WESTEND

Ebook Edition

Heiner Flassbeck arbeitete von 2000 bis 2012 bei den Vereinten
Nationen in Genf und war dort als Direktor zuständig für
Globalisierung und Entwicklung. Zuvor war er Staatssekretär
im Bundesministerium für Finanzen. 2013 ist sein Blog
flassbeck-economics.de mit täglichen Analysen und
Kommentaren zu Wirtschaft und Politik online gegangen.
Im Westend Verlag sind u.a. folgende Bücher von ihm
erschienen: »Handelt jetzt. Das globale Manifest zur Rettung
der Wirtschaft« (2013), »Die Marktwirtschaft des
21. Jahrhunderts« (2011) und »Gescheitert« (2009).

Heiner Flassbeck

66 starke Thesen
zum Euro,
zur Wirtschaftspolitik
und zum
deutschen Wesen

WESTEND

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www.westendverlag.de

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Publisher

ISBN 978-3-86489-549-4
© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2014
Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin
Satz: Publikations Atelier, Dreieich
Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany

Inhalt

Einleitung

Die große Frage unserer Zeit:
Hat der globale Kapitalismus einen
Wendepunkt erreicht?

1 Die US-Wirtschaft und ihre unerkannte Achillesferse

2 Abenomics: Noch immer keine Lösung in der Arbeitsmarktfrage

3 Die Abenomics und die Lehren für den Bundeswirtschaftsminister

4 Wachstumsschwäche in Brasilien und vielen anderen Entwicklungsländern – warum es nicht so vorwärts geht wie es sollte

5 Ägypten und Nordafrika: Die Revolution, die nicht sein durfte

6 Die wirtschaftliche Lage in der Ukraine und die Herausforderungen für eine neue Regierung

7 Die Türkei versucht den Befreiungsschlag, trifft sich aber selbst

Die Eurokrise – ist eine Krise des Denkens
und des Redens

8 Die letzte Chance nutzen!

9 Der europäische Traum und ein schlimmes Erwachen

10 Alle Länder der Europäischen Währungsunion sind systemrelevant, auch Zypern

11 Zypern gerettet – Währungsunion näher am Abgrund

12 Deutsche Ökonomen warnen vor französischem Merkantilismus

13 Die Schere zwischen Lohn und Produktivität – oder der Irrtum des Mario Draghi

14 Löhne und Produktivität – worum es innerhalb und außerhalb einer Währungsunion geht

15 Warum in einer Währungsunion die Reallöhne immer der Produktivität folgen müssen

16 Der IWF zu Spanien: Planwirtschaft bitte jetzt sofort einführen

17 Die Germanisierung Griechenlands und ihre Folgen

18 Unkonventionelle oder dogmatische Geldpolitik

19 Die EU-Kommission beginnt allmählich zu begreifen, was ihre Rolle in der Eurokrise ist

20 Frankreich ist der große Verlierer in der Eurozone

21 Der Front National in Frankreich und das Ende des Euro

22 Die Blairisation oder Schröderisierung des François Hollande

23 Bravo, Monsieur le Président

Das deutsche Wesen – ist das falsche Modell

24 Die deutsche Agenda und das schwere Schicksal Europas

25 Die neue deutsche Selbstgerechtigkeit ist kein Zufall

26 Die Bundeskanzlerin und die Austerität

27 Angela Merkel, die Schulden und die Unabhängigkeit von den Banken

28 Das BMF wäscht seine Hände in Unschuld

29 Schäuble über Inflation – er weiß wirklich nicht, was er sagt

30 Deutschland braucht eine andere wirtschaftspolitische Strategie – die AfD findet sie aber nicht

31 Hans-Olaf Henkel verstärkt die AfD – auch mit seinem Unwissen

32 Vom Merkantilismus zum Merkelantismus

33 Der Freihandel als Retter oder die Phantasielosigkeit der Neoliberalen

34 Die FDP versteht den Freihandel nicht

35 Mit wem sich Freihandel lohnt – und mit wem nicht

36 Jeder sollte seinen Wohlstand nach Gusto verdienen – nur Analyse nach Gusto geht nicht

37 Kleine Steuern und große Lügen

38 Die deutsche Investitionsschwäche, eine Folge der Angebotspolitik

39 Sollen die Steuern für Reiche erhöht werden?

40 Kein Grund für niedrige Steuern für die Unternehmen

41 Ein offener Brief an den SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel

42 Wofür ist man, wenn man gegen eine Große Koalition ist?

43 Schäubles und Gabriels Personalentscheidungen: Kein Interesse an der Volkswirtschaft!

44 Schäuble im Rückwärtsgang, aber ohne Rückspiegel

45 Wieder versucht der Davos-Mensch die Welt zu retten – oder doch nicht?

Arbeit ist kein Produkt – und der Arbeitsmarkt
ist kein Markt

46 Arbeitszeitverkürzung mit vollem Lohnausgleich

47 Mindestlohn oder warum wir uns nicht wirklich von den alten Argumenten freimachen können

48 Vom Kampfeswillen und der Kampfesfähigkeit der deutschen Gewerkschaften

49 Riester-Rente am Ende – wer hatte etwas anderes erwartet?

50 Rentendebatte erneut auf dem niedrigsten denkbaren Niveau

51 1 : 12 war eine gute Idee

Klimawandel ist Strukturwandel – aber die Politik
hat Angst vor der eigenen Courage

52 Oh Schreck, ein Klimawunder

53 Stationäre Ökonomie – eine Antwort auf Arbeitslosigkeit und Umweltzerstörung?

54 Müssen sich Windräder dem Markt stellen?

Rohstoffe dürfen nicht zum Spielball der Speku
lation werden

55 Spekulation mit Rohstoffen: Aus unhaltbaren Argumenten wird niemals ein haltbarer Standpunkt

56 Rohstoffe im Lager, Kunde betrogen, Geld in der Bank

57 Die Börsen im Rekordrausch und die herrschende politische und ökonomische Leere

Die ökonomische Theorie versagt – weil
Gläubige nicht lernen wollen

58 »Die verlorene Freiheit« und das Versagen der Wirtschaftswissenschaft

59 Die Dynamik einer monetären Marktwirtschaft ist weiterhin unverstanden

60 90 Prozent – oder warum die herrschende Lehre falsche Berechnungen so schwer erkennt

61 Das Gleichheitsgespenst, die FAZ und der Markt

62 Angebotspolitik als Ersatz für Nachfragepolitik?

63 Wirken Auf- und Abwertungen oder wirken sie nicht?

64 Ben Bernanke in der Finanzmarktkuppel – ratlos

65 Stephen Roach über die ungerechte amerikanische Geldpolitik

66 Hat Paul Krugman recht oder hat er unrecht?

Nicht anders als vor einhundert Jahren ist die
Unfähigkeit zum Dialog das prägende Zeichen
unserer Zeit

Dank

Anmerkungen

Einleitung

Bei einem Streitgespräch, das ich Anfang 2013 in Berlin auf Einladung der ZEIT mit Michael Hüther, dem Direktor des von den Arbeitgebern finanzierten Instituts der Deutschen Wirtschaft in Berlin führte, kam es zu einem interessanten Austausch von Argumenten. Anlass der Veranstaltung war das fünfzigjährige Jubiläum des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.

