sprach sie bei den gelegentlichen Telefonaten immer ausführlich mit Laura. Er mochte es nicht, längere Zeit mit jemanden zu reden, den er nicht zugleich real vor sich hatte. Das Telefon nutzte er eigentlich nur, um Termine zu regeln und Verabredungen zu treffen. Wenn Ellen ihm das Telefon reichte, damit er ein paar Worte mit seiner Tochter oder seinem Schwiegersohn wechseln konnte, murrte er meist vor sich hin, rang sich einige wenige Sätze ab und überließ dann seiner Frau wieder den Hörer. Mit seinen Enkelkindern unterhielt er sich ebenfalls nicht länger, denn er wusste bald nicht mehr, worüber er mit ihnen sprechen sollte. Nicht nur sie waren sehr weit weg, auch ihre Probleme, Sorgen und Freuden.

Lucy dagegen war nah, sehr nah. Es hatte sich eingebürgert, dass sie im August für zwei Wochen bei ihnen war, aber auch sonst schaute sie regelmäßig vorbei. Bis vor zwei Jahren hatte Michaela sie vorbeigebracht, doch inzwischen war sie alt genug, um alleine zu kommen. Die Enkelin von Mr. Eden war für das alte Paar ein wahrer Jungbrunnen.

__

Der Tag war ruhig zu Ende gegangen, nach dem Abendessen half Adam seiner Frau beim Abwasch. Später sahen sie sich zusammen eine Quizshow an und machten sich über die Kandidaten lustig. Dann hatte Ellen sich ein Buch aus dem Regal genommen, und Adam war nach oben in sein Arbeitszimmer gegangen. Er würde wie üblich als Zweiter schlafen gehen, er liebte es, in der beruhigenden Stille der Nacht zu lesen oder nachzudenken. Ellen hatte dann auch die Chance, in Ruhe einzuschlafen, denn er schnarchte ein wenig. Vor Jahren hatte er ihr angeboten, in seinem Zimmer zu schlafen, wenn es sie zu sehr stören würde. Ellen hatte ihn eindringlich angesehen und gesagt: »Wenn du nicht schon so ein alter Zausel wärst, würde ich fast vermuten, du hast eine Affäre oder so was. Ich werde dir mal was sagen, Adam Tayler, mein Mann gehört nachts an meine Seite, und damit hat es sich.« Mit dieser kurzen, aber bestimmten Argumentation war das Thema durch, und er schlich sich weiter wie gewöhnlich zu ihr ins Schlafzimmer, sobald er sicher war, dass sie fest schlief.

Adam liebte es, zu ihr in das schon warme Bett zu schlüpfen, das von ihrem Shampoo nach grünen Äpfeln duftete. Meist lauschte er noch ein wenig ihrem ruhigen Atem, es half ihm abzuschalten und den Tag von sich abfallen zu lassen. Manchmal, wenn der Mond schien und er so ihre Konturen erahnen konnte, gab er ihr noch einen Kuss auf die Stirn. Er hatte nach wie vor Verlangen nach ihr, aber Ellen wurde es langsam völlig leid. Sie hatte ihm gesagt, dass sie seine zärtlichen Berührungen zwar noch immer genoss, doch die Hauptsache, der Akt, wäre ihr inzwischen körperlich zu anstrengend. Sie ließ sich seit ein paar Jahren nur noch selten darauf ein, und er wusste nicht recht, wie er damit umgehen sollte. Zwar war er selbst schon lange kein kraftstrotzender, junger Stier mehr, aber seine Libido schien das nicht zu kümmern. Er sehnte sich nach seiner Frau, nach dem Gefühl, ganz mit ihr zusammen zu sein, der Erlösung, wenn er in ihr kam und in ihre Arme sinken konnte, ihre feingliedrigen Finger auf seinem Rücken spürte, ihren mit Parfüm gemischten Schweiß roch.

