CHRISTIAN ECKL

DER MANN IM
MOND IST TOT

Krimi

Zu diesem Buch:

Über 40 Jahre nach der ersten Mondlandung fliegt wieder eine bemannte Raumfähre auf den Erdtrabanten. Diesmal wurde ein europäisches Astronautenteam entsandt. Es landet im „Meer der Ruhe“, am gleichen Landeplatz, den bereits Apollo 11 im Jahr 1969 anvisiert hatte. Die Wissenschaftler suchen nach tektonischen Veränderungen im Gelände – und finden dort eine nackte Leiche. Unter einem Geröllhaufen liegt ein unbekleideter Mann. Waren Mörder auf dem Mond? Hat sich bei der ersten Mondlandung ein grausiges Verbrechen ereignet? Europäische Regierungsbehörden verheimlichen den spektakulären Fund. Zunächst ersuchen sie bei der amerikanischen Regierung um Aufklärung. Doch die US-Diplomatie zeigt sich unzugänglich. Um politische Verstimmungen zu vermeiden, muss sich der Bundesnachrichtendienst mit eigenen Erkundigungen zurückhalten. In dieser verzwickten Situation beauftragt der Chef des Bundesnachrichtendienstes den Kölner Wissenschaftsjournalisten Stephan Teller zu einer verdeckten Recherche. Die Aufklärung eines spektakulären historischen Todesfalles entwickelt sich zu einer Enthüllung von höchster politischer Brisanz für das Tagesgeschäft der Weltpolitik. Stephan Teller findet sich auf verwirrende Weise in das Geschehen verstrickt und muss um sein Leben fürchten.

Christian Eckl, geboren am 18. Juni 1963 in Essen, verheiratet, eine Tochter, ist Inhaber eines Zeitschriftenverlags und einer Werbeagentur. Er veröffentlichte unter anderem einen essayistischen Erzählungsband mit biblischen Geschichten, der in fünf Sprachen übersetzt wurde, einen Wirtschaftskrimi, eine Neuauflage des Goetheschen Fauststoffes und einen Gedichtband über die Werke der Weltliteratur. Christian Eckl lebt mit seiner Familie in Bedburg bei Köln.

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2014

© mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale)

www.mitteldeutscherverlag.de

Gesamtherstellung: Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)

Lektorat: André Schinkel, Halle (Saale)

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014

ISBN 9783954623860

Inhalt

Cover

Zu diesem Buch

Titel

Impressum

1. Buch
Der dritte Astronaut

2. Buch
Das Meer des Schweigens

3. Buch
Die Chinesische Mauer

Nachbemerkung des Autors

Klappentext

1. Buch
Der dritte Astronaut

General Valentin Wladimirow erschoss den Luftwaffenpiloten persönlich. Als der junge Mann den General nach seinem Kameraden fragte, bat er ihn mit einer knappen Geste in sein Büro. Dann schloss der Vorgesetzte die Tür hinter sich, zog die Makarow aus dem Holster an seinem Gürtel und schoss seinen Untergebenen ohne zu zögern nieder. Mit drei Schüssen. Überflüssigerweise, denn schon der erste Schuss traf mitten ins Herz und war sofort tödlich.

Um sein Ziel zu erreichen, hätte Wladimirow den Mann nicht einmal töten müssen. Er musste ihn nur zum Schweigen bringen. Damit er nie wieder unbequeme Fragen stellen würde. Das wäre auch bewirkt, wenn der General ihn in ein Lager nach Sibirien geschickt hätte. Ohne Wiederkehr. Diese Möglichkeit hätte ein hoher Militärbefehlshaber der Sowjetunion mitten im kalten Krieg 1969 durchaus gehabt. Ohne Angabe von Gründen. Niemand wagte eine solche Anordnung zu hinterfragen oder würde sich ihr gar widersetzen.

Aber Wladimirow zog es vor, den Mann einfach zu töten. Selbst. Nicht einmal vor ein Erschießungskommando wollte er ihn stellen. Er hatte in diesem Augenblick einfach das Bedürfnis danach. Und glaubte, für seine Wut einen guten Grund zu haben. In einem rechtsstaatlichen System hätte man das Mord genannt. Doch in seinem unmittelbaren Einflussbereich hatte der General die Macht über Leben und Tod. Ohne irgendwem darüber Rechenschaft ablegen zu müssen.

