WESTEND

Ebook Edition

Zum Buch

Oliver Bierhoffs Golden Goal im EM-Finale 1996
gegen Tschechien, Werder Bremens verspielte
Meisterschaft 1986 durch den in der 88. Minute
verschossenen Elfmeter von Michael Kutzop,
Jürgen Sparwassers 1:0 beim einzigen deutsch-
deutschen Duell zur WM 1974: Die legendärsten
Szenen des deutschen Fußballs in einem Buch
zusammengestellt, erzählt von den Fußballhelden
selbst und kommentiert von der Reporterlegende
Manni Breuckmann in seinem beliebten, markanten,
unverwechselbar ironischen Stil.

Author

Manni Breuckmann,

1951 in der Bergarbeitergemeinde Datteln geboren
und bekennender »Ruhri«, war 36 Jahre lang prägender
Bestandteil der samstäglichen ARD-Bundesligakonferenz
im Radio. Ende 2008 zog er sich vom Mikrofon zurück.
Für seine Arbeit wurde er vielfach ausgezeichnet.
Breuckmann ist häufiger Diskussionsteilnehmer in der
sonntäglichen Sendung »Doppelpass« im DSF, zuvor
moderierte er jahrelang das »Morgenmagazin« und
»Westzeit«.

Manni Breuckmann

50 legendäre Szenen
des deutschen Fußballs

WESTEND

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www.westendverlag.de

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Publisher

ISBN 978-3-86489-540-1
© Westend Verlag Frankfurt/Main
in der Piper Verlag GmbH, München 2009
Typografie: Stefanie Silber Gestalten, www.silbergestalten.de
Satz: Fotosatz Amann, Aichstetten
Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany

Inhalt

Vorwort 9

Der Autor möchte vorher noch was sagen

  1 Ein Pfosten zwischen Werder und der Meisterschale

  2 Helmer und das Phantomtor von München

  3 Der König der Fallrückzieher

  4 »Ab heute glaube ich nicht mehr an den Fußballgott.«

  5 Rudi Völler und »het Lama«

  6 12:0 – die Packung aller Packungen

  7 Der berühmteste Spickzettel der Welt

  8 Wenn ein Torhaken die Karriere zerstört

  9 Dat Dörbie oder Ein Torwarttor mit Köpfchen

10 Ewald Lienen und der »Schlitzer«

11 Wie ein Pfosten Frank Mill das perfekte Debut vermasselte

12 »Das Monster von Sevilla«

13 Deutschland gegen Italien – High Noon in Mexiko

14 »Ricken, lupfen jetzt, jaaaa!«

15 England – Weltmeister per Lattenschuss

16 Sparwasser schlägt die BRD

17 Uli Hoeneß und der Himmel über Belgrad

18 Des Kaisers zweite Krönung

19 Hölzenbeins Sitztor in letzter Sekunde

20 Thons Raketenstart ins Profileben

21 Reinders, Pfaff und das Einwurftor

22 »Ich habe fertig!«

23 Camp Nou 1999 oder Bayerns grausamste Sekunden

24 Das goldene Tor des Oliver Bierhoff

25 Auges Tor mit Weitblick

26 Dieter Müller und sein Sixpack

27 Selbst eingewechselt und eingenetzt

28 »I wer’ narrisch!«

29 Magdeburg schlägt Mailand – und keiner schaut zu

30 Mainz und der Aufstieg – aller guten Dinge sind drei

31 Die Revanche für Wembley

32 Deutsch-holländischer Schwalbenzwist

33 Die Mutter aller deutschen Fußballsiege

34 Der Büchsenwurf vom Bökelberg

35 Als der FC im Rotterdamer Morast stecken blieb

36 In Madrid ist ein Tor gefallen

37 Uerdingen gegen Dresden und die verrückteste Aufholjagd der Pokalgeschichte

38 Ring frei: Daum gegen Hoeneß

39 Das Abstiegsdrama von 1999: »Ich melde mich vom Abgrund.«

40 Ligaendspurt 1992: Der Schwabe kommt spät, aber gewaltig

41 Jürgen Croy – Torwart und Pokalheld

42 Kleine Haarprobe, große Folgen

43 Dieter Hoeneß und der blutige Turban

44 Die Schande von Gijón

45 »Mach et, Otze!«

46 König Ottos Durchmarsch oder Der Betze ist ganz oben

47 »Jür-gen Koh-ler Fuß-ball-gott!«

48 HSV gegen Juve und das Traumtor zum Titel

49 Bayers Blamage in der Bayernprovinz

50 Der herrliche Halsbiss des Titanen

Danke, danke!

