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Mary Henrietta Kingsley

(1862-1900) wurde in London geboren. Auf ihren insgesamt drei Reisen ins westliche Afrika trat sie als Händlerin auf, lernte das Handelsenglisch der Einheimischen, entdeckte der Fachwelt noch gänzlich unbekannte Fischarten und lernte die Lebensweise der Einheimischen kennen. Sie revolutionierte das Bild des primitiven Schwarzen, trat gegen den Sklavenhandel und für die Rechte der afrikanischen Ureinwohner ein. Ihre Erlebnisse und Erkenntnisse teilte sie in öffentlichen Vorträgen und schriftlichen Aufzeichnungen mit. Sie starb 1900 in Südafrika an Typhus.

Niels-Arne Münch

(geb. 1972) ist Sozialwissenschaftler und arbeitet seit 2005 als freier Lektor, Übersetzer und Lehrer für kreatives Schreiben. Er lebt mit seiner Familie in Göttingen.

Magdalena Köster

hat die Deutsche Journalistenschule in München besucht und bei der Süddeutschen Zeitung und der Abendzeitung gearbeitet. Heute lebt sie als Freie Journalistin in München und ist als Autorin und Herausgeberin tätig.

Zum Buch

»Ein Leben in der Tretmühle, wie es eine ordentliche Gesellschaftsdame in London führt, würde mich umbringen.«

Mary Kingsley

Kaum hat sie das Geld zusammen und ihre Ausstattung verbessert, sitzt Mary Kingsley gänzlich unsentimental an Weihnachten 1894 erneut auf einem Frachter Richtung Westküste – es ist ihre zweite Afrikareise. Sie reist auf einfachste Art, ist zu Fuß oder auf einheimischen Booten unterwegs, schläft in Hängematten oder auf Holzbrettern. Das kleine Budget und die Begabung Kingsleys, auf jeden Einheimischen zuzugehen und sich von jeder Stammesfrau die Welt erklären zu lassen, trugen wesentlich dazu bei, dass die Engländerin einen weitaus besseren Einblick in die afrikanische Lebenswelt bekam als so mancher Anthropologe. Die Westküste und deren Bewohner besser kennen zu lernen, mehr über deren Opferriten, Fetischverehrung und Geistergläubigkeit zu erfahren, von ihrem Umgang mit der Natur und den Tieren zu profitieren, war Mary Kingsley entschieden wichtiger als den afrikanischen Kontinent einmal quer zu durchreisen.

»Lieber möchte ich reisend sterben, als strickend und von einer Horde lärmender Kinder umringt leben. Und da es um meine Strick- und Handarbeitskünste ohnehin nicht gut bestellt ist, widme ich mich lieber der Erkundung und Kartographie Afrikas, allen Widerständen zum Trotz.«

Mary Kingsley

Über ihre zweite, annähernd zwölf Monate lange Reise durch die heutigen Länder Nigeria, Kamerun und Gabun berichtet Mary Kingsley in dem vorliegenden Buch. Es ist der faszinierende Reisebericht einer Frau, die offiziell über Fish & Fetish forschte, sich aber für alles interessierte, was ihr unterwegs begegnete. In ihren lebendigen Beschreibungen macht sie uns mit den religiösen Bräuchen der einzelnen Stämme bekannt, geht auf Besonderheiten in Geographie, Botanik und Architektur ein. Statt Theorien zu verbreiten, zitiert sie ihre Gesprächspartner und nimmt sich am liebsten selbst auf den Arm.

DIE 100 BEDEUTENDSTEN ENTDECKER

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Mary Henrietta Kingsley

Mary Henrietta Kingsley

Reisen in Westafrika

Durch Französisch-Kongo,
Corisco und Kamerun

1895

Neu übersetzt
von Niels-Arne Münch

Mit einem Vorwort von
Magdalena Köster

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
https://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN: 978-3-8438-0390-8

www.marixverlag.de

INHALT

VORWORT

von Magdalena Köster

EINFÜHRUNG

Über die vielfältigen Gründe der Autorin, sich auf eine weite Reise zu begeben

KAPITEL I

Von Liverpool nach Sierra Leone und zur Goldküste

KAPITEL II

Fernando Po und die Bubi

KAPITEL III

Entlang der Küste

KAPITEL IV

Der Ogowé

KAPITEL V

Die Stromschnellen des Ogowé

KAPITEL VI

Lambaréné

KAPITEL VII

Von Kangwe zum Nkonié-See

KAPITEL VIII

Vom Nkonié-See nach Esoon

KAPITEL IX

Von Esoon nach Agonjo

KAPITEL X

Handel im Busch und die Sitten der Fang

KAPITEL XI

Den Rembwé hinab

KAPITEL XII

Fetisch – Einführung

KAPITEL XIII

Fetisch – Tod und Hexerei

KAPITEL XIV

Fetisch – Begräbnis und Trauer

KAPITEL XV

Fetisch – Geister und Götter

KAPITEL XVI

Fetisch – Geheimgesellschaften

KAPITEL XVII

Der Große Kamerunberg – Vorüberlegungen

KAPITEL XVIII

Der Große Kamerunberg – Aufstieg

KAPITEL XIX

Der Große Kamerunberg – Südostkrater

KAPITEL XX

Der Große Kamerunberg – Abstieg

VORWORT

Als Mary Kingsley 1862 im Norden Londons zur Welt kam, war Großbritannien noch unangefochten Welt- und Seemacht. Angeregt durch die politischen Diskussionen in ihrer Familie, verfolgte sie von Kindheit an die Bestrebungen der europäischen Kolonialstaaten, die jeweilige Macht auf dem »Schwarzen Kontinent« zu erhalten oder möglichst noch auszubauen. Der »Wettlauf um Afrika« war in vollem Gang. Großbritannien verabschiedete sich von der Idee der informellen militärischen und wirtschaftlichen Übermacht und erstrebte eine direkte Einflussnahme auf die inneren Angelegenheiten afrikanischer Staaten. Vor allem Kolonialminister Joseph Chamberlain trat für einen neuen Imperialismus ein und entwarf das Bild eines Herrschaftsbereichs von Kapstadt bis Kairo, der – ganz britisch – mit einer transkontinentalen Eisenbahnlinie verbunden werden sollte.