Herr Hüther sagte, und das ist schwer zu bestreiten, selbst wenn man im Detail ganz anderer Meinung ist, dass sich in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts so große Veränderungen in Deutschland und der Welt ereignet hätten, dass die Wende weg vom Keynesianismus hin zum heute neoliberalen Mainstream zwingend war. Vor allem die Ölpreisexplosionen, die Umverteilung zugunsten der Arbeitnehmer und den Anstieg der Arbeitslosigkeit nannte er als die Faktoren, die eine geistige Wende sozusagen erzwungen hätten.

In der Tat, betrachtet man die zwei für die neoliberale, neoklassische Lehre zentralen Größen für die gesamte westliche Welt, kommt man kaum umhin, der großen Wende, die sich damals ereignet hat, eine gewisse Plausibilität zuzusprechen. Die Veränderungen der siebziger Jahre waren tatsächlich von tektonischer Art. Einerseits hatte sich die Verteilung stark zugunsten der Arbeitnehmer verschoben, die Lohnquote erreichte Mitte der siebziger Jahre einen historischen Höhepunkt. Aber unmittelbar danach kam es zu einem ebenfalls nur historisch zu nennenden Anstieg der Arbeitslosigkeit. Am Ende dieses Jahrzehnts begann dann die große Umverteilung zugunsten der Arbeitgeber; für die neoliberale Konterrevolution war der Grundstein gelegt.

Das belegt zwar keineswegs, dass es die berühmte »klassische Arbeitslosigkeit« war, die damals entstand, also Arbeitslosigkeit aufgrund zu hoher Löhne, aber der Anschein dessen ist nicht leicht von der Hand zu weisen. Da mit den Ölpreisexplosionen gleichzeitig die Inflation stieg und die Geldpolitik, geleitet vom neuen monetaristischen Dogma, weltweit eine Phase scharfer Restriktion einleitete, ist hier die eigentliche Ursache der Arbeitslosigkeit zu suchen. Unzweideutig belegt wird das von dem engen Zusammenhang von Investitionstätigkeit und Beschäftigung, den ich mit Friederike Spiecker in unserem Buch »Das Ende der Massenarbeitslosigkeit« klar aufgezeigt habe. Weil mit dem Einbruch der Beschäftigung in den siebziger Jahren auch ein Einbruch der Investitionstätigkeit einherging, kann von einer Veränderung der Produktionsstruktur hin zu kapitalintensiver Produktion, dem Kernstück der neoklassischen Lehre von der Arbeitslosigkeit, nicht die Rede sein.

Nach den Ölpreiskrisen sank die Lohnquote unter starken zyklischen Schwankungen bis heute auf einen historischen Tiefststand nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Arbeitslosigkeit sank ebenfalls leicht bis zum Jahr 2000, sie verharrte aber weit über Werten, die mit Vollbeschäftigung gleichgesetzt werden könnten.

Der entscheidende Bruch im Verhältnis zwischen Löhnen und Arbeitslosigkeit kam 2008. Trotz eines Tiefststandes bei der Lohnquote ist die Arbeitslosigkeit auf einen neuen Höchststand geschnellt. Das Niveau, das die Lohnquote 2011 und 2012 erreicht hatte, ist extrem niedrig im Vergleich zu allen Werten, die in den letzten sechzig Jahren registriert wurden.

Damit ist es unbestreitbar, dass durch die Finanzkrise eine neue »Qualität« der Arbeitslosigkeit entstanden ist. Von dieser kann, anders als in den siebziger Jahren, kein vernünftiger, auch kein vernünftiger konservativer Mensch sagen, es handele sich dabei um Arbeitslosigkeit nach dem Muster der siebziger Jahre und folglich müsse man mit Lohnsenkung darauf reagieren. Genau das Gegenteil ist naheliegend: Weil auf der ganzen Welt Arbeitslosigkeit entstanden ist, die absolut nichts mit zu hohen Löhnen zu tun hat, ist es extrem gefährlich, darauf mit Lohnsenkung zu reagieren, denn dadurch würde die Wirtschaft weiter destabilisiert und die Arbeitslosigkeit würde weiter steigen. Doch genau das wird üblicherweise von den Ökonomen und Politikern vertreten, die an die herrschende Lehre wie an eine Religion glauben.

Diese Überlegung bildet einen der Schwerpunkte meiner Auseinandersetzung mit dieser »Religion« in den folgenden 66 Thesen. Die Thesen, die in den einzelnen Kapiteln jeweils fett gedruckt sind, sollen Anstöße zum Nachdenken und zum Dialog geben, weil beides national und international vollkommen fehlt. Viele der Thesen haben einen konkreten Anlass, der mich aufhorchen und manchmal aufschreien ließ, doch wird hoffentlich deutlich, dass es bei all dem um eine grundsätzliche Weichenstellung geht. Die Thesen und ihre zugrunde liegenden Überlegungen müssen der Beginn einer neuen geistigen Wende sein. Gelingt sie nicht, ist das wirtschaftliche System, in dem wir leben, am Ende.

Die große Frage unserer Zeit:
Hat der globale Kapitalismus
einen Wendepunkt erreicht?

