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Nick Lake

Das Blut des Assassinen

Buch

Um seine Familie zu rächen, hat der junge Fischer Tarō alles aufgegeben, was ihm zuvor etwas bedeutet hat, und wurde zum Vampir und Mörder. Nun, da er seine Rache vollendet glaubt, will er dem Weg des Schwertes abschwören. Da erhält er die Nachricht, dass seine Mutter noch am Leben ist, und er bricht unverzüglich auf, um ihr beizustehen. Doch er kommt zu spät! Außer sich vor Zorn und Trauer begibt Tarō sich erneut auf den blutigen Pfad der Rache – wohl wissend, dass eine Konfrontation mit seinem Erzfeind Lord Oda unausweichlich ist.

Entsetzt beobachtet Tarōs Freundin Hana seine Verwandlung. Sie ist die Einzige, die in ihm noch den sanften Jungen erkennen kann, in den sie sich einst verliebt hat. Doch kann sie ihn noch erreichen? Oder wird sie den Mann, den sie liebt, an Hass und vampirische Blutgier verlieren?

Autor

Nick Lake ist Jugendbuch-Lektor bei HarperCollins mit einem Oxford-Abschluss in Englisch. Er lebt mit seiner Frau in Oxfordshire.

Von Nick Lake bei Blanvalet lieferbar:

1. Der Novize des Assassinen

2. Das Blut des Assassinen

Nick Lake

Das Blut des Assassinen

Roman

Aus dem Englischen von
Katharina Groß

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Die englische Originalausgabe erschien
unter dem Titel »Blood Ninja II: The Revenge of Lord Oda«
bei Simon & Schuster, London.

1. Auflage

Deutsche Erstausgabe April 2012 bei Blanvalet, einem Unternehmen der
Verlagsgruppe Random House GmbH, München.

Copyright © der Originalausgabe 2010 by Nick Lake

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012
by Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlagmotiv: bürosüd°, München

Redaktion: Alexander Groß

HK · Herstellung: sam

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

ISBN 978-3-641-14025-0

www.blanvalet.de

Für meine Mutter.
Danke, dass du mir so früh das Lesen beigebracht hast.

Im portugiesischen Hafen von Nagasaki,
Japan, 1566

Es war Nacht.

Es musste immer Nacht sein.

Der Blinde strich mit den Fingerspitzen an der Holzwand des Lagerhauses entlang und näherte sich so langsam der Tür. Der scharfe Geruch von Seetang und Salzwasser umgab ihn, als reckte das Meer seinen Herrschaftsanspruch bis in die Luft hinaus. Es regnete stark – der Blinde konnte hören, wie die Tropfen links von ihm aufs Wasser klatschten.

Das Lagerhaus war länger, als er erwartet hatte. Fast kam es ihm so vor, als schiebe er sich schon den ganzen Abend daran entlang. Aber es musste natürlich groß sein. Hier lagerten die Namban – die Barbaren aus dem Süden – die Waren, die sie in ihren riesigen, dickbäuchigen Schiffen aus China hierherbrachten: Seide, Silber, Porzellan.

Und Feuerwaffen.

»Was siehst du?«, fragte er Jun, den Jungen, der vor ihm herging.

»Ein Barbarenschiff liegt vor Anker. Die Lampe am höchsten Mast brennt, aber ich sehe keine Seeleute.«

»Gut. Und die Tür des Lagerhauses?«

»Vor uns, glaube ich. Da ist eine dunklere Stelle.«

Der Blinde nickte. »Führ mich dorthin.«

Jun nahm seine Hand. Der Blinde spürte, wie der Junge erschauerte, als er die vernarbte, raue Haut berührte. Dann zog Jun ihn sacht vorwärts. Sie trugen Stoffschuhe an den Füßen. Die Dunkelheit verbarg sie, und der prasselnde Regen übertönte ihre leisen Schritte.

Der perfekte Abend für ihre Arbeit.

Jun blieb stehen, und der Blinde streckte die Arme aus. Er strich mit den Händen über die Tür, die Angeln und den metallenen Griff nach Art der Barbaren. Dann runzelte er die Stirn. Wo die Tür an der anderen Seite auf den Rahmen treffen sollte, ertastete er einen schmalen, senkrechten Spalt.

Die Tür war offen.

Der Blinde hielt den Atem an und bedeutete Jun, ganz still zu sein. Zusammen hatten sie alles genau geplant – sie hatten festgestellt, wann die Seeleute sich unter Deck betrinken würden, und den Wächter bestochen, der sie hier am Eingang zum Lager treffen sollte. Der Blinde würde ihn bewusstlos schlagen und die Waffen stehlen, ehe sie ins Landesinnere geschmuggelt und dem falschen Fürsten übergeben werden konnten.

»Öffne ganz langsam die Tür«, flüsterte er Jun zu. »Sag mir, was du siehst.«

Ein leises Knarren war zu hören. »Da ist ein Tisch«, hauchte Jun. »Rotes Fleisch auf einem Teller, halb aufgegessen. Und ein Glas voll Blut.«

»Rindfleisch und Wein«, sagte der Blinde. »Kein Blut.« Er wusste, dass die Barbaren das Fleisch der sanften Kühe aßen und einen roten Alkohol tranken, der aus Trauben gewonnen wurde. Er hatte auch gehört, dass sie diesen Wein in ihren Kirchen tranken und ihn als das Blut ihres Gottes bezeichneten. Allerdings hielt er es für möglich, dass dies nur eines der wilderen Gerüchte über die Anhänger dieses Kirishitan war.

»Noch etwas?«, flüsterte er.

»Neben dem Tisch liegt eine lange Kiste auf dem Boden. Sie ist aufgebrochen worden.«

»Liegt etwas darin?«

»Nein. Sie ist leer. Und da ist …« Ein scharfes Einatmen. »Da ist etwas auf dem Boden. Es könnte Wein sein oder …«

Blut.