In diesen Jahren des europäischen Gerangels um Macht und Bodenschätze machten sich nicht nur viele Männer auf der Suche nach Arbeit oder Abenteuer in die Kolonien auf, auch Frauen ließen sich von dieser Aufbruchstimmung anstecken. Lehrerinnen, Gouvernanten und Krankenschwestern waren überall gefragt, aber einige wagten es sogar, ganz allein zu reisen und ethnologische oder botanische Studien zu betreiben. Vor allem in Großbritannien gab es einen richtigen Boom, angefeuert vom ersten »Handbuch für weibliche Reisende« (L. C. Davidson: »Hints to Lady Travellers at Home and Abroad«, 1889). Die Frauen erkannten die Chance, auf diese Weise dem ereignisarmen Londoner Salonleben und den Konventionen ihrer Heimat entfliehen zu können. Beiträge in Frauenzeitschriften feuerten die noch Unentschlossenen an. »Frauen können genauso reisen wie Männer, wenn sie es nur richtig anstellen.«

Auch Mary Kingsley blätterte regelmäßig im Atlas, schließlich war sie umgeben von Menschen, die geradezu süchtig danach waren, in der Welt umherzuziehen. So wird Mary eine große Reisende und begnadete Autorin werden, die die afrikanische Goldküste abfährt, durch die Sümpfe des Hinterlands von Gabun wandert und im Auftrag des Britischen Museums seltene Fische im Fluss Ogowé fängt. Sie wird auf primitivste Weise in den Dörfern der einheimischen Stämme nächtigen und sich wilde Abenteuer mit Leoparden, Elefanten und Flusspferden liefern. »Mary Kingsley lebte lieber in den Byways statt auf den Highways«, fasste die »Times« den Reisestil Kingsleys zusammen. Sie wird hochgelobte Bestseller wie dieses hier neu übersetzte Werk »Reisen in Westafrika« schreiben, eine viel begehrte Gesprächspartnerin und Vortragende werden und sich wegen ihrer eigenen Ansichten zur Kolonialpolitik mit den heimischen Politikern anlegen. Doch vor dieser glücklichen Lebensphase steht erst einmal eine einsame Kinder- und Jugendzeit in einem problematischen familiären Umfeld.

Ihr Vater, George Kingsley, stammte aus einer bekannten englischen Familie begabter Menschen, in der alle Männer studieren konnten und das Leben genossen. Allesamt vielseitig interessiert und gebildet, hieß es schon von Großvater Charles, »er besaß jedes Talent, ohne es zu nutzen«. Großmutter Mary Lucas war als Tochter eines Richters in der vierten Generation von Plantagenbesitzern auf Barbados aufgewachsen und selbst schon viel gereist, eine kluge und tüchtige Frau, die vier Kinder aufzog und als eigentliches Familienoberhaupt fungierte. Charles, ihr ältester Sohn, lehrte später Geschichte an der Universität Cambridge, hatte ein wichtiges Kirchenamt inne und schrieb neben anderen das bis heute überaus erfolgreiche und verfilmte Kinderbuch »The Water-Babies«. Er galt als schwieriger Mann mit »dunklen Vorlieben«. Auch sein Bruder Henry und die Jüngste, Charlotte, hatten Erfolg als Autoren, aber keiner von ihnen war für ein bürgerliches Leben geschaffen. Über ihren Onkel Henry schrieb Mary Kingsley später, er habe sich nach seiner Rückkehr vom Goldschürfen in Australien am liebsten Pfeife rauchend unter einem Baum gelümmelt und haarsträubende Geschichten aus dem australischen Busch erzählt. »Er verschleuderte seine brillanten Möglichkeiten, ohne glücklich zu werden.« Henry starb mit 46 Jahren an Krebs und hinterließ eine Witwe, die später auf Marys finanzielle Unterstützung angewiesen war.

Der zweitälteste Sohn, Marys Vater George, hatte schon mit Anfang Zwanzig sein Medizinstudium abgeschlossen, zog dann aber jahrelang durch Europa und Deutschland und übersetzte Heinrich Heine ins Englische. Als 1862 die Haushälterin der Familie, Mary Bailey, von ihm schwanger wurde, muss es zum großen Streit gekommen sein. Er solle die Frau sofort heiraten, hieß es. Gleichzeitig nahmen ihm anscheinend einige Familienmitglieder die nicht standesgemäße Ehe ziemlich übel und ließen das auch seine Tochter später immer wieder spüren. George selbst nahm die Bindung recht locker. Kaum war seine Tochter Mary am 13. Oktober 1862 geboren, ging er auf das Angebot des Earl of Pembroke ein, ihn auf einen langen Törn durch den Südpazifik zu begleiten. Auch die Geburt eines zweiten Kindes, Charles, hielt ihn nicht von weiteren Weltreisen ab. Zurück blieb eine überforderte Ehefrau mit einer Neigung zu nervösen Zusammenbrüchen und Depressionen, die durch seine abenteuergetränkten Briefe noch verstärkt wurden. Entweder hatte er gerade ein Segelunglück überlebt, war in einen Waldbrand geraten oder stand so nah vor einem Grizzlybären, dass er »genauestens seine rosa Zunge betrachten konnte, mit der er sich die Lippen leckte«. Mary Kingsley schrieb später zu dieser ständigen Aufschneiderei: »Ich war oft irritiert darüber, wie mein Vater seine Aufgabe, sich um Frau und Kinder zu kümmern, mit seiner fürchterlichen Gewohnheit vereinbarte, Grizzlybären in irgendwelchen Indianergebieten zu schießen.«

Während seiner langen Abwesenheiten klappte Mary Bailey alle Fensterläden zu, schloss sich und die Kinder buchstäblich im Haus ein, stets ängstlich um die Rückkehr ihres Mannes besorgt. »Ich war Mutters erster Offizier von dem Tag an, als ich ein Staubtuch halten konnte«, erinnerte sich Mary Kingsley. Sie war auch der »handyman« in der Familie, musste sich um alles kümmern, was schief lief oder kaputtging. Das Buch »The English mechanic« stets in der Hand, machte sie sich daran, einen Rohrbruch zu reparieren, versuchte sich allerdings auch mit ein wenig Schießpulver an einer Landmine, mit der sie dann den Garten verwüstete. In den langen schlaflosen Nächten der Mutter saß sie neben ihr und las alles, was sie in die Finger bekam, beschäftigte sich mit orientalischen Sprachen genauso wie mit Elektrotechnik und Physik. Ihr Bruder Charles war ihr keine Hilfe, im Gegenteil. Auch er war von fragiler Gesundheit und ahmte zeitlebens den Lebensstil seiner Onkel nach. »Ich sah wenig von der Außenwelt und achtete auch nicht drauf«, schreibt Mary Jahre später. »Ich wusste als Kind nicht, wie und was man spielt, aber ich hatte eine große unterhaltsame Welt für mich allein. Das waren die Bücher in Vaters Bibliothek.« So hat sich Mary Kingsley weitgehend selbst gebildet, nur ein Deutschkurs wurde einmal für sie bezahlt. Und das hatte Gründe: George Kingsley beschäftigte sich zeitlebens mit Opferriten einzelner Völker, und sehr viel Forschungsmaterial lag nur auf Deutsch vor – seine Tochter war ihm beim Ordnen und Übersetzen »ein wertvoller Gehilfe«.

