Cover

Über dieses Buch

Eines Morgens ist in dem kleinen Dorf Mosquitos einiges merkwürdig: Durch das Guckloch in der Mauer sieht Johnny Sosa nicht wie jeden Tag das geheimnisvolle Schattenspiel der Eukalyptusbäume, sondern eine lange Reihe grauer Militärlastwagen, und an Stelle der geliebten Musiksendung über sein großes Sängeridol Lou Brakley dröhnt Militärmusik aus dem kleinen Radio. Am Abend dann, in der »Bar«, in der die Männer nach der Arbeit ihren Schnaps trinken, ein paar Damen ihrem Gewerbe nachgehen, Johnny wie immer schwarz gekleidet, mit scheppernder Gitarre und mit viel Schmelz in der Stimme den Blues singt und mit seinem zahnlosen Lächeln die Damen begeistert, sind im Publikum ein paar Uniformierte, die ungute Stimmung verbreiten. Johnny legt sich mächtig ins Zeug und singt und spielt mit ganzem Herzen und ganzer Seele – vergeblich, die Stimmung bleibt gespannt. Fast noch schlimmer ist, dass der bewunderte Moderator von Radio Mosquitos sagt, Johnnys Musik und sein unverständliches Kauderwelsch seien schlicht entsetzlich.

Wie zum Trost macht ihm ein paar Tage später der Oberst der neuen Herren im Dorf ein verführerisches Angebot: Johnny bekommt neue, strahlend weiße Zähne und Gesangsunterricht, wenn er mit der »Negermusik« in der Bar aufhört und stattdessen »schöne Boleros« singt, vor großem Publikum, auf Festivals! Aber, überlegt Johnny, als der Zahnarzt Maß nimmt für die neuen Zähne, was ist eine Karriere als Hofsänger der Putschisten wert, wenn die Freunde nicht mehr zuhören, weil sie einer nach dem anderen ins Gefängnis wandern, abgeholt werden, verschwinden?

»Die Ballade von Johnny Sosa« ist ein großes kleines Buch über den Traum vom Ruhm, über die Menschenwürde, den Blues und die Schwierigkeit, im richtigen Moment nein zu sagen.

»Die Ballade von Johnny Sosa« erschien auch in Frankreich, Holland, Italien und Spanien.

»Aparaín erzählt seine Geschichte in einem leichten, zuweilen poetisch flirrenden, naiv daherkommenden Moritatenton, der es allerdings faustdick hinter den Ohren hat. […] Doch dies ist keine Moritat mit schaurigem Ende, sondern, wie der chilenische Erfolgsautor Luis Sepúlveda in seinem sympathischen Nachwort feststellt, ein Buch, in dem die Guten haushoch siegen, das erste seiner Art von diesem Kontinent: endlich ›der Roman der lateinamerikanischen Würde‹! Und das nicht mit Pauken und Trompeten, sondern mit dem rauen Charme von zwei, drei Bluesakkorden auf der Gitarre.« (Frankfurter Rundschau)

Der Autor

Mario Delgado Aparaín wurde 1949 in Florida/Uruguay geboren und arbeitete als Journalist, Universitätsdozent und Leiter des Kulturdezernats der Stadt Montevideo, wo er auch heute noch lebt. Er veröffentlichte drei Romane und mehrere Bände mit Erzählungen. Für seinen Roman »Februarmond« erhielt er den angesehenen Premio Internacional Alfaguara.

Der Übersetzer

Thomas Brovot, geb. 1958, lebt als Übersetzer (u. a. Juan Goytisolo, Federico García Lorca) in Berlin. Für seine Neuübersetzung von Mario Vargas Llosas »Tante Julia und der Schreibkünstler« erhielt er 2012 den Helmut-M.-Braem-Übersetzerpreis.

Mario Delgado Aparaín
Die Ballade von Johnny Sosa

Roman

Mit einem Nachwort von Luis Sepúlveda
Aus dem uruguayischen Spanisch von Thomas Brovot

Edition diá

Inhalt

Die Ballade von Johnny Sosa

Eine Begegnung mit Johnny Sosa

Impressum

Ai nied tubi frie

wit juh ander de trie.

