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Inhaltsverzeichnis
Titel - Untertitel (/Genre)
Impressum
Vorwort
Jeder Mensch ist einzigartig
Jedes Kind ist speziell
Die Wissensgesellschaft braucht diese Einzigartigkeit
Lernen wird Lebensaufgabe – Lehren auch
Unser Bildungssystem fördert das Vergleichbare, nicht das Besondere
Ein Schock fürs Leben
Kinder sollen etwas Besonderes sein
Zur Elite gezwungen
Bildung für morgen heißt Elite für Alle
Zeit für Humboldt 2.0
Per aspera ad astra?
It’s not the economy, stupid!
Wer soll das alles zahlen?
Wer soll das alles lehren?
Erneuerung von unten
Elitäres für alle
Erneuerung von oben
Jeder Mensch ist einzigartig
»Alle Tiere sind gleich.« Das war der Traum, den der Eber Old Major den Tieren auf der Farm von Bauer Jones erzählte. Das war das Ideal, für das sie den Farmer verjagten, auf das sie ihre neue »Farm der Tiere« bauten.
»Alle Tiere sind gleich. Aber manche sind gleicher.« Das war der Satz, mit dem George Orwell das endgültige Umkippen der freiheitlichen Revolution aller Tiere in eine neue Diktatur der Schweine beschrieb.
Die kommunistischen Diktaturen, gegen die der Anarchist George Orwell 1945 seine »Animal Farm« geschrieben hatte, gibt es seit 20 Jahren nicht mehr. Sie büßten dafür, aus einem Traum ein Terror-Regime gemacht zu haben. Doch der Traum von der Gleichheit aller Menschen, entstanden aus dem Kampf gegen König und Adel, gegen Armut und Unterdrückung, ist heute mehr verwirklicht als jemals zuvor in der Geschichte.
Jetzt ist es Zeit für einen neuen Traum. Auf der Farm der Tiere hieße er: »Alle Tiere sind gleicher.« Und für uns Menschen: »Wir sind Elite.«
Elite zu sein bedeutet: etwas Besonderes zu sein; etwas Einzigartiges zu sein. Es fällt uns schwer, 80 Millionen Deutschen oder gar sechs Milliarden Weltbürgern ihre jeweils eigene Einzigartigkeit zu bescheinigen. Aber dafür fällt es den meisten relativ leicht, das für sich selbst zu tun – wer würde nicht von sich selbst behaupten, etwas Besonderes zu sein?
Die Aufklärung und der Kapitalismus haben uns erlaubt, einzigartig zu sein. Die Aufklärer haben uns Gott genommen, nach dessen Bilde wir geformt sein sollten: Wir wurden wir selbst, waren nicht mehr die unvollkommene Kopie eines vollkommeneren Wesens. Und Adam Smith, der Philosoph des Kapitalismus, hat uns erlaubt, uns selbst in den Mittelpunkt all unseren Strebens zu stellen: »Jeder Mensch hat, solange er nicht die Gesetze verletzt, vollkommene Freiheit, seine eigenen Interessen auf seine Weise zu verfolgen und beides, seinen Fleiß und sein Kapital, mit dem anderer Menschen in Wettbewerb zu setzen.« Jene unsichtbare Hand, die das allgemeine Wohl hervorbringe, arbeite am effektivsten, wenn jeder seinen eigenen Nutzen zu optimieren trachte.
Die Genetiker schließlich haben uns gezwungen, einzigartig zu sein. Sie haben uns nachgewiesen, dass in jeder unserer Zellen 3,2 Milliarden Paare von Adenin (A) und Thymin (T) oder von Cytosin (C) und Guanin (G) stecken, den vier Nukleobasen, die das menschliche Genom bilden. Nur bei eineiigen Zwillingen sind diese Milliarden von Paaren genau gleich angeordnet. Ansonsten gab es noch nie einen Menschen, der genau so war wie ein anderer vor ihm, und solange wir uns nicht klonen, wird es auch niemals einen solchen Menschen geben. Das Muster, in dem A und T, C und G angeordnet sind, enttarnt Verbrecher und erweist Unschuld. Der genetische Fingerabdruck kann mit praktisch hundertprozentiger Sicherheit belegen, oder eben widerlegen, ob ein Mann der Vater eines Kindes ist.