Der gut aussehende, vitale und so häufig abwesende Vater wurde von ihr gleichermaßen angehimmelt wie gefürchtet. Wie sie später erzählte, besaß er ein sehr aufbrausendes Temperament, und so manches Mal sei ihr bei seinen Besuchen ein Buch an den Kopf geflogen. Aber sie lässt sich nicht alles gefallen, tritt ihm entgegen, wenn er sie anschreit, nur weil sie seine Hemden noch nicht gestärkt hat oder sein Arbeitszimmer saubermachen will. Dann flucht sie zurück, wie er es ihr vorgemacht hat. Er läuft tobend durchs Haus – »wo hat dieses Kind nur diese Sprache her?« – und schubst sie die Treppe herunter.

Erst ab 1888 zwangen rheumatische Fieberschübe und Herzprobleme George Kingsley zu mehr Sesshaftigkeit. Mary Bailey litt inzwischen unter vielfältigen körperlichen Erkrankungen. Noch einmal musste die Tochter alle eigenen Interessen zurückstellen und beide Eltern pflegen. Im Februar 1892 fand sie ihren Vater tot im Sessel sitzend. Er wurde 66 Jahre alt. Sechs Wochen später folgte ihm seine Frau, deren Alter nicht bekannt ist. In einem Buch mit Aufzeichnungen George Kingsleys, welches Mary Kingsley später herausgab, schrieb sie: »Die Krankheit, an der meine Mutter letztlich starb, ist auf seine Art, das Leben zu sehen, zurückzuführen.«

Dennoch wird Mary Kingsley ihren Vater später immer wieder verteidigen, vor allem, nachdem sie selbst ihre »Reiselust« über Jahre in Afrika ausgelebt hat. Sein Verhalten sei sicher nicht immer in Ordnung gewesen, »aber er liebte nun mal die leuchtenden Augen der Gefahr«. Ihrem Verleger gestand sie später, sie verabscheue »den Humbug und die Scheinheiligkeit« ihrer Onkel, aber dann verklärte sie ihre Verwandten auch wieder als geborene Abenteurer.

Nach der Bestattung der Eltern flüchtete Mary vor den »Schatten des Todes«, die über ihrem Zuhause lagen, und erholte sich auf den Kanarischen Inseln. Ihre Bilanz war ernüchternd. Sie war dreißig Jahre alt und hatte sich bisher nur um andere Menschen gekümmert. Ihre Bildung erschien ihr lückenhaft, ihre Freundschaften mager und über die Liebe hatte sie nur gelesen. Vielleicht gingen ihr auch die Worte ihrer Landsmännin, der Krankenpflege-Reformerin Florence Nightingale über das Schicksal tatenloser junger Frauen durch den Kopf: »Mit 17 voller Ambitionen und Träume, mit 30 verdorrt, gelähmt und ausgelöscht.«

Mary Kingsley aber war frei, nachdem sogar ihr lethargischer Bruder zu Buddhismus-Studien nach Asien aufgebrochen war. Nun wollte auch sie reisen. »›Geh und lerne die Tropen kennen‹, ging es mir durch den Kopf«, erinnerte sie sich später. Ein genauer Blick in den Atlas machte ihr klar: Leisten konnte sie sich am ehesten eine Passage nach Westafrika. Außerdem hieß es in dem Buch »Die geographische Verbreitung der Tiere« (Alfred R. Wallace: The Geographical Distribution of Animals), dort treffe man besonders viele Arten an. Und was vor allem dafür sprach: An der »Westküste« war bisher niemand aus ihrer Familie gewesen. Sie ließ sich auch nicht von konservativen Meinungsmachern aufhalten, die aufmüpfige Frauen mit stets neuen Sprüchen an den heimischen Herd fesseln wollten.

»Eine Lady als Forscher, ein Reisender in Röcken? Lasst sie die Babys hüten und unsere zerschlissenen Hemden säumen, aber sie können und sollen niemals Geografen sein.« Die »Times« setzte noch eins drauf und kolportierte, weibliche Globetrotter seien die »Plage des 19. Jahrhunderts«.

Gerade mal dreihundert Pfund standen Mary Kingsley für ihre Reise zur Verfügung (zum Vergleich: Der Afrikaforscher David Livingstone war ein paar Jahrzehnte vor ihr mit 50 000 Pfund unterwegs, der Autor Henry Morton Stanley bekam für seine Suche nach dem verschollenen David Livingstone allein 12 000 Pfund Vorschuss von einem Zeitungsverbund).

Als Mary Kingsley im August 1893 an Bord des Frachters Lagos kletterte, ging ein Raunen durch die Besatzung und Passagiere. Eigentlich war Mary Kingsley eine hübsche junge Frau, die von einer Zeitzeugin als sehr zierlicher Typ, mit hellen zusammengesteckten Haaren, hoher Stirn und strahlend blauen Augen beschrieben wird. Aber sie war der Meinung: »Du hast kein Recht, in Afrika in Kleidern herumzulaufen, für die du dich zu Hause schämen würdest«, und so zog sie monatelang klaglos in einem langen wollenen Rock durch den Busch, so schwarz wie die meisten ihrer Blusen, die kleine Handtasche und das alberne Hütchen auf dem Kopf.

Das Beste an ihrer bescheidenen Ausstattung war der neu erstandene wasserdichte Seesack mit festem Griff, in dem die Reisende Bettlaken, Wäsche, Stiefel, Bücher und einen Revolver (den sie allerdings nie benutzen würde) aufbewahrte. Später stopfte sie noch so manches Handelsgut dazu – wollte Mary Kingsley mit der Bevölkerung doch unbedingt ins Tauschgeschäft kommen. Sie mochte den Einheimischen nicht ohne jeden Grund gegenübertreten und deren Misstrauen schüren. Wenn sie jedoch mit Angelhaken oder Blusen handele, würde ihr das sicher die Türen öffnen. Später beschreibt sie den Blusenverkauf an einige Häuptlinge so: »Sie trugen sie mit nichts anderem als ein wenig roter Farbe und ein paar Leopardenschwänzen«.

Noch wichtiger als der Handel waren ihr jedoch der Auftrag und die Spezialbehälter des Britischen Museums zum Sammeln und zur sicheren Aufbewahrung von Fischen und diversem Getier. Auf diese Aufgabe war sie stolz. Denn nichts sorgte sie so sehr, wie als »frivole Frau« à la Mary French Sheldon angesehen zu werden, die »ohne wichtige Aufgabe herumreiste«.