Bat aijam an only black man,

an only black man,

an … ou, beiby.

Aus Melancholy on your Knees

Es waren wohl die letzten frohen Tage, und Johnny Sosa lachte noch das Herz, wenn er durch das Loch in der Lehmziegelwand schaute und aufgeregt wie ein Kind darauf wartete, dass die goldene Morgenstunde begann.

In diesen Minuten nahm er die Silhouetten der letzten Häuser von Mosquitos, bläulich schimmernd zwischen Tag und Traum, fast nur als eine Ahnung wahr. Und die unerbittlich schwankenden Eukalyptusbäume, die den Weg nach Norden ins Nirgendwo säumten, verhüllten die Behausungen manchmal völlig oder verzerrten sie so sehr, dass Johnny blinzeln und sich mit seiner morgendlichen Reibeisenstimme fragen musste, ob das, was er da sah, was sich so streckte und wieder zusammenschnurrte, Häuser waren, Schatten oder Lastwagen.

An manchen Tagen war es noch so finster, dass er trotz aller Anstrengung nicht mehr ausmachen konnte als Gebell, bellende Umrisse ihm vertrauter Hunde, und das war für ihn schon eine Menge. Wenn das Wetter schlecht war und der Tag so begann, bezog er auf seinem kleinen Stühlchen Posten, den heißen, frischen grünen Matetee in der Hand und den Wasserkessel auf Knöchelhöhe neben sich, kniff für eine Weile ein Auge zu, schweifte dabei in Gedanken ein wenig ab und nahm sich mit dem anderen der Geheimnisse des Gucklochs an, der Frage eben, ob die Schatten Häuser waren oder Lastwagen, bis es endlich Zeit war, den »Spika« mit den zwei Batterien anzustellen und die Traumbilder abzuschütteln.

Von dem Moment an, genau von sieben bis acht, während die blonde Dina auf der anderen Seite des Vorhangs aus Sackleinen noch schlief und laut ihre Träume träumte, lauschte Johnny andächtig, mit ganzer Seele und ohne dass irgendetwas oder irgendjemand ihn stören konnte, der Lebensgeschichte von Lou Brakley und rechnete voller Hingabe aus, wie lange er noch brauchen würde, um es zu einem vergleichbaren Lebenslauf zu bringen.

Mitgerissen vom Strudel der Ereignisse, hatte Johnny während der letzten Folgen begeistert festgestellt, dass Lous und seine Kindheit sich in gewisser Weise ähnelten. Dabei spielte es keine Rolle, dass dieser Wunderknabe aus Austin bereits im Alter von acht Jahren bei einem Wettbewerb um den besten Sommersong eine Gitarre gewonnen hatte, was sein Vater mit grausamer Gleichgültigkeit strafte, ein Mann, der dem Radiosprecher zufolge schielte und dem Trunk wie dem Evangelium ergeben war, der den Tagelohn mühelos durchbrachte und in den Kneipen heftig Prügel bezog, während seine Frau, das heißt Lous Mutter, bis tief in die Nacht wie besessen bügelte und vergeblich auf ihn wartete.

Johnny glaubte, dass es solche Schicksale nur in einem Land wie dem von Lou Brakley gab. Hier in Mosquitos hätte er sich vermutlich noch so sehr ins Zeug legen können, er hätte auch mit zehn oder zwölf Jahren nicht die Chance bekommen, bei einem dieser Radiofestivals seine Lieder vorzutragen oder an einem der Strände der Costa de Oro aufzutreten, in Los Titanes oder Shangrilá zum Beispiel. Von diesen Badeorten, die er sich unendlich weit weg vorstellte und wo bestimmt die Kinder von Captain Grant wohnten, hatte er immer wieder gehört, als die Küstenfestivals berühmt wurden und mit ihnen auch die Auserwählten, die Musiker.

