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Titelseite

 

 

 

 

 

Für Elena und Jonah
Mein Leben, meine Freude, meine zwei kleinen Wunder

Kapitel

Mit Drachen gibt es ein Problem: Ich habe absolut null Ahnung von den Viechern.

Was meine Aufgabe, mal wieder die Waschbären von der Hintertür des Diners zu verscheuchen, erheblich verkomplizierte. Statt der maskierten Mini-Banditen empfing mich dort nämlich eine bleiche, schlangenartige Kreatur, an deren Wirbelsäule und Schultern sich Federn wie Stacheln aufstellten. Das Gesicht des Drachen dagegen erinnerte an das eines Wolfs: eine längliche Schnauze mit zwei mächtigen Fangzähnen, die sich über die Lefzen krümmten. Ach ja, und er hatte Klauen. Ziemlich scharfe Klauen. »Du bist definitiv kein Waschbär«, stellte ich fest.

»Mitnichten, mein Kind. Mit solch kümmerlichem Getier habe ich nichts gemein.« Die Luft schmeckte nach Kohle, als seine Stimme erklang, hoch und glatt und alterslos, was mich für einen Moment sogar noch mehr schockte als die Tatsache, dass sich hier ein Drache hinter den Mülltonnen rumdrückte. Er konnte sprechen. Na klar kann er sprechen, Evie, was hast du denn gedacht? Das sollte ja wohl jedes Müll durchwühlende Fabelwesen können, das etwas auf sich hält. Ich war gleichermaßen panisch wie genervt. Zumindest müffelte der Drache nicht so fies wie ein Einhorn.

Nur: Einhörner waren Pflanzenfresser.

Er holte tief Luft und seine Brust glühte von innen her golden auf. Das war allerdings ausnahmsweise nicht seine Seele, die da leuchtete, sondern eindeutig Feuer. Um schnell zurück ins Haus zu huschen und ihm die Tür vor der Nase zuzuknallen, bevor ich gegrillt wurde, blieb mir vermutlich nicht genug Zeit – und dass die Tür einem Drachen standhalten würde, wagte ich ohnehin zu bezweifeln. Ich konnte die Beine in die Hand nehmen und die Gasse runterrennen, aber ich hatte keine Ahnung, wie schnell dieses Wesen war. Also entschloss ich mich, ganz offen nachzufragen. »Hast du vor, mich zu fressen?«, fragte ich.

»Ist das dein Begehr?«

»Ähm, nö, nicht unbedingt. Weißt du, bald ist nämlich der Winterball und der plant sich schließlich nicht von selbst, darum passt es mir im Moment nicht ganz so gut. Könnten wir uns vielleicht auf einen anderen Termin einigen?« Ich trat einen Schritt zurück. Früher hatten die Menschen doch auch gegen Drachen gekämpft, oder nicht? Dann würde ich das genauso schaffen. Alles, was ich brauchte, war eine Ritterrüstung. Und ein Schwert. Oder eine Keule, vielleicht auch eine chemische – zum Beispiel Pfefferspray, mit dem ich ihn ordentlich einnebeln konnte.

Hinter mir öffnete sich die Tür und aus der Küche ergoss sich helles Licht in die dunkle Gasse. Ich quietschte vor Erleichterung auf.

»Da bist du ja«, sagte Nona und nickte dem Drachen zu.

»Ach, ihr zwei kennt euch?« Wieso überraschte mich das überhaupt noch? War doch klar, dass der ortsansässige Baumgeist den sprechenden Drachen hinter dem Müllcontainer kannte, wie schließlich auch die ganzen anderen seltsamen Paranormalen, die sich seit einiger Zeit in unserer Stadt rumtrieben. Und ich war mir sicher, dass sich nach diesem Zwischenfall mal wieder kein Schwein die Mühe machen würde, mir irgendwas zu erklären.

Ich brauchte dringend einen neuen Job.

»Evelyn, ich habe deinen Freundinnen Milchshakes gebracht. Den Rest des Abends hast du frei.« Mit einem seelenruhigen Lächeln spazierte Nona an dem Drachen vorbei ans Ende der Gasse, wo der Wald an die Stadt grenzte. Der Drache fixierte mich mit dunkelrot glühenden Augen und zwinkerte mir zu.

Ach was, neuer Job. Wie wär’s mit einer neuen Stadt?

Eine plötzliche Windbö wehte mir die Haare in den Mund. Mit ein paar graziösen Hopsern erhob sich der Drache in die Luft und schlängelte hinter Nona her.

»Na fabelhaft«, murrte ich, schlurfte zurück in die Küche und schloss – vor allem verschloss – die Tür hinter mir. »Wie nett, dass Nona mal wieder einen neuen Freund gefunden hat.« Ich holte tief Luft, um meine Nebenhöhlen von dem hartnäckigen Brandgeruch zu befreien, straffte die Schultern und marschierte in den Restaurantbereich des Diners. Schließlich hatte ich mich gerade einem Drachen gestellt und war unverkohlt davongekommen. Ich war bereit für die nächste Schlacht.

»So«, sagte ich, nahm in der Sitznische in der Ecke Platz und funkelte die fünf anderen Teenager dort kampflustig an. »Wer hat noch mal behauptet, Rosa wäre keine gute Dekofarbe für den Ball?«

Ich pfefferte meinen Ordner mit den Farbmustern auf die abgewetzte geblümte Couch in unserer Wohnung. »Also wirklich, Rosa ist doch wohl definitiv eine neutrale Farbe! Und was soll an Marineblau bitte schön so elegant sein? Ich hab noch niemanden sagen hören: ›Hey, weißt du, was tierisch elegant ist? Die Marine!‹«

Arianna verdrehte die toten Augen. »Rosa ist kein bisschen neutral. Die brauchen eine Farbe, die einen guten Hintergrund für jedes Kleid bildet.«

»Welche Farbe beißt sich denn mit Rosa?«

»Orange zum Beispiel?«

»Also, wenn eine ernsthaft vorhat, da in ’nem orangefarbenen Kleid aufzukreuzen, dann hat sie es auch nicht besser verdient. Igitt.«

»Jetzt beruhig dich mal. Mit Marineblau kann man auch eine ganze Menge anstellen.«

Ich ließ mich neben sie auf die Couch sinken. »Ja, kann sein. Vielleicht Blau mit silbernen Akzenten oder so. Sternchen?«

»Gähn.«

»Schneeflocken?«

»Wow, wenn das für einen Winterball nicht kreativ ist!«

Wie gewöhnlich ignorierte ich ihren Sarkasmus. Ich war einfach froh, dass sie da war. In letzter Zeit war sie oft unterwegs gewesen. »Hmm … wie wär’s dann mit was Sanfterem? Ein Wasser- und Nebel-Thema?«, überlegte ich.