Sheldon war einige Jahre vor ihr durch Ostafrika gereist, auch ganz allein, aber mit insgesamt 138 einheimischen Trägern, Köchen und Übersetzern. Allein 70 Männer wurden von ihr mit Gewehren ausgestattet. Das Auftreten der jungen, reichen Amerikanerin, die sich reichlich versnobt mit einer Sänfte durch den Urwald tragen ließ (um sich durch diesen Showeffekt aber auch Respekt zu verschaffen), hatte für einen Aufruhr in der englischen Presse gesorgt. Sehr viel verbundener fühlte sich Mary Kingsley da ihrer Landsmännin Isabella Bird, die zeitgleich mit ihrer Abreise als erste Frau in die »Royal Geographical Society« aufgenommen worden war. Ein Novum, das natürlich auch für Diskussionen sorgte. Bird hatte damals bereits jahrelang Feldstudien in Süd- und Ostasien betrieben, und – wie im 19. Jahrhundert nicht unüblich – die Köpfe japanischer Inselbewohner vermessen.

Das kleine Budget und die Begabung Kingsleys, auf jeden Dorfbewohner zuzugehen und sich von jeder Stammesfrau die Welt erklären zu lassen, trugen wesentlich dazu bei, dass die Engländerin einen weitaus besseren Einblick in die afrikanische Lebenswelt bekam als so mancher Anthropologe. Sie hatte sich schon zu Hause intensiv mit Afrika und seinen Einwohnern beschäftigt, Kontakte zu europäischen Anthropologen aufgenommen und war wild entschlossen, alles über die einheimische Bevölkerung herauszufinden. Sie reiste auf einfachste Art, war zu Fuß oder auf einheimischen Booten unterwegs, lernte allein zu paddeln und navigieren, aß klaglos alles, was gerade zu haben war, schlief in Hängematten, auf Holzbrettern oder einem zusammengeschusterten Lager aus abgebrochenen Zweigen.

Die Westküste und deren Bewohner besser kennen zu lernen, mehr über deren Opferriten, Fetischverehrung und Geistergläubigkeit zu erfahren, von ihrem Umgang mit der Natur und den Tieren zu profitieren, war Kingsley entschieden wichtiger, als den afrikanischen Kontinent einmal quer zu durchreisen und ein Land nach dem anderen abzuhaken. Es ging ihr nicht um das »Schneller, Weiter, Höher«, wie es bis heute für so manche Entdecker typisch ist, sondern vielmehr um das sinnliche Erleben, um die Menschen und ihr soziales Miteinander. Schon hundert Jahre früher, 1792, hatte dies die englische Schriftstellerin Mary Wollstonecraft unterstrichen: »Wenn ein Mann auf Reisen geht, hat er in der Regel das Ziel vor Augen, eine Frau denkt mehr an unvorhergesehene Ereignisse, seltsame Dinge, die ihr unterwegs begegnen können.«

Sehr kritisch stand die Reisende den zahlreichen Missionaren gegenüber, die alles daransetzten, die »Ungläubigen« von ihrem Gottesbegriff zu überzeugen. Afrika solle stattdessen Missionare nach England schicken, damit man dort von deren Humor und Freude profitiere, provozierte Kingsley. Den Weißen, die sich über betrunkene Wilde aufregten, las sie die Leviten: »Sie werden in Westafrika in einer Woche nicht so viele Betrunkene treffen wie in ein paar Stunden in der Vauxhall Road«.

Als Mary Kingsley nach fünf Monaten in Sierra Leone, Ghana, Kongo und Gabun Anfang 1894 von Libreville wieder zurück nach England fährt, ist für sie von höchster Priorität, so schnell wie möglich erneut aufzubrechen. »Ich hab mir schon Methoden überlegt, wie ich in London mit dem Geld haushalte. Kein Theater, keine extra Omnibusfahrt oder Kleidung, bis ich wieder den schweren scharfen Geruch des Landes rieche, sehe, wie der blaue Ozean sich in einer scharfen Linie kakaofarben färbt und ich die Musik des Donners an den Sandbänken des Bonny höre.«

Das Leben der britischen Oberschicht stößt sie regelrecht ab. »Ein Leben in der Tretmühle, wie es eine ordentliche Gesellschaftsdame in London führt, würde mich umbringen«. Kaum hat sie das Geld zusammen und ihre Ausstattung verbessert, sitzt sie gänzlich unsentimental an Weihnachten 1894 erneut auf einem Frachter Richtung »Westküste« und nutzt die Wochen auf dem Wasser, um von ihrem geschätzten Bekannten, Kapitän Murray, weitere Überlebenstipps für Afrika zu erhalten.

Das Britische Museum war mit der Ausbeute der ersten Reise sehr zufrieden gewesen und unterstützte sie nun mit einem annehmbaren Betrag und besserer technischer Ausrüstung. Die Utensilien zum Sammeln – unter anderem 15 Gallonen Spiritus – sollten sich lohnen. Kingsley hatte sich im Selbststudium inzwischen sehr viel über Ichthyologie, die Fischkunde, beigebracht und genaue Vorstellungen, an welchen Stellen des noch unerforschten Flusses Ogowé und seiner Nebenarme in Gabun interessante Beute zu vermuten war. Am Ende wird sie 65 Fischarten und 18 Reptilien im Gepäck haben. Gleich drei Fische waren der Fachwelt noch gänzlich unbekannt und wurden nach ihr benannt (etwa Ctenopoma kingsleyae). Rund hundert Jahre später sollte ein internationales Team von Biologen im Auftrag der National Geographic Society auf den Spuren Mary Kingsleys den immer noch weitgehend unbekannten Ogowé abfahren, um die damals entdeckte Fischwelt erneut abzugleichen und vor Ort ein Fischmuseum zu gründen.

Über diese zweite, annähernd zwölf Monate lange Reise durch die heutigen Länder Nigeria, Kamerun und Gabun berichtet Mary Kingsley in dem vorliegenden Buch. Es ist der faszinierende Reisebericht einer Frau, die offiziell über »Fish & Fetish« forschte, sich aber für alles interessierte, was ihr unterwegs begegnete. In ihren lebendigen Beschreibungen macht sie uns mit den religiösen Bräuchen der einzelnen Stämme bekannt, geht auf Besonderheiten in Geographie, Botanik und Hausbau ein. Anschaulich beschreibt sie die Art, wie Bananen und Süßkartoffeln gekocht werden, sowie das Material und die Haltbarkeit der handgearbeiteten Tontöpfe, Körbe und Fangnetze. Statt Theorien zu verbreiten, zitiert sie ihre Gesprächspartner und nimmt sich am liebsten selbst auf den Arm. Selbstironie war ihr Markenzeichen!

Das Schreiben aber scheint ihr schwergefallen zu sein. »Ich will lieber ein 200-Tonnen Schiff durch einen Bach schleusen als irgendein Buch zu schreiben«, bekannte sie nach ihrer Rückkehr gegenüber ihrem Verleger in London und nannte ihre Aufzeichnungen einen »Sumpf von Wörtern«. Eine Kritikerin aber bezeichnete das Buch später als »eine der wunderbarsten Aufzeichnungen weiblichen Schneids … auf 730 Seiten kein einziger trockener Absatz«.

