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Über dieses Buch:

Es ist Winter, in Hamburg ist es kalt und nass. Marie Maas muss sich nicht nur mit ihrem jungen Neffen herumschlagen, der für ein paar Wochen bei ihr eingezogen ist und sich den ganzen Tag nicht aus der Wohnung traut, sondern auch noch in einem verzwickten Mordfall ermitteln: Ein junger Handwerker wurde auf einer Werft im Hamburger Elbvorort Finkenwerder brutal zusammengeschlagen und später tot aufgefunden. Marie Maas stellt Nachforschungen an und stößt zunächst auf eine Mauer des Schweigens. Erst als eine zweite Leiche gefunden wird, findet sie eine Spur, die sie zu einer Wahrheit führt, die sie besser nicht gefunden hätte …

Der zweite Fall für Marie Maas – eine außergewöhnliche Kommissarin auf der Suche nach der Wahrheit.

Über die Autorin:

Martina Bick wurde 1956 in Bremen geboren. Sie studierte Historische Musikwissenschaft, Neuere deutsche Literatur und Gender Studies in Münster und Hamburg. Nach mehreren Auslandsaufenthalten lebt sie heute in Hamburg, wo sie an der Hochschule für Musik und Theater arbeitet. Martina Bick veröffentlichte zahlreiche Kriminalromane, Romane und Kurzgeschichten und war auch als Herausgeberin tätig. Für ihre Arbeit wurde sie mehrfach ausgezeichnet. 2001 war sie die offizielle Krimistadtschreiberin von Flensburg.

Bei dotbooks erschienen von Martina Bick bereits „Der Tote und das Mädchen, der erste Fall für Marie Maas“, “Die Tote am Kanal. Der dritte Fall für Marie Maas“, “Tödliche Prozession. Der vierte Fall für Marie Maas“, “Nordseegrab. Der fünfte Fall für Marie Maas“, “Tote Puppen lügen nicht. Der sechste Fall für Marie Maas“, “Totenreise. Der siebte Fall für Marie Maas“, “Heute schön, morgen tot. Der achte Fall für Marie Maas“, “Die Landärztin“, “Unscharfe Männer“, “Neues von der Landärztin“ und “Die Spur der Träume“.

***

Neuausgabe Juli 2014

Dieses Buch erschien bereits 1995 unter dem Titel Mörderischer Advent in dem Doppelband Tödliche Ostern / Mörderischer Advent bei Knaur.

Copyright © der Originalausgabe 1995 Knaur

Copyright © der Neuausgabe 2014 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Maria Seidel

Titelbildabbildung: © istockphoto; shutterstock; Fotolia.com

ISBN 978-3-95520-638-3

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Martina Bick

Tod auf der Werft

Der zweite Fall für Marie Maas

dotbooks.

Der Tod und das Mädchen

DAS MÄDCHEN:

Vorüber, ach, vorüber! Geh,
wilder Knochenmann!
Ich bin noch jung, geh, Lieber!
Und rühre mich nicht an.

DER TOD:

Gib deine Hand, du schön
und zart Gebild!
Bin Freund und komme nicht zu strafen.
Sei guten Mutes! Ich bin nicht wild,
Sollst sanft in meinen Armen schlafen!

MATTHIAS CLAUDIUS

1

Die Leiche war so zugerichtet, daß man sie schwerlich hätte identifizieren können, wäre der Tote nicht direkt an seinem Arbeitsplatz gefunden worden.

»Andreas Willaert«, sagte Karsten Scholz und sah seiner Kollegin und Vorgesetzten, Kriminalhauptkommissarin Marie Maas, vorsichtig über die Schulter. Wozu er sich etwas hinunterbeugen mußte, denn er überragte sie mindestem um zwei Kopflängen.