»Das … find ich tatsächlich gar nicht so übel.«

»Hast du vielleicht Lust, mir mit den Skizzen zu helfen?«

Sie beugte sich vor und schaltete Easton Heights ein. »Deine dämliche Tanzveranstaltung kannst du alleine dekorieren. Es war schließlich deine Idee, dass du dich unbedingt mehr in dein ›normales‹ Leben einbringen musst. Ich wäre glücklich, wenn ich mir für immer die Radieschen von unten angucken könnte.«

»Dann ist das hier wahrscheinlich nicht der allergünstigste Zeitpunkt, um dir zu sagen, dass ich mich möglicherweise gemeldet habe, um die Kostüme für die Frühlings-Theateraufführung zu entwerfen. Und dass ich, weil ich ja keine Ahnung vom Nähen hab, ganz eventuell dich als freiwillige Helferin eingetragen habe.«

Arianna seufzte und strich sich mit einer Cover-verhüllten Leichenhand durch ihr stacheliges, rot-schwarz gefärbtes Haar. »Irgendwann bring ich dich im Schlaf um.«

»Solange es nicht wehtut.«

Wir summten die Anfangsmelodie mit, die genau in dem Moment endete, als mit einem Knall die Tür aufschwang und mein Freund hereingestürmt kam, mit einem strahlenden Grinsen seine Reisetasche fallen ließ und sich aus seinem Mantel schälte. »Endlich frei! Was hab ich verpasst?«, fragte Lend, die Wangen von der Kälte gerötet und mit vor Freude leuchtenden Wasser-Augen unter den dunklen seines Covers.

»Ich hab bei der Abstimmung für das Farbthema beim Winterball verloren, nach der Werbung fängt das Staffelfinale von Easton Heights an und Arianna will mich im Schlaf umbringen.«

»Solange es nicht wehtut.«

»Genau das hab ich auch gesagt!«

Lend hob mich hoch, wirbelte mich einmal herum und ließ sich auf die Couch fallen, sodass ich auf seinem Schoß landete. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten seine Weihnachtsferien gar nicht früh genug anfangen können. Nach den verrückten Entwicklungen des letzten Monats – eingeschlossen (aber längst nicht beschränkt auf) die Neuigkeit, dass mein Vater eine Fee war, und die Tatsache, dass ich vom rachsüchtigen Jack allein auf den Feenpfaden zurückgelassen worden war und schließlich doch den Weg zurück zu Lend gefunden hatte – brauchten wir jetzt wirklich mal etwas Zeit, um gemeinsam zu entspannen. Ich hatte beschlossen, dass dies das Einzige war, was in meinem Leben jetzt eine Rolle spielte. Keine Sorgen mehr darüber, wie viel Zeit mir wohl noch blieb, keine quälenden Fragen danach, was ich war oder nicht war. Ich war hier, jetzt. Und glücklich.

»Sonst noch was?«, erkundigte er sich, während er mir sanft durch die Haare fuhr.

»Ach ja, Nona trifft sich hinter dem Diner mit ’nem Drachen.«

Lend sah mich stirnrunzelnd an, die warmen Finger immer noch in meinem Nacken. »Und das erwähnst du nach dem Farbthema für einen Schulball und deiner Teeniesoap?«

»Man muss eben Prioritäten setzen.«

Während noch immer die Werbung lief, piepste mein Kommunikator der IBKP, wofür ich einen eisigen Blick von Arianna kassierte. »Wenn das Ding während einer Dialogszene losgeht, hau ich es kurz und klein.«

»’tschuldige! Ich hab Raquel schon x-mal gesagt, dass sie mich auf meinem richtigen Handy anrufen soll. Das ist schön und rosa und hat einen coolen Klingelton, statt bloß so nervig zu piepsen. Außerdem kann ich im Moment ja eh nicht viel für die IBKP tun.«

»Tja, ohne Feentransport sind die da wohl ziemlich aufgeschmissen.« Lend gab sich Mühe, nicht allzu zufrieden darüber zu klingen, aber ich wusste genau, wie sehr er sich insgeheim die Hände rieb.

Ich wusste nicht so recht, wie ich darüber denken sollte. Es war nett gewesen, wieder mit Raquel zusammenzuarbeiten, außerdem half ich der IBKP hin und wieder ganz gern, solange ich über meine Arbeitsweise selbst bestimmen konnte. Aber einer Fee würde ich keinen Zentimeter mehr über den Weg trauen. Ein kleiner Teil von mir fragte sich neugierig, ob ich die Feenpfade jetzt wohl ganz allein bewältigen konnte. Aber dieser Teil war wirklich sehr klein und alle anderen Teile von mir hielten ihn für völlig durchgeknallt und hätten ihn am liebsten mal ordentlich vermöbelt. Niemals würde ich wieder einen Fuß in diese undurchdringliche, leere Dunkelheit setzen.

Mein Kommunikator piepste erneut und Arianna warf dem Gerät einen so mordlüsternen Blick zu, dass ich ihn schnell vom Couchtisch schnappte und damit in mein Zimmer rannte, bevor sie ihn in den vorzeitigen Ruhestand versetzen konnte.

»Mensch, Raquel! Wie oft soll ich dir denn noch sagen, dass du mich auf dem Handy anrufen sollst?«, meldete ich mich.

»Evelyn«, antwortete eine dunkle Stimme, die definitiv nicht Raquel gehörte.

»Ich – wer ist denn da?«

»Anne-Laurie LeFevre, Vorstand der IBKP. Du bist nicht länger Raquel unterstellt, sondern arbeitest jetzt für mich.«

»Ich … was?«

»Von jetzt an bin ich bei der IBKP die entscheidende Instanz für dich. Wir müssen uns über deinen Terminplan unterhalten und das bisher bestehende Arrangement etwas anpassen. Zudem wären da noch verschiedene Regelverstöße, die wir besprechen sollten.«

»Halt mal, eins nach dem anderen. Erstens bin ich nicht bei der IBKP. Sie können also kaum über mich entscheiden, noch sind Sie irgendeine wichtige Instanz für mich. Zweitens arbeite ich – wenn überhaupt – mit Raquel zusammen. Und zwar nur mit Raquel. Weiß sie, dass Sie mich anrufen? Ich will mit ihr reden.«

»Raquel ist im Augenblick nicht zu sprechen; sie hat einen neuen Posten zugewiesen bekommen.«

»Tja, ich hab auch einen neuen Posten, und zwar in meinem richtigen Leben. Also danke, nein – und rufen Sie mich nie wieder an.« Ich legte auf und starrte finster auf meinen Kommunikator. Der sofort wieder zu piepsen anfing, aber das ignorierte ich und wählte Raquels Nummer. Niemand nahm ab; vielleicht hatte sie zu viel zu tun auf ihrem neuen Posten, was immer das auch sein mochte. Hoffentlich erwischte ich sie bald, um sie zu fragen, was verpiept noch mal eigentlich bei der IBKP los war. Als ich wieder dort einstieg, waren wir uns alle einig gewesen, dass ich nur eine freie Mitarbeiterin war und jederzeit aufhören konnte, wenn ich wollte. Anscheinend war diese Info an dem einen oder anderen vorbeigegangen. Aber Raquel würde sich schon darum kümmern.

»Evie! Die Werbung ist vorbei!«, schrie Arianna. Stirnrunzelnd verstaute ich den Kommunikator in der guten alten Sockenschublade.

Als ich zurück ins Wohnzimmer kam, war Lend aufgestanden und warf sich gerade seine Reisetasche über die Schulter. »Wo willst du denn jetzt hin?« Ich riss ihm seinen Mantel aus der Hand und gab ihn nicht wieder her. Er war schließlich gerade erst gekommen, da würde ich ihn bestimmt nicht schon wieder gehen lassen.