Über den Handel mit Elfenbein und Gummi hatte sie schon auf der ersten Reise viel erfahren. Sie wusste, dass sie oft ein wenig lächerlich wirkte, wenn sie den Händlern zurief: »It’s only me« – Ich bin’s bloß. Die amüsierten Händler nannten sie wegen ihres altmodischen Aufzugs oft »unsere Tante«, die Schwarzen »only me«, aber sie ließen nichts auf diese ebenso witzige wie bescheidene Engländerin kommen, die ihr schrulliges Image wohl auch bewusst pflegte. Außerdem war sie inzwischen Expertin für Handelsenglisch, ein krudes Gemisch aus Englisch und den Sprachen der Stämme, und liebte es, zu feilschen und zu handeln. Angelhaken gegen Unterkunft, Tabak gegen Essen, Blusen gegen Transport. »Sie beschwindeln ja die armen Menschen«, scherzten manche Händler ob ihrer Geschäftstüchtigkeit.

An einer seichten Stelle des Ogowé bringt sie sich heimlich das Paddeln bei und beschreibt herrlich, wie schnell das fünf Meter lange Kanu in die Strömung gerät und auf die Felsen zusteuert. Doch sie gibt nicht auf, kniet sich hin, wechselt vom Bug ins Heck, dreht sich im Kreis, bekommt das Boot unter Kontrolle, pitschnass klettert sie vor den lachenden Schwarzen ans Ufer und wird ihre Fertigkeit, »ein Kanu zu lenken«, später zu ihren größten Errungenschaften zählen.

Ihr Lieblingsstamm sind die Fang, die zu den Bantu-Völkern gehören und als Kannibalen gelten. Sie hält sie für die intelligentesten Menschen der Westküste und durchquert mit einer ausgewählten Truppe von ihnen den strapaziösen Urwald zwischen Ogowé und Rembwé. Wann immer sie einen der Sümpfe durchwaten, muss sie ertragen, dass die Männer ihre Hüfttücher »auf skandalöse Weise schürzen«. Das übersteht sie genauso wie den tiefen Sturz auf die angespitzten Pfähle einer Großwildfalle, denn – dank ihres »guten festen Rocks« – wird sie nicht verletzt. Mehrmals versinkt sie wie alle anderen in den Mangrovensümpfen, gegenseitig zieht man sich heraus und hat erst einmal damit zu tun, die bis zum Hals klebenden Blutegel loszuwerden. »Es sah sehr lustig aus, wie wir uns gegenseitig salzten.«

Ganz lakonisch berichtet Kingsley auch über die Übernachtung in einer Häuptlingshütte der Fang. Schlaflos, da sie einen »strengen Geruch, eindeutig organischen Ursprungs« aus einem Beutel vernimmt, schüttet sie sich dessen Inhalt vorsichtig in den Hut: »Es handelte sich um eine menschliche Hand, drei große Zehen, vier Augen und andere Teile des menschlichen Körpers. Die Hand war frisch, die anderen Dinge schrumpften bereits.«

Etliche Male gerät sie in echte Gefahr, als sie etwa plötzlich einer Elefantenherde so nah gegenübersteht, dass ihr die ausgeprusteten Schlammbrocken um die Ohren fliegen. Da hilft nur eine Stunde regungsloses Verharren. Ein Flusspferd, das ihr auf einer Sandbank entgegentrabt, attackiert sie mit ihrem Regenschirm, ein Krokodil am Bootsrand schlägt sie mit dem Paddel in die Flucht. Bei solchen Gelegenheiten, gibt sie zu, »stellten sich mir die Nackenhaare auf« und wann immer es richtig brenzlig wurde, »hatte ich einen strengen Salzgeschmack im Mund.« Während die Begegnungen mit Gorillas eher Abscheu in ihr hervorriefen, war sie von den eleganten Leoparden begeistert – »die schönsten Tiere, die ich jemals gesehen habe.« Und das, obwohl sie einem dieser »dreisten« Tiere einen Wasserkrug an den Kopf werfen musste und wegen eines anderen »gefühlte zwölf Monate« hinter einem Felsen ausharrte.

Krönung der in diesem Buch beschriebenen Reise war ihre Besteigung des »Mungo«, auch »Thron des Donners« genannt, mit 4000 Metern die höchste Erhebung Westafrikas. Der heutige Kamerunberg ist ein aktiver Vulkan, der zuletzt im Jahr 2000 ausbrach. Der Gipfel war erst 24 Jahre vor Mary Kingsley erstmals von einem Briten und einem Deutschen bestiegen worden, sie aber war die erste Frau, der das jemals gelang. Es war eine zähe und riskante Eroberung, die sie an ihre Grenzen brachte. Ihre einheimischen Begleiter waren nichts als »Hasenfüße«, die sich beim ersten Tornado aus dem Staub machten, sie selbst stürzt mehrmals ab, wird vom Regen vollkommen durchnässt und holt sich einen schweren Sonnenbrand. Endlich wieder im Tal, kann sie sich die Haut in Fetzen vom Gesicht ziehen. Sie wäscht sich im Fluss, klopft ihren Rock aus und seufzt: »Was ist das Leben ohne ein Handtuch.«

Als die Reisende im Dezember 1895 in Southampton über die Reling schritt, pittoresk von einer lebenden Eidechse und einem Affen begleitet, warteten bereits einige Reporter auf sie. Auf die Frage, warum sie nach Afrika gegangen sei, meinte sie strahlend: »Welch eine Frage! Wer würde angesichts all der Schönheit und all des Zaubers nicht Afrikas Zwillingsbruder, die Hölle selbst, besuchen!« Und schon lenkte sie von ihrer Person ab und verwickelte die Zeitungsleute in einen Diskurs über Afrika. Auf ihren Reisen nutzte sie die Möglichkeiten des britischen Empire und nahm den Schutz dieser Autorität gern in Anspruch, zu Hause aber legte sie sich völlig vogelfrei mit der Politik an.

Sie begann, im ganzen Land Vorträge zu halten, und wurde darin so gut, dass jedes Mal bis zu zweitausend Zuhörer kamen. Eine Zeitzeugin beschreibt ihre öffentlichen Auftritte als großes Erlebnis, lobt ausdrücklich Kingsleys Humor und ihren Hang zur Selbstironie: »Wenn sie sprach oder lachte, war sie unwiderstehlich attraktiv und dass sie den Buchstaben H nicht aussprechen konnte, war erst befremdlich, aber schon bald vergessen.«

Mary Kingsley nutzte den Ruhm, den das vorliegende, 1897 erstmals erschienene Buch »Reisen in Westafrika« auslöste, um auch über Zeitungsbeiträge ihre konkreten Ansichten zur Kolonialpolitik kundzutun und als Fürsprecherin der Schwarzen aufzutreten. Ihre Biographin Katherine Frank schreibt, dass »ihr wichtigstes Verdienst als Ethnographin ihre Haltung in der Kolonialpolitik war, nämlich ihr Beharren darauf, dass die afrikanische Kultur vor der ›Zerschlagung‹ durch die britische Kolonialpolitik geschützt werden müsse«.