In der letzten Woche hatte er sich in der Stadt ein Heft gekauft. Er hatte den Laden schon früher bemerkt, er lag in einer belebten Einkaufspassage. Manchmal war er etwas langsamer daran vorbeigegangen, um einen Blick auf die Auslagen zu werfen. Innen war es wesentlich weniger erotisch zugegangen, als er vermutet hatte, aber auch ebenso wenig schmuddelig, wie befürchtet, was ihn doch sehr beruhigte. Die Verkäuferin war eine hübsche Brünette, es war ihm etwas peinlich gewesen, seine Wünsche zu äußern. Er konnte ihr ja schlecht sagen, dass er eine Vorlage zum Onanieren benötigte. Also hatte er nach Herrenmagazinen gefragt und gehofft, dass sie mit diesem Begriff etwas anfangen konnte. Sie hatte charmant gelächelt und ihn zu einem Regal geführt. Heutzutage gab es wohl nichts mehr, was es nicht gab. Er hatte fahrig über die Hochglanzhefte geschaut und dann ziemlich wahllos eines gegriffen, auf dessen Cover eine nicht mehr ganz so junge Frau abgebildet war, die ihn entfernt an Ellen erinnerte. Beim Bezahlen war ihm sein Portemonnaie zu Boden gefallen. Als er es ächzend wieder aufgehoben hatte, lächelte ihn die Verkäuferin wieder an, diesmal eher mitleidig, wie er zu erkennen glaubte.

Jetzt lag das Heft vor ihm auf dem Schreibtisch. Ellen war inzwischen zu Bett gegangen, er hatte sie im Flur gehört, sie war nicht mehr ins Arbeitszimmer gekommen, um ihm gute Nacht zu sagen – er konnte sich Zeit lassen. Langsam schlug er die Seiten um, was er sah, erregte und ekelte ihn zugleich. Er erinnerte sich an seine Jugend, damals gab es kaum nackte Haut in der Öffentlichkeit zu sehen. Die pubertären Phantasien von Adam und seinen Mitschülern entzündeten sich in der Regel an den weiblichen Stars auf den Filmplakaten oder den Unterwäschemodellen in den Bekleidungskatalogen ihrer Mütter.

Er blätterte noch ein wenig hin und her, dann entschied er sich für eine mollige Blondine, ganz und gar nicht der Typ Ellen, ihm war es doch zu unangenehm, sie mit einer der abgebildeten Frauen gleichzusetzen. Nun öffnete er seinen Gürtel und den Hosenstall, zog die Hose etwas herunter und kramte seinen Penis aus der Unterhose hervor. Er war schon leicht erigiert, als Adam langsam daran zu reiben begann. »Konzentrier dich, alter Junge«, sprach er leise zu sich selbst, als er zunächst keine sichtbaren Fortschritte machte. Die Finger seiner rechten Hand strichen über die Brüste der üppigen Unbekannten. Das Papier war glatt und kühl. Kein Vergleich zur Wirklichkeit, zu Ellen. Er unterbrach seine Bemühungen, schloss das Heft und schob es in ein Fach des Schreibtisches. Dann streckte er sich, machte seinen Rücken gerade und sah träumend geradeaus. Die Linke ruhte auf seinem Oberschenkel, während rechts daneben das Leben langsam wieder erschlaffte.

Ellen. Er erinnerte sich, wie sie es einmal auf diesem Schreibtisch getan hatten. Das war vor über dreißig Jahren gewesen. Sie hatten sich gestritten, er wusste nicht mehr, worüber. Sicher nichts Wichtiges, denn darin waren sie sich bisher immer einig gewesen. Also irgendeine Kleinigkeit, eine Störung im Alltag, vielleicht eine schlechte Angewohnheit von ihm. An das Funkeln in ihren Augen konnte er sich allerdings noch entsinnen. Sie war auf ihn zugestürmt, hatte den Arm gegen ihn erhoben. Adam hatte ihn heruntergedrückt und sie dann fest an sich gezogen. Es war Spätsommer gewesen, noch ziemlich heiß, sie trug ein dünnes Kleid. Er hatte sie gespürt, ihren Körper und ihre Wut. Sie hatten beide heftig geatmet, die Erregung hatte sie überwältigt. Er konzentrierte sich auf diese Erinnerung, fast hatte er ihren Duft wieder in der Nase.