Er hörte, wie Jun sich bückte und etwas vom Boden aufhob. Dann wurde ihm ein schwerer, kalter Gegenstand in die Hände gedrückt. Er drehte ihn herum und ertastete sich ein Bild davon. Eine Leiste mit zwei Sprossen, die an den Seiten herausragten.

Ein Kreuz.

Der Blinde hatte so etwas schon gesehen, ehe ihm die Augen ausgebrannt worden waren. Die barbarischen Kirishitan verehrten dieses Symbol und behaupteten, an ein solches Kreuz genagelt sei ihr Gott gestorben. Der Blinde fand es merkwürdig, dass sie vor eben dem Ding niederknieten, das ihren Gott getötet hatte – aber wenn man das Fleisch der Kuh essen konnte, die der Buddha für heilig erklärt hatte, und Blut in den Kirchen trank, war es wohl beinahe eine Kleinigkeit, den Tod seines Gottes zu feiern.

Was das Trinken von Blut anging, durfte er ihnen natürlich keine Vorwürfe machen.

Der Blinde steckte das Kreuz in eine Tasche, die innen in seinen Kimono eingenäht war. Am oberen Ende war eine Kette befestigt, und er nahm an, dass jemand es bis vor Kurzem um den Hals getragen hatte. Der Wächter vielleicht. Irgendetwas war hier geschehen, und jetzt waren die Gewehre höchstwahrscheinlich weg.

Er fluchte leise. »Wir sollten gehen«, flüsterte er Jun zu. Offenbar hatte außer ihm noch jemand von den Waffen erfahren. Dieser Jemand war hier gewesen, hatte den Wächter getötet oder verschleppt und die kostbare Ladung gestohlen.

Das war ärgerlich, überraschte ihn aber nicht. Er hatte sich selbst nach Süden aufgemacht, sobald er das Gerücht vernommen hatte. Die Portugiesen hatten mit ihrer jüngsten Fracht neuartige Gewehre mitgebracht, hieß es – Waffen, in denen ein metallenes Rad einen Funken erzeugte, der das Schießpulver entzündete. Im Gegensatz zu den Gewehren mit Lunte konnte man die neuen Waffen also auch bei Regen zuverlässig abfeuern. Der Blinde wusste, dass viele Fürsten bereits Gewehre besaßen – Daimyō Oda hatte angeblich mehrere tausend Stück des portugiesischen Modells nachbauen lassen und sogar Regimenter seiner Samurai an diesen Waffen ausgebildet. Aber sie waren so lang wie Speere, unhandlich und nutzlos bei nasser Witterung.

Der Blinde hatte in vielen Schlachten gekämpft und war mit der brutalen, aber schlichten Kunst des Krieges vertraut. Auf Feuerwaffen zu setzen, die durch das Wetter unbrauchbar gemacht werden konnten, war keine gute Strategie. Doch als Einziger Feuerwaffen zu besitzen, denen die Elemente nichts anhaben konnten? Dafür würde man über Leichen gehen.

Während er, geführt von Jun, denselben Weg wieder zurückging und mit den Fingerspitzen an der Holzwand entlangstrich, fragte er sich, wer das getan haben mochte. Wer konnte ihm zuvorgekommen sein? Oda war tot – in seinem eigenen Turm getötet. Vielleicht war es Ōmura Sumitada, der zur Religion der Kirishitan übergetreten war und sich jetzt Bartolomeu nannte. Sumitada war derjenige, der Nagasaki den Barbaren übergeben hatte. Als Gegenleistung bekam er die erste Wahl bei jeder Ladung Seide, die man in Japan nicht mehr gesehen hatte, seit die Chinesen sich weigerten, sie Japanern zu verkaufen – aus Protest gegen die japanischen Piraten, die immer wieder ihre Handelsschiffe angegriffen hatten.

Doch der Blinde hatte bereits Erfahrung mit den Missionaren gemacht, die den portugiesischen Hafen leiteten, und er wusste, dass sie nicht dumm waren. Sie brauchten Daimyō Ōmura wegen des Handelshafens, doch ihnen war klar, dass er für die Zukunft Japans keine Bedeutung hatte – er war kaum mehr als ein Blatt, das auf einem Teich trieb. Die Wellen, die das Blatt bewegten, waren die wirklich mächtigen Fürsten wie Tokugawa.

Außerdem war Ōmura Sumitada ein Feigling, kein Stratege. Unter den Samurai war er zum Gespött geworden, weil er zum Glauben der Barbaren konvertiert war, und die Bauern in seinem Fürstentum hassten ihn. Der Blinde hatte sogar gehört, dass Sumitada-Bartolomeu einmal bei einem Spaziergang auf den Schrein einer Hahnengottheit gestoßen war, die man in jener Gegend verehrte. Er hatte die Statue des Hahns zerschlagen, kreischend Flüche gegen die Shintō-Götter ausgestoßen und irres Zeug über Götzenbilder geredet. Wäre er irgendein Geringerer als ein Fürst gewesen, hätte man ihn für diese Schmähung auf der Stelle getötet.

Daimyō mochte er sein, doch der Blinde glaubte nicht, dass Ōmura Sumitada noch länger als ein Jahr überleben würde.

Das Geräusch des Regens änderte sich, und der Blinde wurde gewahr, dass Jun stehen geblieben war. Er hörte Schritte, die sich ihnen von hinten näherten.

Viele Füße, die sich schnell bewegten.

»Wer ist das?«, fragte er, als die Schritte sie umzingelten.

»Barbaren«, sagte Jun mit bebender, nervöser Stimme. »Ihre Arme sind tätowiert, und sie tragen Dolche.«

»Seeleute?«, fragte der Blinde.

»Ich weiß nicht. Sie sind groß und weiß und haben grüne und blaue Augen, wie Katzen.«

Portugiesen, dachte der Blinde.