»Zufällig hab ich ein paar wichtige Sachen zu erledigen.«

»Was könnte wichtiger sein als Easton Heights

»Weihnachtsgeschenke für dich zu kaufen zum Beispiel?«

Ich warf ihm den Mantel zu und hielt ihm die Tür auf. »Lass dir Zeit.«

»Ein schönes Gefühl zu wissen, dass man vermisst wird.«

»Viel Spaß!« Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und verpasste ihm einen kräftigen Schmatzer, dann schob ich ihn in den Flur und setzte mich wieder auf die Couch, ein seliges Lächeln im Gesicht. »Hach, er ist einfach der beste Freund auf der Welt.«

»Klappe. Sofort.« Arianna rührte sich nicht, den Blick starr auf den Fernsehbildschirm gerichtet. Plötzlich klopfte es laut an der Tür. »Und sag Lend, er soll gefälligst einfach reinkommen!«

»Hast du was vergessen?«, fragte ich, während ich aufmachte, und war völlig überrascht, als ich einer kurzgewachsenen dunkelhäutigen Frau im Hosenanzug gegenüberstand. Und es war nicht Lend, der sich als solche »verkleidet« hatte, sondern definitiv eine ganz normale Frau, ohne Cover. »Äh, hallo.« Dann erst bemerkte ich den Mann hinter ihr. Den Mann, der unter seinem Cover eine Fee war.

»Evelyn«, sagte die Frau mit einer Stimme, die ich sofort von unserem Telefonat wiedererkannte. Ach, verpiept noch mal, nein. Nicht hier, nicht jetzt, nicht in Anwesenheit meiner besten Vampirfreundin, die ein Stück weiter auf der Couch saß. Das hier war wirklich der letzte Ort, an dem ich irgendjemanden von der IBKP sehen wollte, mit Ausnahme von Raquel vielleicht.

Ich straffte die Schultern und bedachte Anne-Dingens Dingenskirchen mit einem eisigen Blick. »Entschuldigung, aber hatte ich Sie hierher eingeladen? Denn so wie ich das sehe, arbeite ich nicht mehr für Sie. Ach, wissen Sie was? Momentchen mal.«

Ich stapfte zurück in mein Zimmer und holte meinen Kommunikator. »Hier«, verkündete ich und drückte ihn ihr in die Hand. »Den werde ich nicht mehr brauchen. Als ich gesagt habe, ich arbeite nur mit Raquel, meinte ich überraschenderweise genau das: Ich arbeite nur mit Raquel. Das dürfen Sie von mir aus gern so weitergeben. Und wenn Sie jemals wieder mit einer Fee hier auftauchen, dürfen Sie alle beide Bekanntschaft mit meinem Taser schließen.«

Ich knallte ihr die Tür vor der Nase zu und schlug mir dann panisch die Hände vor den Mund. Die IBKP. Hier. An einem Ort, der mehr oder weniger das Epizentrum freier Paranormaler in den ganzen USA war. Trotz aller Reformen in der Organisation musste ich um jeden Preis vermeiden, dass sie dieser Stadt auch nur das geringste bisschen Aufmerksamkeit zukommen ließ. Oder meinem Diner, in dem es von Paranormalen nur so wimmelte. Woher wussten die überhaupt, wo ich war? Raquel hätte es ihnen nicht verraten. Oder? Nein. Niemals. Ich musste sofort David anrufen. Ich musste mit Raquel reden und rausfinden, was hier los war. Und ich musste dafür sorgen, dass Arianna niemals eine Fußfessel verpasst bekam.

»Was wollte die denn?« So lässig Arianna sich auch gab, ihre Stimme verriet einen Hauch von Angst.

»Keine Ahnung«, flüsterte ich und mein Herz raste noch immer, während ich auf die geschlossene Tür starrte und sie per Telepathie dazu zu bewegen versuchte, auch ja so zu bleiben.

Kapitel

»Na, worüber schmollst du schon wieder?« Vivian und ich saßen auf unserem gewohnten Hügel, aber um uns schien es noch dunkler zu sein als sonst und ich konnte regelrecht dabei zusehen, wie die Sterne einer nach dem anderen verschwanden.

»Hmm? Ach so, nein. Ich mache mir bloß Sorgen, das Übliche halt. Bei den Paranormalen läuft nach wie vor irgend so ein geheimnisvoller Kram ab. Und dann nervt auch noch die IBKP rum. Hast du gewusst, dass es tatsächlich Drachen gibt?«

Sie schnaubte. »Du solltest es wirklich auch mal mit einem Koma probieren. Macht das Leben gleich viel unkomplizierter. Eigentlich bist du das einzig Komplizierte in meinem Leben.«

»So verlockend das mit dem Koma klingt, dann würde ich doch den ganzen kuscheligen Teil des Lebens verpassen. Der ist nämlich ziemlich toll.«

»Na schön«, seufzte sie. »Es ist einfach so einsam hier, wenn du nicht da bist.«

Ich lehnte den Kopf an ihre Schulter. »Ich weiß. Was ist eigentlich mit den Sternen los?«

»Keinen blassen Schimmer. Kommt es dir hier auch wärmer vor als sonst?«

Der letzte Stern verschwand.

Und der Traum von Vivian versank in der Dunkelheit.

Am nächsten Morgen schlich ich mich, noch immer ein wenig enttäuscht über die verpasste Gelegenheit, meiner im Koma liegenden Schwester eine Zusammenfassung der letzten Easton Heights-Folgen zu liefern, an Lend vorbei nach draußen. Er lag schlafend auf unserer geblümten Couch, nachdem er irgendwann in den frühen Morgenstunden erschöpft zusammengesackt sein musste. Als er erfahren hatte, was passiert war, hatte er darauf bestanden, über Nacht hierzubleiben und Wache zu halten, falls noch einmal jemand von der IBKP auftauchte. Tasey, mein rosafarbener und mit Strasssteinen besetzter Taser, wirkte in seiner Hand, mit der er die Gute immer noch fest umklammert hielt, schon ein bisschen albern. Wir würden ihm endlich mal einen passenderen besorgen müssen, vielleicht in Metallicblau.

Ich hatte von Anfang an nicht geglaubt, dass wir einen mitternächtlichen Angriff der IBKP zu befürchten hatten; klar war es merkwürdig, dass sie überhaupt hier aufgetaucht waren, aber sich nachts an einen ranzuschleichen, sah ihnen eigentlich nicht ähnlich. Eher saugten sie einem mit ihrem Bürokratie-Wahnsinn gaaaanz langsam die Seele aus. Selbst wenn sie den ganzen Laden jetzt noch mal umstrukturierten (was kein Wunder wäre, nachdem sie während Reths Freiheits-Schrägstrich-Rache-Feldzug die meisten ranghöheren Mitglieder eingebüßt hatten), würde es noch eine ganze Weile dauern, bis sich die Reformen schließlich durchgesetzt hätten. Ich war lange genug dabei gewesen, um zu wissen, wie so was bei internationalen Regierungsorganisationen abläuft. Es spielt keine Rolle, ob sie nun versuchen, den Transport von Socken zu reglementieren oder von Mythenwesen wie Kobolden. Papierkram, Papierkram und noch mal Papierkram. Formulare, Dokumente, Unterschriften, Anwälte – glaubt mir, das kann einem mehr Angst einjagen als ein Vampir mit gebleckten Zähnen.

Was nicht heißen soll, dass ich nicht trotzdem ein kleines bisschen nervös war, aber Raquel würde mir sicher sagen können, was los war. Und alles in Ordnung bringen.

