Cover
Louis Sachar
Löcher
Die Geheimnisse von Green Lake
Aus dem amerikanischen Englisch von Birgitt Kollmann
www.beltz.de
© 1999, 2002 Beltz & Gelberg in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Die amerikanische Originalausgabe erschien u.d.T. Holes bei Farrar, Straus and Giroux, New York
© 1998 Louis Sachar
Neue Rechtschreibung
Markenkonzept: Groothuis, Lohfert, Consorten, Hamburg
Einbandgestaltung: b3K Hamburg – Frankfurt
Einbandbild: Wolf Erlbruch
E-Book: Beltz Bad Langensalza, Bad Langensalza
ISBN 978-3-407-74315-2
Löcher kam auf die Auswahlliste zum Deutschen Jugendliteraturpreis; die amerikanische Originalausgabe wurde in den USA mit allen renommierten Literaturpreisen ausgezeichnet, u.a. mit dem National Book Award und der Newbery Medal.
Für Sherre, Jessica, Lori, Kathleen und Emily
 
Und für Judy Allen, eine Lehrerin, von der wir alle lernen können

Teil Eins

Sie betreten Camp Green Lake

1

Das hier nennt sich zwar Camp Green Lake, aber einen See gibt es gar nicht. Früher gab es mal einen ganz großen, den größten See in Texas, aber das ist schon über hundert Jahre her. Jetzt ist hier alles flach und trocken, eine einzige Wüste.
Es gab auch mal eine Stadt, die Green Lake hieß, aber die ist gleichzeitig mit dem See immer mehr zusammengeschrumpft und ausgetrocknet, genauso wie die Leute, die da wohnten.
Im Sommer liegt die Temperatur tagsüber bei 35 Grad im Schatten – vorausgesetzt, man findet irgendwo Schatten. Viel gibt es davon nicht an einem großen, ausgetrockneten See.
Die einzigen Bäume sind zwei alte Eichen am Ostufer des »Sees«. Dazwischen ist eine Hängematte gespannt und dahinter steht eine Blockhütte.
Den Bewohnern des Camps ist es verboten, sich in die Hängematte zu legen. Sie gehört nämlich dem Boss. Der Schatten ist ganz allein für den Boss.
Draußen am See suchen Klapperschlangen und Skorpione Schatten unter Felsen und in den Löchern, die die Bewohner des Camps gegraben haben. Was die Klapperschlangen und Skorpione angeht, sollte man sich eine wichtige Regel merken: Lass sie in Ruhe, dann lassen sie dich auch in Ruhe.
Normalerweise.
Von einem Skorpion oder sogar von einer Klapperschlange gebissen zu werden ist nicht das Schlimmste, was dir passieren kann. Daran stirbst du nicht.
Normalerweise.
Manchmal kommt es vor, dass einer der Jungs hier es darauf anlegt, von einem Skorpion gebissen zu werden, vielleicht sogar von einer kleinen Klapperschlange. Dann darf er sich ein oder zwei Tage in seinem Zelt ausruhen und muss kein Loch graben draußen auf dem See.
Aber keiner würde sich freiwillig von einer gelb gefleckten Eidechse beißen lassen. Das ist das Schlimmste, was einem passieren kann. Dann stirbt man einen langsamen, qualvollen Tod.
Immer.
Wenn du von einer gelb gefleckten Eidechse gebissen wirst, dann kannst du geradeso gut hinüber in den Schatten der Eichen gehen und dich in die Hängematte legen.
Dann kann dir nämlich keiner mehr was.

2

Jetzt fragt sich der Leser vermutlich: Aus welchem Grund sollte irgendjemand auf die Idee verfallen, nach Camp Green Lake zu kommen?
Die Antwort ist: Die meisten Bewohner hatten gar keine andere Wahl. Camp Green Lake ist eine Anstalt für schwere Jungs.
Nimm einen von ihnen und lass ihn Tag für Tag in brütender Hitze ein Loch graben, und du kannst sicher sein, dass ein guter Junge aus ihm wird.
Jedenfalls glaubten das einige Leute.
Stanley Yelnats hatte sogar die freie Wahl. Der Richter sagte: »Du kannst es dir aussuchen – entweder du gehst ins Gefängnis oder du kommst nach Camp Green Lake.
Stanley kam aus einer armen Familie. Er war noch nie im Leben in einem Feriencamp gewesen.