Marie Maas wandte sich um und machte die Augen wieder auf. Genau vor ihrer Nasenspitze befand sich ein schwarzgrauer Plastikknopf von Karstens Mantel. Sie schob Knopf, Mantel und Mann sachte beiseite, stieg über einen offenen Werkzeugkasten und trat vor die Werkstatthalle. Ein kräftiger Dezembersturm fuhr ihr ins Gesicht und zerrte an den Kleidern. Mit geöffnetem Mund nahm sie die Brise auf, in die fein wie Sprühwasser ein paar Regentropfen gemischt waren.

»Und weiter?«

Karsten Scholz wickelte den Mantel um seinen langen Körper und sprach lauter als notwendig gegen den Wind.

»Er war Lehrling. Bootsbauer. Neunzehn Jahre alt. Er wohnt hier in Finkenwerder. Mewesweg.«

»Hat der Doktor schon was gesagt?«

»Totgeprügelt. Hat er wirklich gesagt. Todeszeitpunkt irgendwann gestern abend bzw. gegen Mitternacht. Näheres in seinem Bericht.«

»Tatwerkzeug?«

»Stumpfer Gegenstand. Wie üblich.«

»Ja nun. Was genau?«

»Ein Vorschlaghammer.«

Die Kommissarin blieb stehen und starrte auf die großen, verklecksten Lettern an einem der Bootshäuser. Du Sau stand da. Weiße Farbe, die noch nicht sehr alt sein konnte. Links von ihnen wechselten sich Holzschuppen, Werkstätten und Bootshäuser ab, die bis hinunter an die Elbe, bzw. den Köhlfleet reichten. Hin und wieder blitzte zwischen den Gebäuden das aufgewühlte graue Wasser des Fleetes, und man sah die Industrieanlagen des Petroleumhafens auf der anderen Seite. G. Berend, Ölker-Eiker, Pohlwerft und Weckmannwerft stand an den Schuppen. Kleine Bootsbauer, die Jachten und Segler flickten. Weiter unten am Ufer lagen sie aufgebockt, auf den Bauch gekippt wie gestürzte Maikäfer. Der Sturm, Windstärke acht oder neun, jagte schmutzige Wolkengebirge von der Elbe her über Finkenwerder, dessen Ortskern zu ihrer Rechten hinter einer vielbefahrenen Schnellstraße begann. Einfamilienhäuser fädelten sich an der Bundesstraße auf wie kleine Geschenke an einem Adventskalender. Ein solcher hing in einem der Fenster des Wohnhauses neben der Weckmannwerft. Lauter kleine rote Filzhüte mit weißer Watte verziert und darunter ein in Glanzpapier eingepacktes quadratisches Teilchen. Schokolade wahrscheinlich. Jeden Tag durfte sich die Tochter oder der Sohn des Hauses ein Päckchen davon abschneiden und aufessen.

»Wann können wir mit dem Meister oder Besitzer sprechen?

»Herr Höck ist heute nicht da. Ist gestern abend nach Cuxhaven gefahren, eine Reparatur vor Ort, oder so was. Nur der Geselle ist da. Aber nicht vernehmungsfähig. Steht unter Schock. Er hat den Jungen heute morgen gefunden. Der Notarzt hat ihn erst mal ins Krankenhaus bringen lassen.«

»Ist die Familie des Toten schon benachrichtigt worden?«

»Nur telefonisch.«

»Das heißt, wir müssen erst mal in den Mewesweg.« Marie Maas kehrte um und mußte sich gegen den Wind stemmen, um auch nur einen Schritt voranzukommen. Ihre braunen Schnürschuhe waren naß und schlammbespritzt wie nach einer weiten Wanderung.

Sie mußten ziemlich lange warten, bis auf ihr Klingeln hin langsam schlurfende Schritte hinter der Tür zu hören waren. Der Sturm fegte bis in den Hauseingang, der, zwei Treppenstufen hoch und mit einem kleinen Dach versehen, ein geschütztes Entree sichern sollte. Ein einsames, zähes Eichenblatt wurde wie ein Kreisel um ihre Füße getrieben. »Süht dat ut ok noch so slecht/dat loppt sick allens wedder trecht«, buchstabierte Marie Maas stumm eine Inschrift über der Fensterfront am gegenüberliegenden Haus. Früher war man eben noch optimistisch. In diesem Falle und für diese Familie bestand dafür kein Grund. Der Tod läuft sich nicht wieder zurecht. Das ist wahrscheinlich sein deutlichstes Kennzeichen. Ein nicht rückgängig zu machendes Geschehen.