David hatte mir eine SMS von ihr weitergeleitet, in der stand, sie könne mich in einer halben Stunde in unserem Café treffen. Genaueres wusste er nicht, also beschloss ich, dass sie nur das Jitterbug Café meinen konnte, in dem wir uns nach meiner Begegnung mit den Trollen getroffen hatten. Wie David überhaupt an sie rangekommen war, wusste ich nicht. Seit wann waren die beiden denn SMS-Kumpel?

Allerdings würde ich bis zu dem Café mindestens eine Dreiviertelstunde brauchen und das auch nur, wenn ich den nächsten Bus bekam. Natürlich hätte ich Lend wecken können, der mich bestimmt gefahren hätte, aber er hatte letzte Nacht so wenig Schlaf bekommen und außerdem hatte ich das Gefühl, dass ich heute, zusätzlich zu allem anderen, nicht auch noch seine Kommentare über Raquel ertragen konnte. Die beiden kamen einfach nicht miteinander klar.

Ich widerstand dem Drang, sitzen zu bleiben und Lend beim Schlafen zuzusehen. Wenn er träumte, bewegten sich nicht wie bei anderen Leuten seine Augen hinter den Lidern, stattdessen wechselte sein Cover das Aussehen wie in einem Stop-Motion-Film. Das war faszinierend und ziemlich unterhaltsam – wenn auch manchmal ein bisschen gruselig, denn zwischendurch tauchte immer mal wieder ich selbst auf.

Als ich ins Diner stürmte, rannte ich beinahe Grnlllll über den Haufen. »Was machst du denn noch hier?«, fragte ich, bevor ich Nona geschäftig zwischen den roten Tischen herumeilen sah, an denen mehrere Paranormale saßen, darunter auch die beiden Selkies Kari und Donna. »Ihr solltet doch alle schon längst die Stadt verlassen haben!«

Nachdem ich David am Abend zuvor von meiner IBKP-Begegnung in Nicht-Raquel-Gestalt erzählt hatte, hatte er sofort beschlossen, sämtliche Paranormale von hier wegzuschaffen. Ich unterstützte ihn in dieser Entscheidung, obwohl es sehr viel schwieriger als erwartet gewesen war, Arianna dazu zu bewegen, ihre Sachen zu packen und sich in Sicherheit zu bringen. Irgendwann hatte sie wenigstens eingewilligt, sich in Davids abgeschiedenem Haus zu verstecken, um sofort zur Stelle sein zu können, falls wir Hilfe brauchten. Aber diese Paranormalen hatten keinen Grund zu bleiben.

»Nona, ihr müsst alle weg! Die IBKP weiß, dass ich hier bin, und das bedeutet, sie wissen auch, dass ihr hier seid!«

Nona lächelte mich an und machte eine Geste mit der Hand, die diese wie einen Ast aussehen ließ, an dem der Wind rüttelte. »Die IBKP stellt keine Bedrohung für uns dar.«

Verzweifelt fuhr ich mir mit den Fingern durch den Pferdeschwanz. Ich musste mich tierisch beeilen, wenn ich es noch rechtzeitig zu Raquel schaffen wollte, aber genauso dringend musste ich diese Paranormalen davon überzeugen zu verschwinden. Ich hatte keine Ahnung, was die IBKP mit einer Huldra, einem Gnom, zwei Selkies und, tja, was auch immer diese drei traurigschönen, aber auch ziemlich unheimlich aussehenden Frauen mit den langen schwarzen Haaren waren, die in der Ecke saßen – oder schwebten? –, anstellen würde.

»Nein, im Ernst, die könnten euch ziemliche Probleme machen. Geht doch einfach woandershin, bis wir raushaben, was bei der IBKP eigentlich los ist. Vermutlich ist alles halb so wild. Hoffentlich. Aber bis wir Näheres wissen, wäre es mir lieber, wenn ihr in Sicherheit wärt.«

»Mein liebes Kind«, sagte Nona und nahm sanft lächelnd mein Gesicht in beide Hände. Sie beugte sich vor und drückte mir mit ihren moosgrünen Lippen einen Kuss auf die Stirn. »Bald.«

Sie ließ mich los und ich setzte ihr plötzliches Kuschelbedürfnis stirnrunzelnd auf die stetig länger werdende Liste mysteriöser Nona-Aktionen. Dann zog ich mein Handy aus der Tasche und sah auf die Uhr. »Mist! Jetzt hab ich den Bus verpasst!«

Kari sah mich aus ihren unglaublich großen, runden braunen Augen an. »Sollen wir dich fahren? Wir können dich fahren! Wohin du willst! Ganz schnell!«

»Habt ihr etwa ein Auto?«

Donna und sie bellten ihr Seehundlachen. Hin- und hergerissen blickte ich zurück zu Nona, die in aller Seelenruhe die lange, von Barhockern gesäumte Theke abwischte. »Wir unterhalten uns weiter, wenn ich wieder da bin.«

Ich folgte den Selkies nach draußen zu einem alten VW Käfer, der an der Straße parkte. Es war ein Cabrio in glitzerndem Dunkelblau, mit weißen Ledersitzen. »Das ist doch jetzt nicht wahr, oder?«, stotterte ich. Wie konnten zwei Wesen, die den Großteil der letzten paar Jahrhunderte als Seehunde verbracht hatten, ein derart cooles Auto besitzen? Und wie jämmerlich sah ich, die immer noch keins hatte, dagegen aus?

Ich rutschte auf die Rückbank und Kari nahm hinter dem Steuer Platz.

»Wo habt ihr denn den Führerschein gemacht?«, erkundigte ich mich neugierig. Ich würde im Frühling mit den Fahrstunden anfangen, aber vielleicht kannten die beiden ja einen besonders einfachen Kurs?

»Was ist ein Führerschein?«, fragte Kari zurück und ließ den Wagen hinaus auf die Straße schießen.

Ach du piep.

Die Augen fest zugekniffen, die Finger um meinen Anschnallgurt gekrampft, harrte ich des Unvermeidlichen, als plötzlich aus meiner Handtasche der gedämpfte Refrain meines neuesten Lieblingssongs erklang. Widerwillig löste ich eine Hand von meinem Gurt und kramte mein Handy hervor. Kari ging mit unverminderter Geschwindigkeit in eine Kurve, sodass die Fliehkraft mich gegen das Fenster schleuderte.

»Langsamer!«, kreischte ich und hielt mir dann das Handy ans Ohr. »Was ist? Ich meine, hallo?«

»Wo bist du?«, hörte ich Lend mit deutlicher Panik in der Stimme fragen. Ach je, ich hätte ihm einen Zettel hinlegen sollen.

»Ich bin unterwegs zum Jitterbug Café, da treffe ich mich mit Raquel. Kari, Baum!« Wir schlingerten wild hin und her und kurz verloren die Reifen auf der rechten Seite sogar ganz den Kontakt zur Straße, bis der Wagen schließlich wieder auf den Boden krachte. »Bäume weichen Autos nicht aus! Autos weichen Bäumen aus!«

Donnas bellendes Gelächter erfüllte den beengten Innenraum des Autos, als sie vor Entzücken in die Hände klatschte.

»Was ist denn los? Bist du in Sicherheit?«, versuchte Lend schreiend den Lärm auf meiner Seite zu übertönen.