Vorwort

Liebe Fans,

in Mannis Buch könnt ihr so richtig in Erinnerungen schwelgen. Ich gehöre ja auch schon zum »Club der alten Säcke« und habe viele der Szenen live im Stadion oder am Fernseher erlebt. Am meisten an die Nierchen gegangen sind mir persönlich natürlich die Dramen, die ich mit Bayer Leverkusen durchleiden musste. Da durfte schon mal der Onkel Doktor mit auf die Tribüne kommen, um auf meine Gesundheit aufzupassen. Und das eine oder andere Tränchen ist auch geflossen, zum Beispiel, als wir 2002 im Fernduell mit Borussia Dortmund die Deutsche Meisterschaft versemmelt haben.

Vom Hocker gehauen hat mich auch das Bundesligafinale 2001, als den Schalkern durch diesen Freistoß in Hamburg die Schale stibitzt wurde. Da musste jeder, der aus Fleisch und Blut besteht, mehr als Mitleid haben – wenn er nicht zufällig Bayern-Fan war.

Aber auch bei den Spielen der Nationalmannschaft gibt es unbezahlbare Erinnerungen. Die Weltmeisterschaften 1966 mit dem Wembley-Tor im Finale und 1970 mit dem »Jahrhundertspiel« gegen Italien, als Jubel und Trauer sich im Minutentakt abgewechselt haben, waren richtige Achterbahnen der Gefühle. Später durfte ich ja selber bei großen Turnieren in der DFB-Delegation sein. Ganz nah dabei war ich zum Beispiel bei der WM in Japan und Südkorea, als Deutschland erst im Finale von Brasilien gestoppt werden konnte. Und die Riesen-Weltmeisterschaft 2006 im eigenen Land habe ich als WM-Botschafter für Nordrhein-Westfalen begleitet.

Ich habe den Fußball immer als großes Kino der Emotionen erlebt, in dem ich als Fußballbekloppter (mit mindestens 25 Ausrufezeichen!) mitspielen durfte. Triumphe, Leidenschaften, Enttäuschungen – wer die 50 Szenen in diesem Buch mit den Hauptdarstellern nacherlebt, der macht die Erfahrung, dass Fußball viel mehr ist als ein 1:0, wie es der unvergessene DFB-Präsident Egidius Braun mal formuliert hat.

Manni Breuckmanns Stimme hat mich jahrzehntelang aus dem Radio begleitet; der Mann ist mir so vertraut, es hat mich noch nicht mal gestört, wenn er mir den Stau angesagt hat, in dem ich gerade steckte. Als Fußball-Fachmann ist Manni ein streitbarer Typ. Mit dem kannst du dich kloppen, dass die Fetzen fliegen. Das merkt man auch an den Kommentaren in diesem Buch, da haut er manchmal richtig drauf. Aber nach dem Spiel, bei Bierchen und Bratwurst, da ist er wieder der liebe Junge, der trotz seiner Popularität die Bleischuhe anbehalten hat, um den Bodenkontakt nicht zu verlieren.

Zum Titelbild der »50 legendären Szenen des deutschen Fußballs« muss ich noch etwas ergänzen: Olli Kahn ist ja noch wahnsinniger als ich, aber er hat dazugelernt. Im März 2009 kriegte er in Hamburg den HERBERT-Award als »Newcomer des Jahres« für seinen neuen Job als Fernsehexperte im ZDF. Bei seinen Dankesworten für die Ehrung hat er gesagt: »Da seht ihr mal, ich kann sogar ein Mikrofon in der Hand halten und fehlerfrei und mit richtigem Satzbau reinsprechen und nicht nur Gegenspielern in den Hals beißen.« Wieder ein Beweis dafür, dass jeder Mensch sich steigern und weiterentwickeln kann.

Und jetzt viel Spaß bei Manni Breuckmanns »50 legendären Szenen des deutschen Fußballs«!

Euer Reiner Calmund

Der Autor möchte vorher noch was sagen

Auf dem Buchmarkt gibt es verschiedene Möglichkeiten, um Prügel zu bitten: beispielsweise durch Bücher, in denen klar Position gegen alle Unarten des weiblichen Geschlechts bezogen wird; oder durch Kampfschriften gegen die terroristische Diktatur quengelnder und brüllender Kinder. Mir schwebt als eines der nächsten Projekte eine breite Abhandlung über den wertvollen Beitrag des Rauchens für die kulturelle Entwicklung Europas vor.