Selten hatte sie ein Leichnam so hoffnungslos betroffen gemacht. Eigentlich noch nie, dachte sie. Noch nie. Obwohl sie schon Schlimmeres gesehen hatte.

Die Haustür wurde langsam geöffnet. Sie erinnerte an eine Kajütentür, vielleicht weil sie niedriger war als die massiven Eingangstüren der Hamburger Mietshäuser. Oder wegen des hoch eingelassenen Fensters, das mit reinlichen Gardinen bespannt war. Ein Einfamilienhaus wie all die anderen hier, zwei Stockwerke, spitze rote Giebel, ein kleiner Vorgarten, ein enges, ordentliches Familienleben.

Frau Willaert mußte Anfang Sechzig sein. Sie sah nicht auf, ließ die beiden Beamten schweigend eintreten und dirigierte sie still in eine geheizte Küche.

»Bitte schön.«

Zwei weiße Holzstühle mit bunten, bezogenen Sitzkissen wurden zurechtgerückt. Am Küchentisch, die Hände auf zwei enorme, schwielige Fäuste gestützt, saß Herr Willaert. Die Großeltern, vermutete Marie Maas. Hier war der Junge aufgewachsen. Auf der Küchenanrichte stand eine Großpackung Nesquick. Er war noch nicht auf den Geschmack gekommen von Kaffee oder Tee.

»Unser Sohn weiß noch nichts davon«, sagte Frau Willaert tonlos und ließ sich auf der vordersten Kante der Sitzbank längs des Tisches nieder. »Wir haben die ganze Nacht hier gewartet.«

»Wir möchten Ihnen ein paar Fragen stellen«, begann die Kommissarin. Obwohl das nicht der Wahrheit entsprach. Sie hätte lieber nur schweigend mit diesen beiden Menschen dagesessen und die Zeit angehalten. Aber schließlich hatte sie einen Beruf.

»Andreas war Ihr Enkel.«

»Ja. Unser einziges Enkelkind.« Frau Willaert faßte das zerknüllte Taschentuch mit beiden Händen und sah ihren Besuch gefaßt an. »Fragen Sie bitte. Wir werden alles tun, was wir können, damit ...«

»Wenn ich den erwische ...«, murmelte Willaert. Mit diesen Händen könnte er ohne das geringste Hilfsmittel eine ganze Bande Halbstarker erledigen, dachte Marie Maas und wagte keinen Blick in das zerstörte Gesicht. Die Verzweiflung saß diesen beiden Menschen wie ein Geschwür in der Kehle, und Marie wünschte, daß der Spruch am gegenüberliegenden Haus doch wahr sein könnte. Aber nein, nicht rückgängig zu machen.

»Ihr Enkel war neunzehn Jahre alt.«

»Am zwölften November ist er neunzehn geworden. Er hätte im nächsten Jahr seine Lehre abgeschlossen und wollte dann Zivildienst leisten«, sagte Frau Willaert. »Er hat nach der elften Klasse die Oberschule verlassen und dann diese Lehre begonnen. Er wollte gerne etwas Praktisches lernen, mit den Händen arbeiten. Obwohl sein Vater ihn lieber auf einer Ingenieursschule gesehen hätte ...«

»Sein Vater ist Ihr Sohn?«

»Wilfried, ja. Unser Sohn ist Lotse. Er ist noch auf der Schicht. Wir konnten ihn nicht abrufen, es hilft ja auch nichts. Er kommt gegen vierzehn Uhr. Dann ist es noch früh genug.«