1 Die US-Wirtschaft und ihre unerkannte
Achillesferse

Ende 2013 zeigte sich mal wieder, dass die amerikanischen Kollegen, die sich ernsthaft und mit Sorge der Frage einer durchgreifenden Belebung der amerikanischen Wirtschaft widmen, keinen Schritt vorangekommen sind. Ein Vortrag meines ehemaligen Kollegen Larry Summers bei der Herbsttagung des Internationalen Währungsfonds und die Wellen, die er schlug, belegen das in großer Klarheit.1 Paul Krugman hat sich damit befasst, und in Deutschland hat Wolfgang Münchau in die gleiche Kerbe geschlagen. Alle befürchten, dass die traditionelle Geldpolitik nicht kraftvoll genug ist, um die Wirtschaft zu beleben, und sie fassen radikale Maßnahmen ins Auge, wie etwa negative Zinsen, um der vermeintlichen Liquiditätsfalle zu entkommen. Doch die Diagnose ist immer noch falsch. Die Nachfrage lässt sich nicht beleben, weil die Einkommenserwartungen der Mehrheit der Bürger schlecht sind, und nicht etwa, weil sie viel liquide Mittel in der Kasse halten wollen.

Für die USA lässt sich das so leicht bebildern, dass jeder, der frei von Vorurteilen ist und seine fünf Sinne beisammen hat, es sehen kann. Dort lagen laut Zahlen vom Arbeitsministerium (Department of Labor) die realen Bruttostundenlöhne in Preisen von 1982/84 (also inflationsbereinigt) in der privaten Wirtschaft (für Produktionsarbeiter, die keine Weisungsbefugnis haben, ohne Landwirtschaft) im September 2013 bei 8,79 US-Dollar (das entspricht etwa 20,25 US-Dollar nominal).2 Im Januar 2013 hatten die gleichen Löhne bei 8,78 US-Dollar gelegen. Im Durchschnitt des Jahres 2012 lagen sie bei 8,74 US-Dollar, 2010 bei 8,91 US-Dollar. Vor genau zehn Jahren, im Durchschnitt des Jahres 2003, war der Wert 8,55 US-Dollar.

Das alles passiert in einer Wirtschaft, in der die Stundenproduktivität nach der gleichen Quelle jedes Jahr um 1,5 bis 2 Prozent zulegt. Woher soll in den USA, die als große relativ geschlossene Volkswirtschaft fast vollständig vom privaten Konsum abhängig sind, der Aufschwung kommen, wenn die große Masse der Menschen davon ausgehen muss, dass sie abgehängt ist vom allgemeinen Fortschritt und angesichts dieser Erfahrungen keine positiven Einkommensperspektiven haben kann? Das geht nur noch über verzweifelte Versuche, positive »Vermögenseffekte« an den Börsen zu erzeugen, und mit der Hoffnung auf eine Absenkung der Sparquote der privaten Haushalte. Ein wenig davon erklärt den schwachen Aufschwung, den die USA derzeit verzeichnen. Sind die privaten Haushalte aber grundlegend skeptisch hinsichtlich der Dauerhaftigkeit der so geschaffenen »Werte«, ist die Geldpolitik irgendwann vollständig am Ende, weil selbst extreme Maßnahmen nicht mehr helfen.

Ist in dieser Situation die Fiskalpolitik aus ideologischen Gründen auch blockiert, könnte man nur über direkte Intervention in den Arbeitsmarkt einen Durchbruch erzielen. Der ist aber ebenfalls aus ideologischen Gründen selbst bei sonst recht fortschrittlichen Ökonomen tabu. Sie wollen nicht wahrhaben, dass der starke Anstieg der Arbeitslosigkeit während der Finanzkrise, also bei schon sehr niedrigen Löhnen, der klare Beweis dafür war, dass der Arbeitsmarkt ein destabilisierendes Element für die modernen Wirtschaften ist, weil die sich immer weiter zugunsten der Arbeitgeber verschiebenden Machtverhältnisse die Binnennachfrage systematisch schwächen und früher oder später neue Arbeitslosigkeit erzeugen.

Solange der Staat (wie in den USA) noch hohe Defizite hinnimmt, oder, wie im deutschen Fall, das Ausland, können die Unternehmen noch Gewinne machen, obwohl sie mit dem Druck auf die Löhne permanent an dem Ast sägen, auf dem sie sitzen.

Doch es kommt der Tag, an dem die Rechnung für die Lohndrückerei aufgemacht wird, an dem weder die öffentlichen Haushalte noch das Ausland als Reservenachfrager zur Verfügung stehen. Dann wird sich zeigen, dass die Fixierung der Wirtschaftspolitiker auf Unternehmer, denen Zusammenhänge außerhalb ihres betriebswirtschaftlichen Horizonts unbekannt sind, die Volkswirtschaft als Ganzes ins Verderben führt. Je später dieses Erwachen stattfindet, desto böser wird es sein.

2 Abenomics: Noch immer keine Lösung in der
Arbeitsmarktfrage

Abenomics, die expansive ökonomische Strategie, die nach Premierminister Abe benannt ist, verweist auf erste Erfolge. So ist Japan aus der Rezession entkommen und der Export hat kräftig angezogen. Allerdings hat das in erheblichem Maße mit der Schwäche des Yen zu tun, die mit dieser Strategie von Anfang an verbunden war. Abwertung der eigenen Währung ist aber natürlich nicht ausreichend, um dauerhaft erfolgreich zu sein, und steht unter permanentem Generalverdacht des beggar-thy-neighbour, bei dem die Handelspartner ganz schnell hellhörig werden und Gegendruck machen.

Nun will die Regierung Abe offenbar als »dritten Pfeil« ihrer Strategie auch »Strukturreformen« umsetzen, die die Wirtschaft beweglicher machen sollen. Ins Visier vieler Strategen ist dabei der japanische Arbeitsmarkt geraten, der traditionell ein hohes Maß an Beschäftigungsschutz für die Arbeitnehmer bietet, was so weit geht, dass auch in privaten Firmen eine Lebensanstellung durchaus die Regel ist.

