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Michela Murgia
Accabadora
Roman

Aus dem Italienischen von Julika Brandestini

Verlag Klaus Wagenbach    Berlin

E-Book-Ausgabe 2014

© 2009 Giulio Einaudi editore s.p.a., Torino
© 2010 für die deutsche Ausgabe:
Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin.

Covergestaltung Julie August unter Verwendung einer Photographie © gettyimages 2011.

Alle Rechte vorbehalten.

Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

ISBN 978-3-8031-4168-2

Italien bei Wagenbach

Michela MurgiaMurmelbrüderEine Geschichte aus Sardinien

Die sardische Autorin Michela Murgia schreibt diesmal nicht über das enge und mitunter schmerzende Band der Familie, sondern über eine Beziehung, die oft freier, aber dabei ebenso tief sein kann: Freundschaft.«

Aus dem Italienischen von Julika Brandestini
image Rotes Leinen. Fadengeheftet. 120 Seiten

Andrea CamilleriDie Ermittlungen des Commissario Collura Acht Kriminalgeschichten

Commissario Cecé Collura muss als Bordkommissar die wunderlichsten Fälle lösen. Ein sehr vergnügliches Buch über seltsame Gäste auf einem großen Schiff.

Aus dem Italienischen von Moshe Kahn
WAT 476. 96 Seiten
Auch als E-Book erhältlich

Stefano BenniVon allen ReichtümernRoman

Lebensweisheit und Witz, zarteste Poesie und giftender Sarkasmus, Klugheit und überbordende Erzählfreude: Der italienische Literaturstar Stefano Benni in Höchstform!

Aus dem Italienischen von Mirjam Bitter
Quartbuch. Gebunden mit Schutzumschlag. 224 Seiten
Auch als E-Book erhältlich

Tiziano ScarpaStabat MaterRoman

Die Geschichte eines Waisenmädchens in Venedig: Cecilia spielt virtuos die von Vivaldi für sie komponierten Stücke. Sogar das Frühlingszwitschern einer Schwalbe kann sie auf der Geige nachahmen doch was nützt das, da sie nicht weiß, wer sie selber ist.

Aus dem Italienischen von Olaf Matthias Roth
E-Book. 144 Seiten

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Verlag Klaus WagenbachEmser Straße 40/4110719 Berlin
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Wie Mutter und Tochter leben Bonaria Urrai und die sechsjährige Maria zusammen. Die Bewohner des sardischen Dorfes sehen den beiden verwundert nach und tuscheln, wenn sie die Straße hinunterlaufen. Dabei ist alles ganz einfach: Die alte Schneiderin hat das Mädchen zu sich genommen und zieht es groß, dafür wird Maria sich später um sie kümmern.

Meiner Mutter.
Allen beiden
.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Dank

Glossar

1

Fillus de anima, Kinder des Herzens.

So nennt man die Kinder, die zweimal geboren werden, aus der Armut einer Frau und der Unfruchtbarkeit einer anderen. In dieser zweiten Geburt wurde Maria Listru zum späten Segen für Bonaria Urrai.

Als die Alte unter dem Zitronenbaum mit ihrer Mutter Anna Teresa Listru sprach, war Maria sechs Jahre alt, ein ungewolltes Kind nach drei erwünschten. Ihre Schwestern waren schon junge Frauen, so saß sie allein auf dem Boden und buk eine Torte aus Schlamm mit lebenden Ameisen darin, mit der Achtsamkeit einer kleinen Dame. Die Ameisen im Teig ruderten mit den roten Beinen und starben langsam unter den Verzierungen aus Wildblumen und Zuckersand. In der sengenden Julisonne wuchs die Torte unter ihren Händen. Sie war so schön, wie es manchmal nur ungenießbare Dinge sein können. Als das Mädchen den Kopf hob, sah sie neben sich Tzia Bonaria Urrai im Gegenlicht stehen, sie lächelte, die Hände auf dem mageren Bauch, zufrieden mit dem, was Anna Teresa Listru ihr gegeben hatte. Was genau es war, das sie ihr gegeben hatte, verstand Maria erst einige Zeit später.