Im 21. Jahrhundert werden wir die Konsequenzen dieser Einzigartigkeit noch in einer Vielzahl von Fällen zu spüren bekommen.

• Positiv zumeist: Eine stetig steigende Zahl von Medikamenten wird in der Zusammensetzung individuell auf die genetische Ausstattung des jeweiligen Patienten abgestimmt werden.
 
• Ambivalent: Ist es wirklich ein Fortschritt, wenn Partnerschafts-Institute die passenden Pärchen anhand eines DNA-Abgleichs ermitteln? Sollen bei künstlicher Befruchtung Keimzellen ausgeschlossen werden, die Gene für eine Erbkrankheit tragen? Und sollen sich die zukünftigen Eltern die gewünschten Eigenschaften des Sprösslings selbst aussuchen dürfen?
 
• Manchmal bestimmt auch gefährlich: Was hätten die Nazis mit den Erkenntnissen der modernen Genforschung anfangen können! Wie lässt sich verhindern, dass aus diesen Erkenntnissen neue Herrenrassen-Ideologien entstehen? Und vielleicht laufen wir sogar Gefahr, das gleiche Schicksal wie die meisten Hochleistungs-Nutzpflanzen zu erleiden: Super-Gene, Super-Leistungen, Super-Aussehen – und super-unfruchtbar. Noch kann jeder beliebige Hans jede beliebige Grete finden und mit ihr Hänsel und Gretel zeugen; doch es gibt keine Garantie, dass das nach einem Jahrhundert voller genetischer Experimente immer noch so sein wird.

Ob positiv, negativ oder umstritten: Es wird im 21. Jahrhundert unsere Diskussionen und unser Leben prägen, dass die Menschen eben NICHT gleich sind. Dass JEDER etwas Besonderes ist.
Gut so! Wir kommen aus einer Zeit, in der die Masse etwas Positives war. Massenproduktion war günstig, Massenkonsum bedeutete Wohlstand, Massenmotorisierung war eine Verheißung: »Wohlstand für alle« war die Devise des Wirtschaftswunders, und der Sozialismus zelebrierte gleichzeitig die Tonnenideologie: Würde nur jeder Arbeiter die gleichen 24,4 Kubikmeter Kohle pro Schicht fördern, die »Held der Arbeit« Adolf Hennecke am 13. Oktober 1948 aus dem Berg schlug, wäre der Kapitalismus in Windeseile eingeholt, überholt und besiegt. Vorbei.
Wir leben in einer Zeit, in der es darum geht, sich von der Masse abzuheben. Es sind längst nicht mehr alle Autos gleich und auch nicht alle Handys. Und wenn sie doch einmal genau gleich aussehen sollten, dann unterscheiden sich mit Sicherheit ihre Klingeltöne. Ganze Zubehör-Industrien leben davon, dass wir Standard-Produkte ein bisschen individualisieren möchten. Die ganze bunte Welt von Werbung und Marketing gibt es nur, weil wir den kleinen Unterschied wollen. Die Märkte sind gesättigt, Zahnpasta, Cola und T-Shirt werden nicht jeden Tag neu erfunden, und doch findet die Industrie immer wieder Wege der Differenzierung. Bald vorbei.
Denn wir kommen in eine Zeit, in der es die Masse gar nicht mehr geben wird, von der man sich abheben könnte. Es ist die Ära der Individualproduktion, und ein bisschen hat sie auch schon begonnen.