Was aber kaum beachtet wird, ist die Tatsache, dass in Japan die nominalen Löhne seit vielen Jahren nicht mehr gestiegen und häufig sogar gefallen sind. Das hat vor allem die kaum noch aus dem System zu beseitigende hartnäckige Deflation hervorgebracht. Wer jedoch daraus folgert, Japan sichere wegen oder mit seiner schwachen Lohnentwicklung die Beschäftigung ab, liegt vollkommen falsch. Ganz am Anfang dieses Prozesses, also zu Beginn der neunziger Jahre, als Japan von dem Platzen seiner Spekulationsblasen getroffen in eine tiefe Rezession zu stürzen drohte, hat sicherlich die hohe Flexibilität der Löhne für kurze Zeit mitgeholfen, den Gewinndruck auf die Unternehmen zu verringern und so mehr Beschäftigung zu halten, als sonst möglich gewesen wäre. Das aber geht immer nur auf Kosten der Inlandsnachfrage und damit auch wieder indirekt auf Kosten der Beschäftigung. Wenn eine Blase platzt, die nichts mit dem Arbeitsmarkt zu tun hat, aber Arbeitslosigkeit produziert, ist Lohnsenkung einfach niemals eine angemessene Antwort.

Besser wäre es in einem solchen Fall, man würde, selbst um den Preis einer temporär steigenden Arbeitslosigkeit, die Lohnentwicklung auf der mittelfristig richtigen Linie weiterfahren und damit die Dynamik der Inlandsnachfrage schützen. Dann fällt es der Wirtschaftspolitik wesentlich leichter, die einmalig entstandene Arbeitslosigkeit durch expansive Geld- und Fiskalpolitik zu bekämpfen. Deflation ist dann ebenso ausgeschlossen wie eine lang anhaltende Schwäche der Inlandsnachfrage, und genau das hilft dabei, die Beschäftigung zu stabilisieren.

Sobald man sich aber auf die Neoklassik mit ihrer Arbeitsmarktflexibilisierung (was immer auf Lohnsenkung- oder Mindersteigerung im Vergleich zur Produktivität hinausläuft) verlässt, ist man verlassen. Es besteht die große Gefahr, dass man in Japan die ersten Erfolge von Abenomics durch »strukturelle« Anpassungen schnell wieder zunichtemacht. Den traditionellen Beschäftigungsschutz im Falle großer konjunktureller Schocks etwas zu lockern, mag notwendig sein. Ohne aber für die Zukunft die Löhne in dem Sinne zu sichern, dass man eine stabile Erhöhung entsprechend der Produktivität und der Zielinflationsrate vereinbart, kann man nichts gewinnen, sondern wird die Verunsicherung der Arbeitnehmer nur noch einmal vergrößern. Der Deflation wird man so niemals entrinnen.

3 Die Abenomics und die Lehren für den
Bundeswirtschaftsminister

Shinzo Abe, der japanische Premierminister hat sich die Statistiken über das internationale Lohnwachstum angesehen und war entsetzt, so berichteten die Medien, dass Japan so weit nach unten abfällt. Späte Erkenntnis, aber immerhin eine gute und klare Erkenntnis. Nun wollte er in einer konzertierten Aktion von Arbeitgebern und Arbeitnehmern dafür sorgen, dass die Lohndeflation rasch zu Ende geht und Japan wieder eine sich normal entwickelnde Volkswirtschaft wird. Auch das ist sehr richtig. Er sagte, dass die Löhne zwar von den Tarifpartnern bestimmt werden, dass aber der Staat Einfluss nehmen kann und muss. Der japanische Premierminister hätte noch fragen sollen, was eigentlich die Ökonomen in Japan und anderswo gemacht haben, die mehr als zwanzig Jahre an der Deflation herumrätselten. Und er sollte sich überlegen, ob er nicht hundert neue Lehrstühle für Makroökonomie einrichten will, auf die kein einziger neoklassisch-monetaristisch ausgebildeter Ökonom berufen werden darf, um der Volkswirtschaftslehre vom Land der aufgehenden Sonne einen Neuanfang zu ermöglichen.

Wie viele Jahre wird es hierzulande noch dauern, bis die deutschen Politiker verstehen, dass Lohnsenkung oder auch nur das Zurückbleiben der Reallöhne hinter der Produktivität eine fundamental falsche Politik ist? Sucht man die Antwort darauf im jüngsten einschlägigen Dokument, dem Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung, wird man nicht recht fündig. Zwar ist der Bericht im Vergleich zu seinem Vorgänger moderat im Ton und betont auch die Bedeutung der Löhne für die Nachfrage (explizit wird für die Prognose angenommen, dass die Reallöhne steigen wie die trendmäßige Produktivität), aber konsequent ist das bei weitem noch nicht.

Der Jahreswirtschaftsbericht erwartet für 2014 eine Zunahme der Bruttolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer von 2,7 Prozent, etwas mehr als 2013 (2,3) und weniger als 2012 (2,9). Das verfügbare nominale Einkommen der privaten Haushalte (2,9 im Jahr 2014 nach 2,1 im vergangenen Jahr) und der gesamte reale Konsum (1,4 nach 0,9) können in dieser Prognoserechnung nur deswegen 2014 deutlich stärker steigen als 2013, weil die Unternehmenseinkommen mit 4,6 Prozent nach 2,8 im Jahr 2013 deutlich stärker zulegen sollen. Erheblich zunehmende Gewinne soll es bei nur noch minimal steigendem Außenbeitrag geben (die Exporte nehmen in der Prognose weniger zu als die Importe, jedoch ausgehend von einem höheren Niveau), weil es laut Wirtschaftsministerium zu einer Investitionsbelebung (+ 4 Prozent) kommt.

Da befruchtet dann offenbar das eine das andere: Die Gewinne steigen, weil die Investitionen steigen. Doch warum steigen die Investitionen? Etwa weil die Gewinne steigen? Da bisse sich die Katze in den Schwanz. Weil der Konsum halbwegs wächst? Doch das tut er ja nur, weil die Gewinne steigen. Woher also kommt der Impuls, der den Zug ins Rollen bringt, auf den gern alle aufspringen wollen?

Nichts spricht für die vom Bundeswirtschaftsministerium prognostizierte Entwicklung außer der Hoffnung derjenigen, deren gesamtes Weltbild von der robusten Wirtschaft und den guten Investitionsbedingungen zusammenbräche, wenn die Investitionen erneut sänken. Und genau weil das so unrealistisch ist, fordert auch gleich der Arbeitgeberverband, die Investitionsbedingungen zu verbessern. Seit vielen Jahren sind alle Investitionsbedingungen – Lohnkosten, darunter selbstverständlich auch die Lohnnebenkosten, Steuern auf Gewinne, Steuern auf Vermögen und ein Großteil der Arbeitsbedingungen – im Sinne der Arbeitgeber massiv verbessert worden. Aber es hat immer an der einen entscheidenden Bedingung gehapert, nämlich der Binnennachfrage. Daher ist die Investitionstätigkeit tatsächlich miserabel geblieben, obwohl ihr doch der rote Teppich viele Meter weit ausgerollt wurde. Wäre es nicht an der Zeit, die wichtigste Investitionsbedingung endlich einmal grundlegend zu verbessern, nämlich die Nachfrage, darunter vor allem die der privaten Haushalte? Aber da will der Bundeswirtschaftsminister anders als der japanische Premier nicht ran.