3

Stanley Yelnats war der einzige Fahrgast im Bus, wenn man den Fahrer und den Wachmann nicht mitrechnete. Der Wachmann saß neben dem Fahrer auf einem umgedrehten Sitz, so dass er Stanley im Blick hatte. Auf seinen Knien lag ein Gewehr.
Stanley saß ungefähr zehn Reihen weiter hinten und war mit Handschellen an einer Armlehne festgekettet. Auf dem Sitz neben ihm lag sein Rucksack. Darin waren seine Zahnbürste, Zahnpasta und eine Schachtel mit Briefpapier, die seine Mutter ihm geschenkt hatte. Er hatte ihr versprochen, wenigstens einmal die Woche zu schreiben.
Er schaute zum Fenster hinaus, auch wenn es nicht viel zu sehen gab – hauptsächlich Wiesen und Baumwollfelder. Er befand sich auf einer langen Busfahrt nach Nirgendwo. Der Bus hatte keine Klimaanlage und die stickige, heiße Luft war fast ebenso beklemmend wie die Handschellen.
Stanley und seine Eltern hatten sich vorzumachen versucht, er würde einfach nur für eine Weile ins Feriencamp gehen, so wie die reichen Kinder. Als Stanley noch jünger war, hatte er oft mit seinen Plüschtieren Feriencamp gespielt. »Spaß & Spiele« stand auf dem Programm. Mal ließ er sie mit einer Murmel Fußball spielen, mal gab es Hindernisrennen und manchmal auch Bungeespringen vom Tisch hinunter, wozu er die Tiere an durchgerissenen Gummibändern festband. Jetzt versuchte Stanley sich vorzumachen, dass dieses Mal für ihn selbst »Spaß & Spiele im Feriencamp« angesagt war. Vielleicht würde er ja auch Freunde finden, dachte er. Zumindest könnte er im See schwimmen gehen.
Zu Hause hatte er keine Freunde. Er war übergewichtig und die anderen Kinder in seiner Schule machten sich oft darüber lustig. Sogar seine Lehrer machten manchmal irgendwelche grausamen Bemerkungen, ohne es zu merken. An seinem letzten Schultag hatte die Mathelehrerin Mrs. Bell mit ihnen Verhältnisrechnen gemacht. Um ihnen das an einem Beispiel vorzuführen, ließ sie das schwerste und das leichteste Kind der Klasse nach vorne kommen zum Wiegen. Stanley wog dreimal so viel wie der andere Junge. Mrs. Bell schrieb das Verhältnis der beiden Gewichte – 3 :1 – an die Tafel, ohne zu spüren, wie peinlich die Situation für beide Jungen war.
Am selben Tag war Stanley festgenommen worden.
Er sah den Wachmann an, der zusammengesunken auf seinem Platz saß, und fragte sich, ob er wohl eingeschlafen war. Der Mann hatte eine dunkle Sonnenbrille auf, deswegen konnte Stanley seine Augen nicht sehen.
Stanley war kein schlechter Junge. Er hatte die Tat, wegen der man ihn verurteilt hatte, nicht begangen. Er war einfach im falschen Moment am falschen Ort gewesen.
An der ganzen Sache war überhaupt nur sein Ururgroßvater schuld, dieser elende Tunichtgut und Schweinedieb!
Stanley grinste. Das war so ein stehender Witz in seiner Familie. Wann immer irgendetwas schief ging, schoben sie die Schuld auf Stanleys Ururgroßvater, diesen elenden Tunichtgut und Schweinedieb.
Dieser Ururgroßvater, so hieß es, habe einmal einer Alten, der ein Fuß fehlte, ein Schwein gestohlen, weswegen sie ihn und alle seine Nachkommen verfluchte. Stanley und seine Eltern glaubten natürlich nicht an solche Flüche, aber wenn etwas schief ging, tat es einfach gut, jemanden zu haben, auf den man die Schuld schieben konnte. Und es ging bei ihnen eine ganze Menge schief. Immer schienen sie im falschen Moment am falschen Ort zu sein.
Stanley blickte durchs Fenster in die weite, wüstenähnliche Landschaft hinaus. Mit den Augen folgte er dem Auf und Ab eines Telefonkabels, dazu hörte er im Kopf die raue Stimme seines Vaters, der ihm leise ein Lied sang:
»Wenn, ja wenn«, seufzt der Specht,
»die Rinde am Baum nur ein bisschen weicher wär«
Und unten lauert der Wolf,
hungrig und einsam heult er zum Mond,
zum Mo-ho-hond:
»Wenn, ja wenn!«
Solange Stanley sich erinnern konnte, hatte der Vater ihm dieses Lied vorgesungen. Es hatte eine süße, traurige Melodie, aber am meisten liebte Stanley die Stelle, wo der Vater Mo-ho-hond heulte.