1. November 2008, Messegelände Nürnberg. Die Erfinder-Zwillinge Philipp und Dominik Danner präsentieren einen Durchbruch in der Keks-Kreation. Ihr »PC-gesteuerter Kleingebäckplotter« sticht ein am Computer entworfenes Design direkt aus einer Teigplatte aus. Auch Garnierung und Dekoration wandern direkt aus dem PC in die Plätzchen-Produktion, die die Danners allerdings noch nicht hauptberuflich betreiben können – sie sind erst 16 Jahre alt und Schüler des Maristengymnasiums Fürstenzell.
Aber wenn heute schon Schüler den Individualkeks produzieren können – wer braucht dann in Zukunft noch Keksfabriken? Wer Zeitungsdruckereien, wer Lackiermaschinen, all die High-Tech-Roboter-computergesteuerten Produktionsanlagen, die im 20. Jahrhundert zur Basis unseres Wohlstands wurden? Der »Aufstand der Massen gegen die Massenproduktion« habe gerade erst begonnen, schreiben Holm Friebe und Thomas Ramge in ihrem Buch »Marke Eigenbau«, und prognostizieren die Rückkehr der Produktion in heimische Gefilde: Die »Nutzergetriebene Wertschöpfung« werde völlig neue Wirtschaftsstrukturen schaffen.
Das klingt so, als ginge nun die Ära der Massenproduktion endgültig zu Ende, mit der im 19. Jahrhundert die Industrielle Revolution begann. Immer bessere Maschinen stellten immer mehr der immer gleichen einfachen Produkte her: Garn, Stoff, Eisen, Stahl. Im 20. Jahrhundert trat zur Massenproduktion noch der Massenkonsum hinzu – nach der Erfindung des Fließbands in einer Fabrikhalle der Ford Motor Company in Dearborn im Jahr 1913, der Verdopplung der Löhne der Ford-Arbeiter im Jahr 1914 und der anschließenden millionenfache Herstellung des immer gleichen Ford T (»in jeder Farbe, solange sie schwarz ist«).
Und jetzt soll die Produktion nach zwei Jahrhunderten wieder aus der Fabrik zurück in Wohnstuben und Hinterhöfe kommen? Hoffentlich nicht: Arbeits-, Energie- und Ressourcenproduktivität von Eigenbau-Produktionen sind dramatisch niedriger als bei Herstellung der gleichen Güter in einer Fabrik, von Arbeits- und Umweltschutz ganz zu schweigen. So sinnstiftend das Heimwerken im Einzelfall sein kann, bei millionenfacher Multiplikation führt es zu katastrophalen Ergebnissen für Mensch und Umwelt.
Aber die Industrieunternehmen haben auch schon eine Lösung gefunden, um das Bedürfnis der Konsumenten nach Individualität selbst befriedigen zu können. »Mass Costumization« heißt sie, individualisierte Massenproduktion. Sie wird sich zu einer der mächtigsten Umwälzungen des 21. Jahrhunderts entwickeln. Jedes Produkt wird ein Unikat werden, »Losgröße 1« heißt der Fachbegriff für diese individuelle Fertigung nach Kundenwunsch, und das, ökonomisch und ökologisch nachhaltig, in hoch technisierten und rationalisierten Industrieanlagen. Der Backstraße in der Keksfabrik muss es dann egal sein, ob sie zehntausend gleiche Plätzchen in den Ofen schiebt, ob sie zehn Designs von Dominik Danners Kundschaft dazwischen packt, oder ob sie direkt an den Server von mycake.com angeschlossen ist, der »realtime« die Bestellungen von Keksgestaltern aus aller Welt übermittelt, und danach auch noch die Packstraße und die Lieferkette so bestückt, dass jeder Keks in der richtigen Verpackung zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist.
So wie der medizinische Fortschritt uns immer individuellere Medikamente und Therapien beschert, wird uns der technische Fortschritt immer individuellere Produkte bescheren, vom Keks bis zum Fahrrad. Der Mensch des 21. Jahrhunderts wird also nicht nur etwas Besonderes SEIN. Er wird auch etwas Besonderes HABEN. Also könnte unser Bildungssystem dem Kind des 21. Jahrhunderts dabei helfen, etwas Besonderes zu WERDEN. Noch besonderer, als es ohnehin schon ist.