Bezeichnend ist, dass der Bundeswirtschaftsminister die anderen Länder der EWU immer noch mahnt, ihre Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern, in seine eigene Prognose aber hineinschreibt, dass der Außenbeitrag von 6,1 auf 5,9 Prozent des BIP, also kaum spürbar, fällt (und absolut sogar steigt).

Nein, man muss schon konsequenter sein. Wer wirklich die soziale Marktwirtschaft erneuern und die Ungleichgewichte in Europa und der Welt abbauen will (wozu sich der neue Minister ganz zart bekennt), muss erkennen, dass in der Vergangenheit schreckliche Fehler gemacht wurden. Diese Fehler müssen korrigiert werden, bevor man zur Tagesordnung übergehen kann.

Würde man etwa einen deutlichen Abbau des außenwirtschaftlichen Überschusses für Deutschland in die Prognosetabelle schreiben, bliebe nur Katastrophe übrig. Der Export-Junkie Deutschland kann nicht so schnell von der Nadel. Deswegen braucht man wie in Japan eine wirklich fundamentale Wende in der Lohnpolitik und nicht nur ein leichtes Kürvchen nach oben. Hätte sich der neue Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel ernsthaft mit dem größten Problem Europas auseinandergesetzt, den Handelsungleichgewichten und die durch die Lohnsenkung im Süden in Gang gekommene Deflation, hätte er wie Herr Abe schreiben müssen, dass er entsetzt war, als er zum ersten Mal die Statistik der Löhne gesehen hatte.

Wesentlich mehr Mut bewies Präsident Obama, der den Mindestlohn für alle Beschäftigten, die im Auftrag der Regierung oder für den öffentlichen Dienst arbeiten, von 7,25 auf 10,10 US-Dollar anhob. Er hatte schon in seiner State of the Union Address die Ungleichheit zu einem wichtigen Thema gemacht, kann aber gegen den Kongress den Mindestlohn für alle nicht erhöhen. Dass der Staat sich stärker einmischen muss, ist für jeden vernünftigen Menschen sofort einsichtig. Man muss einfach zur Kenntnis nehmen, dass sich die Machtverhältnisse am Arbeitsmarkt immer mehr (gerade auch durch den Staat und seine berühmten »Reformen«) zugunsten der Arbeitgeber verschoben haben, so dass von einer Parität der Kräfte schon lange nicht mehr die Rede sein kann.

Vielleicht müsste man es einfach wie die Bundestagsabgeordneten machen: Man spendiert in einer konzertierten Aktion den Arbeitnehmern (und dabei vorrangig den unteren Lohngruppen) einmal einen ordentlichen Schluck aus der Pulle, damit der Nachholbedarf gedeckt ist (die zehn Prozent der Abgeordneten sind schon sehr gut), und dann verspricht man ihnen eine Gehaltsanpassungsregel, die auf Dauer sinnvoll ist. Letzteres kann nur heißen, dass dann die Nominallöhne wie die Produktivität und die Zielinflationsrate der EZB steigen. Aber das geht natürlich nicht, denn das liefert ja »der Markt« nicht von allein.

Ausnahmen vom »Marktergebnis« gibt es immer nur für die oberen Einkommensschichten. Die Kleinen müssen zufrieden sein mit dem, was ihnen »der Markt« zugesteht, dessen Regeln selbstverständlich von den Oberen bestimmt werden. Und dabei spielt es überhaupt keine Rolle, was gesamtwirtschaftlich – und das heißt: für alle zusammen – vorteilhaft und damit sinnvoll wäre. Denn als Volksvertreter oder gar Regierungsmitglied einen solchen überparteilichen, das Volk im wahrsten Sinne des Wortes vertretenden Standpunkt einzunehmen, liegt für die einen außerhalb ihrer Denkmöglichkeiten, für die anderen ist es schlicht nicht attraktiv genug im Vergleich zu dem, was man als Lobbyist für sich selbst herausholen kann. Aber über die Südeuropäer mit ihren korrupten Systemen ziehen wir doch gerne mit Häme her!

4 Wachstumsschwäche in Brasilien und vielen
anderen Entwicklungsländern – warum es nicht
so vorwärts geht wie es sollte

Ich werde oft gefragt, wie es kommt, dass eine Gruppe der Entwicklungsländer, die asiatischen vor allem, über viele Jahre schon gute Fortschritte machen beim Aufholen gegenüber den Industrieländern, während andere, vor allem die Länder Lateinamerikas sich dabei viel schwerer tun. Insbesondere zu Brasilien, wo derzeit die Wirtschaft nur noch ganz langsam wächst, wird oft gefragt, warum die sozialdemokratische Regierung, die nunmehr schon in der dritten Amtszeit an der Macht ist, nicht energischer eine ganz andere Wirtschaftspolitik durchgesetzt hat.

Das sind keine einfachen Fragen, weil die Länder doch sehr unterschiedlich sind und man nicht leichtfertig verallgemeinern sollte. Gleichwohl gibt es einige wichtige Muster, die den Kern der Geschichte erklären. Für Brasilien gab und gibt es zudem interne und externe Restriktionen, die man nicht vernachlässigen darf.

Zunächst muss man zur Kenntnis nehmen, dass es keine weitgehend anerkannte und bewährte Entwicklungstheorie gibt, auf deren Basis die Wirtschaftspolitik in einem Entwicklungsland agieren könnte. Viele Entwicklungsländer bemühen sich, auf der Basis der neoklassischen Wachstumstheorie die Bedingungen herzustellen, die in diesen Modellen gegeben sein müssen, damit man einen Zuwachs der gesamtwirtschaftlichen Produktion erzielen kann. Das endet dann oft damit, dass die Länder glauben, sie müssten die Sparquote der privaten Haushalte erhöhen, um Wachstum zu erzielen. Die Wachstumstheorie ist aber keine positive Theorie des Wachstums, sondern eine Definitorik, die sagt, was unter bestimmten Umständen und Annahmen gegeben sein muss, damit das Modell, das sie beschreibt, Wachstum zulässt.