Das Werk, das Sie jetzt in Händen halten, ist in Sachen Prügel eine sichere Bank. Denn eine kleine, zu allem entschlossene Jury, bestehend aus Markus J. Karsten und Rüdiger Grünhagen vom Westend Verlag und mir, hat es sich angemaßt, die Wichtigkeit und Unvergesslichkeit von Fußballszenen zu bewerten. Wir haben die Dreistigkeit besessen, aus Tausenden von spektakulären Spielen und Situationen »50 legendäre Szenen des deutschen Fußballs« auszuwählen. Diese Premium-Selection ist darauf angelegt, heftige, hochemotionale Kritik auszulösen.

Warum steht so wenig über Fortuna Düsseldorf drin? Warum wird die gigantische Meisterschaft von Eintracht Braunschweig 1967 nicht gewürdigt? Warum hat Eintracht Frankfurts Europapokalfinale gegen Real Madrid 1960 kein eigenes Kapitel? Und was ist mit Weinheims Pokalsensation von 1990 gegen die großen Bayern? Sie haben alle Recht, wir sinken schuldbewusst in den Staub und küssen die Füße der Kritiker. Aber wir haben uns für die magische Zahl 50 entschieden, denn der Westend Verlag ist mit der 50 sozusagen verheiratet – seien es »50 einfache Dinge, die Sie über Wein wissen sollten« oder »50 einfache Dinge, die Sie tun können, um die Welt zu retten«. Und jetzt also die fünfzig legendären Fußballszenen.

Fünfzig, keine einzige mehr! Da müssen harte Entscheidungen getroffen werden, da dürfen Vorlieben für bestimmte Vereine keine Rolle spielen. Entscheidend nach bestem Wissen und Gewissen ist die Antwort auf die Frage: Was war wirklich legendär und unvergesslich? Es war eine, davon bin ich überzeugt, weise Selbstbeschränkung, keine Hitparade aufzustellen, denn der unvermeidliche Abgrund zwischen letztem Platz und Siegertreppchen wäre von besonders temperamentvollen Lesern sicherlich mit der einen oder anderen Morddrohung gefüllt worden.

Nach langen, manchmal schmerzhaften Diskussionen sind wir felsenfest davon überzeugt, in diesem Buch nur echte Hammerszenen verewigt zu haben. Beschrieben von den Hauptdarstellern oder kompetenten Augenzeugen; ergänzt, veredelt oder versaut durch meine Kommentare oder weiterführenden Anmerkungen. Ich fühle in mir weniger denn je das Bedürfnis, auf die Mächtigen des Fußballs Rücksicht zu nehmen. Die Schwachen zu treten ist nicht meine Art, die Großkopferten kriegen bei passender Gelegenheit das, was sie brauchen.

Für mich war es ein aufregender, nie ermüdender Spaziergang durch die deutsche Fußballgeschichte, bei dem ich viel Neues entdeckt habe. Ich weiß jetzt, wer das Elfmeterschießen erfunden hat, warum der Beagle von Jean-Marie Pfaff »Reinders« hieß, wie Oliver Bierhoff seine Karriere als Werbefigur geplant hat und dass die blutende Kopfwunde von Dieter Hoeneß im Pokalfinale 1982 eigentlich ganz harmlos war. Und ich durfte erfahren, dass die Nationalmannschaft beim vollkommen falsch als »Skandalspiel von Gijón« betitelten Match gegen Österreich 1982 mit vollem Einsatz gekämpft hat.

Für meine Gesprächspartner aus dem Fußball war es nicht immer selbstverständlich, über bestimmte Szenen Auskunft zu geben. Wie oft passiert es, dass ein passabler oder gar großartiger Fußballer immer wieder zu einem winzigen Augenblick des Versagens befragt wird. Deswegen bin ich zum Beispiel Frank Mill besonders dankbar, dass er sich zu seinem krassen Versagen drei Meter vor dem Bayern-Tor 1986 interviewen ließ. Oder Toni Schumacher, der wieder mal über den Vorfall mit Battiston 1982 zu berichten hatte.

Die älteren Leser dürfen ihre Erinnerungen auffrischen, die jungen lernen durch das Eintauchen in die glorreiche Vergangenheit endlich, dass früher alles besser war. Es ist ein Buch geworden, das nur aus Highlights besteht. Ich wünsche viel Lesespaß!