Jedes Kind ist speziell
Lassen Sie uns nicht darüber streiten, wie viele Prozent der Persönlichkeit eines Menschen durch seine Gene vorbestimmt sind, wie viele Prozent auf das Elternhaus, wie viele auf die übrige Umwelt und wie viele auf die eigenen Entscheidungen eines Menschen zurückgehen. Es gibt dazu ungefähr so viele Meinungen wie Studien, und außerdem müssten wir uns erst noch darauf einigen, was denn unter »Persönlichkeit« zu verstehen ist. Lassen Sie uns erst einmal nur festhalten: Jedes Kind ist anders.
Hebammen sehen das im Kreißsaal. Eltern sehen das zu Hause, sofern sie nicht nur ein Kind haben, ansonsten sehen sie es in der Krabbelgruppe, auf dem Spielplatz, bei Kindergeburtstagen, im Kindergarten, in der Schule, überall. Es kann zwar alles genau so sein, wie es in den Ratgeber-Büchern und Elternzeitschriften steht – aber auf nichts kann man sich verlassen, alles muss selbst erfahren werden. Weil Kinder gerne im Garten spielen, suchten wir mit einem, bald zwei kleinen Kindern ein halbes Jahr lang in Hamburg eine Wohnung mit Garten. Aber Leonie schätzte es überhaupt nicht, sich dreckig zu machen, was sich allerdings in Gärten kaum vermeiden lässt – nur sporadisch gingen ihre Ausflüge über die Terrasse hinaus.
Und weil kleine Kinder sich bemerkbar machen, wenn sie nachts aufwachen und niemand sich um sie kümmert, stellten wir am Hochzeitstag ein Babyphone in Leonies Zimmer und zu den Nachbarn und gingen endlich mal wieder ganz alleine zu zweit aus. Aber als Leonie wach wurde, schlich sie in unser Schlafzimmer, fand uns nicht und ging zurück in ihr Bettchen,wo sie ebenso ruhig wie ängstlich darauf wartete, dass wir zurückkamen. Die Nachbarn waren beeindruckt über den festen Schlaf unserer Tochter, und wir verschenkten am nächsten Tag das Babyphone an frische Eltern, die bestimmt ganz andere Erfahrungen damit machten.
Jeder, der mit mehreren Kindern zu tun hat, sieht diese Unterschiede. Manche fallen mehr auf, manche weniger, manche sind gefährlich, manche lästig, manche angenehm. Erzieher sehen sie, Lehrer sehen sie, Freunde und Verwandte, die Kinder selbst natürlich auch.
Und auch Jürgen Baumert. Der langjährige Direktor des Max-Planck-Institutes für Bildungsforschung sieht eine der größten Herausforderungen für die deutschen Schulen darin, mit der Verschiedenheit der Kinder umzugehen. Einer Verschiedenheit, mit der die Kinder bereits eingeschult werden: »Bereits am ersten Tag nach der Geburt vergrößern sich die in die Wiege gelegten Unterschiede. Wie liebevoll Eltern für ihre Kinder sorgen, wie sie mit ihnen reden und spielen, wie sie zuhören, ob und was sie vorlesen: Alles wirkt sich im Wechselspiel mit der natürlichen Mitgift auf die Lebenschancen des Kindes aus.«
Und die liegen, so die Erkenntnisse der Bildungsforschung, schon zu einem großen Teil fest, bevor ein Kind erstmals auf einen Lehrer trifft. »Kein menschliches Merkmal bleibt über das ganze Leben so konstant wie der Intelligenzquotient«, sagt der Marburger Psychologieprofessor und Bildungsforscher Detlef Rost. Abweichungen von mehr als zehn Punkten zwischen den Test-Ergebnissen als Grundschüler und als Erwachsener sind äußerst selten. Diese Zeit des konstanten Intelligenzquotienten (IQ) beginnt dabei schon bei den ersten Messungen. Und das heißt: mit sechs Jahren. Der IQ, der bei Erstklässlern bei Tests gemessen wird, wird sich mit großer Wahrscheinlichkeit durch die ganze Schullaufbahn hindurch und während des gesamten weiteren Lebens nicht wesentlich ändern. Selbst intensive Programme zur Intelligenzförderung erreichen allenfalls eine Steigerung von etwa zehn Punkten, und auch die ist nicht nachhaltig, sondern fällt nach einigen Jahren wieder ab.