Manchmal dehnten sich die Grenzen dieses Einflusses auch weit aus. Denn dieser Mord hing eng mit einem anderen Todesfall zusammen, der sich zum gleichen Zeitpunkt an einem sehr entfernten Ort ereignete. Auch diesen Todesfall durfte man mit gesundem Rechtsempfinden als Mord bezeichnen.

„Schreiben Sie über die Mondlandung!“

Nur das nicht. Stephan Teller verdrehte die braunen Augen. 43 Jahre später fühlte er sich von einem Kindheitstrauma eingeholt. Schon als er vor zwei Jahren in der Zeitung gelesen hatte, dass die Europäische Raumfahrtorganisation ESA eine bemannte Mondlandung plane, hatte er einfach weitergeblättert. Mit diesem Thema hatte er lange abgeschlossen. Wenn sein Vater mit leuchtenden Augen davon erzählte, suchte er seit über vier Jahrzehnten schnell das Weite.

Chefredakteur Bernhardt hatte klare Vorstellungen, was er von seinen freiberuflichen Journalisten erwartete. Und Stephan Teller war nicht irgendein freier Mitarbeiter. Als leitender Redakteur verantwortete er den Wissenschaftsteil von Deutschlands renommiertester Wochenzeitung, der WOZ. Solche sogenannten festen freien Arbeitsverhältnisse spielten in seiner Finanzplanung eine wesentliche Rolle. Da konnte man nicht einfach ablehnen. Vor allem nicht, nachdem er erst vor wenigen Monaten von seiner gut verdienenden Ehefrau geschieden worden war. Stephan Teller versuchte es dennoch.

„Die Mondlandung interessiert heute doch niemanden mehr. Eigentlich ist das nichts anderes als eine über vierzig Jahre alte Nachricht im neuen Gewand. Die Ursprachen der Aborigines im australischen Busch hingegen …“

„ … sind rund 40.000 Jahre älter und fordern unsere Aufmerksamkeit noch weniger dringend“, unterbrach ihn sein Chefredakteur. „Entwickeln Sie doch etwas mehr Phantasie, Herr Teller, diesmal ist alles ganz anders. Jetzt sind wir auf dem Mond, wir Europäer. An dieser Stelle muss man die Geschichte anpacken und an das Wir-Gefühl der Leser appellieren.“

„Ich dachte, unsere Verbundenheit mit den USA gehört zum konservativen Grundkonsens unserer Berichterstattung.“ Der Chefredakteur steckte sich eine Zigarette unter seinen weißen Schnurrbart und fing an, schnell zu paffen.

„Ich habe ja nicht gesagt, dass Sie Feindbilder aufbauen sollen. Das meine ich eben mit Phantasie und Kreativität. Das eine tun und das andere nicht lassen.“

„Ich würde eine Recherche historischer Kriminalfälle mit modernen wissenschaftlichen Methoden eigentlich viel spannender finden. Der Fall um Jack the Ripper ist für viele Leser heute noch interessant.“

„Das wird er auch bis zum nächsten Jahr bleiben. Die Mondlandung dagegen ist das Thema der Stunde. Aber wenn Sie lieber nicht mehr für uns schreiben wollen …“

„Schon gut. Wann brauchen Sie die Geschichte?“ Stephan Teller nahm seine randlose Brille ab und rieb mit Daumen und Zeigefinger der linken Hand sein schmales Gesicht. Er dachte an die Weine in seinem Keller, deren Qualität er am Wochenende immer wieder gerne überprüfte. Er brauchte das Honorar zugegebenermaßen nicht nur für seinen dringendsten Lebensunterhalt.