Adam sah an sich herunter, es zog zwischen seinen Lenden. In ihm stieg die Begierde von damals wieder auf, er gab sich ihr hin, er brauchte das Heft gar nicht. »Ellen, mein Liebling, ich bin verrückt nach dir«, murmelte er vor sich hin. Er ließ die Augen geschlossen, er fühlte sie, war wieder jung.

__

»Bist du der Zauberer von Oz?«

Adam war sich nicht mehr sicher, wie alt Lucy war, als sie zum ersten Mal zu ihnen in zu Besuch kam. Auf jeden Fall konnte sie schon sprechen, denn mit genau diesen Worten hatte ihn der kleine Wildfang am Gartentor begrüßt. Mr. Eden, bei dem sie ein paar Wochen im Sommer verbrachte, hatte ihr die Geschichte zum Einschlafen erzählt und den Zauberer dabei als langen, hageren Mann mit weißen Haaren und einem Kinnbart beschrieben. Womöglich hatte er seinen Gartenpächter dabei sogar vor Augen gehabt.

Bevor Adam antworten konnte, plapperte das Kind schon weiter. »Wenn ja, wünsche ich mir ein großes Stück Stachelbeertorte und eine Schokoladenmilch.«

»Du magst Stachelbeeren?«

»Ja, die sind so schön sauer, und sauer macht lustig.«

»Nun, wir haben ein paar Stachelbeersträucher im Garten.«

»Zeigst du sie mir?« Sie sah ihn mit großen Augen und einem spitzbübischen Lächeln, das ihre Grübchen betonte, an. Adam nahm sie bei der Hand, ging mit ihr zu den Sträuchern. Ellen und Michaela bereiteten derweil in der Küche das Kaffeetrinken vor. Es gab tatsächlich Stachelbeertorte, und Ellen mixte für Lucy eine Schokoladenmilch. Später erfuhr Adam, dass Michaela ihrer Tochter auf der Fahrt zu ihnen erzählt hatte, dass sie Ellen um beides gebeten hatte. Die Kleine war wirklich aufgeweckt.

Adam und Ellen kannten Lucys Mutter Michaela ebenfalls noch als Kind. Sie war regelmäßig zu ihnen in den Garten zum Spielen gekommen, und wenn das Wetter schlecht war, hatte sie mit ihnen in der Küche gesessen, heißen Kakao getrunken und den beiden zugehört. Ihre Großeltern waren bereits verstorben, so dass Adam und Ellen ihre Ersatzgroßeltern wurden, obwohl sie fast im gleichen Alter wie ihr Vater Noah Eden waren. Auch nachdem Michaela geheiratet hatte, kam sie regelmäßig vorbei, und hin und wieder brachte sie Gabriel mit, wenn es dessen enger Terminplan erlaubte. Michaela war sehr phantasievoll und ein Organisationstalent. Schon in ihrer Schulzeit hatte sie bei den Taylers im Garten Theateraufführungen veranstaltet, die sie mit ihren Freundinnen besetzte, und Konzerte, zu denen sie Klassenkameraden verpflichtete, die im Schulorchester spielten. Auch in der Schule selbst folgte sie ihrer Leidenschaft – für Miss Pearson, ihre Klassenlehrerin, war es eher eine Manie, die sie aber gerne ausnutzte –, plante Klassenfeiern, Ausflüge und half Miss Pearson beim Programm für die Weihnachtsfeier des Lehrerkollegiums. Bald hatte sie ihren Spitznamen weg, alle nannten sie nur noch Organizer, was Michaela jedoch keineswegs störte. Im Gegenteil, wenn eine Party und eine Klassenfahrt wieder mal reibungslos abgelaufen waren, tippte sie sich stolz auf die Brust und verkündete laut: »Organizer hat wieder zugeschlagen!«