Intelligenz ist zwar nicht alles. Aber für den Bildungs-Erfolg, und für die Psychologen, eine ganze Menge. Gerade weil der IQ fast unveränderlich ist, können die Wissenschaftler ihn mit allen möglichen menschlichen Verhaltensweisen, Eigenschaften und Entwicklungen korrelieren. Dabei finden sie dann beispielsweise heraus, dass Menschen mit höherem IQ besonders oft kurzsichtig sind und im Berufsleben besonders häufig erfolgreich. Juden sind im Schnitt intelligenter als Muslime, Lehrerkinder intelligenter als Arbeiterkinder und die Deutsch-Note von Schülern ist in größerem Ausmaß vom IQ abhängig als die Mathe-Note. Über die Ursachen für solche Zusammenhänge sagen die Statistiken zwar nichts aus, aber in der hochgradig subjektivitätsverdächtigen Psychologie sind die Forscher ja schon froh, wenn sie überhaupt auf derart objektive Daten zurückgreifen können.
Und nicht nur die Intelligenz, auch eine ganze Reihe anderer Merkmale sind schon von klein auf weitgehend festgelegt. So das Ergebnis einer 20 Jahre dauernden Längsschnitt-Studie an 200 deutschen Kindern (am Ende der Studie natürlich alle junge Erwachsene). Die Wissenschaftler, anfänglich vom Max-Planck-Institut für psychologische Forschung in München, später ein Team von der Universität Würzburg unter Leitung des Psychologen Wolfgang Schneider, untersuchten regelmäßig sowohl die Versuchspersonen als auch deren familiäres und soziales Umfeld.
Das zentrale Ergebnis, so Schneider: »Wir hätten nicht erwartet, dass so viel in der Entwicklung bereits sehr früh festgelegt ist. Über fast alle Persönlichkeitsbereiche hinweg stellte sich heraus, dass die Unterschiede zwischen den Kindern, die wir mit 3 oder 4 Jahren gemessen haben, mit 23 Jahren immer noch weitgehend bestanden.« Untersucht worden waren dabei neben den intellektuellen Fähigkeiten der Kinder unter anderem ihre Feinmotorik, ihr Moralverständnis und ihr soziales Verhalten. Und auch da, leider, weitgehend konstante Messwerte über die Jahrzehnte hinweg: »Jene, die bereits früh als aggressiv auffielen, zeigten auch als Erwachsene soziale Auffälligkeiten. Sie sind häufiger straffällig oder nehmen vermehrt Drogen, und zwar unabhängig von ihrer sozialen Herkunft.« Auch Schneider bestätigt: Die wichtigsten Merkmale in der Persönlichkeit der Untersuchten waren im frühen Grundschulalter bereits festgelegt.
Eigentlich also ist dann, wenn die Schule beginnt, im Kind bereits der Mensch angelegt, der daraus werden wird. Das traditionelle und wohl nicht zufällig weltweit verbreitete Einschulungsalter von sechs Jahren trennt deshalb nicht einfach nur zwischen der Zeit unbeschwerten Spielens und dem Ernst des Lebens – es trennt zwischen der Zeit, in der die Potenziale und Anlagen eines Menschen entstehen, und der Zeit, in der diese Potenziale erkannt und ihre Entfaltung gefördert werden müssen, in Abwandlung des alten Beton-Werbespruchs »IQ – Es kommt drauf an, was man draus macht«.