Er hörte einen der Männer – rechts vor ihm – auf Japanisch mit starkem Akzent sagen: »Halt, ihr Diebe.«

Der Blinde hob die leeren Hände. »Wir haben nichts gestohlen.«

Der Barbar – der Blinde vermutete, dass sein Gegenüber der Anführer war, vielleicht sogar der Kapitän des Schiffes – trat einen Schritt vor. »Unsere Wache ist weg. Unsere Gewehre sind weg. Und ihr seid hier.«

Der Blinde wich zurück, bis er mit dem Rücken an der Wand stand. »Wir können diese Angelegenheit klären wie …«

»Nein. Wir klären das mit eurem Tod.« Waffen wurden gezogen, und Jun schrie, als die Männer vordrangen.

Der Blinde war noch kein alter Mann, und er fürchtete den Tod. Aber er war aus freien Stücken hier – der Junge war hier, weil er dafür bezahlt wurde. Der Blinde packte Jun bei den Armen, zog ihn an die Wand und deckte ihn von der Seite mit dem eigenen Körper. Im selben Augenblick formte er mit der Hand die Karanamudra, mit der man Geister austrieb – Zeigefinger und kleiner Finger ausgestreckt –, eine Waffe, getarnt als Meditationspraxis. Er schlug mit den hart gespannten Fingern auf den Druckpunkt am Hals des Jungen, was ihn mindestens für die Länge eines Räucherstäbchens bewusstlos machen würde. Jun sackte zu Boden. Gut. Es war besser, wenn er ohnmächtig, aber unverletzt liegen blieb.

Der Blinde fühlte die Seelen all der Menschen, die er getötet hatte. Sie umdrängten ihn, als seien sie wie hungrige Geister aus dem Reich Anoyo zurückgekehrt, um sich als bleiche Parasiten an ihm festzuklammern. Sein Leben währte schon lange, und im vergangenen Monat war er zu dem Entschluss gelangt, dass er sich bald von der Welt zurückziehen, in ein Kloster eintreten und keine Menschen mehr töten würde.

Aber jetzt noch nicht.

Ja, der Blinde fürchtete den Tod. Er hatte so viel Tod gebracht, so viele Menschen zum Amida Buddha geschickt – wenn er Glück hatte, würde er mit vier Beinen wiedergeboren werden. Wenn nicht, würde er in seinem nächsten Leben in einem Kessel gekocht werden, während die unersättlichen Seelen seiner Opfer sich an ihm labten, denn die Toten sind immer hungrig.

Und nun würde er gezwungen sein, noch mehr von ihnen zu erschaffen.

Als hielte er ein Vergrößerungsglas über eine Schriftrolle, konzentrierte er seine gesamte Aufmerksamkeit auf die Welt unmittelbar um ihn herum und zentrierte sein Ki. Er konnte jeden einzelnen Tropfen hören und wusste, wo der Regen auf den Boden traf und wo er von menschlichen Leibern daran gehindert wurde. Diese konnte er außerdem riechen: eine Mischung aus Schweiß, Meersalz und Rum – und darunter der metallene Duft von Blut. Der Blinde hatte gehört, dass Fürst Oda, nachdem er den rechten Arm nicht mehr benutzen konnte, gelernt hatte, das Schwert mit der Linken zu führen und seinen Verlust zu kompensieren. Etwas Ähnliches war mit dem Blinden selbst geschehen. Sein Geruchssinn war so scharf geworden, dass er diese barbarischen Seeleute beinahe sehen konnte. Wie Skelette aus roten Adern glommen sie in der Dunkelheit um ihn herum und pulsierten, pulsierten voll frischem Blut.

Er spürte es, als der erste Mann ihn angriff und etwas in der Hand schwang – er hörte das Wumm, wumm, wumm, mit dem das Ding durch die Luft sauste. Es könnte ein Schwert sein oder ein Stück dickes Tau.

Das spielte keine Rolle.

Er hörte, wie der Mann einen Schritt zur Seite trat, um den Blinden mit dem singenden Ding zu schlagen, und Mitleid überkam ihn. Diese Männer waren bereits tot und wussten es noch nicht einmal. Der Blinde duckte sich und trat aus der Drehung mit der Ferse zu. Der Barbar fiel auf ein Knie – es knackte hässlich auf dem Stein – und schrie auf, doch der Schrei erstarb, sobald der Blinde seine verborgene Klinge zog und sie die Kehle des Mannes finden ließ.

Ein weiterer Gegner näherte sich von hinten. Der Regen prasselte so laut wie Tempelglocken auf seinen Kopf, und der Blinde ließ die linke Hand nach hinten schnellen, während sein Schwert einen anderen Mann vor ihm durchbohrte. Die Finger seiner linken Hand trafen die gleiche Stelle am Hals, auf die er bei dem Jungen gezielt hatte, doch diesmal wesentlich härter. Der Mann hinter ihm fiel, als der vor ihm schrie und versuchte, sich rückwärts von der Klinge des Blinden zu lösen. Mit einem Schnippen aus dem Handgelenk zog der Blinde die Klinge heraus und führte sie in derselben fließenden Bewegung zur Seite, um dem nächsten Gegner die Kehle aufzuschlitzen.

Die anderen Männer hatten nun eine bessere Vorstellung davon, mit wem sie es zu tun hatten. Zwei sprangen von beiden Seiten mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu, um ihn zu packen. Doch eher hätten sie einen der Regentropfen einfangen können, die sie verrieten; den Wind aufzuspießen, wäre leichter gewesen. Der Blinde glitt so schnell rückwärts, dass die Bewegungen der Angreifer übertrieben und schwerfällig wirkten – es sah aus, als bewegten sie sich durch einen anderen Stoff, wie Geschöpfe im Wasser statt an der Luft.