Der Bus holperte über eine Bodenwelle und der Wachmann fuhr hoch und war mit einem Mal hellwach.
Stanleys Vater war ein Erfinder. Um ein erfolgreicher Erfinder zu sein, braucht man drei Dinge: Intelligenz, Ausdauer und ein ganz kleines bisschen Glück.
Stanleys Vater war ein kluger Kopf und an Ausdauer fehlte es ihm auch nicht. Wenn er sich einmal an ein Projekt machte, arbeitete er oft Jahre daran, manchmal mehrere Tage am Stück, ohne zu schlafen. Nur Glück hatte er nie.
Und jedes Mal, wenn wieder ein Experiment gescheitert war, konnte Stanley hören, wie der Vater seinen Urgroßvater verfluchte, diesen elenden Tunichtgut und Schweinedieb.
Stanleys Vater hieß ebenfalls Stanley Yelnats. Sein voller Name war Stanley Yelnats III. Unser Stanley heißt Stanley Yelnats IV.
In der Familie hatte man es immer toll gefunden, dass man »Stanley Yelnats« sowohl von vorn als auch von hinten lesen konnte. Deswegen wurden die Söhne immer Stanley genannt. Stanley war ein Einzelkind, ebenso wie die anderen Stanley Yelnats vor ihm.
Und noch etwas anderes hatten sie gemein: Obwohl sie so viel Pech hatten, gaben sie nie die Hoffnung auf. Wie sagte Stanleys Vater gern: »Aus Fehlern wird man klug.«
Aber vielleicht war ja auch das ein Teil des Fluchs: Wenn Stanley und sein Vater sich nicht immer so viel Hoffnung gemacht hätten, dann hätte es vielleicht auch nicht so wehgetan, wenn wieder einmal eine Hoffnung zunichte gemacht worden war.
»Nicht jeder Stanley Yelnats ist gescheitert«, betonte Stanleys Mutter gern, wenn Stanley und sein Vater so mutlos waren, dass sie tatsächlich anfingen zu glauben, dass an dem Fluch etwas dran sein musste. Der erste Stanley Yelnats, Stanleys Urgroßvater, hatte an der Börse ein Vermögen gemacht. »Da kann er ja wohl kaum so ein Pechvogel gewesen sein!«
Bei solchen Gelegenheiten vergaß sie gern zu erwähnen, welches Unglück den ersten Stanley Yelnats getroffen hatte: Er hatte nämlich sein ganzes Vermögen verloren, als er von New York nach Kalifornien zog.
Die Kutsche, mit der er reiste, wurde von der berühmten Banditin Kissin’ Kate Barlow überfallen und ausgeraubt.
Wenn das nicht passiert wäre, dann lebte Stanleys Familie jetzt in Kalifornien in einer Villa am Strand. Stattdessen hockten sie in einer winzigen Wohnung aufeinander, in der es nach verbranntem Gummi und Fußschweiß stank.
Wenn, ja wenn ...
Die Wohnung stank deswegen so, weil Stanleys Vater dabei war, ein Recyclingverfahren für gebrauchte Turnschuhe zu entwickeln. »Der Erste, der eine Methode erfindet, wie man alte Turnschuhe wieder verwenden kann«, sagte er immer, »der wird ein reicher Mann.«
Dieses letzte Projekt seines Vaters war es, das zu Stanleys Festnahme geführt hatte.
Der Bus holperte jetzt immer heftiger, weil die Straße nicht mehr asphaltiert war.
Ehrlich gesagt war Stanley zunächst einmal beeindruckt gewesen, als er erfuhr, dass sein Urgroßvater von Kissin’ Kate Barlow ausgeraubt worden war. Klar, ihm wäre es auch lieber gewesen, irgendwo in Kalifornien am Strand zu leben, aber andererseits war es auch ziemlich cool, jemanden in der Familie zu haben, der von einer berühmten Banditin ausgeraubt worden war.
Genau genommen hatte Kate Barlow Stanleys Urgroßvater gar nicht geküsst. Das wäre nun wirklich cool gewesen, aber sie hatte immer nur die Männer geküsst, die sie umgebracht hatte. Ihn aber hatte sie nur ausgeraubt und mitten in der Wüste zurückgelassen.
»Er hat immerhin das Glück gehabt, dass er mit dem Leben davongekommen ist«, beeilte sich Stanleys Mutter immer zu sagen.
Der Bus wurde langsamer. Ächzend reckte und streckte sich der Wachmann.
»Willkommen in Camp Green Lake«, sagte der Fahrer. Stanley schaute durch das schmutzige Fenster. Er sah überhaupt keinen See.
Und grün war es eigentlich auch nirgends.