»Im Moment eher nicht, nein. Rote Ampel! Rote Ampel!« Wir schlitterten trotzdem über die Kreuzung, wobei unsere Stoßstange so knapp dem Zusammenprall mit einem Geländewagen entging, dass ich die Zähne des Fahrers zählen konnte. »Fahr rechts ran! Ich steige aus!«

»Aber wir sind doch noch gar nicht da«, protestierte Kari und drehte sich zu mir um, um mich mit ihren runden, wässrigen Augen fragend anzusehen.

»Guck auf die Straße! Die Straße! Stopp, stopp, stopp, stopp, stopp, stopp, STOPP!«

Kari blinzelte, drehte sich wieder um und trat mit voller Kraft auf die Bremse. Ich flog nach vorne, bis der Gurt blockierte und sich so hart in mein Schlüsselbein grub, dass das mit Sicherheit einen blauen Fleck geben würde. Ein Quietschen hallte durch den Käfer und der beißende Geruch verschmurgelten Gummis stieg mir in die Nase, als wir mitten auf der Straße komplett zum Stillstand kamen.

»Ich ruf dich nachher zurück«, sagte ich mit zitternder Stimme ins Telefon und legte auf.

Donna sprang aus dem Auto, klappte ihren Sitz vor und lächelte mich strahlend an, als ich aus dem Wagen purzelte, auf Händen und Knien zum Gehweg kroch und schließlich dankbar meine Stirn auf den eiskalten Zement bettete.

Okay, vielleicht gab es tatsächlich noch schlimmere Transportmethoden als Händchenhalten mit einer Fee.

Donna tätschelte mir, alles andere als sanft, den Rücken. »Das war lustig!«, freute sie sich. »Wo soll’s als Nächstes hingehen?«

»Mit euch zweien nirgendwo mehr hin, nie wieder!«

Ich drehte mich um und setzte mich auf den Bordstein. Kari hatte das Auto einfach mitten auf der Straße stehen lassen und sich zu uns gesellt. Verwundert hob sie die Augenbrauen. »Alles in Ordnung, Evie?«

»Nein! Du hast mich beinahe umgebracht!«

Sie schüttelte vehement den Kopf. »Nein! Wir sind hier, um dich zu beschützen. Du sollst immer in Sicherheit sein. Wir sind für dich verantwortlich.« Sie lächelte stolz.

»Ihr seid doch nicht –« Ich hielt inne und zwang mich zu einem versöhnlichen Lächeln. Die Selkies waren zu keiner Heuchelei, keiner Lüge fähig. Nona wich allen meinen Fragen aus, aber vielleicht wussten die beiden gar nicht, dass sie das auch tun sollten. »Ach so, ja, natürlich! Wer war das noch mal gleich, der euch gesagt hat, dass ihr auf mich aufpassen sollt?«

»Nona!«

Donna nickte zustimmend. »Und der Glitzermann.«

»Glitzermann?«, wiederholte ich. »Meint ihr Lend?«

»Nein, der Glitzermann – mit Haaren und Augen so hell wie die Sonne.«

Ich bemühte mich, mein Lächeln aufrechtzuerhalten. »Reth? Die Fee?«

»Fee, ja! Obwohl er so nicht heißt; er will es uns nie sagen. Er glitzert so schön. Ich mag es, wenn er mit mir redet.« Donna hob die Hand und strich sich mit einem verträumten Lächeln durch ihr üppiges, walnussbraunes Haar.

»Ich hab’s gewusst! Nona arbeitet mit Reth zusammen!« Bebend vor Wut stand ich auf. Trotz Davids Beteuerungen, wir könnten diesem verlogenen Baumgeist trauen, ahnte ich schon seit Monaten, dass sie irgendwas im Schilde führte. Und jetzt stellte sie in Reths Auftrag die Selkies dazu ab, mir nachzuspionieren?

»Bist du böse?«, fragte Kari und Sorge stieg in ihren Augen auf wie Tränen. »Haben wir was falsch gemacht?«

Ich atmete tief durch, sodass die beißend kalte Luft meine Lungen füllte und mir in der Kehle brannte. Es war nicht ihre Schuld. Die Selkies waren so unschuldig und gutmütig wie Seehunde, die in den Wellen herumtollten, ihre Unsterblichkeit nichts als ein ewiges Spiel. Sie taten nur, was man ihnen gesagt hatte – und was sie für das Richtige hielten. »Nein, ihr habt nichts falsch gemacht. Danke.«

»Okay! Dann können wir ja weiter Auto fahren!«

»NEIN! Ähm, ich meine, ich würde den restlichen Weg zum Café lieber laufen, wir sind ja schon fast da. Aber ihr zwei könnt ruhig weiterfahren. Lend kommt mich nachher abholen und bei ihm bin ich immer in Sicherheit.«

Donna zog skeptisch die Stirn kraus. »Meinst du wirklich? Wir können auch bleiben. Ich könnte dir die Haare flechten!«

»Und ich hab Nagellack im Auto!«, quietschte Kari, die vor lauter Vorfreude auf und ab hüpfte.

»Nein, ihr solltet besser Nona Bescheid geben, dass es mir gut geht. Sie macht sich bestimmt schon Sorgen.«

»Sollen wir dich nicht lieber von irgendwoher beobachten, wo du uns nicht sehen kannst? So wie wir das immer machen, wenn du in der Schule bist?«

Mein Gesicht gefror zu einem maskenhaften Lächeln, aber die Adern in meinem Hals fühlten sich an, als würden sie jeden Moment platzen, so heftig pochte es darin vor Wut. Ich hatte mich bestimmt nicht aus dem Würgegriff der IBKP befreit, um mich nun von einem Baumgeist und meinem durchgeknallten Feen-Ex bespitzeln zu lassen. »Das müsst ihr nicht. Ich hab heute mit Nona gesprochen und sie meinte, es ist in Ordnung, wenn ihr beiden mich hier allein lasst.«

Karis Augen verengten sich von beinahe kreisrund zu mandelförmig. »Das hat sie wirklich gesagt?«

»Oh ja.«

Sie hielt meinen Blick noch einen Moment fest, dann zuckte sie mit den Schultern und das Lächeln sprang zurück auf ihre Lippen. »Na, dann ist ja gut! Bis später!«

Donna winkte fröhlich, als sie wieder in den Wagen stiegen und schließlich mit quietschenden Reifen verschwanden. Ich sah ihnen nach, bis sie um die Ecke waren, dann rannte ich so schnell ich konnte zum Café. Als ich dort ankam, musste ich mich erst mal an die dunkle Backsteinfassade lehnen; mein keuchender Atem formte kleine Wölkchen.

Wie lange beschatteten die beiden mich schon? Welche anderen Paranormalen waren in die Geschichte verwickelt? Nona und Grnlllll auf jeden Fall, aber die hatte ich ja von Anfang an in Verdacht gehabt. Und diese drei komischen Frauen heute Morgen – die hatte ich auch mit Nona flüstern sehen. Und der Drache? Hatte sie etwa den Drachen auf mich angesetzt? Panisch sah ich zum Himmel auf, aber dort waren keine bleichen Monster zu sehen, die sich durch die dünne Wolkendecke schlängelten.