Denn auch wenn alle Anlagen vorhanden sind, ist damit das Leben noch längst nicht vorbestimmt. Schauen wir uns dafür erst einmal einen ebenso populären wie bildungsfernen Bereich an: Fußball. Fußball spielen (fast) alle Jungen, sie kennen die jeweils aktuellen Stars der Vereine und der Nationalmannschaft, und Fußballprofi ist einer der absoluten Traumberufe für Jungs. Wer immer also eine Begabung zum Fußballspielen hat, wird diese vermutlich entdecken und bestrebt sein, sie bestmöglich zu entwickeln.
Zur bestmöglichen Entwicklung gehört es, dass andere auf diese Begabung aufmerksam werden und sie fördern. Auch hier ist die Wahrscheinlichkeit wohl nirgends so groß wie beim Fußballspielen, dass das passiert: Jeder der großen Vereine betreibt seine eigene Nachwuchsförderung, und jeder beschäftigt Scouts, die über die Dörfer fahren und bei Schüler- und Jugendturnieren nach auffälligen, begabten Spielern Ausschau halten. Diese werden dann, das Einverständnis der Eltern vorausgesetzt, in den vereinseigenen Fußballschulen oder -ausbildungseinrichtungen weiter gefordert und gefördert. Jeder zweite Maradona, Matthäus oder Beckenbauer müsste also entdeckt werden und seinen Weg machen.
Doch als der US-Autor Malcolm Gladwell für sein Buch »Die Überflieger« die Lebensläufe von Fußballprofis studierte, stieß er auf eine Merkwürdigkeit: Überdurchschnittlich viele von ihnen sind in den ersten drei Monaten des Jahres geboren. Das kann nichts mit den Sternzeichen zu tun haben, und vermutlich auch nicht damit, dass sie besonders abgehärtet wären, weil sie ihre ersten Ausfahrten als Baby in klirrender Winterkälte machen mussten. Gladwell fand eine einfachere Erklärung: den Stichtag für die Altersklasseneinteilung bei Jugendmannschaften. Das ist in aller Regel der 1. Januar, weshalb in einer Mannschaft einer Altersklasse die ältesten Mitspieler im Januar geboren sind. Gerade in den untersten Klassen, bei den neun- oder zehnjährigen, machen ein paar Monate Unterschied im Lebensalter noch eine Menge Unterschied in der körperlichen Entwicklung aus. Wenn dann die Talent-Scouts der großen Vereine unterwegs sind, so Gladwell, »meinen sie, dass sie die talentiertesten jungen Spieler herauspicken – tatsächlich aber sind es die körperlich reifsten.«
Und durch diese Auswahl im frühen Alter wird die weitere Karriere in starkem Ausmaß vorbestimmt. Die ausgewählten Jugendlichen werden optimal physiologisch und psychologisch betreut, und verbringen wesentlich mehr Zeit mit Trainieren als ihre Altersgenossen, die weiterhin auf normale Schulen gehen und in normalen Fußballvereinen trainieren. Ursprünglich kleine Unterschiede, geradezu zufällig durch Tagesform oder eben durch ein paar Monate Altersunterschied entstanden, vergrößern sich so von Jahr zu Jahr. Und am Ende werden weder der so herangewachsene Elite-Fußballer noch der hobby-kickende Bäckerlehrling, der damals mit ihm zusammen in der F-Jugend spielte, sich vorstellen können, dass ihrer beiden Karrieren auch genauso gut andersherum hätten verlaufen können.