4

Stanley fühlte sich leicht benommen, als der Wachmann ihm die Handschellen abnahm und ihn aussteigen ließ. Er hatte über acht Stunden im Bus gesessen.
,Vorsicht!«, sagte der Busfahrer, als Stanley die Stufen hinunterstieg.
Stanley war sich nicht sicher, ob der Fahrer gemeint hatte, er solle beim Aussteigen vorsichtig sein, oder ob vielleicht in Camp Green Lake Vorsicht geboten war. »Danke fürs Mitnehmen«, sagte er. Sein Mund war trocken und der Hals tat ihm weh. Er trat auf harten, trockenen Boden. Da, wo an seinem Handgelenk die Handschellen gesessen hatten, glänzte der Schweiß.
Die Gegend schien verlassen und absolut kahl. Er sah ein paar heruntergekommene Gebäude und einige Zelte. Ein Stück entfernt stand eine Hütte zwischen zwei Bäumen. Außer diesen beiden Bäumen war an Pflanzen nichts zu sehen. Nicht einmal Unkraut gab es.
Der Wachmann brachte Stanley in ein kleines Gebäude. Auf einem Schild am Eingang stand: SIE BETRETEN DIE BESSERUNGSANSTALT CAMP GREEN LAKE. Gleich daneben war ein zweites Schild, auf dem darauf hingewiesen wurde, dass es einen Verstoß gegen die texanischen Gesetze darstelle, das Gelände mit Gewehren oder sonstigen Waffen, Sprengstoff, Drogen oder Alkohol zu betreten.
»Das fängt ja gut an«, dachte Stanley, als er das Schild las. Er folgte dem Wachmann ins Innere des Gebäudes, wo zu seiner großen Erleichterung eine Klimaanlage eingeschaltet war.
An einem Schreibtisch saß ein Mann. Die Füße hatte er auf die Platte gelegt. Als Stanley und sein Bewacher eintraten, drehte er zwar den Kopf, rührte sich aber sonst nicht. Obwohl er doch im Haus war, trug er eine Sonnenbrille und einen Cowboyhut. In der Hand hielt er eine Büchse Mineralwasser und allein der Anblick machte Stanley noch durstiger.
Er wartete, während sein Bewacher aus dem Bus dem Mann ein paar Papiere zum Unterschreiben gab.
»Das sind aber ziemlich viele Sonnenblumenkerne«, sagte der Wachmann.
Stanley bemerkte einen Sack, der neben dem Schreibtisch auf dem Boden stand.
»Ich hab letzten Monat mit dem Rauchen aufgehört«, sagte der Mann mit dem Cowboyhut. Auf seinem Arm war eine Klapperschlange eintätowiert, und es sah so aus, als bewegten sich ihre Hornringe. »Vorher hab ich eine Schachtel am Tag geraucht. Jetzt ess ich jede Woche einen Sack von diesen Dingern.«
Der Wachmann lachte.
Hinter dem Schreibtisch musste es einen kleinen Kühlschrank geben, der Mann mit dem Hut holte nämlich auf einmal noch zwei Büchsen mit Wasser hervor. Stanley hoffte schon, dass eine davon vielleicht für ihn sei, aber der Mann gab eine dem Wachmann und sagte, die andere sei für den Busfahrer.
»Erst neun Stunden her, und jetzt wieder neun Stunden zurück«, schimpfte der Wachmann. »Wirklich ein klasse Tag!«
Stanley dachte an die lange, beschwerliche Busfahrt und der Wachmann und der Busfahrer taten ihm direkt ein bisschen Leid.
Der Mann mit dem Cowboyhut spuckte ein paar Schalen von Sonnenblumenkernen in einen Papierkorb. Dann kam er um den Schreibtisch herum auf Stanley zu. »Mein Name ist Mr. Sir«, sagte er. »Und so wünsche ich auch immer angeredet zu werden, ist das klar?«
Stanley zögerte. »Öh – ja, Mr. Sir«, sagte er, obwohl er sich nicht vorstellen konnte, dass der Mann tatsächlich so heißen sollte.
»Du bist hier nicht bei den Pfadfinderinnen«, sagte Mr. Sir.