Und was war mit … Arianna? Ich biss mir auf die Unterlippe. Immerhin lebten wir zusammen. Wer hätte mich besser im Auge behalten können als meine Mitbewohnerin? Ich lehnte den Kopf zurück an die rauen, unebenen Backsteine. Wenn ich doch nur Lish wiederhaben könnte. An ihr hatte ich nie, niemals zweifeln oder ihre Motive infrage stellen müssen. Ich wusste einfach, sie war meine Freundin, egal, was kam. Wir zwei gegen den Rest der Welt, so war es immer gewesen. Manchmal, seit ich nicht mehr mit ihr reden konnte, wusste ich einfach nicht, wo ich noch hingehörte.

Arianna war nicht so eine Freundin, wie Lish es gewesen war. Sie war mürrisch und schroff und manchmal kam es mir so vor, als hasste sie mich mehr, als dass sie mich mochte. Allerdings war Arianna auch nicht dieselbe Art von Paranormaler wie Nona und ihre Kumpanen. Die waren einfach so geboren worden. Arianna dagegen war die Unsterblichkeit gegen ihren Willen aufgezwungen worden.

Außerdem würde sicher niemand, der versuchte, mich auszuspionieren und sich bei mir einzuschmeicheln, andauernd seine klitschnassen Handtücher auf dem Teppich liegen lassen.

Nein, ich vertraute Arianna. Arianna, Lend, David und Raquel. Mit einem tiefen Seufzer zog ich mein Handy hervor, um auf die Uhr zu sehen. Ich war sogar ein paar Minuten zu früh. Außerdem hatte ich drei Anrufe von Lend verpasst und eine SMS von Carlee bekommen, meiner einzigen normalen Freundin. Was hätte ich nicht dafür gegeben, heute mit ihr zur Pediküre gehen zu können und dabei die Vorzüge des Jungen-Basketballteams gegenüber der Fußballmannschaft zu erörtern. Obwohl ich persönlich natürlich eher auf den gestaltwandelnden Künstlertypen abfuhr, musste ich gestehen, dass ich eine kleine Schwäche für Fußballerwaden hatte.

 Aber es sollte wohl nicht sein. Und meine Finger waren ohnehin zu kalt zum Zurückschreiben. Also ließ ich die SMS SMS sein und drückte auf Wählen. Lend nahm beim ersten Klingeln ab.

»Du musst mich bitte abholen kommen, nachdem ich mit Raquel geredet habe«, sagte ich. »Und dann muss ich aus der Wohnung über dem Diner ausziehen.«

»Okay und okay. Ich wollte dich sowieso überreden, heute mit zu meinem Dad zu kommen. Und irgendwann, schätze ich mal, erklärst du mir bestimmt auch, was los ist, oder?«

»Soweit ich da selbst durchblicke.« Meine Stimme klang genauso düster, wie ich mich fühlte. Denn wie gewohnt durchblickte ich die Sache weit weniger, als mir lieb war. Aber wenigstens Raquel würde mir bestimmt ein paar Antworten geben können.

Kapitel

Eine halbe Stunde später wippten meine Knie unkontrolliert auf und ab. Teilweise vor Nervosität – wo blieb sie denn nur? –, aber hauptsächlich, weil ich mittlerweile bei Vanilla Coke Nummer vier angelangt war. Koffein und ich waren schon immer eine schlechte Kombination gewesen, aber heute verstärkte sich die Wirkung noch durch die unruhige Energie, die mich seit letztem Halloween durchströmte, als ich diesem Über-Vamp, der mich angreifen wollte, einen Teil seiner Seele ausgesaugt hatte.

Alle dreißig Sekunden warf ich einen Blick auf mein Handy, aber ich hatte keine Anrufe verpasst und auch keine neue SMS von David bekommen. Hatte ich mich etwa doch mit dem Café vertan? In diesem hier hatten wir uns letzten Oktober getroffen. Aber vielleicht hatte Raquel ja ein anderes im Sinn gehabt. Sie sollte gefälligst endlich hier auftauchen und mir sagen, dass alles in Ordnung war.

Das Türglöckchen klingelte, ich hob den Kopf und blickte in Raquels Gesicht. »Gott sei Dank!«, rief ich und stieß beim Aufstehen fast mein Glas um.

Sie eilte auf mich zu. »Evie, es tut mir so leid. Das hier war die einzige Gelegenheit, mich loszueisen, und –« Wieder öffnete sich klingelnd die Tür und Raquel sah zu, wie zwei Männer in kratzig aussehenden Wollmänteln hereinspaziert kamen und in die Karte starrten. Mit ausdruckslosem Gesicht wandte sie sich wieder mir zu. »Setz dich bitte.«

»Okay.«

Sie setzte sich mir gegenüber und legte die Hände auf den Tisch, verschränkte wieder und wieder die Finger, als wollten sie einfach nicht ineinanderpassen.

»Was ist los? Wer ist diese Anne-Dingens Dingenskirchen? Warum kontaktiert mich die IBKP über jemand anderen als dich?«

Raquel holte tief Luft. »Ich bin hier, um dich offiziell zu bitten, deine Arbeit bei der IBKP wieder aufzunehmen.«

»Was?«

»Man ist zu dem Schluss gekommen, dass dieses Experiment« – bei dem Wort schloss sie kurz gequält die Augen, riss sie aber im nächsten Moment hastig wieder auf und redete weiter – »nicht effektiv ist. Du wirst gebeten, an deinen Posten in der Zentrale zurückzukehren. Du hättest alle Rechte einer Angestellten und bekämst natürlich ein Gehalt. Außerdem wollen sie dir, wenn auch zunächst unter Vorbehalt, milde Strafen für deine Regelüberschreitungen in Aussicht stellen.«

Verdattert lehnte ich mich zurück. »Aber du hast mir doch gerade erst da rausgeholfen. Du weißt, dass ich nicht zurück kann! Ich will auch gar nicht! Und außerdem hätte das sowieso keinen Zweck. Ich reise nicht mehr per Fee, also wäre ich total nutzlos. Und selbst wenn ich bereit wäre, mit Feen zu arbeiten, würde ich nie im Leben wieder in die Zentrale ziehen! Was denken die sich eigentlich?«

Raquel biss sich auf die Unterlippe. Erst in dem Moment fiel mir auf, dass sie noch kein einziges Mal geseufzt hatte. Sehr eigenartig, und sehr untypisch für Raquel. »Evie, ich finde wirklich, du solltest über dieses Angebot nachdenken. Oder zumindest offen sein für Verhandlungen über deinen Job.« Sie warf einen Blick über die Schulter und beugte sich zu mir vor. »Bitte sag mir, dass du darüber nachdenkst.«

»Was zum Piep hast du denn bitte geraucht? Ich –«

Ihre Augen blitzten und ihre Brauen rutschten aufeinander zu, als sie sich noch weiter vorbeugte und beinahe unmerklich den Kopf schüttelte. »Evie! Bitte. Sag mir, dass du darüber nachdenkst.«

Irgendwas stimmte hier nicht. Ich vertraute Raquel, ich wusste, dass ich das konnte. »Ich – ja, okay. Ich denk drüber nach.«

Sie wirkte nicht erleichtert, sondern höchstens noch unruhiger. »Danke. Ich werde dir ein paar Tage Zeit geben, damit du dich entscheiden kannst.« Sie streckte die Hand nach meiner aus und drückte sie viel zu fest.