Manni Breuckmann

P. S.: Achtung Kamera! Das Kamera-Symbol neben einer Überschrift bedeutet: Diese Szene können Sie sich in einem der einschlägigen Internetportale in bewegten Bildern anschauen.

Noch mal P. S.: Der Redaktionsschluss für dieses Buch war Ende Juni 2009. Was danach passierte, konnte ich bestenfalls ahnen. Deshalb steht es nicht drin.

1 Ein Pfosten zwischen Werder und der Meisterschale

Weserstadion Bremen, 22. April 1986: Werder Bremen spielt gegen Bayern München und kann sich durch einen Sieg am vorletzten Spieltag vorzeitig die Meisterschaft holen. Zwei Minuten vor Schluss gibt es einen Elfmeter für Werder. Michael Kutzop vergibt die Riesenchance und setzt den Ball an den rechten Pfosten. Der ansonsten sichere Elfmeterschütze erinnert sich:

»Nach dem Elfer muss es im Weserstadion ganz still gewesen sein. Das habe ich aber nicht so richtig mitgekriegt, ich lief wie in Trance im Mittelfeld rum, hinterher haben sie mich durch einen Seitenausgang nach Hause gebracht. Der Sekt für die Meisterschaft stand schon bereit, und ich hab’s vermasselt!

Es war ein Handelfmeter, Sören Lerby sprang der Ball angeblich im Strafraum an die Hand. Ich will es mal so sagen: Keiner hätte es Schiedsrichter Volker Roth übel nehmen können, wenn er nicht gepfiffen hätte.

Die 88. Spielminute lief, mach ich das Ding rein, ist Werder Deutscher Meister. Und dann verzögerte sich alles, weil der Bayern-Co-Trainer Egon Cordes wutentbrannt den Ball weggeschlagen hatte. Damals gab es noch keine Ersatzbälle; es dauerte zwölf Minuten, bis der Spielball auf dem Elfmeterpunkt lag. Genug Zeit für die Bayern-Spieler, mir >Freundlichkeiten< zuzuflüstern und mich mit Schubsern zu traktieren. Die Konzentration war dahin. Trotzdem habe ich es richtig gemacht: Erstmal warten, bis Jean-Marie Pfaff sich in eine Ecke wirft, dann die andere anvisieren und losballern. Aber der Ball ging an den rechten Pfosten! Ich höre ihn heute noch dagegenklatschen. Aus der Traum!

Art

Bremer Fassungslosigkeit und Münchner Jubel nach dem Fehlschuss von Kutzop

Wir hätten es vier Tage später trotzdem packen können: Ein Punkt beim Auswärtsspiel in Stuttgart, und wir hätten die Schale gehabt. Aber der Elfer-Genickschlag hat unsere Moral gebrochen, dagegen konnte selbst der Motivationsweltmeister Otto Rehhagel nichts ausrichten. Stuttgart gewann gegen uns mit 2:1, zweimal Allgöwer, und die Bayern fegten Gladbach mit 6:0 weg.

Ich habe vom Trainer, von den Mitspielern und von allen anderen im Verein keinen ernsthaften Vorwurf gehört. Nur Johnny Otten hat später mal im Spaß gesagt, ich hätte ihn um ein Einfamilienhaus gebracht. Es passte gut, dass wir nach der Saison mit der Mannschaft eine Weltreise machten, da haben sie mich wieder aus dem seelischen Tal geholt. Otto Rehhagel sagte: >Da oben gibt es den Fußballgott, und der wird dir das wieder zurückgeben, was du an dem Dienstagabend verloren hast.< Tatsächlich sind wir ja zwei Jahre später doch noch Meister geworden; Völler, Pezzey und Möhlmann waren aber nicht mehr dabei.

Ich habe auch weiter die Freistöße und Elfer geschossen. Über vierzig Elfmeter sind es in meiner Karriere gewesen, nur zweimal habe ich gepatzt: einmal in der Zweiten Liga gegen Solingen und dann dieses blöde Ding gegen Bayern München.«

Alles Bayerndusel, oder was? MANNIS KOMMENTAR

Bei meinem Abschied vom WDR-Mikrofon Ende 2008 erreichten mich zahllose hymnische Dichtungen, in denen meine Dynamik, meine präzise Spielschilderung, meine Originalität und meine sonore Stimme auf gottgleiche Höhe gehoben wurden. Immer wenn ich beginnen wollte, mich für das Zentrum der Medienwelt zu halten, griff ich – als Gegentherapie sozusagen – zu den Briefen, die mich als mieses Bayernhasser-Schwein brandmarkten.