Am selben Tag noch ging sie mit Tzia Bonaria fort, in einer Hand die Torte aus Schlamm, in der anderen eine Tasche mit frischen Eiern und Petersilie, den armseligen Dankesgaben der Mutter.

Maria lächelte, obwohl sie tief im Inneren wusste, dass eigentlich Grund zum Weinen bestanden hätte, aber es gelang ihr nicht, diesen Grund zu fassen. Je weiter sie sich vom Elternhaus entfernte, desto blasser wurde die Erinnerung an das Gesicht der Mutter, beinahe so, als hätte sie es schon vor langer Zeit vergessen, in dem magischen Augenblick, in dem sie als kleines Mädchen zum ersten Mal alleine über die Zutaten ihrer Schlammtorte entschieden hatte. Noch Jahre später erinnerte sie sich dagegen an den glühenden Himmel und die Füße von Tzia Bonaria, die in Sandalen steckten und in einem stummen Tanz abwechselnd unter dem schwarzen Rocksaum hervorkamen und sich wieder versteckten, so schnell, dass die Beine kaum nachzukommen schienen.

Bei Tzia Bonaria bekam sie ein eigenes Bett ganz für sich allein und ein Zimmer voller Heiligenfiguren, die ihr bedrohlich vorkamen. In dem Moment verstand Maria, dass das Paradies kein Ort für Kinder war. Zwei Nächte lang lag sie reglos und starrte ins Dunkel, sie erwartete, dass eine der Figuren blutige Tränen weinen oder ein Heiligenschein aufleuchten würde. In der dritten Nacht erlag sie ihrer Angst vor der Jesusfigur mit dem ausgestreckten Zeigefinger, die furchteinflößend aussah mit ihren drei Rosenkränzen auf der blutverschmierten Brust. Sie konnte nicht mehr an sich halten und schrie.

Keine Minute später öffnete Tzia Bonaria die Tür und fand Maria an der Wand stehend, im Arm ein grobes Wollkissen, das sie zum Kuscheltier erkoren hatte. Dann fiel ihr Blick auf die Jesusfigur, die plötzlich näher am Bett zu stehen schien als vorher. Sie nahm die Statue unter den Arm und trug sie wortlos aus dem Zimmer. Am Tag darauf verschwanden von der Anrichte auch das Weihwasserbecken mit dem Bild der heiligen Rita und das Lamm aus Gips, das zottelig aussah wie ein streunender Hund und wild wie ein Löwe. Erst einige Zeit später begann Maria wieder, das Ave Maria zu beten, und auch nur ganz leise, damit die Madonna sie nicht höre und ernst nehme in der Stunde unseres Todes Amen.

Wie alt Tzia Bonaria damals war, lässt sich schwer sagen, denn sie schien seit Jahren nicht mehr zu altern, so als habe sie irgendwann beschlossen, auf einen Schlag alt zu sein und dann darauf zu warten, dass die verspätete Zeit sie einhole. Maria dagegen war zu spät angekommen im Bauch ihrer Mutter, und sie war von Anfang an daran gewöhnt, die letzte Sorge einer Familie zu sein, die davon schon zu viele hatte. Im Haus dieser Frau lernte sie plötzlich das ungewohnte Gefühl kennen, jemandem wichtig zu sein. Wenn sie morgens aus dem Haus ging, das Schulbuch vor die Brust gepresst, wusste sie, dass sie, wenn sie sich umdrehte, Tzia Bonaria sähe, die am Türpfosten lehnte und ihr nachschaute.

Maria war sich dessen nicht bewusst, aber die Alte war vor allem nachts bei ihr, in vielen ruhigen Nächten, in denen keine Sünde den Schlaf raubte. Sie betrat leise das Zimmer, setzte sich vor das Bett, in dem das Mädchen schlief, und betrachtete sie im Dunklen. In diesen Nächten schlummerte Maria selig, in der Gewissheit, unter den Gedanken Bonaria Urrais stets der erste zu sein, ohne von der Last zu wissen, die es bedeuten konnte, der einzige zu sein.