Stanley musste sich vor Mr. Sir ausziehen, der kontrollieren wollte, ob er auch nichts versteckte. Dann bekam er ein Handtuch und zwei Garnituren Kleidung. Jede bestand aus einem orangeroten Overall mit langen Ärmeln, einem orangeroten T-Shirt und gelben Socken. Stanley war sich nicht sicher, ob die Socken von Anfang an gelb gewesen waren.
Außerdem bekam er noch weiße Turnschuhe, eine orangerote Kappe und eine Trinkflasche aus schwerem Plastik, die leider leer war. An die Kappe war hinten ein Stoffstreifen angenäht, der den Nacken schützen sollte.
Stanley zog sich wieder an. Die Kleidung roch nach Waschpulver.
Mr. Sir erklärte ihm, er solle die eine Garnitur immer zur Arbeit tragen und die andere in der Freizeit. Alle drei Tage sei große Wäsche, da werde jeweils seine Arbeitskleidung gewaschen. Dann werde die zweite Garnitur zur Arbeitskleidung und für die Freizeit gebe es frische Sachen.
»Du hast jeden Tag ein Loch zu graben, auch samstags und sonntags. Jedes Loch muss fünf Fuß tief sein und auch einen Durchmesser von fünf Fuß haben. Deine Schaufel ist gleichzeitig dein Maßstab. Frühstück gibt es um halb fünf.«
Stanley sah wohl überrascht aus, denn Mr. Sir schickte noch die Erklärung hinterher, dass sie deswegen so früh anfingen, damit sie nicht in der heißesten Zeit des Tages arbeiten müssten. »Einen Babysitter hast du hier nicht«, fügte er hinzu. je länger du brauchst zum Graben, desto länger bist du halt draußen in der Sonne. Wenn du beim Graben irgendwas Interessantes findest, dann bist du gehalten, es mir oder einem der anderen Betreuer zu zeigen. Wenn du mit der Arbeit fertig bist, hast du den Rest des Tages zur freien Verfügung.«
Stanley nickte, um zu zeigen, dass er verstanden hatte.
»Das hier ist kein Lager für Pfadfinderinnen«, betonte Mr. Sir noch einmal.
Er durchsuchte Stanleys Rucksack und erlaubte ihm, ihn zu behalten. Dann ging er mit Stanley hinaus in die glühende Sonne.
»Sieh dich gut um«, sagte Mr. Sir. »Was siehst du?«
Stanley blickte über das weite Ödland. Die Luft schien schwer von Staub und Hitze. »Nicht viel«, sagte er und fügte dann rasch hinzu: »Mr. Sir.«
Mr. Sir lachte. »Siehst du irgendwelche Wachtürme?« »Nein.«
»Elektrische Stacheldrahtzäune?«
»Nein, Mr. Sir.«
»Hier gibt es überhaupt keinen Zaun, stimmt’s?« ja, Mr. Sir.«
»Möchtest du weglaufen?«, fragte ihn Mr. Sir.
Stanley schaute ihn an, unsicher, was die Frage bedeuten sollte.
»Wenn du wegrennen willst, mach nur, lauf los. Ich werde dich nicht aufhalten.«
Stanley begriff nicht, was für ein Spiel Mr. Sir mit ihm spielte.
»Ich sehe, du schaust auf meine Pistole. Keine Angst. Ich werde dich nicht erschießen.« Er klopfte auf den Gurt. »Die ist nur für gelb gefleckte Eidechsen. Für dich würde ich keine Kugel verschwenden.«
»Ich werde nicht wegrennen«, sagte Stanley.
»Das ist klug von dir«, sagte Mr. Sir. »Keiner rennt von hier weg. Wir brauchen keinen Zaun. Weißt du, wieso? Weil wir hier das einzige Wasser im Umkreis von hundert Meilen haben. Wenn hier einer wegrennt, dann ist er nach drei Tagen Futter für die Geier.«
Stanley sah ein paar orange gekleidete Jungs mit Schaufeln. Sie schleppten sich langsam zu den Zelten. »Hast du Durst?«, fragte Mr. Sir.
Ja Mr. Sir«, sagte Stanley dankbar.
»Dann solltest du dich langsam daran gewöhnen. Du wirst die nächsten achtzehn Monate lang Durst haben.«