Um zu ermessen, wie weit die meisten Entwicklungsexperten von einer vernünftigen Einschätzung bezüglich der Voraussetzungen für wirtschaftliche Dynamik entfernt sind, muss man sich vor Augen halten, dass man den Entwicklungsländern auf der Basis der beiden obengenannten Modelle über Jahrzehnte aus Richtung Norden eingeredet hat, sie hätten eine Sparlücke (weil die Haushalte dort zu arm sind, um zu sparen), die sie nur dadurch schließen könnten, dass sie Kapital aus dem Norden vollkommen ungehindert ins Land lassen. Auch glauben viele sogenannte Entwicklungstheoretiker immer noch fest daran, dass die gesamte keynesianische Lehre nichts für die Entwicklungsländer sei, weil die ja nur von der kurzen Frist handele, während es bei Entwicklung doch um etwas Langfristiges gehe. Außerdem ist den Entwicklungsländern – den Zentralbanken dort vor allem – vom Internationalen Währungsfonds eingehämmert worden, dass nur monetäre Härte im Sinne des Monetarismus ein probates Mittel gegen allfällige Inflationsgefahren ist. Schließlich, und das ist das Schlimmste, glaubt man hier wie dort in der Regel fest daran, dass der Arbeitsmarkt flexibel sein muss, was natürlich kollektiv abgeschlossene Verträge und Eingriffe des Staates zugunsten einer vernünftigen Verteilung ausschließt.

Unter dem Druck solcher Theorien und den sie unterstützenden Institutionen ist es auch für neu gewählte, relativ aufgeklärte Politiker schwer, sich von den alten Konzepten zu emanzipieren. So ist es der ersten und zweiten Regierung Lula in Brasilien nicht gelungen, der monetären Orthodoxie, die im Finanzministerium und in der Zentralbank herrschte, energisch entgegenzutreten. Zwar gibt es mittlerweile einige Aufweichungstendenzen, aber an der Grundeinstellung in beiden Institutionen hat sich wenig geändert. Das hat dazu geführt, dass der gesamte Entwicklungsprozess in den letzten zehn Jahren von monetärer Orthodoxie überschattet wurde. Ganz konkret bedeutete das, dass die Zinsen durchweg extrem hoch und meist zu hoch waren. Das gilt einerseits für die Zinsen, die von der Zentralbank gesetzt werden, aber noch mehr für die von den Banken der Privatwirtschaft abverlangten Zinssätze. Angesichts einer von vielen hochinflationären Phasen durchzogenen Vergangenheit, gilt auch vielen auf der Linken monetäre Disziplin als unumgänglich, um erfolgreich sein zu können. Da man zudem die »Märkte« nicht verschrecken wollte, blieb die Zentralbank unabhängig und durch und durch orthodox.

Das führte dazu, dass über fast alle Jahre der neuen Regierungen die realen Zinsen im Land in einer Größenordnung verharrten, die ein sich selbst tragendes Wachstum fast unmöglich machte. Der kurzfristige Nominalzins startete extrem hoch und fiel in den vergangenen zwölf Jahren trotz eines Wachstums von unter fünf Prozent nur einmal unter acht Prozent, obwohl die Inflationsrate meist nicht weit über fünf Prozent lag. Angesichts des moderaten realen Wachstums war dieser Zins zu hoch für eine boomende Investitionstätigkeit jenseits der Rohstoffsektoren, die natürlich für einige Zeit im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts eine Bonanza erlebten.

Die Restriktionswirkung hoher Zinsen wird besonders deutlich, wenn man die von den privaten Banken verlangten Kreditzinsen anschaut. Dort herrscht offenbar so wenig Wettbewerb, dass die Margen extrem hoch und die Ausleihezinsen geradezu prohibitiv für die meisten Investitionen sind. Der Ausleihezins privater Banken lag selbst in den letzten Jahren nie unter 30 Prozent und damit in einem Bereich, der weder für kleine Unternehmen noch für Privatleute eine Verschuldung über längere Zeit möglich macht. Das Einzige, das eine gewisse Entlastung für die Unternehmen in Brasilien schafft, ist die Tatsache, dass mit der staatlichen Entwicklungsbank (BNDES) eine Institution bereitsteht, die in großem Stil Kredite zu vernünftigen Konditionen für unternehmerische Investitionen vergibt.

Das extrem hohe Zinsniveau hatte aber eine weitere sehr wichtige und unerwünschte Folge. Bei zunächst weitgehend unbeschränktem Kapitalverkehr lockten die hohen kurzfristigen Zinsen in Brasilien jede Menge ganz kurzfristiges internationales Kapital an. Mit diesem Kapital konnte man zwar nicht investieren, es hat der brasilianischen Volkswirtschaft aber sowohl hinsichtlich der direkten Kosten, die durch die Bedienung der Zinsen entstanden sind, als auch hinsichtlich seiner Wirkung auf den Wechselkurs der brasilianischen Währung (Real) schwer geschadet. Carry trade mit dem brasilianischen Real war eines der lukrativsten Geschäfte im globalen Währungshandel in den letzten zehn Jahren. Dabei wurden Gelder aus dem japanischen Yen, aus Schweizer Franken oder später aus dem Dollar, wo die Zinsen sehr niedrig waren, nach Brasilien gekarrt und in Real getauscht, um die Zinsdifferenz auszunutzen. Das aber hatte zur Folge, dass der Real über viele Jahre sehr stark aufwertete, obwohl Brasilien angesichts seiner relativ hohen Inflation eine Abwertung gebraucht hätte. Die gegen alle Marktfundamentalfaktoren zu beobachtende starke reale Aufwertung des Real hat die brasilianische Industrie in ihrem Aufholprozess weit zurückgeworfen.

Der brasilianische Finanzminister sprach daraufhin von einem Währungskrieg und bemühte sich bei verschiedenen internationalen Institutionen (IWF und WTO vor allem) um Hilfe, aber ohne Erfolg. Die in diesem Fall offensichtliche und von niemandem zu bestreitende Fehlallokation von Kapital durch die Finanzmärkte wird einfach ignoriert, weil sie nicht in das ideologische Konzept des Nordens passt. Erst durch massive Eingriffe in die Freiheit des Kapitalverkehrs gelang es, die Aufwertung zu stoppen, freilich ohne zu einem mit angemessener Exportdynamik und ausgeglichener Leistungsbilanz verträglichen Wechselkurs zurückkehren zu können.