Doch mit ihren Geburtstagspartys toppte Michaela alles, die waren legendär. Adam nahm an, dass sie wohl das einzige Kind auf der Welt war, das seine jährlichen Wiegenfeste selbst gestaltete. Da sie im Juli zur Welt gekommen war, verstand es sich fast von selbst, dass zu diesem Anlass ebenfalls im Garten der Taylers gefeiert wurde. Michaela war ein großer Indianerfan, und so wurden auf dem ausgedehnten Rasen Zelte aufgestellt und ein Lagerfeuer errichtet. Adam verkleidete sich immer als Trapper. Er war das einzige »Bleichgesicht«, das zum Fest zugelassen war, alle anderen Partygäste mussten sich als Indianer kostümieren. Bei der ersten Feier dieser Art hatten ein paar Gäste versucht, das Gebot zu umgehen. Doch sie hatten die Rechnung ohne Michaela, oder besser Red Elk Woman, wie sich selbst getauft hatte, gemacht. Selbst als die ersten Tränen flossen, ließ sie sich nicht erweichen. Noah Eden – Old Elk –, dem sein prächtiger Federschmuck bis zu den Füßen reichte, hatte entschuldigend die Schultern gehoben und angemerkt, dass seine Tochter allein zuständig wäre und er an diesem Tag auf keinen Fall das Kriegsbeil gegen sie ausgraben würde. Und auch Sarah Eden hatte keine Anstalten gemacht, gegen ihre Tochter Partei zu ergreifen. Im Jahr darauf gab es keine Abweichler mehr, es herrschte Frieden in der Prärie.

Michaelas Lieblingsindianer waren die Shawnee, denn ihr Vater hatte ihr eine Biographie des berühmten Häuptlings Tecumseh geschenkt, den sie fortan verehrte, als wäre er ein bedeutender englischer Nationalheld. In der Schule besuchte sie zusammen mit ihrer »roten Schwester« Laura und einigen anderen Squaws aus ihrer Klasse einen Nähkurs, damit sie ihre Kostüme weitgehend selber anfertigen konnten. Ihr Oberhemd dekorierte sie mit Fransen und Glasperlen, wobei Ellen ihrer »kleinen roten Schwester« ein wenig half. Sie hatte eine Nähmaschine, mit der sie recht versiert umzugehen verstand und die auch Laura und Michaela mit der Zeit gut zu handhaben wussten.

Bei den Powwows, wie sie die jährlichen Feste stilecht nannten, war Adam in seinem Element. Crazy Donkey, den Namen hatte ihm Ellen verpasst (er hatte sich zum Gaudi der Kinder mit Babble Snake revanchiert), stand die meiste Zeit am Grill, kümmerte sich um die Getränke für die zahlreichen Gäste, und am Abend erzählte er am Lagerfeuer Wildwestgeschichten, in denen zur Abwechslung einmal die Indianer gewannen und die bösen Weißen ihre gerechte Strafe für Landraub, Mord und gebrochene Verträge erhielten. Laura, seit frühester Kindheit Michaelas beste Freundin, ließ sich von deren Begeisterung anstecken und wurde mit der Zeit zu einer echten Indianerexpertin. Auch für sie war klar, dass sie eine Shawnee sein wollte, nicht nur wegen Michaela, sondern weil sie in Erfahrung brachte, dass dieser Stamm sesshaft gewesen war und neben der Jagd Felder und Obstgärten bewirtschaftet hatte. Ihr musste Ellen nicht beim Anfertigen der Kleidung helfen, Laura entwickelte sich zu einer sehr guten Schneiderin mit einem hervorragenden Gefühl für Einzelheiten. Sie nannte sich Snow Child, sobald sie ihre indianische Kleidung trug und in den Garten, die große Prärie, hinaustrat. Michaela und sie hatten sich ihre Namen aus einem Buch mit Fotografien von Edward S. Curtis ausgesucht, das Laura aus der städtischen Bücherei besorgt hatte. Während Michaela das Buch nur kurz durchblätterte und sich dann für die nach ihrer Meinung attraktivste Namensgeberin entschied, studierte Laura aufmerksam die Bildunterschriften. Ihr ging es nur um die Namen, die oft so poetisch und geheimnisvoll klangen. Ihre Wahl fiel auf Snow Child, denn sie liebte den Winter, vor allem dann, wenn an windstillen Tagen der Schnee fiel und den üblichen Lärm der Stadt zu ersticken schien.