»Jetzt wirst du nie wieder die Möglichkeit haben, den erfolgreichsten deutschen Club mit deinen widerlichen Tiraden zu besudeln«, schrieb einer. Diese Behauptung ist allerdings sogar dann falsch, wenn ich die obszönen Beschimpfungen abziehe. Als Objekt pseudo-religiöser Verehrung scheiden die Bayern für mich allerdings schon deswegen aus, weil ich aus dem Ruhrpott und nicht aus dem Süden stamme. »Support your local team«, sagen die Engländer, und zwar mit Recht, wie ich finde. Denn die Unterstützung eines Fußballclubs hat auch etwas mit Heimat und Identität zu tun.

Die großen sportlichen Leistungen des Rekordmeisters habe ich immer in den höchsten Tönen gelobt – dabei aber gleichzeitig die arrogante Überheblichkeit der Bayern scharf gebrandmarkt. Nie habe ich mich dazu hinreißen lassen, den »Bayern-Dusel« als eine der Ursachen für die vielen Erfolge ins Schaufenster zu stellen. Weil’s nicht stimmt! Wenn Michael Kutzop oder sonst ein gegnerischer Elfmeterschütze den Strafstoß vergeigt, was hat das mit Glück zu tun?

Vielleicht ist es ja nur die Konsequenz aus dem selbstbewussten Mir-san-mir-Auftreten der Bayern? Sie signalisieren dem Schützen mit einem lockeren Spruch oder per Körpersprache: »Gegen uns wird das nix mit deinem unberechtigten Elfer!« Das nennen nicht nur Bielefelder den Dr.-Oetker-Effekt: Er erzeugt Pudding in den Beinen. Dieser Effekt funktioniert auch telepathisch, auf Distanz, mindestens von München bis Unterhaching: Fragen Sie mal die Leverkusener nach einem bestimmten Spiel im Mai 2000 (siehe Kapitel 49).

Und wenn die Bayern in den letzten Minuten Tore schießen, 2008 gegen Hoffenheim beispielsweise oder – mich graust’s immer noch – beim Bundesligafinale 2001 in Hamburg, dann deshalb, weil sie einfach weitermachen. Du hast sie erst im Sack, wenn der Schiedsrichter abpfeift, keine einzige Sekunde eher. Der Gegner, der dieser Unbeugsamkeit ausgesetzt ist, kriegt Schübe des Dr.-Oetker-Effekts.

Das isses, und sonst nix. Den parteiischen Fußballgott, der das Glück über die frommen Bayern ausschüttet, den lassen wir mal schön in der Sakristei mit den Vorurteilen.

2 Helmer und das Phantomtor von München

Am 23. April 1994 standen sich Nürnberg und Bayern München am drittletzten Spieltag gegenüber. In der 26. Minute bekam Thomas Helmer den Ball vor die Füße, schob ihn aber knapp am linken Pfosten vorbei. Zur Verwunderung aller entschieden Linienrichter Jablonski und Schiedsrichter Hans-Joachim Osmers jedoch auf Tor für die Bayern – und die gewannen das Spiel dann letztlich auch mit 2:1. Osmers äußert sich zu seiner Entscheidung.

»Es gab einen Eckball für die Münchner, der Ball flog Richtung lange Ecke, ein Bayern-Spieler veränderte per Kopf noch etwas die Flugrichtung, und dann landete die Kugel einen halben Meter vor der Torlinie vor den Füßen von Thomas Helmer. Und der bugsierte ihn dann mit der linken Wade, wie man später auf den Fernsehbildern sehen konnte, etwa dreißig Zentimeter neben das Tor. Das habe ich aber nicht wahrgenommen, ich sah nur, wie mein Assistent mit der Flagge signalisierte: Tor für Bayern!

Die Nürnberger protestierten, Helmer sagte, der war ganz klar drin, und ich gab das Tor. Noch in der Halbzeitpause meinte mein Assistent: >Du brauchst dir keine Gedanken zu machen, der Ball war klar im Tor.< Der Nürnberger Manni Schwabl hat dann noch kurz vor Schluss einen Elfer vergeben.