In Soreni verstand man nur zu gut, warum Anna Teresa Listru ihre jüngste Tochter zu der Alten gegeben hatte. Sie hatte die Ratschläge der Ihren ignoriert, den falschen Mann geheiratet und die darauffolgenden fünfzehn Jahre damit verbracht, über diesen Mann zu jammern, der bewiesen hatte, dass er nur für eine einzige Sache gut war. Bei den Nachbarinnen beklagte sich Anna Teresa Listru oft, dass ihr Ehemann es nicht einmal geschafft hatte, ihr im Tod nützlich zu sein, indem er beispielsweise im Krieg gestorben wäre und ihr eine Pension hinterlassen hätte. Ausgemustert wegen Untauglichkeit, war Sisinnio Listru auf ebenso dumme Weise gestorben, wie er gelebt hatte, zerquetscht wie eine Weintraube in der Presse vom Traktor Boreddu Arresis, bei dem er zeitweilig Halbpächter war. Als Witwe mit vier Töchtern zurückgeblieben, war Anna Teresa Listru nun nicht mehr nur arm, sondern bitterarm. Sie lernte, so sagte sie, selbst aus dem Schatten des Glockenturms noch Suppe zu kochen. Jetzt, da Tzia Bonaria die kleine Maria zur Tochter nehmen wollte, schien ihr die Aussicht auf zwei Kartoffeln von den Feldern der Urrai für die tägliche Minestra ein unermesslicher Glücksfall. Wenn sie dafür das Kind hergeben musste, machte das wenig: Sie hatte ja noch drei andere.

Warum allerdings Tzia Bonaria in ihrem Alter die Tochter einer anderen zu sich genommen hatte, das verstand niemand. Schweigen fiel über den Ort wie ein Schatten, wenn die Alte und das Mädchen zusammen durch die Straßen liefen, und immer wieder waren sie Grund für Tuscheleien in der Nachbarschaft. Bainzu, der Tabakhändler, labte sich an der Idee, dass auch die Reichen im Alter jemanden bräuchten, der ihnen den Hintern abwischte. Aber Luciana Lodine, die älteste Tochter des Installateurs, verstand nicht, warum man sich einen Erben beschaffen musste für etwas, das jedes anständig bezahlte Dienstmädchen ebenso gut übernehmen konnte. Ausonia Maullu, die von Hintern mehr verstand als jede Krankenschwester, beendete regelmäßig die Diskussion, indem sie beschied: Selbst ein Hund wolle nicht allein krepieren, und das brachte alle zum Schweigen.

Sicher, wäre Bonaria Urrai nicht reich gewesen, wäre sie so geendet wie alle anderen, die ohne Mann waren, anstatt sich eine fill’e anima ins Haus zu holen. Als Witwe eines Mannes, der sie nie geheiratet hatte, wäre sie eine Dirne geworden, Laienschwester oder Nonne, zeitlebens eingesperrt hinter geschlossenen Fensterläden und in Schwarz gehüllt. Der Krieg hatte ihr das Brautkleid geraubt, auch wenn einige im Dorf munkelten, dass Raffaele Zincu gar nicht wirklich in der Schlacht an der Piave gefallen sei: Eher glaubte man, er habe dort eine Frau gefunden und sich, schlau wie er war, Heimreise und lästige Erklärungen erspart. Vielleicht war das der Grund, warum Bonaria Urrai schon seit ihrer Jugend eine alte Frau war, und keine Nacht schien Maria so schwarz wie ihre Röcke. Das Dorf war voll von Witwen, deren Ehemänner in Wahrheit lebten, das wussten die Klatschweiber und das wusste auch Bonaria Urrai, und darum trug sie den Kopf stets hoch erhoben, wenn sie morgens frisches Brot kaufen ging. Sie blieb nie irgendwo zu einem Schwätzchen stehen, sondern kehrte schnurstracks nach Hause zurück.