Jahrelang kämpfte sie als politische Aktivistin gegen eine umstrittene »Haussteuer« in Sierra Leone, traf sich mit Henry Morton Stanley und war in regem Briefkontakt mit Minister Chamberlain, der gern von der »herrschenden Rasse der Angelsachsen« sprach. Auch Kingsley war ein Kind ihrer Zeit und hatte – aus heutiger Perspektive – entsprechende rassistische Tendenzen. Zu den Überlegungen, Kontinente wie Indien und Afrika nach und nach in die Selbstverwaltung zu entlassen, schrieb sie an Chamberlain: »Ich glaube nicht an schwarze Parlamente, seien sie von Negern oder halbgebildeten indischen Bürokraten geführt«. So stellte sie auch nicht den Anspruch Großbritanniens in Frage, Afrika zu regieren, verteidigte aber enthusiastisch die Schwarzen und deren eigenen Gesetze, die die Weißen ohne Grund störten. Diese Menschen würden nicht »vor sich hin vegetieren«, seien nicht einfach »Rohmaterial«, das von Politikern und Missionaren geformt werden müsse.

Privat aber ist Mary Kingsley in den Jahren nach der Rückkehr nicht annähernd so standfest und streitlustig wie als Lobbyistin und Politikerin. Sie leidet unter Kopfschmerzen und Rheuma, versinkt in Depressionen und kämpft als alleinstehende Frau mit der herrschenden Etikette. Als sie einmal auf einer Teeparty mit dem Dschungelbuch-Autor Rudyard Kipling so ins Gespräch vertieft ist, dass er die Unterhaltung unbedingt zu Hause fortführen möchte, stimmt sie erst zu und berichtigt sich dann erschrocken: »Oh, ich habe vergessen, dass ich eine Frau bin. Tut mir leid, ich kann nicht.« Brav trägt sie ihre Röcke, in Briefen an Freunde aber benutzt sie Formulierungen wie »wir einfachen Seeleute«, oder »ich bin ein solider Buschmann«.

Zu ihren Geschlechtsgenossinnen hatte Kingsley ein zwiespältiges Verhältnis. Einerseits entwickelte sie auf ihren Reisen intensive Freundschaften zu Vertreterinnen der britischen Krone, zu den Frauen der Händler oder zu Missionarinnen, andererseits distanzierte sie sich klar von den »schrillen Feministinnen« der Suffragettenbewegung, die in England für das Frauenwahlrecht kämpften. So fühlte sie sich in ihrer Ehre gekränkt, als man sie nach ihrer Rückkehr als »new woman« bezeichnete. Schließlich wollte sie »lieber auf dem Schafott enden«, als lange Hosen zu tragen. Solche heute absurd wirkenden Diskussionen müssen in der prüden viktorianischen Gesellschaft eine enorme Bedeutung gehabt haben, drohte doch – ironischerweise – auch die große Reisende Isabella Bird einem Redakteur Prügel an, der ihr unterstellte, in Hosen unterwegs zu sein. Ganz sicher war Mary Kingsley eine »neue Frau«, eine intelligente und selbstständige Frau. Aber die Jahre ihrer Erziehung hatten Spuren hinterlassen. Frauen waren dazu da, um Männern zu dienen, und auch eine Frau wie Mary Kingsley konnte sich nicht vollkommen von den Geschlechterrollen und Klischees ihrer Zeit befreien, weshalb sie eben als »Mann« so viel geleistet hatte.

Sie will unbedingt wieder heraus aus diesem Dilemma. In ihrem letzter Winter zum Jahr 1900 ist sie erschöpft, häufig krank, wahrscheinlich auch unglücklich verliebt. »Ich bin eine wirklich melancholische Person«, schreibt sie einem Bekannten. »Ich zeige das aber nicht, ich habe kein Recht auf die Sympathie irgendeines Menschen«.

Mary Kingsley fügt der Rolle der ausgebeuteten Tochter, der großen Reisenden, der erfolgreichen Autorin und Politikerin noch die der Krankenpflegerin hinzu. Eine entsprechende Ausbildung im Gepäck, fährt sie mit einem Militärschiff nach Südafrika, um die Verletzten im Zweiten Burenkrieg zu pflegen. Vielleicht, erzählt sie Freunden, werde sie ja auch einen Abstecher zum Fluss Oranje schaffen, um neue Fischarten zu finden, und außerdem könne sie ja Zeitungsberichte über den Kriegsverlauf schreiben. Ihr bleiben nicht einmal drei Monate im Lazarett von Simonstown. Sie steckt sich mit Typhus an und stirbt am 3. Juni 1900 mit 37 Jahren.

Nach Ihrem Tod schrieb man in der »Morning Post«: »Sie war eine besondere Frau, gleichzeitig gelehrt und humorvoll, abenteuerlich und weise.« In anderen Nachrufen wurde Mary Kingsley als »unsere kluge Frau in westafrikanischen Angelegenheiten« bezeichnet, ausgestattet mit dem »Geist eines Staatsmanns«. Alle erinnerten an ihren »köstlichen Humor« und ihre schriftstellerische Begabung und nickten zustimmend über die Schlagzeile: »Sie war der Joker unter den Reisenden«.

Magdalena Köster

Die Zitate in diesem Vorwort stammen aus den Büchern von Mary Kingsley »Travels in West Africa (1897)«, »West African Study (1899)« und »Notes on Sport and Travel« (Aufzeichnungen ihres Vaters): ferner aus A. J. Green-Armytage, »Maids of Honour« (1906); Dorothy Middleton, »Victorian Lady Travellers« (1965); Robert D. Pearce, »Mary Kingsley« (1990); Catherine B. Stevenson, »Victorian Women Travel Writers in Africa« (1982).