Gladwell zieht daraus den Schluss, dass es nicht so sehr das Talent eines Menschen sei, das über seinen späteren beruflichen Erfolg entscheide, sondern vielmehr eine ganze Fülle von Zufällen, die über die Lebensjahre verteilt die Entwicklung eines Menschen beeinflussen. Man kann auch einen ganz anderen Schluss ziehen: Die Zahl derjenigen Kinder, die das Zeug dazu haben, eine außerordentliche Karriere zu machen, ist wesentlich größer als die Zahl derjenigen, die es dann tatsächlich schaffen. Würde man hingegen jedem Kind eine ähnlich sorgfältige und intensive Förderung angedeihen lassen wie jener kleinen Gruppe, die es an Elite-Ausbildungsstätten welcher Art auch immer geschafft haben, dann könnte dadurch ein Vielfaches der heute entdeckten Potenziale freigelegt und zur Entfaltung gebracht werden.
Dieses wiederum stellt für das Bildungssystem eine Herausforderung dar, die an eine Zumutung grenzt. In den Worten des Hamburger Sonderpädagogen Ingo Würtl: »In der Pädagogik wird immer deutlicher, dass jeder Mensch eine unverwechselbare Einzigartigkeit ist, ein Unikat, eine Unteilbarkeit (In-Dividualität), und insofern eine nur auf ihn zugeschnittene Form der Pädagogik braucht, und so gewinnt der alte Gedanke der Sonderpädagogik >Jeder Schüler braucht eine Sonderschule für sich allein< wieder an Bedeutung.«
Jeder Schüler braucht seine eigene Sonderschule? Unmöglich! Das wären ja zehn Millionen Schulen in Deutschland, zwei Milliarden Schulen in der Welt! Also formulieren wir den Satz etwas anders: Jeder Schüler ist ein besonderer Schüler. Das wäre schon eher vorstellbar. Und so wie die Fabriken von morgen nicht mehr Massenprodukte, sondern große Mengen von Individualprodukten herstellen werden, so können es auch Schulen und Universitäten schaffen, große Mengen an Individuen auf individuelle Weise zu unterrichten.
Dass aus HABEN und SEIN als Aufgabe an das Bildungssystem ein WERDEN folgt, ist kein zwingender Schluss. Es ließe sich als Aufgabe des Bildungswesens im 21. Jahrhundert genauso gut definieren, in einer Welt überbordender Individualität das große Ganze, das Gemeinsame hochzuhalten und zu lehren. Bevor wir also darüber nachdenken, wie Bildung individualisiert werden könnte, schauen wir erst einmal nach, ob so viel Individualität in der Welt von morgen überhaupt sinnvoll ist und gebraucht wird.
Lucie und der Flamenco
Solera ist eine strenge Flamenco-Lehrerin. Wenn da die Drehung nicht richtig sitzt, dauert der Unterricht schon mal zehn Minuten länger. Und wenn das Tanz-Zeugnis vor den Sommerferien nicht gut genug ausfällt, kann die Schülerin eben nicht in die nächste Altersgruppe aufsteigen.
Lucie biss die Zähne zusammen, als es im September wieder losging. Ihre Freundinnen tanzten jetzt alle in der Juvenil-Gruppe, sie steckte noch immer bei den Duendes, den Zwergen, fest. Aber sie würde Solera schon zeigen, dass sie da nicht hingehörte. Sie kam jetzt immer pünktlich zum Unterricht, sie übte zu Hause und unterwegs; und mitten im November gab Solera ihr den ersehnten Bescheid: »Ab nächste Woche tanzt du nicht mehr montags mit den Zwergen, sondern donnerstags mit den Jugendlichen. «
»Eigentlich könnte man das in der Schule doch auch so machen«, meinte Lucie, nachdem sie sich von der ersten Freude erholt hatte. »Wenn man da sitzen bleibt, ist es immer vor den Ferien, und man verliert immer ein ganzes Jahr. Das ist doch doof. Manche brauchen vielleicht nur ein bisschen länger. Oder sie fangen erst richtig an sich anzustrengen, wenn das schlechte Zeugnis da ist.« Wie Lucie eben.