Genauso unwahrscheinlich war, dass es einen Musikagenten nach Mosquitos verschlug, der die Bar Euskalduna betrat und, noch an seinem Schnitzel kauend, nach einem gewissen Johnny Sosa fragte, einem gestandenen Charmeur mit Gold in der Kehle, von dem der Scout in irgendeiner Runde besonders ausgeschlafener Experten hatte läuten hören. Sonst hätte Johnny nämlich sehr gut mit der Legende gleichziehen können, die man sich dem Sprecher Melías Churi zufolge in Austin erzählte. Demnach war Lou Brakley von einem Mann entdeckt worden, der zwei Jahre lang nach jemandem gesucht hatte, der träumte wie ein Schwarzer, fühlte wie ein Schwarzer und sang wie ein Schwarzer, der aber unbedingt weiß sein musste.

»Quatsch, das passiert in Mosquitos doch nie«, brummte er in der Einsamkeit seiner Küche und musste über sich selbst leise lachen. Ganz einfach weil er schwarz war. Genau da endeten die Gemeinsamkeiten zwischen ihm und Lou Brakley. Und was noch viel unwahrscheinlicher war, noch viel unerreichbarer, war die Sache mit der eigenen Schallplatte. Wenigstens die nächsten paar Hundert Jahre, schätzte er, würde es niemandem in den Sinn kommen, im Dorf so ein »Produziere deine eigene Platte«-Studio einzurichten, wo der Agent den Jungen aus Austin angeblich überrascht hatte, als er gerade eine schräge Version von Arthur »Big Boy« Crudups berühmtem That's All Right (Mama) probte.

Wie der Sprecher der Goldenen Morgenstunde einmal anmerkte, war es genau das, was der altgediente Spürhund auf der Fährte der Stars die ganze Zeit gesucht hatte. Und während Johnny sich schon eine ähnliche Karriere ausmalte, machte der Sprecher kurzerhand einen großen Sprung durch den leeren Raum der Zeiten, riss den jungen Sänger aus seiner kläglichen Anonymität und versetzte ihn mit einem genialen Trick in die Epoche, da aus Lou Brakley vor den Augen der Welt kein Geringerer wurde als: Lou Brakley.

»Das Jahr 1956 aber sollte für den Sänger sehr hart werden«, hatte Melías Churi in der letzten Sendung verkündet. »Doch diesem Abschnitt im Leben des Schöpfers und Interpreten von One Star Motel, meine lieben Hörer, wollen wir uns, so Gott will, morgen widmen, gleiche Stelle, gleiche Welle, Radio Mosquitos, Punkt sieben.«

Um fünf vor sieben schlummerte der Weg noch unter einer Decke aus kaltem Morast, und die Bäume fingen an, ihr tolles Schattenspiel zu treiben, angestiftet von einem dreisten, zudringlichen Wind, der die Hunde aus dem Trab brachte und sie in alle Himmelsrichtungen heulen ließ.

Johnny wurde unruhig, sobald er diese undeutlichen Bilder sah, die kaum etwas richtig Gestalt annehmen ließen, die verhinderten, dass er den genauen Zeitpunkt ausmachen konnte, an dem sie nicht länger Schatten oder Lastwagen waren, sondern zu dem wurden, was sie tatsächlich waren: eine düstere, schwankende und zugleich unerschütterliche Allee, die ihn irgendwann immer in eine merkwürdige Trance versetzte, aus der ihn nur der heiße Mate reißen konnte und die wie weggeblasen war, wenn er das kleine Radio anstellte und das Guckloch in der Wand feierlich schloss.

An jenem Tag nun warf Johnny einen letzten Blick auf die alte Cronos mit den zwei Läutwerken, die wie der dicke Aufseher einer Sägemühle auf der Teedose thronte, bugsierte den Mate behutsam auf den offenen Wasserkessel, und mit großem Behagen und leisem Pfeifen als Vorspiel stellte er den kleinen roten Spika an.