Die Entscheidung, eine fill’e anima zu sich zu nehmen, wurde Bonaria jedoch weniger durch die Sensationslust der Leute erschwert als vielmehr durch das anfängliche Verhalten des Mädchens, das sie sich ins Haus geholt hatte. Nachdem sie sechs Jahre lang die Nächte in einem Zimmer mit drei Schwestern verbracht hatte, war Maria daran gewöhnt, nur den Raum um sich herum als den ihren zu begreifen, der nicht mehr als eine Armeslänge von ihr entfernt lag. Die Ankunft im Hause Bonaria Urrais stellte Marias Raumvorstellung auf den Kopf. In diesen Mauern war so viel Platz, dass es einige Wochen dauerte, bis sie begriff, dass aus den Türen der vielen Zimmer niemand heraustreten und sie zurechtweisen würde: »Nicht anfassen, das gehört mir.« Bonaria Urrai machte nicht den Fehler, ihr zu sagen, sie solle sich ganz wie zu Hause fühlen, und gab auch keine anderen der üblichen Banalitäten von sich, die zu nichts anderem dienen als den Gast daran zu erinnern, dass er eben nicht zu Hause ist. Sie wartete einfach ab, bis die Räume, die jahrelang leergestanden hatten, nach und nach die Form des Mädchens annehmen würden, und als nach einem Monat alle Türen der Zimmer geöffnet worden und offen stehen geblieben waren, hatte sie den Eindruck, dass es richtig gewesen sei, auf die Kraft des Hauses zu setzen. Nachdem Maria Vertrauen zu den neuen Wänden gefasst hatte, die sie umgaben, öffnete sie sich Stück für Stück auch der Frau, die sie zu sich genommen hatte.

»Wer sind Eure Eltern, Tzia?«, fragte sie eines Tages, den Mund voller Minestra.

»Mein Vater hieß Taniei Urrai, dort siehst du ihn …«

Bonaria zeigte auf das alte, vergilbte Foto über dem Kamin, auf dem Daniele Urrai als vielleicht Dreißigjähriger abgelichtet war, mit stolz geschwellter Brust in einer Samtweste. Dem Mädchen schien, er könne alles mögliche sein, aber sicher nicht der Vater der Alten, die sie vor sich hatte. Bonaria las die Ungläubigkeit in ihrem rosigen Gesicht.

»Da war er noch jung, ich war noch nicht geboren«, fügte sie hinzu.

»Und hattet Ihr keine Mama?«, drängte Maria, die offenbar kein großes Vertrauen in die Vorstellung hatte, Tochter eines Vaters zu sein.

»Natürlich hatte ich die, sie hieß Anna. Aber auch sie ist schon vor vielen Jahren gestorben.«

»Wie mein Vater«, sagte Maria ernst. »Das machen sie manchmal.«

Bonaria war überrascht.

»Was?«

»Das machen sie manchmal. Sterben, bevor wir auf die Welt kommen.« Maria schaute sie abwartend an. Dann fügte sie zögernd hinzu: »Das hat Rita mir gesagt, die Tochter von Angela Muntoni. Ihr Papa ist auch vorher gestorben.«

Während sie sprach, hüpfte der Löffel durch die Luft wie der Bogen eines Musikers im Orchester.

»Ja, einige tun das. Aber nicht alle«, sagte Bonaria und betrachtete das Mädchen mit einem unbestimmten Lächeln.

»Nein, natürlich nicht alle«, pflichtete Maria ihr bei. »Einer muss ja übrigbleiben. Für die Kinder. Darum sind die Eltern auch immer zwei.«

Bonaria nickte und tauchte ihren Löffel in die Minestra, überzeugt, dass das Gespräch beendet sei.

»Wart Ihr zu zweit?«

Erst nach einer Weile verstand Bonaria, was sie meinte, und ohne von der Suppe aufzuschauen, sagte sie in demselben beiläufigen Tonfall wie bisher: »Ja, wir waren zu zweit. Auch mein Mann ist gestorben.«

»Oh, er ist gestorben …«, sagte Maria nach einer kurzen Pause, hin- und hergerissen zwischen Mitleid und Erleichterung.

»Ja«, sagte Bonaria ernst. »Manchmal machen sie das.«

Beruhigt durch diese persönliche Statistik, aß Maria weiter und pustete sanft in die dampfende Suppe. Ab und zu schaute sie von ihrem Löffel auf und ihre Blicke kreuzten sich mit denen Tzia Bonarias, und sie musste lächeln.