Sie waren noch immer dabei, die Arme zusammenzuführen in dem Glauben, er sei direkt vor ihnen, als er sie ausweidete. Nun griffen ihn drei Männer auf einmal an, und er war gezwungen, seine Taktik anzupassen. Er versetzte dem ersten einen harten Fußtritt zwischen die Beine, führte zugleich das Schwert hinter sich und riss die linke Hand hoch, um dem Seemann in der Mitte mit dem Handballen die Nase zu zertrümmern. Durch einen fairen Kampf sammelte man vielleicht mehr gutes Karma, doch an seinem gegenwärtigen Platz im Kreislauf der Wiedergeburt war so etwas auch die sicherste Methode, sich umbringen zu lassen. Ohne innezuhalten, folgte dem Schlag mit der Hand ein Schwertstich in die Eingeweide. Der Mann, dem er in den Schritt getreten hatte, stand noch gekrümmt daneben, und so war es ein Kinderspiel, ihm den Kopf abzuschlagen.

Der Blinde hörte Stimmen, die vermutlich auf Portugiesisch fluchten. Er selbst überlegte und dachte nicht mehr, sondern befand sich in einem Zustand ähnlich der Zen-Meditation, in dem die Frage, was zu seinem Körper gehörte und was sich außerhalb davon befand, bedeutungslos geworden war. Er war der Regen und der Wind und der Stein zu seinen Füßen.

Eine sehr leise Stimme in seinem Hinterkopf ermahnte ihn, dass dieser Kampf unfair sei, doch er wusste, dass es im Kampf keine Fairness gab – nur Tote und Lebende.

Er lebte. Alle anderen waren tot.

Er wich dem Hieb einer unbedeutenden Waffe aus, die mit einem fernen Wapp durch die Luft fuhr, wo er eben noch gestanden hatte. Dann hob er das Schwert und schlitzte dem Barbaren die Bauchdecke auf. Der Mann schrie entsetzt und erschrocken, als hätte er mit so etwas überhaupt nicht gerechnet. Der Blinde seufzte innerlich. Schon als diese Männer den Kai betreten hatten, waren sie tot gewesen. Es war besser, wenn sie das rasch akzeptierten – denn sonst würden sie nicht glauben, dass sie sich im Anoyo befanden, und die Reinkarnation würde ihnen sehr schwer fallen.

Amida Buddha, rief der Blinde stumm, als er auf den letzten Gegner zusprang. Ich bitte dich und alles hilfreiche Karma, diesen Seelen bei ihrer Reise zu helfen. Mit eisernen Fäusten brach er dem Mann beide Handgelenke und hörte dessen Dolch auf dem Stein scheppern. Dann packte er den Kopf des Mannes, neigte sich leicht zur Seite, biss ihm in den Hals und spürte, wie das Blut durch seine Kehle floss und ihn stärkte.

Er trank reichlich.

Keuchend ließ der Blinde den Leichnam des Barbaren fallen und schob sein Schwert langsam in die Scheide, die dicht an seiner Seite unter dem weiten Gewand befestigt war. Er drehte sich gerade zu dem Jungen um, als er ein metallenes Kratzen aus Richtung des Meeres vernahm. Er erstarrte. Von der anderen Seite, an der Wand des Lagerhauses, kam das gleiche Geräusch. Und noch einmal von links. Und von rechts.

Langsam drehte er sich einmal um sich selbst und lauschte auf den Regen. Mindestens ein Dutzend Männer hatte ihn in sicherer Entfernung umzingelt. Er konzentrierte sich. Jeder der Männer hielt etwas vor sich ausgestreckt – es war lang und hart.

Gewehre.

»Es regnet«, bemerkte er im Plauderton. »Wenn eure Gewehre nicht zünden, werdet ihr gegen mich kämpfen müssen. Und dann werdet ihr sterben.« Das sagte er nicht prahlerisch, sondern voller Resignation.

»Nein«, erwiderte einer der Männer. Er sprach wie ein Samurai, ein Angehöriger des Kriegeradels – diese Männer waren Japaner. »Diese Gewehre sind neu.«

»Man zündet sie …«, begann ein anderer.

»Mit einem Funken«, beendete der Blinde nickend den Satz. Natürlich. Vielleicht war es nun endlich an der Zeit, sich dem Jenseits zu stellen und herauszufinden, was für Qualen ihn in diesem Dasein erwarteten.

»Pater Valignano sagte, ein Ninja sei in der Stadt«, erklärte eine andere Stimme, die der Blinde gut kannte. Oh, wie gut er sie kannte. »Er hat uns nicht gesagt, dass du blind bist. Ehe wir dich töten, will ich von dir hören, was du über diese Gewehre weißt. Wo und wie hast du von ihnen erfahren? Kennst du meine Pläne?«

Der Blinde antwortete nicht, sondern ließ langsam die Hände sinken. »Mein Fürst«, sagte er und kniete auf dem kalten, nassen Stein nieder.

Ein Laut der Überraschung drang zu ihm aus der Dunkelheit, die alles war, was er jemals sehen würde. »Du kennst mich?«, fragte Fürst Tokugawa Ieyasu.

»Selbstverständlich«, antwortete der Blinde. »Ich habe Euch schließlich lange genug gedient.«

Fürst Tokugawa trat einen Schritt vor – der Blinde hörte am Klang der Regentropfen, dass der Daimyō seine prachtvolle Samurai-Rüstung trug, auch den gehörnten Helm. In einem fernen Winkel seines Geistes fragte sich der Blinde, warum der Sumitada Buddha zugelassen hatte, dass Daimyō Tokugawa hierherkam. Er musste sich mit einem anderen der mächtigsten Fürsten zusammengeschlossen haben, nun, da Oda tot war.

»Shūsaku?«, fragte Fürst Tokugawa.

Kapitel 1

Berg der Ninja, irgendwo im Norden der Insel Honshū,
am selben Tag

»Watashi wa … hiragana o … yomu koto ga dekimas …«

Tarō fuhr mit dem Zeigefinger an der senkrechten Reihe von Schriftzeichen entlang und sprach die Silben laut aus. »Ich … kann … Hiragana lesen.«

»Kannst du«, bestätigte Hana lächelnd.