Mit den Jahren hätte man glauben können, es würde ewig so weitergehen, aber das Ganze endete, als Michaela ihr Studium begann. Sie schrieb sich in London für Wirtschaft und Kunstgeschichte ein. In ihren ersten Sommersemesterferien hoffte Adam noch, es würde wieder ein Powwow geben, doch Michaela rief Ende Juni bei den Taylers an und erklärte ihnen, dass sie zu viel um die Ohren hätte und deshalb kein Fest organisieren könnte, stattdessen wolle sie mit ein paar Kommilitonen nach Cornwall an die Küste fahren. Sie sahen sie den ganzen Sommer nicht, und als Michaela schließlich kurz vor Weihnachten bei ihnen vorbeischaute, wusste Adam, dass die edlen Rothäute wieder einmal verloren hatten und es keine Kriegstänze mehr in ihrem Garten geben würde.

Er öffnete Michaela an diesem Abend die Tür, sie hatte ihre langen braunen Haare zu einem Dutt geflochten, trug ein dunkelblaues Kostüm und sah wie eine erfolgreiche Managerin aus. Ein paar Jahre später war sie es auch. Nachdem sie Gabriel Lawer geheiratet hatte, waren beide in ein kleines Haus am Rande Londons gezogen. Es hatte einen schmalen Vorgarten, der von einem stets welken Rasen dominiert wurde. In der Gegend wohnten viele junge Pärchen wie sie, Absolventen aus verschiedenen Universitäten mit Abschlüssen in Jura, Medizin, Wirtschaft oder, etwas schräger, Informatik, die am Anfang ihrer Karriere standen. Sie alle einte die Gewissheit, dass sie in ein paar Jahren wieder von hier wegziehen würden, denn die Gegend war ein guter Startpunkt, aber sicher keine wichtige Etappe in ihrem weiteren Leben. Kinder sah man im Viertel kaum, die wenigen Paare mit Nachwuchs waren schon etwas älter, Anfang, Mitte dreißig, sie bildeten eine Art Humus, einen sozialen Hintergrund, der die Möglichkeiten der Zukunft andeutete. Die Aussicht, Kinder zu haben, war durchaus Teil des Plans, aber natürlich möglichst in einem anderen Teil Londons, mit einem größeren Haus, einem schickeren Wagen und vor allem einem Kindermädchen, dass der Partnerin zwar nicht das berufliche Fortkommen erlaubte – mit einem Kind würde sie selbstverständlich nicht mehr arbeiten –, aber doch wenigstens weiterhin einen sinnvollen, erfüllten Alltag.

Michaela und Gabriel schienen diesen Traum ebenfalls zu leben. Ein paar Jahre hatten sie kaum noch Kontakt zu den Taylers und auch nicht zu Sarah und Noah Eden, das junge Paar zog die Möglichkeiten der Großstadt den Besuchen in Michaelas leicht staubiger Heimatstadt Chippenham eindeutig vor. Die größten Attraktionen hier waren seit den Sechzigern das Eddie-Cochran-Festival sowie das jährliche Folk-Festival in dem Örtchen Lacock, Veranstaltungen, auf denen Musikrichtungen gehuldigt wurde, denen beide herzlich wenig abgewinnen konnten. Doch nachdem Lucy geboren war, kamen sie wieder häufiger nach Chippenham. Zunächst natürlich wegen Lucys Großeltern, die ihre Enkelin so oft wie möglich um sich haben wollten. Michaela, die begonnen hatte, sich für Umweltschutz und gesunde Ernährung zu interessieren, hatte zudem beschlossen, dass es für ihre Tochter am besten wäre, wenn sie regelmäßig frische Landluft atmen würde. Doch vielleicht hatte sie sich auch nur eines Tages an ihre glücklichen Stunden im Garten, in den unendlichen Weiten der Prärie, erinnert. Der sommerliche Besuch jedenfalls wurde zur Gewohnheit, und auch in der kalten Jahreszeit schauten die Lawers mit ihrer Tochter immer mal wieder vorbei.