Von diesem Tag an wartete Maria jeden Morgen in der Küche auf Bonaria, bis sie vom Brotholen zurückkam. Sie saß am Küchentisch, baumelte mit den Beinen und zählte stumm die Schläge der Gummisohlen gegen die Stuhlbeine, so weit sie zählen konnte. Etwa bei dreimal hundert kam Tzia Bonaria zurück, und dann aßen sie zusammen das ofenfrische Brot und gebackene Feigen, ehe Maria zur Schule musste.

»Iss nur, Maria, damit dir die Brüste wachsen«, sagte Tzia, und klopfte sich mit der Hand auf die eigenen zusammengeschrumpften Brüste.

Maria lachte und stopfte sich gleich zwei Feigen auf einmal in den Mund, dann rannte sie in ihr Zimmer, die Feigensamen noch zwischen den Zähnen, um den Fortschritt zu kontrollieren, denn alles, was Tzia Bonaria sagte, war Gottes Gesetz auf Erden. Trotzdem hat Maria in dreizehn Jahren, die sie bei ihr lebte, niemals Mama zu ihr gesagt, denn Mütter waren etwas anderes.

2

Eine ganze Zeitlang dachte Maria, Tzia Bonaria sei von Beruf Schneiderin. Sie nähte täglich mehrere Stunden, und es gab ein Zimmer im Haus, das immer voll war mit Stoffen und Stoffresten. Es kamen Frauen zum Maßnehmen für Röcke und Kopftücher, aber manchmal auch Männer, die neue Hosen brauchten oder ein Festtagshemd. Die Männer empfing Tzia Bonaria nicht im Stoffraum, sondern in der Eingangshalle. Dort mussten sie still stehen, während Tzia Bonaria sich auf den Knien, mit dem ledernen Maßband in der Hand, schnell wie eine Spinne um sie herumbewegte und ein geheimnisvolles Netz aus Maßen um die reglose Beute spann.

Die Frauen sprachen gern während des Maßnehmens, und durch die Geschichten der anderen erzählten sie von sich selbst. Die Männer dagegen schwiegen, finster, den aufmerksamen Augen schutzlos ausgeliefert. Maria beobachtete das alles und fragte:

»Die Männer schämen sich, von Euch Maß nehmen zu lassen, weil Ihr eine Frau seid, nicht wahr?«

Bonaria Urrai warf ihr einen schelmischen Blick zu, was ungewöhnlich aussah auf ihren sonst so strengen Zügen.

»Ach was, Mariedda! Die Männer haben Angst, keine Scham. Und sie wissen ganz genau, welches Hemd es ist, das sie von mir fürchten.« Sie lachte leise und schüttelte kräftig die Stoffbahn, um sie auszubreiten.

Angst hin oder her, die Kunden kamen auch von außerhalb, sogar aus Illamari oder Luvè, vor Hochzeiten oder Feiertagen, oder auch nur, um sich einen neuen Sonntagsanzug schneidern zu lassen. An manchen Tagen wirkte das Haus wie ein Basar, mit meterlangen Stoffbahnen, die auf Stuhllehnen ausgebreitet lagen, um sich darauf Rockfalten und Stickereien vorzustellen. Maria saß dabei und schaute zu, manchmal reichte sie eine Nadel oder die Kreide, um eine Saumlänge zu markieren.

Für ein neues Paar Hosen kam einmal auch Boriccu Silai von der Bergwerksgesellschaft, begleitet von seinem Dienstmädchen. Das Mädchen mochte etwa sechzehn Jahre alt sein und hieß Annagrazia. Sie hatte pockennarbige Haut und Augen, die aussahen wie zwei Nacktschnecken. Sie stand still an der Wand, im Arm eine Tüte mit mindestens vier Metern feinem Samt, wie ihn sich nur Reiche leisten konnten. Tzia Bonaria ließ sich davon nicht beeindrucken und nahm bei Boriccu Silai genauso gewissenhaft Maß wie bei allen. Sie betrachtete die Formen unter der Gürtellinie mit dem professionellen Blick desjenigen, der anhand des Wenigen vieles versteht.