Die Stimme fing sich immer wieder, und im selben Rhythmus wurde das kleine, nasse Taschentuch gequetscht und gewrungen. Marie Maas merkte, wie sie die Bewegungen auf ihre eigenen Hände übertrug. Sie sah kurz zu Karsten Scholz, der sich sonst oft durch überragendes Unbeteiligtsein auszeichnete; aber in diesem Fall schien auch er sich nicht heraushalten zu können. Sein Gesicht war zugezogen. Sentimentaler Kerl, dachte die Kommissarin plötzlich. Mit Trauer kann niemand umgehen. Das wird dann wieder den Frauen überlassen. Keine Fragen, Herr Scholz? Heute mal schweigsam? Aber sie sagte nichts, warf ihm nur einen ärgerlichen Blick zu.

»Ist Andreas bei Ihnen aufgewachsen, Frau Willaert?«

»Seine Mutter, also unsere Schwiegertochter, ist zwei Jahre nach seiner Geburt gestorben. Leukämie. Darum. Ich weiß nicht, wie Wilfried das verkraften soll. Wir wissen es wirklich nicht.«

Marie Maas stand auf und ging mit zwei ausholenden Schritten, die gereicht hätten, um einen Deich zu überqueren, an die Hintertür, die auf einen kleinen Balkon führte, von dem aus man über eine kurze Treppe in den Garten gelangte. Die Häuser hier so nah am Wasser hatten alle hohe Fundamente, wenn sie nicht gleich auf alten Deichen oder Werften errichtet worden waren. Sturmflutschutz, Leben mit dem Wasser. Und die Gefahr lauert dann ganz woanders. Was für ein Wahnsinn.

»Würden Sie mir einmal Andreas' Zimmer zeigen?«

Die alte Frau Willaert stand auf, leise und schnell wie ein junges Mädchen. Auf dem Flur war die Atmosphäre leichter zu ertragen. Sie stiegen ein schmales hölzernes Treppenhaus hoch. Der rote Sisalläufer, der mit blitzenden Messingstangen auf jeder Stufe gespannt wurde, war in der Mitte abgetreten. Hier war der Junge etliche Male am Tag hinauf und hinunter gesprungen.

»Mein Mann ist so furchtbar getroffen«, sagte Frau Willaert, und Marie Maas spürte, daß auch sie froh war, der Küche entronnen zu sein. »Er zeigt das nicht so, aber dann ist es nur noch schlimmer. Es könnte überhaupt nicht schlimmer sein.«

Das Zimmer war sehr hell. Der Sturm hatte ein Stück Himmel freigefegt, und ein breiter Sonnenstreifen lag auf dem Teppich. Bett, Schreibtisch, Schrank, eine alte Couch, alles sehr ordentlich und aufgeräumt. An den Wänden keine Poster, nur Zeichnungen von Segelschiffen und ein großes gerahmtes Foto mit einem Schlepper. An der Reling stand ein junger Mann, markig, mit gegerbter Haut.

»Das ist unser Sohn, kurz vor seiner Hochzeit. Er hatte gerade die Lotsenprüfung gemacht.«

»Versteht er sich gut mit seinem Sohn?«

Frau Willaert sah die Kommissarin überrascht an. Dann fragend.

»Ja. Wie meinen Sie das?«

»Ich meine, ob sich die beiden gut verstanden haben. Mochten Sie sich? Waren sie gute Freunde?«

Die alte Frau fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, als müsse sie sich an längst vergessene Zeiten erinnern.