Danach bekam ich ein gewaltiges Mediengewitter ab. Schon beim Rückflug standen vier oder fünf Kamerateams am Bremer Flughafen, ich schaffte es sogar in Sabine Christiansens Tagesthemen. Meine Frau hat am nächsten Tag die Telefonschnur aus der Wand gezogen. Am Tag der DFB-Verhandlung gab’s in Japan einen Flugzeugabsturz mit 230 Toten, in der Tagesschau war das >Phantom-Tor< trotzdem der erste Beitrag. Ich wurde auf Schleichwegen ins DFB-Gebäude gebracht, als wenn ich einen totgeschlagen hätte.

Der Mediendruck war so groß, dass beim DFB eine Spielwiederholung angesetzt wurde, und das trotz einer klaren Warnung von der FIFA, die auch in diesem Fall das Prinzip der Tatsachenentscheidung gewahrt wissen wollte. Aber die Wiederholung hat den Nürnbergern ja auch nicht geholfen, sie verloren 0:5 und stiegen in der Saison ab.

Ich selber habe ein paar Wochen Pause gemacht und danach noch ein Jahr Bundesliga gepfiffen. Spätestens seit dem Helmer-Desaster bin ich der Meinung, bei der Frage >Tor oder kein Tor< dürfte es ruhig elektronische Hilfsmittel geben.«

In dubio pro Schiedsrichter MANNIS KOMMENTAR

Jeden Sonntag tagt das DSF-Fernsehgericht, mit Richter Wonti und Oberstaatsanwalt Udo, dem Weisen. Angeklagt sind regelmäßig die Schiedsrichter, der Richterspruch lautet meistens »Schuldig in allen Punkten«, und zwei- bis dreimal im Jahr wird die Krise des deutschen Schiedsrichterwesens ausgerufen. Wenn einer sich beliebt machen und für einen sicheren Lacher sorgen will, muss er nur sagen: »Im Laufe der Saison gleicht sich doch sowieso alles wieder aus«; dann spielt das Trio La Haze einen Tusch und drei Euro klimpern ins Phrasenschwein.

Die Schiedsrichter sind als Angeklagte bestens geeignet, denn die Beweislast ist oft erdrückend: fünf Zeitlupen aus drei verschiedenen Kameraperspektiven untermauern den Schuldspruch, und die unterlegene Mannschaft hat die wunderbare Möglichkeit, den wahren Grund für die Niederlage zu benennen: Schiedsrichter rotten sich zusammen, um ihrer Verachtung für den Osten mit tendenziösen Pfiffen Ausdruck zu verleihen (der Manager von Energie Cottbus deutete mal so was an), sie benachteiligen aus alter Gewohnheit die Bayern (Uli Hoeneß hat das mal messerscharf analysiert) oder sie pfeifen traditionell für die Bayern (so sieht es der Rest der Liga).

In Wirklichkeit sind die deutschen Schiedsrichter die besten und unbestechlichsten Schiedsrichter der ganzen Welt, Robert Hoyzer von der Jugo-Gang mal ausgenommen. Schiedsrichter in Deutschland stehen für Klarsichthüllen und rechtwinklige Gartengestaltung, in ihrer Freizeit zählen sie Hülsenfrüchte. Aber gerade diese spießigen Eigenschaften sind die Grundlage für präzise Pfiffe in hoch komplizierten Situationen. Nur Korinthenkacker erfüllen die Voraussetzungen für die penible Anwendung und Auslegung der Fußballregeln. Schlamper und Schlawiner wären für das Amt des Unparteiischen krasse Fehlbesetzungen, auch noch so geniale kreative Chaoten würden spätestens nach einer Viertelstunde schreiend in die Kabine flüchten.

Als Dank fürs Pfeifen müssen sich die Schiedsrichter obszön beschimpfen und in den unteren Klassen gar vermöbeln lassen; in den Medien werden sie an den Pranger gestellt, die Nachbarn und die Verkäuferinnen in der Stammbäckerei vergessen wochenlang das Grüßen. Denn der Unparteiische macht zwangsläufig Fehler, auch wenn er noch so akkurat pfeifen will, wird er – ähnlich wie der Reporter am Mikrofon – Opfer der Unzulänglichkeit des menschlichen Sehapparates. Auch drei oder vier paar Augen sind der Komplexität und Schnelligkeit der Ereignisse auf dem Spielfeld manchmal nicht gewachsen.

Genau an der Stelle kommt meistens die Forderung nach elektronischen Hilfsmitteln als Unterstützung des Schiedsrichterwesens (siehe Kapitel 15). Oder das Trio La Haze fängt an zu spielen, von wegen »alles gleicht sich aus«.