„Die europäische Mondmission ist vor fünf Tagen wieder auf der Erde gelandet. Wir sollten das Thema aufgreifen, solange es noch frisch im Bewusstsein der Öffentlichkeit ist. Eine Berichterstattung in der nächsten Ausgabe wäre gut, spätestens in der übernächsten, vielleicht können wir ja sogar eine Serie daraus machen.“

„Serientauglich wäre doch viel eher eine Geschichte über Organspenden und den internationalen Organhandel. Da ist ethischer Zündstoff verborgen.“

„Jetzt denken wir erst einmal an die Ethik der wirtschaftlichen Notwendigkeit und an unsere Auflage. In zehn Tagen brauche ich Ihren Beitrag über die Mondlandung. Und wenn dann noch nicht genügend Fakten vorliegen, schreiben Sie eben danach einen zweiten Beitrag.“

Stephan Teller hing trübsinnigen Gedanken nach. Nachdem er die Redaktion der WOZ im Pressehaus an der Eupener Straße verlassen hatte, fand sein Auto nahezu allein den Weg zum Kölner Mediapark. Nur wenige hundert Meter davon entfernt lag im Souterrain eines Altbaus die kleine Büroetage, die er sich mit zwei anderen freiberuflichen Journalisten teilte. In seiner Bürogemeinschaft fand er es viel gemütlicher als in der WOZ-Redaktion.

Weitere positive Gedanken hatte der Wissenschaftsjournalist zur Zeit allerdings nicht. Warum mussten immer wieder Männer wie Wilhelm Bernhardt den Ton angeben? Oder Männer wie sein Vater? Männer, die schon so lange lebten, dass ihnen die erste Mondlandung noch wie eine Innovation vorkam. Ausgerechnet in dieses Horn sollte er jetzt mit seinem Beitrag stoßen. Warum sollte er da nicht gleich über die Erfindung des Rades schreiben?

Doch aller Widerstand schien zwecklos. Stephan Teller brauchte das Geld, das er bei der WOZ verdiente, dringender denn je. Als er noch mit Irene verheiratet war, konnte er auf das sichere Gehalt bauen, das sie als Archivarin verdiente. Doch jetzt lebte sie mit einem Biologieprofessor zusammen und investierte ihr Geld in gemeinsame Studienreisen in exotische Regionen.

„Soviel Lernfähigkeit hätte ich deiner Frau gar nicht zugetraut“, lautete der einzige Kommentar seines Vaters dazu. „Endlich entscheidet sie sich für einen Partner, der nicht nur über die Wissenschaften schreibt, sondern selbst wissenschaftlich tätig ist. Eine eindeutige Verbesserung.“

Er konnte also keinen Gedanken daran verschwenden, den Alten um Geld anzupumpen. Stephan Teller kam um die Mondgeschichte nicht herum. Dennoch konnte er nichts Spannendes daran finden.

Der Sommer 1969 war verkorkst. Stephan Teller hatte mit seinen Klassenkameraden gerade seinen siebten Geburtstag gefeiert. Doch die blöde Mondlandung hatte danach alles verdorben. Ihm konnte der Mond gestohlen bleiben.

Sein Vater aber musste unbedingt nach Amerika, um im Raumfahrtkontrollzentrum in Texas die erste Mondlandung zu begleiten. Der aufstrebende Wissenschaftler fühlte sich hochgeehrt, dass ihn Wernher von Braun in diesem historischen Sommer in sein Team nach Houston berufen hatte. Und Stephans Mutter fühlte sich hochgradig vernachlässigt, weil sie nun allein mit dem Kleinen auf die Nordseeinsel Juist fahren musste. Die Schreie der Möwen klangen zu schrill, der Wind führte zu viel Sand mit sich. Frau Teller hustete demonstrativ leidend.

Die Stimmung befand sich auf dem Nullpunkt, und der Urlaub entwickelte sich für Mutter und Sohn zu einer Katastrophe. Nicht einmal einen Fernseher gab es im Hotel. Auf dem langweiligen Fußweg zurück vom Abendessen im Restaurant blieb Frau Teller vor einem hell erleuchteten Wohnhaus stehen. Die Bewohner hatten wegen der schwülen Nachtluft die Fenster geöffnet. Die Mutter konnte hineinsehen, der kleine Stephan hatte nur die Unterkante der Fensterbank und dunkelrote Backsteine auf Augenhöhe.

Also nahm ihn seine Mutter auf den Arm und zeigte ihm ein fremdes Wohnzimmer. Wie gebannt starrte eine vierköpfige Familie auf einen Fernsehschirm und wandte den Beobachtern den Rücken zu.