»Doch. Wilfried war streng mit dem Jungen. Streng, aber gerecht. Meinen Sie das? Er ist selbst ... sehr streng mit sich. Er läßt sich nichts durchgehen, verstehen Sie? Da gab es schon mal Reibereien. Als der Junge die Schule verlassen wollte und dann wegen der Kriegsdienstverweigerung. Aber er hat sich durchgesetzt. Ohne viele Worte, wissen Sie. Die beiden saßen sich dann gegenüber und haben das schweigend ausgefochten. Wie zwei Schildkröten, habe ich manchmal gedacht. Wir haben uns da rausgehalten, mein Mann und ich. Es hätte auch keinen Zweck gehabt.«

»Hatte Andreas viele Freunde? Ein Mädchen? Was war er für ein Mensch? Gesellig?«

»Gesellig? Nein. Oder doch.« Frau Willaert ließ sich auf die Couch fallen und begann wieder, das Taschentuch zu kneten. »Er war sehr offen, im Gegensatz zu seinem Vater. Er war schon ein geselliger Mensch, wenn Sie so wollen. Aber er konnte auch gut allein sein. Stundenlang hier auf seinem Zimmer hocken und lesen.«

Sie zeigte auf ein Bücherregal, Ikea oder eine ähnliche Marke, eng bestückt mit Taschenbüchern. Knut Hamsun, las Marie Maas. Jack London, Thomas Mann. Sieh mal an, eine Leseratte.

»Können Sie mir vielleicht die Namen seiner Freunde nennen?«

»Natürlich. Da ist der Marius aus Neuenfelde. Den Nachnamen weiß ich auch, Moment, es ist ein ausländischer Name, Globocek, oder so ähnlich. Es steht sicher unten im Telefonverzeichnis. Ein guter Junge. Ein bißchen schüchtern, aber zusammen waren sie immer sehr ausgelassen. Der Andreas hat ihn so richtig aus der Reserve gelockt. Ich weiß gar nicht, woher sich die beiden kennen. Und Joop und Mike hier aus Finkenwerder, aus der Nachbarschaft. Aber in der letzten Zeit habe ich die nicht mehr oft gesehen. Seitdem er in der Lehre war, hatte Andreas nicht mehr viel Zeit. Manche Jungs sind auch schon beim Bund.«

»Und Mädchen?«

Frau Willaert lächelte zum ersten Mal, seit die Kommissarin das Haus betreten hatte. Ihre geröteten Augen zogen sich zu zwei dunklen Schlitzen zusammen.

»Ich glaube, da war er noch nicht soweit. Oder ...« Sie hob die Schultern, und nun war ihre Stimme auch wieder kräftig und lebendig. »Vielleicht hat er's auch nur nicht erzählt. Das sähe ihm ähnlich. Er hatte ja auch noch Zeit, nicht wahr?«

Wie der Himmel, an dem der Sturm jetzt wieder dicke Haufen Wolken zusammengetrieben hatte, zog sich ihr Gesicht zusammen, und der Schmerz kam zurück. Heftiger. Frau Willaert ließ das Taschentuch fallen und schlug die Arme vor die Brust. Hier, ohne ihren Mann, konnte sie sich fallenlassen. Es würde lange dauern, zu begreifen, daß sich hier nichts »zurechtlaufen« würde.

Marie Maas lehnte sich an den Kleiderschrank und atmete ruhig und gleichmäßig. Mehr konnte sie vorerst nicht tun.

»Ich glaube, hier geht es links ab«, sagte die Kommissarin und kämpfte mit der Landkarte, bis sie sich wieder auf Postkartenformat zusammenfalten ließ.

Der »Rosengarten« führte zwar nicht durch Rosenfelder, wie sein Name versprach, aber immerhin durch Obstbaumreihen. Im Frühjahr, zur Kirsch- oder Apfelbaumblüte, mußte es hier sehr hübsch aussehen. Die Turmspitze der Neuenfelder Kirche war schon von Finkenwerder aus zu sehen gewesen. Mit dem Wagen war das Dorf hinter der alten Süderelbe von dort aus in fünf Minuten zu erreichen. Immer am Elbdeich entlang mit Blick auf Blankenese auf der anderen Seite der Elbe, das an die italienische Riviera erinnerte. Würden nicht der Sturm und die kurzen, heftigen Hagelschauer alle Illusionen Lügen strafen, daß man sich nicht mitten im winterlich kalten, ungastlichen Norddeutschland befand. Karsten Scholz parkte den Wagen direkt vor der Kirche auf dem gemeindeeigenen Parkplatz. »Können wir erst mal einen Kaffee trinken gehen?« fragte Marie Maas. »Der Besuch bei Familie Willaert hat mich mehr mitgenommen als eine siebenstündige Direktionssitzung mit den Kollegen vom LKA.«