EINFÜHRUNG

Über die vielfältigen Gründe der Autorin,
sich auf eine weite Reise zu begeben

Im Jahr 1893 gab es zum ersten Mal in meinem Leben fünf oder sechs Monate, die nicht bereits im Vorfeld völlig verplant waren. Mich wie ein Junge mit einer frisch geprägten Half Crown fühlend, rang ich mit mir, was mit jener Zeit anzustellen sei. »Geh und lerne die Tropen kennen«, riet die Wissenschaftlerin in mir. »Und wo soll ich hin?«, fragte ich mich, denn die Tropen sind überall Tropen, aber nicht überall gleich. Ich schlug einen Atlas auf und erkannte, dass Südamerika oder Westafrika mein Ziel sein musste, weil die Malaiische Halbinsel zu abgelegen und zu teuer ist. Dann nahm ich Die Geographische Verbreitung der Thiere von Wallace zur Hand, und nach der Lektüre seines meisterhaften Artikels zu Äthiopien fasste ich mir ein Herz und entschied mich für Westafrika. Der Entschluss fiel mir leicht, denn obwohl ich nichts über die praktischen Probleme wusste, wusste ich durch Überlieferung und Erzählungen eine Menge über Südost-Amerika. So erinnerte ich mich, dass Gelbfieber dort weit verbreitet war und ein bekannter, mir körperlich und mental überlegener Naturforscher beinahe verhungert wäre, als er mit einer deprimierenden Expedition, die nach und nach an Mangel und diversen Fiebern zugrunde ging, die Panamaregion bereiste.

Meine Unkenntnis betreffend Westafrika endete rasch. Und obwohl die große Leere, die jener Weltteil in meinem Kopf einnahm, bis heute nicht einmal zur Hälfte gefüllt ist, lassen sich dort doch eine Menge sehr ausgefallener Informationen finden. Ich benutze das Wort »ausgefallen« mit Bedacht, denn ich fürchte, manch einer missverstand meine Bitte um praktische Tipps und Ratschläge als Aufforderung, herauszustellen, welch vielfältigen Arten von Unbill man dort begegnen könne. Obwohl ich größte Anstrengungen unternommen habe, diese Aussagen zu ordnen, sind sie noch immer sehr unsortiert. Meinem Eindruck nach lassen sich aber fast alle unter den folgenden Überschriften einsortieren:

·Die Gefahren Westafrikas

·Die Unannehmlichkeiten Westafrikas

·Die Krankheiten Westafrikas

·Was man nach Westafrika mitnehmen muss

·Was man in Westafrika besonders praktisch finden wird

·Was man in Westafrika auf keinen Fall tun sollte

Für den Anfang fragte ich alle meine Freunde, was sie über Westafrika wüssten. Die Mehrheit wusste nichts. Einige sagten: »Oh, dahin kannst du unmöglich gehen. Dort liegt Sierra Leone, das Grab des weißen Mannes.« Fragte ich genauer nach, hörte ich gelegentlich von irgendwelchen Verwandten, die es irgendwie dorthin verschlagen hatte: »Traurige Fälle«, deren Fehler aber nun vergeben und vergessen waren, angesichts der Tatsache, dass sie nicht nur Westafrika, sondern diese Welt verlassen hatten.

Als Nächstes verglich ich die Aussagen der verschiedenen Ärzte. »Der tödlichste Ort auf der Welt«, verkündeten sie fröhlich und zeigten mir Landkarten, welche die geographische Verbreitung verschiedener Krankheiten zeigten. Nun behaupte ich nicht, ein Land sähe auf einer Karte besonders einladend aus, wenn man es in Giftgrün oder krankhaftem Gelb einfärbt, doch diese Farben mögen dem mangelnden künstlerischen Geschick des Kartographen geschuldet sein. Ist es dagegen schwarz gefärbt, kann es kein Missverständnis geben, und schwarz gefärbt ist ganz Westafrika von oberhalb Sierra Leones bis hinunter zum Kongo. »Wenn ich du wäre, ginge ich da nicht hin«, rieten mir die Mediziner unter meinen Freunden, »du wirst dich mit irgendetwas anstecken. Aber du bist stur wie ein Esel, und wenn du unbedingt gehen musst, bring mir doch bitte …« Es folgte eine Liste mit Aufträgen von hier bis New York, von denen jeder einzelne … aber das fand ich erst im Nachhinein heraus.

Alle meine Informanten berichteten mir über die Missionare. »Viele waren dort unten«, erklärten sie recht vage, »und zwar lange Jahre«. Also stürzte ich mich auf die Literatur der Missionare. Doch welche Enttäuschung! Das Einzige, was ich herausfand, war, dass diese Leute ihre Berichte nicht schrieben, um zu erzählen, wie das Land, in dem sie wohnten, beschaffen war, sondern wie weit es auf dem Weg dorthin, wo es hin sollte, bereits gekommen war. Außerdem sprachen diese Autoren darüber, wie wichtig es sei, dass die Leser mehr spendeten und keine falschen Vorstellungen entwickelten, sie bekämen für ihr Geld eine zu geringe Anzahl Seelen. Ich stieß auch auf Furcht einflößende Belege für die Aussagen meiner Medizinerfreunde über die Vielzahl von Krankheiten sowie auf diverse Details über die Verbreitung von Baumwollhemden, mit denen ich mich nicht lange aufhielt.

Von den Missionaren stammten jedoch meine anfänglichen Ideen über die soziale Situation Westafrikas. Ich erfuhr, dass dort zunächst einmal die Einheimischen vegetierten – das Rohmaterial gewissermaßen – und diese dann entweder zum Guten oder zum Bösen geführt würden, und zwar jeweils entweder vom Missionar oder, im anderen Fall, vom Händler. Es gab auch Regierungsmitarbeiter, deren wichtigste Funktion darin bestand, den Missionaren bei ihrer Arbeit zu helfen und deren Ergebnisse zu konsolidieren. Es ist eine Aufgabe, der sie nur mehr oder weniger gut nachkommen. Aber diese Händler! Ich sortierte sie sofort unter den Gefahren Westafrikas ein. Später tischte man mir ein gutes altes Stück Küsten-Seemannsgarn auf: Ein Händler aus jener Region betritt das Jenseits und der gefallene Engel verzichtet selbstverständlich und ohne zögern zugunsten des toten Händlers auf seinen höllischen Thron. Dies ist, wie man beachten sollte, die maritime Form der Legende: In der Version, die ich später auf dem Festland hörte, wird aus dem Händler ein Seemann aus Liverpool. Aber natürlich muss man keiner der beiden Versionen Glauben schenken – es ist keine Missionarsgeschichte. Obwohl mein Verstand mit all diesen Aussagen beschäftigt war, legte sich mein Herz unaufhaltsam auf diese Reise fest und ich musste ihm folgen. Glücklicherweise zählte zu meinem Bekannten auch eine Person, die sieben Jahre lang an der afrikanischen Westküste gelebt hatte. Zugegebenermaßen handelte es sich nicht um jene Gegend, die ich ansteuern wollte, dennoch verdienten seine Ratschläge besondere Aufmerksamkeit, denn trotz seines langen Aufenthalts in der tödlichsten Ecke des Kontinents erfreute er sich noch immer bester Gesundheit. Ich erzählte ihm, nach Westafrika reisen zu wollen, und er antwortete: »Wenn du beschlossen hast, nach Westafrika zu reisen, ist das Beste, was du tun kannst, deinen Beschluss zu ändern und stattdessen Schottland anzusteuern. Doch falls deine Intelligenz dafür nicht ausreicht, meide zumindest direkte Sonneneinstrahlung, nimm, bevor du die Flüsse erreichst, zwei Wochen lang täglich vier Gran Chinin und besorge dir einige Empfehlungsschreiben für die Wesleyaner. Sie sind die einzigen Leute an der Küste mit federgeschmückten Leichenwagen.«1

Als Nächstes wandte ich meine Aufmerksamkeit den Dingen zu, die ich mitnehmen wollte. Ich hatte die Schleusentore der guten Ratschläge selbst geöffnet und war bald völlig durcheinander. Meine Freunde und auch deren Freunde schienen in der Illusion zu leben, ich wollte einen kompletten Dampfer chartern, und mein Reichtum überträfe selbst die gierigsten Träume. Da beides falsch war, konnte ich nur dankbar zuhören und den Ereignissen ihren Lauf lassen.