Stephan quengelte. Auf den unscharfen, schwarzweißen Bildern ließ sich kaum etwas erkennen. Der Junge verstand auch nicht, warum der Mann im Fernsehen behauptete, dass ein Adler gelandet wäre. Das musste doch wohl das blöde Raumschiff auf dem Mond sein, wegen dem sein Vater wieder einmal keine Zeit für sie hatte.

Stephan wollte das überhaupt nicht sehen. Er hatte den Verdacht, dass durch dieses Fenster nur ein kleiner Ausschnitt der Wahrheit gezeigt wurde. In Wirklichkeit ereigneten sich schlimme Dinge, die auch seinen Vater von ihnen fernhielten. Der Junge wollte nur noch weg. Doch die Mutter ignorierte sein leises Jammern genauso wie sein auffälliges Gähnen. Sie drückte ihn fest an sich und ließ den Fernsehschirm im fremden Wohnzimmer nicht aus den Augen.

Der feste Druck erwies sich als schwerer Fehler. Stephan hatte im Restaurant zuviel Limonade getrunken. Plötzlich konnte er sich nicht mehr halten. Mutter und Sohn bemerkten gleichzeitig, wie sie nass wurden. Der Junge an der Hose, die Mutter an der Bluse.

Fluchend ließ Frau Teller das Kind von ihrem Arm gleiten, nahm den Jungen an die Hand, lief mit ihm zum Hotel. An diesem Abend sprach sie kein Wort mehr mit ihrem Sohn, machte ihn nur noch sauber und steckte ihn sofort ins Bett.

Der Anblick des Mondes am Nachthimmel vor seinem geöffneten Fenster konnte Stephan nicht gerade trösten. Nie wieder wollte er etwas mit diesem Trabanten zu schaffen haben.

Der Verkehr floss auf der Widdersdorfer Straße im Gegensatz zur parallel verlaufenden Aachener Straße stadteinwärts ruhig und gleichmäßig. Der Journalist bemerkte nicht einmal, dass er sein Ziel fast erreicht hatte. Er suchte sich einen Parkplatz für seinen Volvo südlich des Mediaparks und lief zügig durch die wenigen Nebenstraßen zu seinem Büro.

In der sommerlichen Stadtluft rutschte ihm vor der Tür sein Schlüssel aus den Fingern. Er bückte sich danach und hob ihn auf. Doch dann gelang es ihm nicht mehr, sich aufzurichten. Eine stahlharte Hand drückte sein Genick nach unten und wirbelte ihn gleichzeitig herum, Richtung Straßenrand. Zwei weitere kräftige Hände drehten ihm einen Arm auf den Rücken und schoben ihn auf einen schwarzen Transporter mit abgedunkelten Scheiben zu. Eine Schiebetür öffnete sich. Der Journalist konnte gerade noch aus den Augenwinkeln erkennen, wie ihn zwei muskulöse Gestalten in olivgrünen T-Shirts, mit Motorradmützen auf dem Kopf, mit Schwung in das Innere des Laderaums beförderten. Handschellen klickten. Dann trug er plötzlich selbst eine Motorradmütze, wenn auch ohne Sehschlitz. Danach schwang die Schiebetür des Lieferwagens geräuschvoll zu. Stephan Teller nahm nur noch den Geruch von altem Motoröl im Laderaum wahr. Er hörte, wie Fahrer- und Beifahrertür zugeschlagen wurden. Der Motor heulte auf, der Wagen nahm Fahrt auf und schüttelte ihn unsanft durch.