Das eigentlich Problem in Brasilien wie in den meisten Entwicklungsländern – außerhalb einer kleinen Gruppe erfolgreicher Länder in Asien – ist jedoch die mangelnde und unsystematische Beteiligung der Menschen am Produktivitätsfortschritt. Zwar gab und gibt es Indexierungsmechanismen, die die Löhne in der einen oder anderen Weise an die Inflation koppeln, aber eine systematische Beteiligung am Produktivitätsfortschritt gibt es nicht. Da diese Garantie für wirtschaftlichen Erfolg inzwischen auch in den nördlichen Ländern mehr und mehr abgebaut wird, entsteht in den Entwicklungsländern auch gar kein Bewusstsein dafür, wie zentral der Mechanismus der Partizipation für nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung ist. Der Flexibilisierungswahn zusammen mit dem Exportwahn fordert auf der ganzen Welt seine Opfer.

5 Ägypten und Nordafrika: Die Revolution,
die nicht sein durfte

In den Wirren des vom Militär erzwungenen Machtwechsels in Ägypten kommen wirtschaftliche Kategorien fast nicht mehr vor. Man beklagt mangelnde Demokratie, den Islamismus und hofft auf das Wunder, dass sich in diesen Ländern eine politische Gruppierung fände, die nicht nur die Demokratie wiederbelebt und stabilisiert, sondern auch die wirtschaftlichen Probleme löst. Es ist in der Diskussion der Ereignisse mittlerweile auch weitgehend verlorengegangen, dass die Revolution in Nordafrika, die von Tunesien ausging, eine Revolution war, die zuallererst die wirtschaftlichen Verhältnisse grundlegend ändern wollte.

Ich hatte mich mit meinem Team bei UNCTAD sehr früh darum bemüht, mit den nach-revolutionären Regierungen ins Gespräch zu kommen, und es gab auch sehr gute Ansätze und viel guten Willen von Seiten der Länder, intensive Diskussionen zu führen, um ein neues wirtschaftspolitisches Konzept zu erarbeiten, ein Konzept nämlich, bei dem die Partizipation der Menschen an den wirtschaftlichen Erfolgen im Vordergrund stehen sollte. Wer wissen will, warum das schiefging und die Ergebnisse der Revolution so kläglich sind, muss nicht in diesen Ländern nach den Gründen suchen, sondern in erster Linie bei den internationalen Finanzorganisationen in Washington und den Verantwortlichen für diese Institutionen in den westlichen Hauptstädten, Berlin natürlich eingeschlossen.

Die Politiker in vielen nordafrikanischen Ländern rühmten sich vor den revolutionären Ereignissen der letzten Jahre ob ihrer großen wirtschaftlichen Erfolge. Fünf bis sieben Prozent Wachstum habe man zumeist in den 2000er Jahren erzielt und damit einen Aufholprozess fast in asiatischem Tempo vorzuweisen. Wenn man fragte, wohin die Einkommen geflossen seien, bekam man in der Regel keine klare Antwort. Es ist aber absolut klar, dass ein Land, das ein Wachstum des Bruttoinlandsprodukts von sieben Prozent hat, einen erheblichen Produktivitätsfortschritt aufweist. Als Faustregel kann man nehmen, dass etwa drei Viertel des Wachstums auf Produktivitätserfolge zurückzuführen sind und nur ein Viertel auf den Zuwachs der Beschäftigung (die beide zusammen definitionsgemäß das Einkommen ausmachen). Bei einem Produktivitätszuwachs von fünf Prozent, der der Bevölkerung über steigende Reallöhne zugutegekommen wäre, hätten die Einkommen der meisten Menschen in den nordafrikanischen Ländern kräftig steigen müssen. Aber auch in den offiziellen Statistiken suchte man diese Verbesserung der Lebensbedingungen vergeblich.

Das ist ja auch klar, weil die Modelle, die in diesen Ländern verfolgt wurden, eine solche Beteiligung der Menschen nicht vorsahen. Die meisten dieser Länder waren permanent unter der Betreuung der Weltbank und des IWF und hatten natürlich einem neoliberalen Wirtschaftsmodell zu folgen, das vor allem die inzwischen berühmte Flexibilität am Arbeitsmarkt vorschrieb, aber nicht die Beteiligung der Menschen am allgemein erarbeiteten Fortschritt.

Was tut eine post-revolutionäre Regierung, um das zu ändern? Geht sie zum IWF und bittet darum, doch das über viele Jahre unter Anleitung des IWF praktizierte und schließlich gescheiterte Konzept zu überprüfen und grundlegend zu ändern? Das könnte sie versuchen, aber es würde nichts nützen. Man würde ihr nämlich sagen, dass es gar kein ernstzunehmendes alternatives Modell gibt und dass es das Geld des IWF – das eine post-revolutionäre Regierung wegen des revolutionsbedingten wirtschaftlichen Einbruchs wahrscheinlich noch dringender brauchte als die alte Regierung – und sonstige Unterstützung selbstverständlich nur zu den üblichen Konditionen des IWF gibt.

Das entscheidende Problem, das jede neue Regierung zu lösen hat, ist die Stabilisierung ihrer Währung. Da fast alle Länder in einer ähnlichen Situation wie Nordafrika vor der Revolution (sofern sie nicht über großen Ölreichtum verfügen) Leistungsbilanzdefizite aufweisen, sind sie auf eine Finanzierung durch die Kapitalmärkte angewiesen. Diese wird schwieriger, je schwächer die eigene Währung ist, und normalerweise reichen die Devisenreserven nicht aus, um effektiv am Devisenmarkt zu intervenieren. Zupackende Kapitalverkehrskontrollen sind entweder vom IWF untersagt (selbst wenn die IWF-Statuten sie erlauben) oder schwer durchzusetzen und zu implementieren. Unterstützung gibt es in diesem Fall – und das ist keine Übertreibung – nur vom IWF auf dieser Welt, weil praktisch alle anderen potenziellen Geldgeber ihre Hilfe von der Existenz eines IWF-Programmes abhängig machen. Ägypten zum Beispiel hat bis zuletzt mit dem IWF um einen Beistandskredit von vier Milliarden US-Dollar gerungen, weil die Regierung, obwohl ohne eigenes wirtschaftspolitisches Konzept, nicht ohne weiteres die Bedingung des IWF akzeptieren wollte.