»Auf welcher Seite tragt Ihr ihn?« fragte sie schließlich mit Blick auf seinen Hosenschlitz. Er drehte den Kopf in Richtung des Mädchens und nickte ihr zu.

»Auf der linken«, antwortete Annagrazia an seiner Stelle und fixierte die Alte, ohne Weiteres hinzuzufügen. Bonaria hielt für einen Moment dem Blick des Dienstmädchens stand, dann begann sie, mit langsamen Bewegungen das lederne Maßband wieder auf den Zitronenbaumzweig aufzuwickeln. Boriccu wartete auf eine Antwort, doch als Tzia Bonaria zu sprechen anhob, schien sie sich nicht an ihn zu wenden.

»Nun, bis Sant’Ignazio schaff’ ich es wohl nicht. Versucht’s mal bei Rosa Cadinu, die sucht Arbeit.«

Boriccu Silai und Tzia Bonaria taxierten sich schweigend mit Blicken. Dann wandten sich der Mann und sein Dienstmädchen grußlos zum Gehen, denn es war schon zu viel gesagt worden. Nachdem sie die Tür hinter ihnen sorgfältig verschlossen hatte, drehte sich Tzia Bonaria mit einem erschöpften Seufzer zu Maria um und steckte das Maßband in die Tasche ihrer zerschlissenen Schürze.

»Sollen sie sich doch zum Teufel scheren … ich habe einen Auftrag verloren, aber manchmal ist es besser, die genauen Maße von etwas nicht zu kennen, Maria. Hast du verstanden?«

Verstanden hatte Maria nichts, aber sie nickte trotzdem, denn manche Dinge, die man hört, kann man erst später verstehen. Übrigens, zu diesem Zeitpunkt dachte Maria noch immer, dass Tzia Bonaria von Beruf Schneiderin sei.

Als Maria zum ersten Mal bemerkte, dass Tzia Bonaria nachts ausging, war sie acht Jahre alt. Es war im Winter 1955, kurz nach dem Dreikönigsfest. Sie hatte bis zum Abendläuten aufbleiben und spielen dürfen, dann hatte Tzia Bonaria sie in ihr Zimmer gebracht, die Fensterläden geschlossen, damit es früher dunkel werde, und das Kohlebecken mit glühenden Kohlestücken und heißer Asche gefüllt.

»Schlaf jetzt, morgen musst du früh aufstehen für die Schule.«

Maria ließ sich fast nie von dieser künstlichen Nachtstimmung täuschen und blieb manchmal noch stundenlang auf, um die Schatten zu betrachten, die die verglühenden Kohlen an die Zimmerdecke malten.

Auch in dieser Nacht schlief sie nicht, als sie das Klopfen an der Haustür hörte und die gedämpfte, aufgeregte Stimme eines Mannes, der zu leise sprach, als dass man hätte erkennen können, wer er war. Sie lag reglos unter der Decke zwischen den rötlichen Schatten und hörte, wie sich weit hinten im Haus die Tür zum Hof öffnete, hörte die Schritte Tzia Bonarias, die hinausging und wenige Minuten darauf zurückkehrte. Sie stieg aus dem Bett und tapste, ungeachtet des kalten Bodens unter ihren nackten Füßen, in Richtung der Zimmertür, bis sie im Dunkeln an den Nachttopf stieß. Noch bevor sie die Tür öffnete, hatte Tzia schon bemerkt, dass sie wach war.

»Das Mädchen!«, mahnte sie leise den Mann, der reglos im Schatten des Eingangs stand. Er war groß, hatte breite Schultern und kam ihr irgendwie bekannt vor, aber Maria hatte keine Zeit zu überlegen, wer er sein könnte, denn im selben Moment stand schon Tzia vor ihr, schwarz und streng, in ihrem langen Wolltuch, das sie nur trug, wenn sie an den gebotenen Feiertagen ausging. Sie trug es geschlossen wie einen Schrein, eng um den mageren Körper gewickelt, um gleichermaßen Formen wie Absichten zu verschleiern.