5

Es gab sechs große graue Zelte und auf jedem stand ein schwarzer Buchstabe: A, B, C, D, E oder F. Die ersten fünf Zelte waren für die Camp-Insassen. Die Betreuer schliefen in Zelt F.
Stanley wurde in Zelt D geschickt. Sein Betreuer hieß Mr. Pendanski.
»Den Namen kann man sich gut merken«, sagte er, als er Stanley vor dem Zelteingang die Hand schüttelte. »Du musst dir nur drei leichte Wörter merken: PEN wie Füller, DANCE wie tanzen, KEY wie Schlüssel.«
Mr. Sir ging zum Büro zurück.
Mr. Pendanski war jünger als Mr. Sir und sah längst nicht so zum Fürchten aus. Die Haare hatte er sich so kurz geschoren, dass er beinahe eine Glatze hatte, doch sein schwarzer Bart war dicht und lockig. Auf der Nase hatte er einen schlimmen Sonnenbrand.
«Mr. Sir ist eigentlich ganz harmlos«, sagte Mr. Pendanski. »Er ist bloß schlecht gelaunt, seit er aufgehört hat zu rauchen. Vor wem du dich wirklich in Acht nehmen solltest, das ist der Boss. Es gibt nur eine Regel hier in Camp Green Lake und die heißt: Ärger den Boss nicht!«
Stanley nickte, als würde er verstehen.
»Du sollst wissen, Stanley, dass ich dich respektiere«, sagte Mr. Pendanski. »Ich habe gehört, dass du in deinem Leben ein paar schwere Fehler begangen hast, sonst wärst du nicht hier. Aber jeder macht Fehler. Du hast vielleicht etwas Böses getan, aber deswegen bist du noch kein böser Mensch.«
Stanley nickte. Es hatte wohl wenig Sinn, wenn er versuchte, seinem Betreuer zu sagen, dass er unschuldig war. Vermutlich behauptete das hier jeder. Und er wollte nicht, dass Mr. PEN-DANCE-KEY ihn gleich für verstockt hielt.
»Ich will dir helfen, dein Leben umzukrempeln«, sagte sein Betreuer. »Aber du musst dabei mitmachen. Kann ich auf dich zählen?«
ja, Sir«, sagte Stanley.
»Gut«, sagte Mr. Pendanski und klopfte Stanley auf die Schulter.
Zwei Jungen, jeder mit einer Schaufel, kamen über das Gelände. Mr. Pendanski rief sie. »Rex! Alan! Kommt bitte her und sagt Stanley Guten Tag. Er ist neu in eurer Mannschaft.«
Die Jungen warfen einen müden Blick auf Stanley.
Der Schweiß lief ihnen hinunter, und ihre Gesichter waren so dreckig, dass Stanley erst auf den zweiten Blick merkte, dass der eine weiß und der andere schwarz war.
»Was ist denn mit Kotztüte?«, fragte der schwarze Junge.
»Lewis liegt noch auf der Krankenstation«, sagte Mr. Pendanski. »Er kommt nicht mehr zurück.« Er forderte die Jungen auf, Stanley die Hand zu geben und sich vorzustellen – »wie Gentlemen«.
»Hi«, brummte der weiße Junge.
»Das ist Alan«, sagte Mr. Pendanski.
»Ich heiß nicht Alan«, sagte der Junge. »Ich bin Torpedo. Und der da ist X-Ray.«
»Hey«, sagte X-Ray. Er grinste und schüttelte Stanley die Hand. Er trug eine Brille, die so dreckig war, dass Stanley sich fragte, wie er damit überhaupt etwas sehen konnte.
Mr. Pendanski schickte Man zum Aufenthaltsraum, die anderen Jungen holen, damit er sie Stanley vorstellen konnte. Dann ging er mit Stanley ins Zelt.
»Welches Bett war das von Lewis?«, fragte Mr. Pendanski.
»Kotztüte hat hier gepennt«, sagte X-Ray und trat gegen eines der Betten.
»Gut«, sagte Mr. Pendanski, »dann ist das von nun an deins, Stanley.«