Selbst wenn also eine post-revolutionäre Regierung die wirtschaftspolitische Kompetenz hätte (die sie in der Regel nicht hat), um den IWF herauszufordern, gäbe es kaum eine Chance, sich gegen die westlichen Kreditgeber und die hinter ihnen stehenden Regierungen durchzusetzen. So hat die Regierung von Tunesien 2013 eine neue Vereinbarung mit dem IWF getroffen, die die Tür öffnet für eine neues neoliberales »Hilfsprogramm«.3

Was also bleibt vom revolutionären Elan, wenn man eine solche Vereinbarung abschließen muss, um wirtschaftlich überhaupt ohne ganz große Verwerfungen in den nächsten Wochen und Monaten über die Runden zu kommen? Nicht viel. Und dass diejenigen, die auf der Straße für eine neue Politik gekämpft haben, sich die Augen reiben und sich fragen, wofür sie ihr Leben riskiert haben, ist auch nicht verwunderlich. Und dass sie immer wieder aufs Neue versuchen, die Dinge mit Gewalt zu ändern, weil sie die Zusammenhänge gar nicht verstehen können, ist ebenfalls keine Überraschung.

Schließlich muss man wie so oft konstatieren, dass die westlichen Regierungen Anteilnahme mit den Demonstranten heucheln, weil die sich in der Regel für eine säkulare Form der Demokratie engagieren, durch die Hintertür jedoch den zumeist von gutem Willen beseelten, aber mit geringer Sachkenntnis gesegneten demokratischen Kräften bei ihren Kernanliegen das Wasser abgraben. Statt offen die Probleme und Anliegen der Bevölkerung zu diskutieren und den neuen Regierungen mit Rat und Tat, aber ohne direkte Einmischung zur Seite zu stehen, werden die unerfahrenen Revolutionäre sofort über den Tisch gezogen – und die neoliberale Agenda ohne Rücksicht auf Verluste durchgesetzt.

6 Die wirtschaftliche Lage in der Ukraine und die
Herausforderungen für eine neue Regierung

Was man schon sehr früh klar sehen konnte: Die Ukraine wird zum nächsten Kandidaten für eine gescheiterte Revolution, weil der Westen jeder neuen Regierung als Gegenleistung für Kredite Bedingungen auferlegt, die den Sinn der Revolution sofort zunichtemachen. Tunesien und Ägypten lassen grüßen.

Die Ukraine war in einer vergleichbaren Lage wie die osteuropäischen Länder Kroatien, Bulgarien und Rumänien. Wachstum gab es nach einer kurzen Erholung unmittelbar nach der Finanzkrise nicht mehr, weil der Konsum, auf den sich das Wachstum bis dahin gestützt hatte, nicht mehr expandieren konnte. Man versuchte nämlich, Lohnsteigerungen zu verhindern, weil die internationale Wettbewerbsfähigkeit akut gefährdet war. Allerdings war die Situation in der Ukraine noch dramatischer als in Bulgarien und Rumänien, denn das Land wies auch danach noch ein riesiges Leistungsbilanzdefizit auf. Das bedeutete, dass die Ukraine einen hohen Bedarf an Finanzierung über die Kapitalmärkte hatte.

Nach Schätzungen des Internationalen Währungsfonds lag die Zunahme des (realen) privaten Konsums noch 2011 und 2012 im zweistelligen Bereich (über 15 Prozent Zunahme im Jahr 2011). Erst 2013 kam es hier zu einem deutlichen Dämpfer. Die Exporte brachen schon 2011 ein, und das gesamte Wachstum kam ab 2012 zum Erliegen. Das ist der typische Fall eines Landes, das versucht hat, seine Transformation in eine Marktwirtschaft auf der Basis von heimischen Nachfrage- und Lohnsteigerungen (die in einem sehr armen Land natürlich heiß ersehnt werden) zu vollziehen und immer wieder an Grenzen stößt, weil die Inflation erheblich zulegte. Solche Länder scheitern dann regelmäßig an der Leistungsbilanzschranke.

Die zweimalige massive Beschleunigung der Inflation Anfang der 2000er Jahre und kurz vor der Finanzkrise zeigt, dass das Land immer auf Messers Schneide gestanden hat. Solch eine Entwicklung wäre nur verkraftbar, wenn die heimische Währung konsequent und unmittelbar die sich dadurch ergebenden Inflationsdifferenzen zu den Handelspartnern mit entsprechenden Abwertungen quittieren würde. Das ist aber regelmäßig nicht der Fall gewesen, weil auf den Finanzmärkten mit den Währungen solcher Länder spekuliert wird.

Auch die Ukraine war ein Opfer der carry trader, durch deren Finanzgeschäfte dem Land kurzfristiges Geld zufließt dank der hohen Zinsen, die in einem solchen Land wegen der relativ hohen Inflation herrschen. Folglich wird die Währung solcher Länder sogar gegen jede Vernunft auf- und nicht abgewertet. Das führt schließlich zu einer Überbewertung und einem Verlust an Wettbewerbsfähigkeit, der nicht mehr ausgeglichen werden kann außer durch eine starke Abwertung.

Hier kommt die Politik ins Spiel, die regelmäßig solche Abwertungen zu verhindern versucht, und stattdessen auch unhaltbare Wechselkurse verteidigen möchte. Abwertungen sind natürlich unpopulär, weil entweder viele heimische Unternehmen und Privatpersonen in ausländischer Währung verschuldet sind und/oder weil – ganz banal – Importe teurer werden, an die sich die Konsumenten gerade gewöhnt haben oder die – wie Öl und Gas – sogar lebensnotwendig sind.

Die Ukraine hat im Jahr 2008 zum letzten Mal deutlich abgewertet, nachdem sie zwischen 2004 und 2008 erheblich aufgewertet hatte. Das war nach den Vermutungen einiger Beobachter einer der Gründe für den Wahlverlust von Julija Timoschenko 2010. Weil man aber um das Problem der Wettbewerbsfähigkeit weiß, wird Druck auf die Löhne ausgeübt, was dann auch die heimische Nachfrage zum Stillstand bringt und die gesamte Wirtschaft in eine unlösbare Situation manövriert.