»Und das will was heißen.«

Im Dorfgasthof »Zum Rosengarten« standen zwei hochfrisierte türkische Mädchen hinter dem Tresen und starrten schweigend und gelangweilt auf die beiden Gäste. Außer ihnen befand sich nur ein junger Mann in der Gaststube, der intensiv mit einem der Spielautomaten beschäftigt war. Aus der Musikbox tönte Peter Maffay und sang von eiskalten Nächten oder eiskalten Männern – jedenfalls so laut, daß Marie Maas das Gefühl hatte, eine Mütze aus Lärm übergestülpt zu bekommen, die auf einen Schlag alle Gedanken, ja alle Denkfähigkeit überhaupt, ausschaltete. Kurz darauf endete die Platte mit Kratzen und einem lauten Knacken, und abgesehen von einer heiteren elektronischen Tonleiter, die der Daddelkasten in regelmäßigen Abständen von sich gab, war es totenstill.

»Wir hätten gern Kaffee«, rief Marie zum Tresen hinüber und beobachtete fasziniert, wie eines der Mädchen sich langsam und ohne eine Miene zu verziehen in Bewegung setzte. Das andere Mädchen, das die Haare etwas weniger toupiert trug, verharrte in ihrer Position, als wäre sie nicht wirklich, sondern Teil eines Gemäldes. Nymphen, Grazien, Erynnien, Feen. Untertitel: »Im Rosengarten«.

»Kennen Sie einen Andreas Willaert?« fragte die Kommissarin das beweglichere der Mädchen, als sie ihnen mit vorsichtigen Bewegungen zwei Kaffeetassen vorsetzte. Mit übermenschlicher Kraftanstrengung wurde ein dunkles Auge, schwer von Wimperntusche, aufgeschlagen, und ein weicher, warmer Blick forschte für den Bruchteil einer Sekunde in Maries hanseatischem Beamtengesicht.

»Andreas?«

»Ja, Andreas Willaert, aus Finkenwerder. Bootsbauerlehrling.«

»Hmhm.

Das Mädchen nahm die Information zur Kenntnis, als hätte Marie ihr selbstlos Nachhilfe in Geometrie erteilt.

»Es wäre gut, wenn Sie sich erinnerten«, sagte Marie Maas und lauschte dem Klang von Metall in ihrer Stimme hinterher. Sie wäre eine schreckliche Lehrerin geworden. Ungeduldig, ungnädig, völlig ungeeignet für die Jugend. »Er ist nämlich heute nacht ermordet worden.«

Das Mädchen zog ihre kleinen, runden Hände an den Körper. Der junge Mann am Spielautomat drehte sich um und starrte auf die Beamten. Selbst die gemalte Grazie hinter dem Tresen schien ein paar Rückenmuskeln bewegt zu haben und richtete sich ein wenig auf. Karsten Scholz warf seiner Kollegin einen mißmutigen Blick zu. Marie Maas wußte, was der Blick hieß: Du wolltest doch Pause machen. Die wirst nie Pause machen, Marie. Du weißt gar nicht, was das ist. Egal. Wahrscheinlich war sie nur Kommissarin geworden und überlebte diesen grauenvollen Beruf, weil sie schweigende Menschen nicht leiden konnte. Und wer sonst, wenn nicht ein Polizist, hat in dieser Gesellschaft das Recht und die Macht, Menschen zum Sprechen zu bringen?