Nicht nur die Dinge, die man mitnehmen muss, sondern auch die, in denen man diese verstaut, stellen den jungen Reisenden vor eine Reihe von Problemen. Alle möglichen Freunde und Bekannte empfahlen mir, welche Behältnisse zur Gepäckaufbewahrung sie jeweils als unentbehrlich empfunden hätten, und selbstverständlich unterschieden sich diese voneinander in Verarbeitung und Material erheblich.

Angesichts all der quälenden Auswahl war ich zu durcheinander, um irgendetwas an Gepäck neu zu kaufen, außer einem langen, wasserdichten Sack, oben gut verschlossen mit einem Riegel und einem Griff. Dort hinein kamen die Bettlaken, Stiefel, Bücher, und letztlich alles, das weder in meinen Reisekoffer noch in meiner schwarzen Tasche Platz fand. Von Anfang an verfolgte mich die fixe Idee, der Boden des Sacks könne sich lösen, aber das geschah nie, und trotz der Tatsache, dass er bezüglich der Anordnung seines Inhalts seine eigenen Vorstellungen entwickelte, erfüllte der Sack seine Aufgabe während der gesamten Reise vorbildlich.

Es war Anfang August ’93, als ich England zum ersten Mal in Richtung »Westküste« verließ. Das vorbereitete Chinin erreichte mich wegen nur teilweise gezahlter Versandgebühr erst im letzten Moment, und ein Freund schickte mir noch schnell zwei ausgeschnittene Zeitungsartikel. Der erste trug den Titel »Eine Woche in einem Palmöl-Bottich«. Er beschrieb die angeblich zu erwartende Unterbringung, Gesellschaft und Tierwelt auf einem Dampfer nach Westafrika: Dort sollte ich also sieben Wochen verbringen im Gegensatz zur einen Woche des Autors von The Graphic. Der andere Artikel stammte aus dem Daily Telegraph und besprach ein französisches Buch über »Gebräuchliche Redewendungen« in Dahomey. Der erste Satz in Letzterem lautete: »Hilfe, ich ertrinke!« Dann kam die Frage: »Sind Sie ein Dieb?«, gefolgt von einem weiteren Ausruf: »Das Boot ist gekentert!« – »Steht auf, ihr faulen Spitzbuben!«, war der nächste Ausruf, dem fast direkt die Frage folgte: »Warum wurde dieser Mann nicht begraben?« – »Ein Fetisch hat ihn getötet und er muss hier unbekleidet liegen, bis nur noch die Knochen übrig sind«, lautete die fröhliche Antwort. Für jemanden, dessen Tätigkeit ausgedehnte Bootsreisen voraussetzte und dessen fester Entschluss das Studium der Fetische war, klang dies ziemlich entmutigend.

Ich verließ London also voll düsterer Vorahnungen Richtung Liverpool – auch die nüchterne Art, in der mir die Dampfergesellschaft mitgeteilt hatte, man verkaufe für ihre Westafrika-Linie keine Rückfahrkarten, konnte mich kein bisschen erheitern. So gerne ich auch abschweife, werde ich an dieser Stelle nicht weiter auf die Details jener Reise eingehen. Sie sind eher amüsant als lehrreich, denn auf meiner ersten Reise kannte ich »Die Küste« noch nicht und »Die Küste« kannte mich nicht, sodass wir uns beide voreinander fürchteten. Ich erwartete selbstverständlich, vom örtlichen Adel und der Oberschicht ermordet zu werden, sie hielten mich für eine Agentin der World’s Women’s Temperance Association, die nach schockierenden Details für Erbauungsgeschichten über den Alkoholhandel suchte. So kam es zu Furcht einflößenden Missverständnissen, doch nach und nach lernten wir einander kennen. Hierbei war ich in der bedeutend besseren Lage, denn alles, was ich ihnen beibringen musste, war, dass ich lediglich eine Sammlerin von Käfern, Fetischen und solchen Dingen war, während sie mir eine neue, faszinierende Welt zeigen mussten. Und was auch immer »Die Küste« vieles gegen mich vorbringen mag, sei es mein dauerndes Verlangen nach Haarnadeln, anderen Nadeln, meine unerträgliche Angewohnheit, ins Wasser zu fallen, seien es die Abscheulichkeiten voller Ameisen, die ich in ihre Häuser brachte, oder Dinge, die nach unvorhergesehen kurzer Vorwarnzeit intensive, widerliche Gerüche absonderten. Doch niemand kann behaupten, ich sei keine fleißige Schülerin gewesen. Stets versuchte ich, die Lektionen zu lernen, die sie mich so freundlich lehrten, auch wenn einige dieser Lektionen sehr hart waren für jemanden, der nie zuvor auch nur in einer harmloseren Ecke der Tropen gewesen war und dessen Leben sich viele Jahre lang rein häuslich und in einer Universitätsstadt zugetragen hatte.

Eine nach der anderen nahm ich meine alten Vorstellungen, die ich aus Büchern und Überlegungen auf Basis unvollständiger Informationen gewonnen hatte, prüfte sie im Licht des täglichen Lebens um mich herum, und befand sie entweder als wertlos oder voller Mängel. Bevor meine ersten drei Monate an der Westküste vergangen waren, sah ich mich demütig zu meinem wichtigsten Widerruf gezwungen: Er betraf die Händler, von denen ich auf jener ersten Reise völlig abhängig war, denn ich hatte keinerlei Kontakt zu irgendwelchen Vertretern der Regierung. Was ich fand, unterschied sich erheblich von dem, was ich zu finden erwartet hatte, und ich kann ihre Freundlichkeit mir gegenüber nicht genug betonen. Die vielleicht nützlichste Lehre von all jenen, die ich 1893 an der Westküste erhielt, war die, dass ich den Händlern trauen konnte. Hätte ich diese Lektion nicht sehr gründlich gelernt, hätte ich mich unmöglich erneut auf den Weg machen und jene Reise unternehmen können, von der ich in diesem Buch berichte.