__

Da es laut Wetterbericht am Nachmittag unerträglich heiß werden sollte, nutze Adam die frühen Morgenstunden, um im Garten ein wenig Unkraut zu zupfen. Er hatte sich eine alte Hose angezogen und rutschte nun durch die staubigen Rillen der Beete. Mit einer Hand entfernte er das unkultivierte Grünzeug, mit der anderen schleifte er einen roten Plastikeimer mit, in den er die ausgerissenen Blätter, Stängel und Wurzeln warf. Nach einiger Zeit stand er auf, legte die Hände in die Hüfte und drückte das Kreuz durch. Dann wischte er sich den Schweiß mit einem Tuch aus den Augen und blickte sich um. Am nordöstlichen Ende des Gartens hatten sie einen Misthaufen angelegt, vor dem ein paar prächtige Kürbisse gediehen. Im Herbst bereitete Ellen aus ihnen kräftige, leckere Suppen oder gab sie zum Ratatouille hinzu. Adam wiederum schnitzte aus den schönsten Exemplaren Kürbisköpfe für Halloween. Die Kinder aus der Nachbarschaft liebten seine verwegen ausschauenden Gesellen, die er zusätzlich auf extra angefertigten Gerüsten platzierte und mit alten Kleidungsstücken ausstaffierte. Er versuchte sich jedes Mal ein neues Motto auszudenken, so gab es in einem Jahr eine Kürbispiratencrew, in einem anderen eine Kürbismärchenparade mit Cinderellas Kutsche oder einen Kürbisindianerstamm, ja sogar eine Tafelrunde der Kürbisritter hatte es schon gegeben. Natürlich konnte er nicht ständig neue Themen finden, so dass es in manchen Jahren zu Wiederholungen kam, aber diese lagen weit auseinander, und Adam achtete darauf, dass in solchen Fällen wenigstens die Kostüme neu waren. Da jede Generation irgendwann zu alt für Halloweenumzüge wurde und den jüngeren Geschwistern das Feld überließ, bemerkten die Kinder die Wiederholungen in der Regel gar nicht.

Harriet Morgan hatte als kleines Mädchen regelmäßig bei den Taylers geklingelt, um Naschereien zu ergattern. Die junge Frau aus der Nachbarstraße war inzwischen selbst Mutter. Im letzten Jahr musste sie schmunzeln, als sie die Kürbishochzeitsgesellschaft sah. Sie beugte sich zu ihrer Tochter im Kinderwagen vor und sagte: »Ich glaube, Abigail, Mr. Tayler gehen langsam die Ideen aus. Die Kürbisse hier haben schon mal vor zehn Jahren geheiratet.« Dann winkte sie Adam, der sich als Pastor verkleidet hatte, zu und rief fröhlich über den Zaun: »Wird Ihre Frau nicht böse, wenn Sie ihr Hochzeitskleid so oft zweckentfremden?« Adam musste lachen und antwortete dann: »Es ist ja für einen guten Zweck, Harriet, um die Kinder zu erfreuen.« Mit einem Augenzwinkern fügte er etwas leiser hinzu, nachdem er sich vergewissert hatte, dass Ellen nicht in der Nähe war: »Sie passt ja eh nicht mehr rein.«

Auch dieses Jahr würde sich Adam wieder etwas Besonderes einfallen lassen. Bis Halloween waren es noch ein paar Monate, Zeit genug für gute Einfälle. Bis dahin konnten die Kürbisse in Ruhe weiterwachsen. Wenn Ellen nicht im Garten war, pinkelte Adam einfach auf den Misthaufen. Normalerweise in einem hohen Bogen über die orangenen Gewächse, was ihm in letzter Zeit aber hin und wieder nicht gelang, so dass er es inzwischen bei stärkerem Wind vorzog, gleich ins Haus zu gehen. Ansonsten beruhigte er sich nach einem Fehlversuch damit, dass man ja nur das Innere der Kürbisse aß, zudem war Ellen eine sorgsame Köchin, die auf die Reinigung der Lebensmittel großen Wert legte. Und zum Kürbisschnitzen würde er halt Handschuhe anziehen.