Wenn Sie meine Meinung interessieren sollte: Ich bin ein wenig schlampert, hasse Überperfektion und liebe Schiedsrichterdiskussionen im Fernsehen wie bei »Doppelpass«, bei denen ich meistens Partei für die Unparteiischen ergreife. Ganz klar, ich bevorzuge die musikalisch untermalte Variante »in dubio pro Fandel und Co«.

3 Der König der Fallrückzieher

Klaus Fischer ist bis heute (nach Gerd Müller) Torschützenkönig der Bundesliga. Berühmt sind vor allem seine legendären Fallrückzieher. Einer davon wurde Tor des Monats, des Jahres, des Jahrzehnts und – direkt nach Helmut Rahn – des Jahrhunderts.

»Mein erstes Fallrückziehertor erzielte ich in der Saison 1975/76 im Spiel gegen Karlsruhe. Bis dahin kannte die Bundesliga diese spektakuläre Art, Tore zu schießen, so gut wie gar nicht. Später in der Kabine war für alle klar: Das gibt das Tor des Monats.

Allerdings muss man wissen, dass einiges dazu gehört, solche Fallrückzieher zu machen. Wichtig ist, man darf keine Angst haben, denn das Verletzungsrisiko ist hoch, wenn man schlecht oder falsch landet. Richtig trainiert habe ich diese Dinger nie, aber trotzdem, Fallrückzieher ist nicht gleich Fallrückzieher, man benötigt schon eine gewisse Technik.

In Schalke unter Rausch und Horvath habe ich trainiert, die Seitfallzieher – Bälle von links und rechts, egal wie sie kamen, hoch, halbhoch oder flach – immer mit dem Spann zu nehmen. Und daraus entstand dann irgendwann der Fallrückzieher. Man muss natürlich auch ein bisschen Glück haben, aber damit alleine ist es nicht getan. Der entscheidende Punkt ist die Intuition, und irgendwann hatte ich diese Technik verinnerlicht. Klar, die Flanke muss auch stimmen, nicht zu hoch, aber auch nicht zu steil, und Platz braucht man. Wenn ein Gegenspieler zu nahe ist, pfeift der Schiri ab.

Art

»Wichtig ist, man darf keine Angst haben.«

Mein wohl schönster Fallrückzieher wurde genau deswegen leider nicht gegeben. Das war im Freundschaftsspiel gegen die UdSSR. Nachdem ich bereits abgesprungen war, näherte sich von hinten ein Spieler der Russen, der den Ball köpfen wollte. Wir haben uns nicht mal berührt, der Ball landete im Tor, aber der Schiedsrichter pfiff wegen gefährlichen Spiels ab. Sehr schade.

Geradezu lehrbuchartig war auch das Fallrückziehertor 1977 gegen die Schweiz, das spätere Tor des Jahrzehnts. Die Flanke kam von Abi Abramczyk, der genau wusste, wie ich die Vorlage haben wollte. Und in der Nacht von Sevilla, dem Halbfinale gegen Frankreich bei der WM 1982 in Spanien, konnte ich in der Verlängerung mit einem Fallrückzieher zum 3:3 ausgleichen, dieses Mal nicht ganz so spektakulär, dafür aber superwichtig – wir gewannen das anschließende Elfmeterschießen und kamen ins Finale.

Noch heute zeige ich so ein Ding immer mal wieder in meiner Fußballschule. Die Schützlinge dort fragen allerdings nicht danach, die sind vielleicht zu jung und kennen meine Fallrückzieher nicht. Sehen wollen es vor allem deren Väter.

Die hohe Kunst der Fallrückzieher MANNIS KOMMENTAR

Einen Fallrückzieher selber zu machen ist nicht einfach, aber ihn zu erklären, das ist fast noch schwerer. Isi und Jessi (11) aus dem Internet-Kinderforum kidsville versuchen es so: »Wenn jemand zu fallen droht, und es kommt ein anderer Spieler und zieht ihn weg.« Das ist genauso knapp neben der Wahrheit wie die Definition von Nico (12): »Wenn einer schießen wollte und rutscht aus und fällt auf den Po und schießt den Ball noch weg.« Irgendwas mit Wegschießen ist es wohl, das hat Peer (10) aus dem kindernetz am besten begriffen: »Wenn ein Spieler sich hintenrüber fallen lässt und dabei den Ball wegschießt.«

Also: Sich einfach hintenrüber fallen lassen und schießen, schon rauscht die Kugel ins Tor. Das klingt nicht sehr kompliziert, aber die perfekte Durchführung gelingt wegen der hohen Fehlerquote selten: die Koordination der Körperbewegungen, der Flugwinkel des Balles, der richtige Zeitpunkt des Schusses – Klaus Fischer hat die Probleme beschrieben.