Eindeutig nicht sein Tag. Zunächst fühlte sich der Journalist weitgehend desorientiert. Er konnte sich seine Lage nicht erklären. Dann beschlichen ihn diffuse Ängste. Handelte es sich hier um eine Entführung mit anschließender Lösegeldforderung? Bei ihm selbst gab es nicht viel zu holen. Und nach seiner Scheidung würde ihn auch privat niemand vermissen. Kinder hatte er keine. Sein Vater hatte keine hohe Meinung von ihm, weil er keine akademische Laufbahn eingeschlagen, sondern sich für den Beruf des Journalisten entschieden hatte. Er hielt es für anzweifelbar, ob Friedrich Teller für seinen Sohn größere Beträge flüssig gemacht hätte. Doch diese Frage blieb spekulativer Natur, denn auch sein Vater hatte in seinem Leben kein nennenswertes Vermögen angehäuft. Wenn die Entführer auf Lösegeld aus waren, hätten sie sich leicht ein lukrativeres Opfer suchen können. Die beiden Muskelprotze schienen oberhalb des Halses nicht so gut ausgestattet zu sein. Andererseits wirkte der Überfall so effizient und professionell, dass ein solcher Fehlgriff wenig logisch erschien.

Was also konnte sonst hinter dem Übergriff stecken? Die zunehmende Ratlosigkeit verstärkte seine Angst. Stephan Teller fühlte sich hilflos und ausgeliefert. Für die fremde Welt, in die man ihn so plötzlich hineingeworfen hatte, fand er kein Erklärungsmodell. Das war für einen Mann, der die Fünfzig bereits erreicht hat, eine völlig ungewohnte Situation. Eine schnell aufsteigende Welle der Wut verdrängte die Angst. Hier griff jemand in seine Intimsphäre ein und nahm ihm jede innere Sicherheit, die er sich in fünf Jahrzehnten mühsam aufgebaut hatte. Die Wirkung empfand er mindestens genauso schlimm wie eine körperliche Verletzung. Das würde er nicht ungestraft mit sich machen lassen. Der Journalist fühlte ein nie gekanntes Bedürfnis, um sich zu schlagen und auch jemanden zu treffen. Er hielt sich durch sein regelmäßiges Training im Fitnessstudio und seine ausgedehnten Joggingtouren für durchaus in der Lage, sich körperlich durchzusetzen. Doch dann vergegenwärtigte sich Stephan Teller die beiden Muskelpakete, die ihn einkassiert hatten. Realismus wich seinem Wunschdenken. Zunächst blieb ihm nichts anderes übrig, als abzuwarten.

Erstmals wehte auf dem Mond eine Fahne. Eine von Menschen gemachte Flagge. Doch nicht die ganze Menschheit hatte den Mond erobert. Die Fahne zeigte die Insignien eines ganz bestimmten Landes. Wenn diese Bilder um die Welt gingen, würde die Sensation perfekt sein. Hier auf dem Mond entschied sich der Wettlauf der großen Nationen um die Vorherrschaft auf der Erde. Der Astronaut, der die Fahne aufstellte, handelte in dem sicheren Gefühl, Weltgeschichte zu schreiben. Doch würde er auch zum Weltfrieden beitragen? Er glaubte es zumindest. Zunächst einmal beschäftigten ihn aber viel näher liegende Sorgen. Er wusste, dass die Bildqualität von Filmaufnahmen auf dem Mond sehr zu wünschen übrig ließ. Würde man daher das Motiv auf der Flagge im Film überhaupt erkennen können? Kontrastierte das Rot wirklich stark genug mit dem anderen Farbton auf der Fahne? Wenn das nicht der Fall wäre, könnte auf den grobkörnigen Schwarzweißaufnahmen hinterher nur eine dunkle Fläche auf der Flagge erkennbar sein. Wirklich ärgerlich, dass der verantwortliche Planungsstab auf der Erde darüber vorher nicht nachgedacht hatte. Bei einem so minutiös vorbereiteten Unternehmen hatte man dem symbolträchtigsten Requisit des ganzen Projekts kaum Beachtung geschenkt. Erst in letzter Minute hatte man ihm kurz vor dem Start die Flagge gegeben. Zwar fein säuberlich zusammengefaltet, aber nur mit einem einfachen schwarzen Stoffband verschnürt. Es handelte sich offensichtlich um eine Standardproduktion und nicht einmal um eine Spezialanfertigung mit besonders leuchtenden Farben für den vorgesehenen Zweck. Der Astronaut schüttelte den Kopf. Mit dem voluminösen Helm in der verminderten Schwerkraft der Mondatmosphäre wirkte diese Bewegung grotesk. Doch keine Kamera fing sie ein.