Tarō grinste. Vorerst hatte er zwar nur die Hiragana-Schrift gemeistert – die einfachere Schrift, die hauptsächlich Frauen benutzten. Doch nun, da er diese Zeichen gelernt hatte, konnte er zur Kanji voranschreiten, und irgendwann würde er die Schrift der Adligen lesen und schreiben können. Hana hatte ihm schon das Zeichen für das Wort »Feld« gezeigt, und er hatte gleich erkannt, dass es ein Feld von oben darstellte, in Reihen angeordnet. Er staunte darüber, wie es den Chinesen gelungen war, winzige Abbildungen der Dinge um sie herum zu erschaffen und Worte daraus zu machen.

»Und jetzt«, sagte Hana, »schuldest du mir eine Lehrstunde mit dem Schwert.« Im vergangenen Herbst hatte Tarō gegen Hanas Vater, den Fürsten Oda, gekämpft, dessen Geschick mit der Klinge im ganzen Land gefürchtet und bewundert wurde. Tarō hatte sich tapfer behauptet, und schließlich war der grausame Fürst Oda eine Treppe in seiner eigenen Burg hinabgestürzt und umgekommen. Seither hatte Tarō in der Kunst des Schwertkampfs solche Fortschritte gemacht, dass es selbst hier, in der Bergfestung der Ninja, niemanden mehr gab, der ihm noch etwas Neues beibringen konnte.

»Tja, wenn du wieder geschlagen werden möchtest …« Tarō holte sein Katana neben dem Schreibtisch hervor. Das Schwert hatte er bei seiner Rückkehr auf den Berg erhalten, als Geschenk zu Ehren seines Sieges über Fürst Oda. Als Ninja würde er bei seinen Aufträgen meist ein Kurzschwert führen, das Wakizashi, doch ein Kampf mit dem langen Katana war für ihn einfach unvergleichlich.

Das Kurzschwert würde er allerdings nur öfter gebrauchen, wenn er ein Ninja blieb. Nun, da sein Mentor Shūsaku tot war, wusste Tarō nicht recht, wohin. Shūsaku hatte stets gewusst, was zu tun war, er hatte Tarō das Leben gerettet und ihn und seinen besten Freund Hirō durch all die Prüfungen und Abenteuer geführt, die sie danach hatten bestehen müssen. Tarō wusste, dass er nicht ewig hier auf dem Berg bleiben und so tun konnte, als gäbe es die Welt da draußen nicht mehr. Doch was sollte er tun? Er wusste nicht, ob er zu Daimyō Tokugawa gehen und sich als dessen verschollener Sohn offenbaren konnte – Shūsaku hatte gesagt, der Fürst würde entsetzt sein, einen Vampir zum Sohn zu haben. Allerdings waren die beiden anderen Söhne des Fürsten Tokugawa inzwischen tot, also würde er Tarō vielleicht doch mit offenen Armen aufnehmen, ganz gleich, was mit ihm geschehen war – aber es war ein gewaltiges Risiko.

Er konnte sich auch nicht auf die Suche nach seiner Mutter machen, so sehr er sich das auch wünschte. In der Nacht, als er mit Shūsaku aus seinem Heimatdorf Shirahama geflohen war, hatte Shūsaku ihr eine Taube mitgegeben, die seine Mutter mit einer Nachricht zu ihm schicken sollte, sobald sie in Sicherheit war. Doch die Taube war noch immer nicht in der Bergfestung der Ninja angekommen – als Tarō von Fürst Odas Burg zurückgekehrt war, hatte seine erste Frage dem Vogel gegolten. Also saß er auf dem Berg fest. Er konnte nicht fortgehen, weil er dann womöglich die Nachricht verpassen würde, falls sie noch kam. Zugleich war ihm bewusst, dass seine Mutter, während er hier wartete, ganz allein irgendwo dort draußen war. Er wünschte sich so sehr, sie wiederzusehen und von ihr in die Arme geschlossen zu werden – obgleich er jetzt ein Ninja war und Menschen getötet hatte, brauchte er noch immer seine Mutter.

Und dann war da noch Hana. Als Tochter eines Daimyō war ihr bisheriges Leben ganz darauf ausgerichtet gewesen, dass sie eines Tages einen anderen Fürsten heiraten würde. Tarō war nicht sicher, ob sie sich im tiefsten Inneren wirklich mit ihm abfinden konnte – einem Bauern und Ninja. Ja, sein wahrer Vater war Fürst Tokugawa, aber die Abstammung zählte nicht allein. Es gab auch noch Bildung, Etikette, Künste. Er lernte gerade erst Lesen. In seinem bisherigen Leben hatte er nicht viel mehr getan, als zu fischen und Kaninchen zu jagen. Selbst wenn Hana ihn jetzt wollte – würde sie in zehn Jahren auch noch so empfinden, wenn sie ganz begriffen hatte, dass er ihr keine Gärten, Teezeremonien, Dienerinnen und ein Leben in Schönheit schenken konnte?

Doch er konnte sie ebenso wenig aufgeben. Wahre Selbstlosigkeit wäre es, sie freizugeben, sie fortzuschicken, damit sie so leben konnte, wie es ihr bestimmt war. Aber wohin hätte er sie schicken können? Sie konnte nicht zu ihrem Vater zurückkehren, weil Tarō ihn getötet hatte. Und außerdem war Tarō nicht selbstlos. Jedes Mal, wenn er in ihre tiefen braunen Augen schaute, wusste er, dass er sie unbedingt bei sich haben wollte …

Er hatte nicht mit ihr darüber gesprochen, ihr noch nicht einmal seine Gefühle enthüllt, doch sein innigster Wunsch war es, sie eines Tages zu heiraten. Das Problem war nur, dass er eine Fürstentochter nicht dazu verdammen konnte, als Frau eines Ninja zu leben, also würde er irgendeinen Weg finden müssen, mehr aus sich zu machen. Wenn ihm das schon nicht gelingen konnte, indem er Anspruch auf sein Geburtsrecht als Tokugawa erhob, dann musste er es auf andere Weise schaffen. Indem er Lesen und Schreiben lernte. Sich im Schwertkampf übte, Musizieren lernte, sei es an der Koto oder mit dem blanken Stahl. So würde er vielleicht eines Tages zum Samurai in Fürst Tokugawas Wache aufsteigen, ohne jemals seine wahre Identität zu enthüllen – und wenn bis dahin genug Zeit vergangen war, würde der Fürst Hana hoffentlich nicht erkennen.