Der Fallrückzieher ist eben Kunst, hohe Schule, eine spektakuläre Aktion, die sich aus der Tiefebene des missglückten Flachpasses über acht Meter erhebt. Noch mehr als andere Varianten der Ballbehandlung birgt der Fallrückzieher das Risiko des grausamen Scheiterns, ja die Gefahr, sich furchtbar lächerlich zu machen: Der Spieler fliegt perfekt, trifft aber den Ball nicht, oder er hämmert ihn in Richtung Eckfahne, oder er landet auf dem Rücken wie ein strampelnder Maikäfer und verletzt sich vielleicht noch dabei.

Mitteleuropäische Trainer schätzen das Risiko nicht, sie wollen Kontrolle und Effizienz; deshalb würden manche den Fallrückzieher am liebsten verbieten. Die Artistik und die geniale Kunst gehören eben nicht zum Repertoire und wurden schon immer als »Hack, Spitze, eins, zwei, drei« verhöhnt. Da muss schon einer Fallrückzieher, Hackentrick und Übersteiger schlafwandlerisch beherrschen und sich überdies auch noch »in den Dienst der Mannschaft« stellen, um in der Liga akzeptiert zu werden. Ribéry vielleicht. Aber der ist ja auch schon wieder weg!

Das heißt nun nicht, dass es im deutschen oder im englischen Fußball keine Tore per Fallrückzieher oder zumindest wunderbar anzuschauende Versuche gäbe. So ganz plan- und berechenbar ist dieser Sport eben nicht, obwohl einige wissenschaftlich inspirierte Fußballlehrer das heute gerne sähen.

Und genau deshalb fallen Fallrückziehertore auch dort, wo man sie nicht vermutet. Zum Beispiel im Cottbuser Stadion der Freundschaft: Der Serbe Branko Jelić entschied einen erbarmungswürdigen Kick zwischen den Abstiegskandidaten Energie Cottbus und Karlsruher SC am 15. November 2008 in der 80. Minute, indem er sich hintenrüber fallen ließ und dabei den Ball wegschoss. Geht doch! Aber abgestiegen sind sie dann beide.

4 »Ab heute glaube ich nicht mehr an den Fußballgott.«

Am 19. Mai 2001 hätte Schalke 04 im letzten Spiel im alten Parkstadion Deutscher Meister werden können. Das 5:3 gegen Unterhaching reichte aber nicht, die Bayern holten mit einem 1:1 in Hamburg durch einen zweifelhaften Freistoß in letzter Sekunde die Schale. Schalkes damaliger Manager Rudi Assauer erinnert sich:

»Das Drama fing ja schon am vorletzten Spieltag an, als wir in Stuttgart in der 90. Minute das 0:1 durch Balakov kassierten, und Zickler machte auch in der letzten Minute mit links den Siegtreffer für die Bayern gegen Lautern. Da wussten wir, jetzt stehen unsere Chancen auf den Titel bestenfalls noch bei 50:50. Ich dachte mir: >Die Bayern holen in Hamburg mindestens den einen Punkt, den sie brauchen, der HSV ist nicht stark genug, um die in Schach zu halten.<

Im letzten Spiel gegen die Unterhachinger sah ich bereits die Felle davonschwimmen, denn nach einer halben Stunde lagen wir ja schon mit 0:2 hinten. Und dann haben wir dieses verrückte Spiel noch mit 5:3 gewonnen. Aber in Hamburg, da spielten sie ja noch. Dieses Warten hat mich wahnsinnig gemacht. Ich höre, die Hamburger führen mit 1:0, Schalke ist Meister! Und dann kommt dieser Fuhrmann von Premiere und schreit: >Assauer, das Spiel in Hamburg ist aus, ihr habt’s gepackt!<

Die Leute im Stadion fingen an durchzudrehen. Ich lauf die Treppen hoch in die Kabine und denk: >Ich krieg ’n Schlag. Die spielen noch in Hamburg!< Und dann pfeift der Merk diesen Freistoß, der nie einer war. Das war doch ein verunglückter Ball, keine Rückgabe auf den Torwart. Und Ujfalusi grätscht noch rein, berührt den Ball sogar leicht.