»Geh zurück in dein Zimmer.«

Maria konnte ihr Gesicht nicht sehen, und vielleicht lag es daran, dass sie wagte zu antworten:

»Wo geht Ihr hin, Tzia? Was ist los?«

»Ich komme bald wieder. Aber du gehst jetzt zurück in dein Zimmer.«

Das war keine Einladung, und es war schon einmal zu viel gesagt worden, zumal in Anwesenheit eines Fremden. Maria zog sich schweigend aus dem Türspalt zurück. Die Alte stand unbeweglich, bis die Tür geschlossen war, ebenso ihr Gast. Hinter der Tür hielt Maria die Luft an, wie ein Geheimnis, das nicht entschlüpfen darf, so lange, bis sie hörte, dass sich etwas vor der Tür zu regen begann, schnelle Schritte, die aus dem Haus gingen, und es in einem Zustand der scheinbaren Ruhe zurückließen. Betäubt von der Kälte blieb sie stehen und wartete. Ohne nachzudenken begann sie, leise mit dem Finger an den Türpfosten zu klopfen und im Takt dazu zu zählen. Als sie dreimal bis hundert gezählt hatte, war Bonaria Urrai jedoch noch immer nicht zurückgekehrt. Da fügte sich das Mädchen und kroch ins Bett, lauschte in die Stille hinein, hellwach, bis sie schließlich in der Wärme des Zimmers der Schlaf übermannte. Als die Alte nach Hause kam, schlief das Mädchen und bekam nichts davon mit. Und das war besser so.

Am nächsten Morgen wurde das Mädchen von den gewohnten Geräuschen des Hauses geweckt. Die Fragen der vergangenen Nacht lösten sich auf wie der Geruch, der von der lauwarmen Asche aufstieg. Sie zog sich an und machte sich auf die Suche nach der Tzia, die sie fand, wie sie ein Stück Stoff ausschüttelte, um den Staub herauszuklopfen und das zerschlissene Gewebe auszubreiten. Sie sah aus wie ein Vogel mit nur einem Flügel. Bonarias Blick fiel auf Maria und sie hielt inne. Dann sagte sie:

»Was du gestern gemacht hast, das darf nie wieder passieren.«

Der Befehl kam trocken wie der Knall, den Stoff manchmal beim Ausschlagen machte, und jede weitere Frage erstarb in dieser Drohung. In dem Moment verstand Maria, dass für sie mehr auf dem Spiel stand als nur eine gestörte Nachtruhe. Dann entspannte sich das Gesicht der Alten, und während sie den ausgeschüttelten Stoff zusammenlegte, sagte sie:

»Iss jetzt, wir haben heute viel zu tun.«

Die Tzia streifte ihr das Festkleid über und zog sich selbst den guten Trauerrock an, obwohl es ein ganz gewöhnlicher Dienstag war. Sie flocht sich die grauen Haare, dabei betrachtete sie ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe, und die Schatten malten all die gelebten Tage als feine Linien in ihr Gesicht. In den Falten des Rocks und den Falten ihres Gesichts glaubte Maria zum ersten Mal eine Ahnung ihrer vergangenen Schönheit zu erkennen, und es machte sie traurig, dass niemand mehr da war, der eine Erinnerung daran bewahrte.

»Wo gehen wir hin, Tzia?«

Die Alte verhüllte die Haare mit dem schwärzesten ihrer Kopftücher, dem Seidentuch mit den langen Fransen, die sich ständig verknoteten. Dann wandte sie sich zu ihr um, mit einem sonderbaren Ausdruck im mageren Gesicht.

»Zum Kondolenzbesuch bei Rachela Litorra, deren Mann gestorben ist. Das ist unsere nachbarschaftliche Pflicht.«

Sie ging wie immer schnell, und Maria hatte Mühe, neben ihr Schritt zu halten, obwohl ihr weißes Kleidchen viel leichter war als der lange Rock der Alten. Das Haus des Toten lag nicht weit entfernt, und schon aus mehreren hundert Metern Entfernung hörte man den düsteren Gesang der attittu, der Totenklage. Jedes Mal, wenn sich die dissonanten Klagegesänge erhoben, war es, als würde den Leuten von Soreni der Schmerz jedes Hauses gesungen, gegenwärtig oder vergangen, weil die Trauer einer Familie die Erinnerung an alle vorhergegangenen Trauerfälle wieder lebendig machte. Die Fensterläden in der gesamten Nachbarschaft wurden angelehnt, so dass kein Sonnenstrahl in die Häuser fiel, und alle strömten herbei, um die eigenen Toten stellvertretend in diesem Toten zu beklagen.