Eines Tages. Aber hier und jetzt ging Hana den Felsentunnel vor ihm entlang, drehte sich nach ihm um und lächelte ihn strahlend an, und Tarō verscheuchte die Gedanken an seine Zukunft wie lästige Sommermücken. Er würde noch ein wenig hier auf dem Berg bleiben, wo alles so einfach war und er so tun konnte, als seien all die schlimmen Dinge nie geschehen – der Mord an seinem Adoptivvater, der Opfertod Shūsakus in der Burg des Fürsten Oda. Solange er hierblieb, konnte er sich sogar vorstellen, Shūsaku sei noch am Leben und würde eines Tages aus irgendeiner verborgenen Nische im Fels hervortreten, um wieder mit Tarō den Schwertkampf zu trainieren.

Tarō und Hana hatten die Höhle verlassen und folgten dem langen Tunnel zum Krater des erloschenen Vulkans. Ein riesiges Tuch, mit Sternen bemalt, schützte diesen seltsamen Saal vor dem Tageslicht. Als sie das Zwielicht des Kraters betraten, sahen sie Hirō ganz allein üben. Mit dem Schwert in der Hand ging er die Kata durch, eine Abfolge genau festgelegter Bewegungen, die jeder angehende Ninja vollkommen beherrschen musste, um sie im Kampf abrufen zu können, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden.

Tarō hatte sie gelernt, benutzte sie aber weder zum Üben noch im Kampf. Er brauchte sie nicht, denn er war so schnell, dass er seine eigenen Attacken und Paraden erfinden konnte. Die nächste Bewegung, die das Schwert des Gegners ausführen würde, ahnte er voraus, indem er diesem unablässig in die Augen sah.

»Hirō«, sagte Tarō. »Möchtest du mit uns üben?«

Hirō wandte sich ihm zu und lächelte, doch aus seinen Augen leuchtete nicht mehr die frühere Freude. »Nein, schon gut. Ich arbeite weiter an diesen Bewegungen.« Mit gebeugten Knien hielt er das Schwert gerade vor sich und machte einen Scheinausfall. Sein Geist wie auch seine Muskeln waren durch die Ereignisse in der Burg des Fürsten Oda härter geworden. Er war nicht mehr Tarōs dicker, fröhlicher Freund – er war jetzt ernster, nachdenklicher, zorniger. Dass Yukiko, ein Ninja-Mädchen, sich gegen sie gewandt und auf Daimyō Odas Seite geschlagen hatte, war ein schwerer Schock für ihn gewesen. Ebenso tief hatte ihn der Tod Shūsakus erschüttert, des Führers und Mentors, der sich um sie gekümmert hatte, nachdem Ninja im Auftrag Odas Tarōs Ziehvater getötet und seine Mutter zur Flucht gezwungen hatten.

Tarō beobachtete Hirō beim Üben und wünschte sich, ihn grinsen zu sehen und ein paar alberne Scherze von ihm zu hören. Aber wer konnte es seinem Freund verdenken? Auch Tarō vermisste Shūsaku schmerzlich, Tag für Tag. Hier oben im Versteck der Ninja, zu dem Shūsaku sie damals geführt hatte, war es noch schlimmer. Yukikos Verrat hatte ihn ebenfalls getroffen, aber nicht so schwer wie Hirō. Tarō hatte sich Yukiko nie besonders nahegefühlt. Ja, er hatte stets den Eindruck gehabt, dass sie ihn mit Argwohn betrachtete und neidisch darauf war, wie schnell er zu einem echten Ninja gemacht worden war. Wenn er ehrlich war, hatte es ihn gar nicht so sehr überrascht, dass sie sich gegen ihre Freunde gewandt hatte. Er hatte immer eine stählerne Härte in ihr gespürt, scharfe Kanten und Klingen, als sei sie ein Fleisch gewordenes Schwert. Und er hatte gewusst, dass sie neidisch war, weil er so jung und so rasch in einen Vampir verwandelt worden war.

Shūsaku war ihm zu Hilfe gekommen, als Tarōs Vater getötet und Tarō selbst von einem der vielen Angreifer verwundet worden war. Doch er hatte Tarō nur retten können, indem er ihn biss und ihn zum Vampir machte. Mit diesem Augenblick hatte Tarō etwas erreicht, wonach Yukiko sich seit langem sehnte – und das normalerweise viele Jahre der Ausbildung in der Bergfestung der Ninja voraussetzte. Tarō war ein Kyūketsuki geworden – ein blutsaugender Geist-Mensch.

Stark. Schnell. Mächtig.

Dann war Yukikos Schwester gestorben, weil sie Tarō beschützt hatte, und Yukiko hatte endlich Grund genug gesehen, sich gegen Tarō und seine Freunde zu wenden. Es war Yukiko gewesen, die den Fürsten Oda gewarnt hatte, als sie in seine Festung eingedrungen waren. Das hätte sie alle beinahe das Leben gekostet.