Sein Gesicht verlor den milden Ausdruck von jemandem, der einem Morgen ohne Sorgen entgegensieht. Die Musik krachte in die Stille der Küche hinein, die Kakerlaken stoben hinter die Regalböden, und Johnny blinzelte. Er dachte, er hätte den Sender verfehlt, die blonde Dina hätte womöglich den klobigen Wecker verstellt oder Melías Churi verschlafen, und seine Goldene Morgenstunde würde nun in letzter Minute durch herrenlose Musik ersetzt.

Vielleicht war aber auch alles ganz anders. Vielleicht hatte der musikalische Einstieg ja mit einer unvorhergesehenen Episode im Leben des Giganten aus Austin zu tun, wie an diesem traurigen Weihnachtstag, als Lou Brakley von seinem Vater verdroschen wurde und der Sprecher die Sendung eines Morgens im März mit dem Schlittengebimmel von Stille Nacht einläutete, in einer wunderschönen Version mit Saiteninstrumenten, gespielt von den Indianern Hawaiis.

Während die Kapelle zulegte und die Posaunen heroische Signale setzten, atmete Johnny tief durch und warf wieder ein Auge durch das Loch. Er wartete geduldig eine Weile ab und war bald sicher, dass das Ganze ja durchaus etwas mit dieser Wahnsinnstat zu tun haben konnte, als der Sänger aus Austin Ende des Jahres siebenundfünfzig zu den Boys von Eisenhower ging. Alle Zeitungen der Welt hatten damals von dem Attentat auf seine Prachttolle berichtet, abrasiert von einem Barbier der Green Berets, der ihn fit für sämtliche Kriege machte, die auf dem Planeten je ausbrechen mochten, während draußen, vor dem Friseurladen, Scharen junger Mädchen weinten, als würde Lou Brakley gerade in San Quentin geköpft.

Aber eigentlich hatte Melías Churi diese Geschichte erst für die nächste oder übernächste Sendung angekündigt, und bisher gab es nicht den leisesten Hinweis darauf, was sich an diesem Tag im Leben des famosen Jungen denn nun ereignen sollte, der Militärmarsch drohte nämlich zu einem einzigen Endlosstück zu werden.

Irgendwann fand sich Johnny schließlich damit ab, dass dies alles rein gar nichts mit dem Leben von Lou Brakley zu tun hatte. Dass es ihn eigentlich viel mehr an den Nachmittag erinnerte, als im Daguerre-Kino zum ersten Mal Die Brücke am Kwai lief und Capozoli die ganze Häuserzeile entlang Lautsprecher aufstellte, damit die Dorfbewohner den Militärmarsch aus dem Film hörten und im Paradeschritt in die Fünf-Uhr-Vorstellung marschiert kamen.

Der Kinobesitzer war so hingerissen von der denkwürdigen Sturheit des englischen Gefangenen, dass er sich auf seinem Hocker an den erstbesten Lautsprecher lehnte, ein lauwarmes Bier nach dem anderen trank und mit verschränkten Armen den endlosen Marsch anhörte, als warte er mit der Würde eines Alec Guinness darauf, dass im nächsten Moment die Japaner über die Calle Ellauri ins Dorf stürmten, Bajonett zwischen den Zähnen. An jenem Abend, als die letzte Vorstellung längst vorbei war und Capozoli in einem Meer von leeren Flaschen immer noch dasaß, musste Johnny zur Polizei gehen und sie bitten, diesen infernalischen Pfeifchor abzustellen, denn vom River Kwai bis Mosquitos gab es keine Menschenseele, die noch ein Auge zutun konnte.

Während ihm all dies durch den Kopf ging, war die blonde Dina in der Küche aufgetaucht, in ihrem geblümten Höschen und mit schrägem Blick, und sie war es, die dem ohrenzerreißenden Scheppern des kleinen Zwei-Batterien-Radios ein Ende machte. Mit verfrorener Gereiztheit fragte sie, ob da jetzt zur Schlacht von Las Piedras geblasen würde oder ob an diesem eisigen Junimorgen der Capozoli den Sender Radio Mosquitos in seine Gewalt gebracht hätte.