Der Tote lag ausgestreckt auf einem Bett in der Mitte der Eingangshalle, mit den Füßen zum Eingang. Er war schon bereit für die Beerdigung, sie hatten ihn angezogen wie zu einem Festtag, mit dem dunklen Anzug, den er zu seiner Hochzeit getragen hatte, als er noch schlank und gesund gewesen war und selbst über sein Leben bestimmen konnte. Die Knöpfe spannten über dem Bauch, obwohl er auf dem Rücken lag, und die Luft war voll von den schluchzenden Seufzern der Frauen, während die Männer unbeweglich an der Wand standen, wie Wächter. Dann hob die attittadora zu einem singenden Wehklagen an, es erhob sich ein schmerzvoller Ton, der aus der Tiefe ihrer gebeugten Knie aufzusteigen schien. Die Frauen antworteten ihr mit rhythmischem Klagen und bildeten so einen schaurigen Chor, dem sich anzuschließen Tzia Bonaria keine Anstalten machte. Sie bedeutete Maria zu warten und ging hinüber zur Witwe Rachela Littorra, die zusammengesunken in dem Stuhl saß, der dem Kopf des Toten am nächsten war, und sich stumm vor und zurück wiegte, während die anderen an ihrer Stelle weinten. Als sie Tzia Bonaria sah, schien die Frau aus ihrer Taubheit zu erwachen und stand auf, um den Gast zu begrüßen.

»Meine liebe Schwester! Gott segne Euch für alles, was Ihr getan habt …«

Für einen Moment übertönte der Ausruf den käuflichen Gesang des Klageweibs. Der Rest des Satzes erstickte in der schwarzen Wolle des Tuches von Tzia Bonaria, in dem die Witwe, übermannt von einem ungehörigen Gefühlsausbruch, ihr Gesicht verbarg und so die Blicke aller Umstehenden auf sich zog. Erst als Tzia ihr etwas zuraunte und ihr so liebevoll über den Kopf strich, wie Maria es von ihr nicht kannte, schien Rachela Littorra ihr Schamgefühl wiederzufinden.

Das Klageweib hatte inzwischen den Tonfall geändert und ein improvisiertes Gedicht voller Lob über den Toten angestimmt. Wenn man sie so in Reimen klagen hörte, schien es, als sei niemals ein besserer Mann geboren worden als Giacomo Littorra, obwohl doch alle wussten, dass er ein kleinlicher Ehemann gewesen war, überzeugt, dass es eine Tugend sei, mit allen Menschen genauso schonungslos umzuspringen, wie das Schicksal mit ihm umgesprungen war. Während das Klageweib jammerte und so tat, als reiße sie sich mit den Zähnen ein Stück Stoff aus dem Ärmel, las Maria auf den Gesichtern der Anwesenden genau diesen ungehörigen Gedanken, als sie verstohlen von einem zum nächsten schaute.

Da sah sie ihn, den Mann.

Er war der Sohn des Toten und stand hinter dem Stuhl seiner Mutter, mit dem Hut in der Hand gegen die Wand gelehnt. Er stach durch seine Größe unter den anwesenden Männern hervor. Santino Littorra hielt die Augen fest auf den steifen Körper des Vaters geheftet, als wäre er hypnotisiert von der unechten Trauer des Klageweibs. Maria erkannte die breiten Schultern und seine Art, absolut reglos zu verharren, die ihr in der Nacht zuvor aufgefallen war. Acht Jahre, das waren zu wenige, um alles zu verstehen, aber sie reichten wohl aus, eine Ahnung zu wecken, dass es etwas zu verstehen gab. Als sie kaum zwei Stunden später nach Hause zurückkehrten, ging Maria langsam, so als hätte sie eine Last zu tragen, aber vielleicht war dies das letzte Mal, dass sie auf dem Weg hinter Tzia Bonaria zurückblieb.

3