»Tarō«, unterbrach Hana seine Gedanken. »Möchtest du lieber ein andermal trainieren?«

Er schüttelte den Kopf, hob sein Schwert und nahm die Kū-Stellung ein, die Haltung der Leere. Als sie einen Angriff versuchte, führte er Parade und Konter aus, wobei seine Gedanken zur Hälfte den blitzschnellen Schwertern galten und zur Hälfte seiner Zukunft. Was sollte er jetzt tun? Letztes Jahr hatte Shūsaku ihm etwas enthüllt, das noch schockierender war als das Geheimnis der Ninja: Er hatte Tarō gesagt, dass der Mann, den die Ninja in der Hütte am Strand von Shirahama ermordet hatten, nicht Tarōs richtiger Vater gewesen war. In Wahrheit war sein Vater der Daimyō Tokugawa, einer der mächtigsten Fürsten im Land, von dem viele glaubten, dass er der nächste Shōgun werden könnte. Und als wäre das noch nicht genug, hatte eine Wahrsagerin – Yukikos Ziehmutter – Tarō geweissagt, dass er selbst eines Tages Shōgun werden würde.

Aber das waren abstrakte Vorstellungen. Nur zwei Dinge waren konkret, zwei Möglichkeiten, die Tarō in entgegengesetzte Richtungen zogen wie zwei Pole. Und diese beiden Dinge sah er vor Augen, als er Hanas Schwert ablenkte und mit seiner Klinge ihren Hals berührte.

Sie fluchte wenig vornehm, biss sich auf die Lippe und nahm erneut die Ausgangshaltung ein.

Eines der beiden Dinge – einer der Pole von Tarōs Existenz – war die Buddha-Kugel. Fürst Oda hatte vor seinem Tod davon gesprochen, ebenso die Wahrsagerin, als sie Tarō über sein Schicksal belehrt hatte. Die Kugel war für den letzten Buddha geschaffen worden und verlieh ihrem Besitzer Macht über die Welt und alles darauf, denn sie war eine Miniatur der Welt. Tarō hatte das für ein Lügenmärchen gehalten, doch inzwischen hatte er Grund zu der Annahme, dass sie sich tatsächlich in Shirahama befand, wo seine Mutter sie auf dem Grund der Bucht verborgen hatte.

Seine Mutter war der zweite Pol. Sobald sie in Sicherheit war, hätte sie die Taube losschicken sollen, die Shūsaku ihr mitgegeben hatte, und an diesen Vogel musste Tarō immerzu denken. Er konnte sich nicht mehr genau daran erinnern, wie sein Vater ausgesehen hatte – der Mann, den er jedenfalls stets für seinen Vater gehalten hatte. Doch das Gesicht seiner Mutter war ihm frisch und deutlich in Erinnerung, und wenn er sich schlafen legte, stand es ihm jedes Mal vor Augen.

Tarō brauchte einen Augenblick, um zu bemerken, dass sein Schwert sich nicht mehr bewegte. Hana stand mit verschränkten Armen vor ihm, ihr Katana an ein Bein gelehnt. »Du denkst wohl an die Kugel?«

»Hm? Oh, ja.« Tarō zuckte entschuldigend mit den Schultern. Selbst wenn sie die Stirn runzelte wie jetzt, war Hana wunderschön. Er bekam ein schlechtes Gewissen, weil er diese Zeit mit ihr, in der Bergfestung vor allen Feinden geschützt, nicht genoss, sondern sich wegen der Kugel und seiner Mutter sorgte und ständig darüber nachdachte, wie er beide in Sicherheit bringen könnte. Fürst Oda war tot, doch sein ranghöchster Gefolgsmann Kenji Kira streifte noch immer durchs Land und suchte nach Tarō. Er oder sonst jemand könnte die Kugel finden und sie dazu benutzen, unvorstellbaren Schaden anzurichten. Doch was, wenn Tarō nach Shirahama ging, um die Kugel zu suchen, und inzwischen seiner Mutter etwas zustieße? Oder, schlimmer noch, wenn sie endlich die Nachricht schickte, wohin sie sich geflüchtet hatte, und er wäre fort und würde nichts davon erfahren? Was, wenn diese Information jemand anderem in die Hände fiel, der keine Skrupel kannte? Etwa einem Mann wie diesem Wiesel Kawabata, der Tarō bereits einmal verraten hatte …

Natürlich könnte seine Mutter auch längst tot sein, und wenn Tarō an diese Möglichkeit dachte, wand sich etwas wie eine dicke Schlange in seinem Bauch, und er konnte nicht schlafen. Dann drehten sich die Gedanken an seine Mutter und die Kugel in seinem Kopf im Kreis herum wie die Sanskrit-Zeichen auf einer Gebetsmühle.

»Ich komme mit dir«, erklärte Hana, »falls du dich auf die Suche danach machen willst. Du brauchst es nur zu sagen.«

Tarō nickte. Er wusste, dass sie dazu bereit war. Sie würde mit ihm überallhin gehen – das hatte sie ihm schon bewiesen. Sie hatte gesehen, wie Tarō ihren Vater getötet hatte, und dennoch hatte sie an Tarōs Seite die Burg verlassen und war mit ihm zum Berg der Ninja gezogen. Ziemlich unklug von ihr, wenn er es recht bedachte. War ihr denn nicht klar, dass er nichts weiter als ein Bauer war, ganz gleich, welches Blut in seinen Adern floss? Merkte sie nicht, dass jeder, der ihm nahestand, starb oder verschwand: sein Ziehvater, Shūsaku, seine Mutter? Aber natürlich brachte er es nicht über sich, sie fortzuschicken – sie war so schön, so freundlich, so klug und so geschickt mit dem Schwert. Ein Mädchen wie sie war ihm noch nie begegnet.

Und da war noch etwas. Er glaubte, dass auch Hana ihn mochte – manchmal konnte er es direkt sehen, an ihrem Blick und der Art, wie sie ihn neckte. Aber er war sich nicht sicher. Ihr Vater war ein Ungeheuer gewesen. Vielleicht hätte sie dessen Burg mit jedem verlassen, der bereit war, sie zu retten. Vielleicht war Tarō nur zufällig zur rechten Zeit am richtigen Ort gewesen. Er spürte genau: Falls er versuchen sollte, sie fortzuschicken, würde er erfahren, ob sie das Gleiche für ihn empfand wie er für sie, und er war noch nicht bereit, das herauszufinden.