Stanley sah das Bett an und nickte. Er war nicht wahnsinnig scharf darauf, in einem Bett zu schlafen, das vorher von einem Jungen benutzt worden war, den sie Kotztüte nannten.
Auf einer Seite des Zelts waren sieben Holzkästen in zwei Stapeln aufeinander getürmt, mit der offenen Seite nach vorn. Stanley legte seinen Rucksack, die zweite Garnitur Kleidung und sein Handtuch in den Kasten, der Kotztüte gehört hatte. Es war der unterste in dem Dreierstapel.
Torpedo kam mit vier anderen Jungen zurück. Die ersten drei wurden von Mr. Pendanski als Jos, Theodore und Ricky vorgestellt. Selbst nannten sie sich Magnet, Deo und Zickzack.
»Alle haben sie hier ihre Spitznamen«, erklärte Mr. Pendanski. »Ich selbst nenne euch allerdings lieber bei den Namen, die eure Eltern euch gegeben haben – denselben Namen, unter denen ihr auch in der Gesellschaft leben werdet, wenn ihr dereinst als nützliche und arbeitsame Mitglieder in ihren Schoß zurückkehrt.«
»Das ist kein Spitzname«, verbesserte X-Ray Mr. Pendanski und klopfte gegen sein Brillengestell. »Mit meinem Röntgenblick sehe ich in Sie hinein, Mom. Sie haben ein dickes, fettes, großes Herz.«
Der letzte Junge hatte entweder keinen richtigen Namen oder er hatte keinen Spitznamen. Sowohl Mr. Pendanski als auch X-Ray nannten ihn Zero.
»Willst du wissen, warum er Zero heißt?«, fragte Mr. Pendanski lächelnd und rüttelte Zero spielerisch an der Schulter. »Weil in seinem Kopf absolut nichts drin ist – zero!«
Zero schwieg.
»Und das hier ist Mom!«, sagte einer der Jungen.
Mr. Pendanski lächelte ihn an. »Wenn es euch hilft, Theodore, dann sagt ruhig weiter Mom zu mir.« Dann wandte er sich Stanley zu. »Wenn du irgendwelche Fragen hast, wird Theodore dir helfen. Hast du mich verstanden, Theodore? Ich verlass mich auf dich.«
Theodore drückte einen dünnen Speichelfaden durch die Zähne und ein paar der Jungen blafften ihn an, sie legten Wert auf ein reinliches »Zuhause«.
»Ihr seid alle mal neu hier gewesen«, sagte Mr. Pendanski, »und ihr wisst alle noch, wie ihr euch damals gefühlt habt. Ich verlass mich auf jeden Einzelnen von euch, dass ihr Stanley helft.«
Stanley schaute zu Boden.
Mr. Pendanski verließ das Zelt, und bald darauf folgten ihm die anderen Jungen, ihre Handtücher und die Ersatzkleidung unterm Arm. Stanley war froh, allein zu sein, aber er hatte solchen Durst, dass er das Gefühl hatte, er müsste sterben, wenn er nicht gleich was zu trinken bekäme.
»Hey – eh, Theodore«, sagte er und lief dem Jungen nach. »Weißt du, wo ich meine Flasche füllen kann?«
Theodore wirbelte herum und packte Stanley am Kragen. »Ich heiß nicht The-o-dore!«, sagte er. »Ich bin Deo.« Er warf Stanley zu Boden.
Erschrocken starrte Stanley ihn von unten an.
»An der Rückwand von den Duschen gibt’s einen Wasserhahn.«
»Danke – Deo«, sagte Stanley.
Während er zusah, wie der Junge sich umdrehte und weiterging, dachte er, dass es ihm absolut schleierhaft sei, wieso um alles in der Welt jemand Deo genannt werden wollte.
Jedenfalls half es Stanley irgendwie, sich damit abzufinden, dass er in einem Bett schlafen sollte, in dem vor ihm jemand geschlafen hatte, den sie Kotztüte nannten. Vielleicht war das ja ein Ehrentitel.

