Christina Seidel

MÜTTER OHNE WERT

Scheidung in der DDR – Frauen berichten

Mit einem Nachwort von Dorothea Seefeld

mitteldeutscher verlag

Alle Personen wurden sorgfältig anonymisiert. Jede dennoch vorhandene konkrete Ähnlichkeit der in diesem Buch vorkommenden Figuren mit real existierenden Personen wäre rein zufällig und ist in keiner Weise beabsichtigt.

Gefördert durch die Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Halle.

Für den Förderkreis der Schriftsteller Sachsen–Anhalt e. V. herausgegeben von Christina Seidel

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2014

© mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale)

www.mitteldeutscherverlag.de

Gesamtherstellung: Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)

ISBN 9783954622702

Ohne Frauen geht es nicht,

das hat sogar Gott einsehen müssen.

Eleonora Duse

Was für Kraft doch in den Frauen steckt,

und in den zartesten am meisten.

Clara Blüthgen,

Schriftstellerin und Malerin

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Zitate

Vorwort

Drei Minuten für Po abwischen und frisch machen

Begabung am Küchentisch

Einer ist immer dafür vorgesehen

Das ist so mein Leben

Mit mir hatten sie Pech

Mir fehlt nicht, was ich nicht habe

Hallo, so nicht!

Im Widerspruch aufgewachsen

Von Verhütung wusste ich nichts

Du hast uns seelisch gemordet

Manchmal tanze ich argentinischen Tango

Ich wollte so sehr eine Familie

Die Wende war schlimm

Jetzt könnt ihr euch das Leben richtig schön machen 

Heute wäre ich ins Frauenhaus geflüchtet

Ich hab mich dabei so verloren

Nachwort: Die Alterssicherung der in der DDR Geschiedenen

Endnote

Vorwort

„Wie lange dauert es von einer Idee bis zum fertigen Buch?“, fragte mich nach einer Lesung eine Zuhörerin und schaute mich erwartungsvoll an.

„Das ist schwer zu sagen“, erwiderte ich. „Zwei Jahre, oft länger.“

„Das ist zu lange“, sagte sie enttäuscht, „da sind vielleicht einige schon tot.“

Nun wollte ich mehr wissen und sie begann von „ihrem“ Verein zu erzählen, von „ihren“ Frauen, die noch in der DDR geschieden wurden und nicht wieder heirateten, die bereit wären, ihre Lebensgeschichte zu erzählen, um auf sich aufmerksam zu machen, die Politiker zu überzeugen und zum Handeln zu bewegen, um endlich eine Rente zu kriegen, die ihnen nach Bundesrecht zustehen müsste.

Und so entstand nach einer Idee in nur einem Jahr ein Buch.

16 Frauen, im Alter von 63 bis 90 Jahren, sind die Hauptpersonen. Sie berichteten mir spontan und ungeschminkt, offen und ehrlich, schonungslos, teils bis in ihre Intimsphäre.

Sie erzählen, soweit ihre Erinnerung reicht. Dazu gehört Mut, aber es wirkt auch befreiend, sich Ereignisse von der Seele zu reden, die mitunter mehr als 60 Jahre verschüttet und teilweise so ungeheuerlich sind, dass sie die Leserin, den Leser erschüttern.

Die Frauen sind unterschiedlicher sozialer Herkunft, die ältesten mussten in vier verschiedenen Staatsformen zurechtkommen, sie haben unterschiedliche Berufe erlernt und unterschiedliche Interessen.

Eines jedoch ist ihnen allen gemeinsam, und das verbindet sie gleichermaßen. Sie erhalten keinen Versorgungsausgleich wie westdeutsche Frauen mit vergleichbarer Biografie und müssen mit einer Rente auskommen, die ihrem arbeitsreichen Leben nicht angemessen ist.

Sicher gelang es Frauen auch nach der Scheidung, durch Intellekt und glückliche Umstände ihr Leben zu meistern und heute eine Rente zu bekommen, mit der es sich relativ gut leben lässt. Aber das sind Ausnahmen. Trotzdem sind sie Benachteiligte und als solche auch in diesem Buch vertreten.

„Ich wollte eine Familie“, dieser Wunsch könnte als Motto über ihren Lebensgeschichten stehen und nur diesem Wunsch zuliebe haben sie sich demütigen lassen und vieles erduldet. Nicht in der gleichen Art und Weise, dazu sind die Frauen zu unterschiedlich, wie auch ihre Lebensläufe. Aber sie haben sich fast alle für ihre Familie geopfert, an Selbstverwirklichung keinen Gedanken verschwendet.