»Andreas ist ... tot?«

»Andreas Willaert ist tot. Er ist erschlagen worden. Sie kennen ihn also?«

»Er war gestern abend noch hier. Ganz kurz. Ja, ja, ich kenne ihn. Wir kennen ihn.« Sie wies vage in Richtung Tresen.

»Wie heißen Sie?«

»Djuna. Djuna Czermak.«

»Setzen Sie sich doch bitte, Djuna. Darf ich Djuna sagen?«

Djuna nickte.

»Mein Name ist Marie Maas, Kriminalkommissarin, und das ist mein Kollege Karsten Scholz. Erzählen Sie mir von Andreas. War er häufig hier? Woher kennen Sie ihn?«

Djuna zuckte die Achseln und starrte auf die zerknitterte, karierte Tischdecke.

»Nein, nicht häufig. Manchmal. Am Wochenende.«

»Heute ist Freitag. Gestern abend war demnach kein Wochenende.«

Djuna sah die Kommissarin irritiert an.

»Nein.«

Marie Maas wandte sich ihrer Kaffeetasse zu und warf einen hilfesuchenden Blick auf Karsten Scholz.

»Hat es vielleicht Streit gegeben gestern abend? War Andreas allein hier?« fragte Karsten.

»Mit dem konnte man doch nicht streiten«, sagte der Junge am Spielautomaten und schlenderte zu ihrem Tisch herüber. »Der ist doch immer gleich abgehauen, wenn es mal laut wurde. Verstehe überhaupt nicht, warum den jemand angerührt hat.«

»Kennen Sie auch seinen Freund Marius?«

Djuna und der Junge nickten beide.

»Natürlich. Der war auch gestern abend da. Er wohnt hier im Dorf. Drüben, hinter dem Sportplatz.«

Täuschte sie sich, oder war da ein verschlagenes Grinsen in den Augen des Jungen? Er lehnte in Halbstarkenmanier am Tresen, beide Hände in den Taschen der Jeans vergraben, und kämpfte mit seinen Mundwinkeln.

»Den fragen Sie man«, fügte er hinzu.

Marie Maas beobachtete noch eine Weile die zuckenden Mundwinkel und wandte sich dann ab von dem ungesunden, pickeligen Gesicht. Karsten Scholz hatte Geld auf den Tisch gelegt und erhob sich.

»Das werden wir tun, junger Mann.«

Die Straße am Sportplatz hieß Arp Schnitger-Stieg, und Marie Maas ließ den Namen lautlos über die Lippen rollen. Schon der Ortsname Neuenfelde hatte bei ihr einen zaghaften Alarm ausgelöst, ohne daß sie ihn irgendwo zuordnen konnte. Jetzt wußte sie es endlich. Eine Weile ging sie schweigend neben Karsten Scholz her. Der Sturm, der den ganzen Morgen über Schabernack trieb mit Wolken, Regen und Hagel, hatte sich etwas beruhigt und ein schönes Stück blauen Himmel zurückgelassen. Fast glaubte Marie, einen warmen Hauch zu spüren und einen Vogel zwitschern zu hören. Nie war ihr der Winter so verhaßt wie Anfang Dezember, wenn die Tage zu einem winzigen beleuchteten Rest zusammenschrumpften, den sie meistens nur vom Bürofenster aus beobachten konnte. Morgens im Dunkeln zur Arbeit und abends im Dunkeln nach Haus. Und dazwischen nur manchmal ein sehnsüchtiger Blick aus dem Fenster. Wäre dieser Fall nicht so tragisch, der Tote nicht so jung und nicht so brutal ermordet worden, könnte sie sich beglückwünschen, ihn übertragen bekommen zu haben; führte er sie doch raus ins Alte Land, an die Elbe, an die Luft.

»Bist du mir sehr böse, Karsten, wenn ich nicht mitkomme zu diesem Marius?«

Karsten Scholz sah die Kommissarin erstaunt an.

»Willst du schon vorfahren ins Büro?«

»Nein. Ich ... ich würde gern einen Augenblick spazierengehen. Ich glaube, ich brauche das jetzt.«