»Wie wär’s, wenn du’s mal mit koffeinfreiem Kaffee probierst?«, murmelte ich und zog ein finsteres Gesicht. »Und würdest du mir jetzt vielleicht mal verraten, was eigentlich los ist? Was ist mit den ganzen Para–«

»Danke, tja, ich muss dann wieder los.« Sie stand auf und strich ihren anthrazitgrauen Rock glatt. »Wir sprechen uns Ende der Woche, bis dahin sollte alles vorbereitet sein.«

»Ich hab nicht gesagt – Raquel!« Ich stand auf, doch sie hatte schon auf dem Absatz kehrtgemacht und marschierte hinaus.

Lend trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad und runzelte nachdenklich die Stirn. »Also, wir wissen mit Bestimmtheit, dass Nona dich überwacht. Aber sie hat uns auch vorher schon gesagt, dass sie dich nur beschützen will.«

»Trotzdem komisch. Ihre kleinen See-Spürhunde auf mich anzusetzen. Und was ist mit Reth?«

»Bist du denn sicher, dass es Reth war?«

Ich malte mit dem Finger Linien an die beschlagene Scheibe und sah zu, wie draußen die kahlen Bäume vorbeiflogen. Es lag kein bisschen Schnee, sodass alles einfach nur tot und öde und kalt und braun aussah.

Ich hasse Braun.

»Ziemlich sicher. Wir wissen, dass die beiden miteinander in Kontakt stehen. Und selbst wenn er es nicht ist, ist es auf jeden Fall eine Fee.«

»In Ordnung. Weg von Nona also. Du kannst gerne länger als geplant bei meinem Dad bleiben. Da wärst du sowieso sicherer, falls die IBKP und ihre Feenkumpane dir mal wieder einen Besuch abstatten wollen.«

»Blöd nur, dass dein Dad mein gesetzlicher Vormund ist. Ansonsten könnten sie mich gar nicht über ihn finden.« Mein Magen zog sich zusammen. »Oh Gott, Lend. Sie können ihn über mich finden und dann dürften sie wohl auch kapieren, dass er gar nicht tot ist.« Vor beinahe zwanzig Jahren, als er noch bei der Amerikanischen Behörde zur Kontrolle Paranormaler angestellt gewesen war, hatte David seinen Tod vorgetäuscht. Nachdem er sich in einen Wassergeist verliebt hatte, war an Arbeit für diese Organisation nicht mehr zu denken gewesen.

Lend zuckte mit den Schultern und legte mir die rechte Hand aufs Knie. »Mein Dad macht das schon eine ganze Weile. Ihm passiert nichts, mach dir keine Sorgen. Mich regt’s bloß auf, dass Raquel immer noch brav alles tut, was die IBKP ihr sagt, und dir nicht erzählt hat, was wirklich los ist.«

Ich zog ein finsteres Gesicht und wischte die Herzchen weg, die ich an die Fensterscheibe gemalt hatte. »So war es gar nicht. Irgendwas ist da im Busch – etwas Seltsames. Sie hat sich definitiv nicht normal benommen. Ich glaube, sie hatte vor irgendwas Angst oder … Ich weiß auch nicht. Es war, als könnte sie mir gar nichts erzählen. Vielleicht versucht sie, mich zu beschützen, indem sie mich wieder ins Boot holt. Weißt du noch, was ich dir erzählt habe? Dass ich diese ganzen Dokumente über die verschollenen Paranormalen gelesen habe?«

Er nickte widerstrebend. »Wir haben jetzt seit Monaten nichts von meiner Mom gehört. Allerdings kommt sie im Winter meistens sowieso nicht raus. Zu viel Eis.«

»Trotzdem könnte da eine Verbindung bestehen. Nona wird von Tag zu Tag durchgeknallter; jetzt setzt sie schon ihre Schnüffler auf mich an. Ich hab das Gefühl, da ist irgendwas im Gange, und Raquel weiß davon.«

»Und warum hat sie dir dann nicht gesagt, was es ist?«

»Weiß ich nicht. Aber Raquel steht hinter mir. Immer.«

»Ich stehe auch hinter dir.«

Lächelnd schob ich meine Hand unter seinem Ellbogen durch und legte den Kopf an seine Schulter. »Das weiß ich doch.«

»Gut. Da das nun geklärt ist, beschließe ich hiermit einen Aufschub jeglicher Gespräche über die IBKP oder über Belästigungen seitens irgendwelcher Paranormaler.«

»Oho, der Professor hat gesprochen. Und warum, bitte schön?«

»Weil wir uns den restlichen Tag nur noch amüsieren wollen.«

»Amüsieren klingt gut!«

»Schließlich haben wir heute auch allen Grund dazu.«

»Ach ja?« Hatte ich irgendein Jubiläum oder so vergessen?

Auf seinem Gesicht breitete sich ein durchtriebenes Grinsen aus. »Du hast Geburtstag.«

»Nein, hab ich nicht«, antwortete ich verwirrt. »Ich meine, könnte natürlich sein, weil wir es ja nicht genau wissen, aber deswegen haben wir doch beschlossen, dass ich am ersten Januar ein Jahr älter werde.«

»Tja, wann hast du denn das letzte Mal einen Blick auf deine Geburtsurkunde geworfen?«

Ich musste lachen. »Du meinst das gefälschte Dokument, für das dein Dad Arianna zum Bürgeramt gescheucht hat, damit sie die Leute da per Gedankenkontrolle dazu bringt, es auszustellen?

»Genau das. Ist dir nie aufgefallen, was für ein Datum wir darauf haben eintragen lassen?«

»Nee …«

»Den einundzwanzigsten Dezember. Und der ist heute.« Er bog auf den Parkplatz des Einkaufszentrums ein und hielt an. »Herzlichen Glückwunsch, Evie«, sagte er, lehnte sich zu mir herüber und drückte seine perfekten, weichen Lippen auf meine. Ich lächelte unter seinem Kuss und vergaß alles andere. Das war der beste gefälschte Geburtstag aller Zeiten.

»Okay, ich hätte nie gedacht, dass ich so was mal sage, aber so langsam habe ich genug vom Einkaufszentrum.« Ich ließ mich auf eine Bank fallen; meine Füße taten weh, aber mein Herz hüpfte. Lend hatte mich durch sämtliche Läden geschleift, darauf bestanden, dass ich eine Maniküre machen ließ, und mich dann noch mit einem Termin für ein komplettes Make-over in einem der teuersten Friseursalons überrascht. Vielleicht waren mein perfekt gestyltes und gelocktes Haar und der dramatische Eyeliner ein bisschen übertrieben zu Jeans und Sneakers, aber ich fühlte mich gut.

Lend tippte gerade eine SMS, dann schob er sein Handy zurück in die hintere Jeanstasche und stand auf. Bisher hatte ich nie sonderlich auf die Jeans von Jungs geachtet (nicht aus Mangel an Interesse, sondern aus Mangel an Gelegenheit in der Zentrale), aber in den letzten Monaten war mir aufgefallen, wie abgrundtief furchtbar die meisten waren. Zu weit, zu eng, zu tief sitzend und so weiter. Es schien fast, als hätten Jungs keine Ahnung, wie super man in einer guten Jeans aussehen konnte. Schockierenderweise erfreuen sich nämlich auch Mädchen an einem nett präsentierten Hintern.

Noch so ein Gebiet, auf dem Lend perfekt war. Im Hinblick auf seine Jeanswahl, meine ich. Na ja, und auf seinen Hintern auch.