»Ich sollte nicht kämpfen«, sagte er und blickte auf das Schwert in seiner Hand hinab, als sei er nicht ganz sicher, wie es dorthin gekommen war. »Ich bin zu abgelenkt.«

»Keine Sorge«, entgegnete Hana lächelnd. »Ich werde das schon nicht ausnützen und dir wehtun.«

»So habe ich das nicht gemeint. Wenn ich mich nicht richtig konzentriere, könnte ich dich umbringen.« Er ließ das Schwert sinken und trat zurück.

Ihr Lächeln erlosch. »Oh.«

»Nachher essen wir zusammen. Na ja, du kannst essen, und ich …« Er würde ein wenig Blut trinken, von einem der Schweine, die sie in den Höhlen hielten.

»Ja, das wäre nett.« Sie warf ihm einen verletzten Blick zu, wandte sich ab und ging davon. Tarō fragte sich, ob jeder, der ihm etwas bedeutete, das früher oder später tun würde – sterben, ihn verlassen oder sich verändern, so wie Hirō. Vielleicht hatte er es nicht anders verdient.

Als wollte das Schicksal diese Gedanken unterstreichen, trat ausgerechnet in diesem Moment der alte Kawabata aus einem verborgenen Gang im Berg. Die hölzerne Tür war mit Stein verkleidet. Selbst aus nächster Nähe wirkte sie wie ein gewöhnliches Stück der Felswand, und Tarō hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt, dass manchmal Leute aus diesem Geheimgang traten, den sie als Abkürzung zum Vulkankrater benutzten.

Kawabata blieb stehen, als er Tarō sah. Er machte ein finsteres Gesicht, kehrte abrupt um und verschwand wieder in der Dunkelheit. Tarō seufzte. Kawabata hatte Tarō und seine Gefährten in eine tödliche Falle laufen lassen wollen – er hatte einen Ninja zu Daimyō Oda geschickt, um ihn zu warnen. Zum Glück hatte sein Sohn, der Kleine Kawabata, verhindern können, dass der Bote sein Ziel erreichte.

Als Tarō unversehrt in die Bergfestung zurückgekehrt war, hatten die Leute dort ihn als Helden empfangen. Alle bis auf Kawabata, der heftig gezittert hatte, als Tarō mit dem Kleinen Kawabata an seiner Seite die Höhlen betreten hatte. Der Sohn hatte sich von seinem Vater losgesagt, und der alte Kawabata hatte die Verachtung in den Blicken der anderen Ninja gesehen. Er hatte um die Erlaubnis gebeten, Seppuku begehen zu dürfen.

Tarō hatte sie ihm verweigert. Damals hatte er schon zu viel vom Tod gesehen und nicht erleben wollen, wie Kawabata sich vor seinen Augen den Bauch aufschlitzte. Doch natürlich hatte er damit das Schlimmste getan, was er nur hätte tun können, wie so oft. Wenn man sagen konnte, dass manche Leute Reis ernteten und manche Leute Muscheln, dann war Tarō jemand, der den Tod erntete. Er hatte so viele Menschen um sich herum sterben sehen – er wollte keinen Tod mehr. Kawabata hätte ihm vielleicht verziehen, dass Tarō seinen Verrat überlebt hatte – vor allem, da sein Erzfeind Shūsaku ihm zum Opfer gefallen war. Doch die Ehrverletzung, die Tarō ihm unwissentlich zugefügt hatte, konnte er nicht verzeihen. Selbst jemand, der ein großes Übel begangen hatte, konnte sich durch Seppuku reinwaschen, aber es lag in der Macht des Opfers, dem Täter diese Erlösung zu gewähren, und das hatte Tarō nicht getan.

Er hatte Kawabata Reinheit und Ehre verwehrt, und das würde Kawabata ihm niemals vergessen. Tarō wusste, dass er den Mann eines Tages umbringen oder ihm doch noch den Selbstmord würde gestatten müssen. Ansonsten würde Kawabata sicherlich wieder versuchen, ihn zu vernichten. Doch er schob es immer wieder auf. Seit seinem Ziehvater waren seinetwegen schon zu viele Menschen umgekommen.

Er warf sein Schwert beiseite, und Hirō blickte erschrocken auf, als die Klinge über den sandigen Boden schlitterte. Tarō machte eine vage Geste mit der Hand, ein Abwinken, das ausdrücken sollte: Vergiss es.

Er betrat den Tunnel, der zu den Schlafquartieren führte, als eine der jüngeren Frauen herausgelaufen kam – Aoki oder so ähnlich, dachte Tarō. Atemlos hielt sie ihm mit beiden Händen etwas hin und bedeutete ihm mit heftigem Nicken, das Ding zu nehmen.

Das Ding neigte den Kopf zur Seite und machte: Ruguuu.

Tarō starrte auf die Taube hinab. Er bekam nur vage mit, dass Hirō neben ihn trat und ihm eine Hand auf die Schulter legte. Er freute sich, dass sein Freund bei ihm war.

Vorsichtig ergriff Tarō den Vogel und hielt sacht die Schwingen an den Körper gedrückt, damit er nicht davonfliegen konnte. Der Blick der Taube huschte hin und her, und sie gab eine Reihe glucksender Laute von sich, die schimpfend und freudig zugleich klangen.

An ein Bein der Taube war eine sehr kleine Schriftrolle gebunden. Tarō hielt den Vogel mit einer Hand fest und löste mit der anderen den Faden um die Botschaft. Er rollte das Pergament auf.

Seine Lippen bewegten sich, während er die Hiragana-Zeichen entzifferte. Er freute sich sehr, dass seine Mutter jemanden gefunden hatte, der das für sie geschrieben hatte, und dass er selbst die Nachricht lesen konnte.

Mein lieber Tarō, lautete sie. Ich bin im Tendai-Kloster auf dem Berg Hiei. Hier bin ich sicher, aber ich würde alles darum geben, dich wiederzusehen. In Liebe, Deine Mutter.