6

Stanley duschte sich – soweit man das so nennen konnte –, aß sein Abendessen – soweit man das so nennen konnte – und ging ins Bett – soweit man diese stinkende, kratzige Koje als Bett bezeichnen konnte.
Weil das Wasser so knapp war, durfte jeder Lagerbewohner nur vier Minuten lang duschen. Etwa so lang brauchte Stanley, um sich an das kalte Wasser zu gewöhnen. Einen Knopf für warmes Wasser gab es nicht. Immer wieder trat er unter den Wasserstrahl, um gleich im nächsten Moment wieder zurückzuspringen, und dann war die Zeit auch schon um. Er kam gar nicht dazu, sein Stück Seife zu benutzen, aber andererseits war das auch gut so, weil er gar nicht die Zeit gehabt hätte, den Schaum wieder abzuspülen.
Das Essen bestand aus gekochtem Fleisch mit Gemüse. Das Fleisch war braun und das Gemüse war einmal grün gewesen. Alles schmeckte ziemlich gleich. Stanley aß alles auf und wischte mit einem Stück Brot die Sauce auf. Stanley hatte noch nie zu denen gehört, die etwas auf dem Teller lassen, ganz egal, wie es schmeckte.
»Was hast du gemacht?«, fragte ihn einer der anderen.
Zuerst wusste Stanley gar nicht, was der Junge meinte. »Es hat doch einen Grund, dass sie dich hergeschickt haben!«
»Ach so«, sagte Stanley. Jetzt kapierte er. »Ich hab ein Paar Turnschuhe geklaut.«
Die anderen fanden das komisch. Stanley war sich nicht sicher, wieso eigentlich. Vielleicht hatten sie selbst ja viel Schlimmeres gemacht als Schuhe zu klauen.
»Aus einem Laden oder hast du sie einem von den Füßen geklaut?«
»Öh – weder noch«, antwortete Stanley. »Sie gehörten Clyde Livingston.«
Das nahm ihm keiner ab.
»Du meinst – Sweet Feet?« sagte X-Ray. »Das gibt’s doch nicht!«
»Ausgeschlossen!«, sagte Torpedo.
Als Stanley später auf seinem Bett lag, kam es ihm erst richtig komisch vor: Keiner hatte ihm geglaubt, als er sagte, dass er unschuldig sei. Aber als er sagte, er habe die Dinger wirklich geklaut, da glaubte ihm auch keiner.
Clyde »Sweet Feet« Livingston war ein berühmter Baseballspieler. Seit drei Jahren war er der Star der American League gewesen. Es war der einzige Spieler in der Geschichte des Baseball, der je in einem einzigen Spiel vier Homeruns geschafft hatte.
Stanley hatte ein Poster von Clyde Livingston in seinem Zimmer an der Wand hängen. Jedenfalls hatte er es mal gehabt. Wo es jetzt war, wusste er nicht. Die Polizei hatte es als Beweisstück mitgenommen und vor Gericht als Indiz für seine Schuld präsentiert.
Auch Clyde Livingston war im Gerichtssaal erschienen. Als Stanley hörte, dass Sweet Feet kommen würde, war er trotz allem ganz gespannt darauf, seinem Helden zu begegnen.
Clyde Livingston bezeugte, dass es sich bei den Turnschuhen tatsächlich um seine handelte und dass er sie einem Heim für Straßenkinder gespendet hatte. Er sagte, er könne nicht begreifen, wie ein Mensch so gemein sein könne, Kindern, die kein Zuhause hätten, etwas zu stehlen.
Das war das Schlimmste für Stanley. Sein Held hielt ihn für einen elenden, nichtsnutzigen Dieb.
Als Stanley versuchte, sich auf seinem Feldbett umzudrehen, befürchtete er, es könnte unter seinem Gewicht zusammenbrechen. Er passte kaum hinein. Als er es endlich geschafft hatte, sich auf den Bauch zu legen, war der Gestank so ekelhaft, dass er sich wieder umdrehen und versuchen musste, auf dem. Rücken zu schlafen. Die Matratze stank wie saure Milch.
Obwohl es Nacht war, war die Luft noch immer warm. Zwei Betten weiter schnarchte Deo.
In seiner Schule hatte es einen Jungen gegeben, Derrick Dunne, der ihn ständig fertig gemacht hatte. Die Lehrer hatten Stanleys Beschwerden nie ernst genommen, weil Derrick so viel kleiner war als Stanley. Manche Lehrer schienen es sogar witzig zu finden, dass ein kleiner Junge wie Derrick es ausgerechnet auf ein Riesenbaby wie Stanley abgesehen hatte.
An dem Tag, als Stanley festgenommen wurde, hatte Derrick Stanley das Hausaufgabenheft weggeschnappt, ihm damit vor der Nase herumgewedelt und gesagt: »Komm, hol’s dir doch!« Schließlich hatte er es ins Jungenklo geschmissen. Bis Stanley es sich endlich zurückgeholt hatte, war sein Bus weg und er musste nach Hause laufen.
Auf diesem Nachhauseweg mit dem nassen Heft und der Aussicht darauf, die ruinierten Seiten noch mal abschreiben zu dürfen, waren die Turnschuhe vom Himmel gefallen.
»Ich bin nach Hause gelaufen und da fielen die Turnschuhe vom Himmel«, hatte er dem Richter erzählt. »Einer ist mir direkt auf den Kopf gefallen.«
Es hatte richtig wehgetan.
Genau genommen waren sie natürlich nicht vom Himmel gefallen: Er ging gerade unter einer Überführung hindurch, als ihm der Schuh auf den Kopf fiel.
Für Stanley war es so etwas wie ein Omen gewesen. Sein Vater war schon seit einiger Zeit daran, ein Recyclingverfahren für alte Turnschuhe zu entwickeln, und nun fiel Stanley plötzlich ein Paar Turnschuhe auf den Kopf, scheinbar aus dem Nichts, wie ein Geschenk des Himmels.
Selbstverständlich konnte Stanley nicht wissen, dass die Schuhe »Sweet Feet« Livingston gehörten. Süß war an diesen Schuhen wirklich nichts. Wer immer sie getragen hatte, musste Fußschweiß der übelsten Sorte gehabt haben.
Der Gedanke, dass es mit diesen Schuhen etwas Besonderes auf sich haben musste, dass sie irgendwie der Schlüssel zur Erfindung seines Vaters sein würden, hatte sich Stanley förmlich aufgedrängt. Er konnte nicht an einen Zufall glauben, dafür kamen einfach zu viele Dinge zusammen. Stanley kam es so vor, als hielte er mit diesen Turnschuhen das Schicksal in der Hand.
Er rannte los. Wenn er jetzt daran zurückdachte, war er sich nicht mehr so sicher, warum er eigentlich gerannt war. Vielleicht hatte er es eilig gehabt, seinem Vater die Schuhe zu bringen, vielleicht wollte er auch bloß vor dem ganzen Elend und den Demütigungen davonrennen, die er an diesem Tag in der Schule erlebt hatte.
Dann hatte ein Polizeiwagen neben ihm angehalten. Ein Polizist hatte ihn gefragt, wieso er so rannte. Dann hatte er ihm die Schuhe abgenommen und über Funk eine Nachfrage gestartet. Kurz darauf war Stanley festgenommen worden.