Die Fahrt dauerte nur kurz. Der Wagen konnte die Kölner Stadtgrenzen in der knappen Zeit kaum verlassen haben. Als der Transporter abrupt zum Stehen kam, stieß sich Stephan Teller den Kopf an der vorderen Trennwand des Laderaums. Die Schiebetür wurde aufgerissen, der Journalist an den Oberarmen gepackt und in einer fließenden Bewegung auf die Beine gestellt. Unter seinen Schuhsohlen registrierte er harten Boden. Man schob ihn vorwärts, und nach wenigen Metern wurde der Untergrund weich. Teppichboden. Hinter ihm fiel eine schwere Tür mit gedämpftem Klang ins Schloss.

Seine Bewacher drückten ihn auf einen weich gepolsterten Stuhl. Sie nahmen ihm zuerst die Handschellen ab, dann die Motorradmütze. Stephan Teller blickte nach oben und kniff sofort die Augen zusammen. Ein schmerzhaft grelles Licht blendete ihn. Neonröhren hingen wie frei schwebend an einer hohen Decke. Dann sah er sich nochmal vorsichtig um und erkannte, dass er in einem gediegenen Konferenzraum an einem schweren Eichentisch saß. „Nähmaschinenfabrik von 1899“ konnte er in verschnörkelter Schrift auf einer dekorativen alten Holztafel über der Tür lesen. Er tippte auf ein altes Gewerbegebiet im Kölner Westen. Er wollte aufstehen, doch die beiden Entführer drückten ihn wortlos in den weichen Sessel zurück. Stephan Teller drehte den Kopf vom einen zum andern.

„Wollt ihr denn gar nicht von der Welt verstanden werden? Ihr seid doch auch sensibel und sehnt euch nach Liebe. Dann teilt euch mit, vielleicht mag man euch danach sogar.“

Keine Reaktion.

Nach einigen Minuten hörte Teller, dass sich hinter ihm eine weitere Tür öffnete und sanft wieder schloss. Noch bevor er sich umdrehen konnte, kamen schnelle Schritte auf ihn zu und umrundeten ihn. Der Anblick des Mannes, der sich in seinem Gesichtsfeld nun in einen Sessel auf der anderen Seite des Konferenztisches fallen ließ, beruhigte ihn und irritierte ihn zugleich. Er wusste jetzt, dass er hier keinem kriminellen Übergriff ausgesetzt war. Doch dass dieses brutale Vorgehen in einem Rechtsstaat mit gesetzlicher Billigung ablaufen konnte, verursachte ihm gewaltiges Unbehagen.

Er kannte den Mann. Zwar war er ihm nie persönlich begegnet, doch jeder halbwegs informierte Journalist hatte schon Fotos von Paul Kleve gesehen. Das rundliche Gesicht mit dem fliehenden Kinn, bartlos und mit leicht geröteter Haut, prangte immer dann auf den Titelseiten der großen Tageszeitungen, wenn eine Spionageaffäre die Weltpolitik erschütterte. Überraschend fand er nur, dass der Präsident des Bundesnachrichtendienstes mit ungewöhnlich hoher Stimme sprach.

„Danke, dass Sie unserer Einladung so spontan gefolgt sind, Herr Teller.“

„Das ist doch selbstverständlich. Aber nachdem ich einer so hochgestellten Persönlichkeit den nötigen Respekt erwiesen habe, verstehen Sie gewiss, dass mich nun wieder die Arbeit ruft.“

Stephan Teller versuchte sich erneut zu erheben, wurde aber wiederum mit zwingender Gewalt in seinen Sessel gedrückt.

Kleve beugte seinen untersetzten Körper nach vorne und legte die Hände flach auf die Tischplatte.

„Aber wollen Sie denn gar nicht wissen, warum ich eigens aus Berlin ins launige Köln gekommen bin, um mit Ihnen zu sprechen? Und warum Sie unter etwas ungewöhnlichen Umständen hierhin eingeladen wurden?“

„Die Antwort auf Ihre erste Frage ist mir egal, das ist Ihre Sache. Ihre zweite Frage aber interessiert mich tatsächlich brennend. Doch die würde ich viel lieber öffentlich diskutieren, vielleicht in einem offenen Brief in der WOZ: Darf eine staatliche Institution wie der BND unbescholtene Bürger ohne Erklärung gewaltsam ihrer Freiheit berauben?“

Teller strich sich über seinen gepflegten, kurz rasierten Vollbart.