Lächelnd betrachtete ich sein Gesicht, seine beiden Profile – das seines Covers legte sich passgenau über sein echtes. Er sah mir in die Augen und erwischte mich beim Starren.

»Evie?«

»Du, mein werter Freund, bist echt ziemlich ansehnlich, weißt du das?«

»Das erzählen mir die ganzen alten Damen auch immer. Und dann kneifen sie mich in die Backe.«

»Welche denn?« Blitzschnell kniff ich ihn in den Hintern. Er machte einen Hopser und schlug lachend meine Hand weg.

»Okay, Arianna und Dad warten zu Hause; die haben ein riesiges Abendessen gemacht und Kuchen gebacken. Und wie wär’s danach mit einem Film?«

Zufrieden zuckte ich mit den Schultern. »Klingt gut.« Es war nichts Wildes, Extravagantes, aber das war auch nicht Lends Stil. Ich war froh, dass wir meinen Geburtstag diesmal an einem anderen Tag feierten als sonst. Neujahr würde mich nur daran erinnern, wie es früher immer gewesen war. In der Zentrale hatte ich jedes Jahr eine Leiter in die Datenverarbeitung geschmuggelt, war an Lishs Aquarium hochgeklettert und hatte eine Arschbombe ins Wasser gemacht. Das war meine liebste Tradition.

Vielleicht konnte ich Arianna und Lend ja zum Eistauchen überreden. Quasi zum Gedenken.

Eine SMS ließ mein Handy vibrieren. Carlee. Grinsend las ich: »OMG, DU BIEST HAST MIR NICHT GESAGT, DASS HEUTE DEIN B-DAY IST. Freitag Mädelsabend?«

Schnell schrieb ich ein Ja zurück, ganz gerührt, dass sie an meinen Fake-Geburtstag gedacht hatte. »Hast du Carlee von meinem Geburtstag erzählt?«, fragte ich Lend, während wir in unsere Mäntel schlüpften und uns Händchen haltend gegen die dämmrige Kälte wappneten, die uns draußen entgegenschlug.

»Bekenne mich schuldig.«

Ich lächelte und erschauderte. »Es wird so früh dunkel.«

»Heute ist Wintersonnenwende, der kürzeste Tag des Jahres.«

»Na herzlichen Dank auch. Und den musstet ihr unbedingt für meinen Geburtstag aussuchen?«

Er lachte und schlang die Arme um mich. »Das heißt aber auch die längste Nacht …«

»Unerhört!«

Unschuldig klimperte er mit den Wimpern. »Was denn? Mehr Zeit zum Filmegucken, oder?«

»Hmm. Schon klar.«

Wir fuhren durch die Stadt und dann in den Wald, bis wir schließlich in die lange, gewundene Zufahrt zum Haus seines Dads einbogen. Kurz vor der allerletzten Biegung hielt Lend an und schaltete den Motor aus. Ich grinste erwartungsvoll und dachte an die vielen Male, die wir uns nach Dates in den Wald geschlichen und ein bisschen rumgeknutscht hatten. Ganz allein mit mir, waren das die einzigen Gelegenheiten, bei denen er sein Cover ablegen und er selbst sein konnte. Ich öffnete meine Tür, aber er lehnte sich über mich und zog sie wieder zu.

»Zu kalt?«, fragte ich.

»Du musst jetzt mal eine Minute hier warten, okay?« Seine Augen funkelten aufgeregt und verschmitzt und ich fragte mich, was mich wohl erwartete. Vielleicht ja wieder so ein süßes Geschenk wie meine Kette. Ich tastete nach dem eisernen Herzanhänger, der an meinem Hals warm geworden war.

Ungeduldig zappelte ich auf meinem Sitz herum und sah zu, wie er die Auffahrt hoch und um die Kurve rannte. Im Dunkeln zog ich mein Shirt nach vorn und warf einen Blick auf die Haut über meinem Herzen. Mein allabendlicher Seelencheck. Keine sichtbare Veränderung, nur dasselbe schwache Leuchten wie immer und hin und wieder ein Fünkchen. Heute würde ich wohl nicht sterben. Ein weiterer Punkt auf meiner persönlichen Glücksliste.

Ein paar Minuten später kam eine Gestalt zurück … aber es war nicht Lend. Sondern Arianna, die irgendein unförmiges Bündel über dem Arm trug.

Sie öffnete die Beifahrertür und ich stieg aus. »Wo ist Lend? Ich sollte hier auf ihn warten.«

»Nix da.« Sie grinste breiter, als ich es je bei ihr gesehen hatte, und plötzlich beschlich mich Nervosität. Was, wenn sie doch mit Nona und den Feen zusammenarbeitete? »Du hast auf mich gewartet. Und jetzt ausziehen.«

»Ich – was?«

»Du hast mich schon verstanden. Ausziehen. Den BH kannst du anlassen, da du den ja so irre nötig hast.«

Jetzt fiel mir auf, dass das unhandliche Ding über ihrem Arm ein Kleidersack war. Aha! »Ähm, hör mal, ich mag dich ja auch, aber nur als Freundin. Du bist einfach nicht mein Typ.«

»Ach, halt die Klappe. Und jetzt zieh dich aus und mach die Augen zu.«

»Auch das hätte ich heute Abend nicht unbedingt von dir hören wollen.«

Ihr Lächeln wich einem genervten Stirnrunzeln. »MACH SCHON.«

Ich lachte verwirrt, aber wie es aussah, war das ihr Geschenk für mich. Bevor sie gestorben war, war sie mitten in einer Ausbildung zur Modedesignerin gewesen, weshalb sie unglaublich gut schneidern konnte. Ich schloss die Augen und schälte mich gänsehautbedeckt und zitternd in der eisigen Luft aus meinen Klamotten. »Schnell, schnell.«

»Arme hoch.«

 Ich tat, was sie sagte, und versuchte, nicht allzu sehr zu zappeln, während sie mir gefühlte hundert Lagen Stoff über den Kopf zog. Auf meinem Rücken schloss sich ein Reißverschluss und dann zupfte und zerrte und strich sie noch eine Weile an mir herum. Soweit ich das beurteilen konnte, handelte es sich um ein Kleid – kein Stoff an den Armen, dafür umso mehr, der mir sanft um die Beine strich. »Perfekt. Natürlich.« Sie klang ziemlich zufrieden mit sich. »Fuß«, sagte sie, schnappte sich meinen Knöchel und zog mir den Stiefel aus, um ihn durch einen Schuh mit wesentlich höherem Absatz zu ersetzen. Dann wiederholte sie das Ganze auf der anderen Seite.

»Kann ich jetzt endlich die Augen aufmachen?«

»Nein. Nimm meinen Arm.«

Ich gehorchte und ließ mich von ihr um die Ecke führen. Selbst durch meine geschlossenen Lider sah ich das Licht – jede Menge Licht, viel mehr, als es hier normalerweise gab.

»Stillhalten«, sagte sie, streifte mir vorsichtig etwas über das Haar und befestigte es über Augen und Nase. »Und schön weiter die Augen zulassen.«

»Hrrmpf.«

»Undankbare Göre.« Dann ließ sie mich los und nahm mich kurz in den Arm, um mich zu drücken. »Viel Spaß.«

Eine andere Hand, die ich sofort an der unglaublich glatten Haut erkannte, übernahm meinen Ellbogen. »Darf ich die Augen jetzt aufmachen?«