„Sie könnten diese Frage ja dann in einem Exklusivinterview beantworten.“

„Sehr pikant. Aber vielleicht gibt es Fragen, für die ich Sie noch dringender interessieren kann.“

„Das wage ich in meiner augenblicklichen Lage zu bezweifeln.“

„Sie schreiben demnächst über die Mondmission der ESA.“

„Der BND ist noch besser informiert, als ich es für möglich gehalten hätte.“

„Manchmal ist Spionage eine hohe Kunst, gelegentlich werden wir aber auch überschätzt. In einigen Fällen genügt es, einfach die Zeitung zu lesen. Ihr Chefredakteur hat in der letzten Ausgabe einen größeren Bericht über die Mondlandung angekündigt. Da ist es leicht zu kombinieren, dass dieser Beitrag voraussichtlich vom leitenden Wissenschaftsredakteur verfasst wird.“

Stephan Teller nahm sich vor, die Zeitung, für die er schrieb, in Zukunft selbst etwas genauer zu lesen.

„Dann ist ja alles geklärt. Sie brauchen nur die nächste Ausgabe zu lesen, und schon haben Sie alles, was ich weiß.“

„Vielleicht möchten wir ja Ihnen Informationen geben.“

„Ich habe noch nie gehört, dass der BND freiwillig mit irgendwelchen Fakten herausrückt.“

„Na gut, wir wollen dafür auch etwas von Ihnen.“

„Journalismus ist nicht käuflich. Ich verändere keine Faktenlage, um einen Vorteil zu erhalten.“

„Das sollen Sie keinesfalls. Wir möchten nur Ihre Recherchegrundlage ein wenig erweitern.“

„Was erwarten Sie als Gegenleistung?“

„Nur das, was sowieso Ihre Aufgabe ist. Sie sollen Ihre Arbeit gründlich machen.“

„Das nehme ich Ihnen nicht ab.“

„Na ja, außerdem sollten Sie uns immer zuerst über das Ergebnis Ihrer Recherchen unterrichten. Information gegen Information.“

„Wenn Sie die anschließende Veröffentlichung nicht behindern oder beeinflussen, hört sich das akzeptabel an.“ Schweigen.

Das folgende Räuspern Kleves klang wie das eines Schülers im Stimmbruch.

„Dieses Thema ist brisanter, als Sie es sich vorstellen. Sie können mehr daraus machen.“

„Das will ich überhaupt nicht. Der ganze Wirbel um die Mondlandung ist nach meiner Ansicht völlig überzogen. Das habe ich meinem Chefredakteur auch schon gesagt, aber ich soll die Geschichte unbedingt schreiben.“

„Das sollten Sie.“

„Noch einer.“

„Wie bitte?“

„Nichts. Ich habe nur gerade überlegt, ob ich wirklich noch mehr in dieser Geschichte herumstochern will. Das lohnt sich doch gar nicht.“

„Wir bezahlen für Ihre Recherche. Das fünffache Redaktionshonorar. Zusätzlich.“

Stephan Teller dachte an seinen Weinkeller.

„Einverstanden. Aber was ich hinterher schreibe, entscheide ich allein. Sie bezahlen nur die Recherche.“

„Das ist der Deal.“

„Dann machen Sie’s kurz. Was soll ich recherchieren? Je schneller ich das hinter mich gebracht habe, umso eher kann ich mich wieder interessanteren Themen zuwenden.“

„Sie unterschätzen die Dimension der Angelegenheit völlig. Diese Recherche wird Ihr Leben verändern. Und nicht nur Ihres, Sie werden Geschichte schreiben.“

„Wissen Sie, wie viele Informanten mir so etwas schon versprochen haben? Von Ihnen hätte ich da mehr Realismus erwartet.“

„Ich habe noch nie von einem Journalisten gehört, der sich so wenig für Sensationen interessiert. Ihr Name könnte gleich neben Woodward und Bernstein in die Geschichte des Journalismus eingehen.“