Ihre Schicksale berühren und lassen begreifen, wie Frauen auch am Druck familiärer Verhaltensmuster scheitern, wie sie immer wieder versuchen, sich davon zu lösen, aus langem Unterdrücktsein herausfinden, auch oft mit sich hadernd und teils mit schlechtem Gewissen ihren Kindern gegenüber. Die Unabhängigkeit bezahlen einige von ihnen nun mit Alleinsein und einem Leben am Existenzminimum. Aber sie haben erstaunliche Kräfte freigesetzt, nicht aufgegeben, um ihrem Leben auch im Alter noch einen Sinn zu geben.

Es sind keine emanzipierten Frauen, und doch zeugt ihr spätes Handeln von Selbstvertrauen und Souveränität und nötigt uns Achtung ab.

Die Leserin wird ähnliche Verhaltensstrukturen bei sich entdecken, über sich und ihr Leben nachdenken, vielleicht auch dankbar sein, dass sie dieses Schicksal, warum auch immer, nicht ereilt hat.

Christina Seidel

Renate, Jahrgang 1921,

ungelernt, vier Kinder, sechs Enkel,

ein Urenkel

Ihre älteste Tochter Ursel, Jahrgang

1941, ehemalige Postangestellte,

ein Kind, erzählt

Drei Minuten für Po abwischen und frisch machen

Ein Glück, dass man nicht weiß, wie das Leben endet, sag ich. Wenn meine Mutter das geahnt hätte. Das ganze Leben geschuftet, vier Kinder und dann wird sie mit 550 Euro Rente abgespeist. Ihre Nachbarin in W. hat nie gearbeitet, der Mann ist im Krieg geblieben, die kriegt nun 1.000 Euro Hinterbliebenenrente. Diese Ungerechtigkeit stinkt zum Himmel. Wir haben alles versucht, den Petitionsausschuss angeschrieben, aber die werden abwarten, bis sich das biologisch geklärt hat. Vor zwei Jahren haben wir den 90. Geburtstag der Oma gefeiert. Also, wir sagen immer Oma, auch wenn’s die Mutter ist. Gefeiert haben wir mit allen Heimbewohnern, das waren ca. 30, wir vier Kinder und die Schwiegerkinder waren da und die sechs Enkel mit Partner. Einen Urenkel hat sie auch schon. Ich bin ihre älteste Tochter und unehelich geboren, während des Krieges, am 30. September 1941. Einen Monat vorher, am 21. August ist mein Bruder geboren. Ja, so war das damals. Mein Vater war Soldat und in W. stationiert. Da hatte er wohl schon woanders eine Liebste gehabt. Das war ja von der Naziführung gewollt, Adolf brauchte Soldaten. Geheiratet hat er meine Mutter nicht, er wurde bald abgezogen und mich hat er gar nicht zu Gesicht gekriegt. Aber bezahlt, 17 Mark im Monat. Das war eine Menge Geld damals. Dann hat sie einen kennengelernt aus M., den hätte sie gern geheiratet, sie hat oft von ihm erzählt, aber er ist im Krieg geblieben. Hier sehen Sie, ich hab die alten Fotos noch, so sah sie aus, meine Mutter. Nicht wahr, eine hübsche Frau.

Der T. hat sie dann geheiratet, ein Friseur, später wurde er Polizist und dann kam ein Kind nach dem anderen. 1944 der Hans, 1947 der Günter, einer 1948, der hat aber nur kurz gelebt und 1951 Klaus, der Jüngste.

Der T. hat uns immer die Haare geschnitten und oft mit der Mutter gestritten, sie wohl auch mal geschlagen. Wir haben in der alten Schule zur Miete gewohnt; Küche und zwei kleine Zimmer, alle sechs haben wir zusammen geschlafen, nicht auf richtigen Matratzen, nein, auf Strohsäcken, da kam das Betttuch drauf. Die Jungen zusammen bei den Eltern im Bett, ich alleine, der Kleine im Kinderbett vor den Ehebetten. Wenn er geschrien hat, Mutti war immer so kaputt, dann habe ich ihn mit in mein Bett genommen.

Als ich 11 Jahre alt war, hab ich von Leuten aus dem Ort erfahren, dass der T. nicht mein richtiger Vater ist. Da war er aber schon auf und davon, hatte noch einmal meine Mutter geschwängert und ist dann mit einer anderen nach dem Westen, ohne sich um seine Kinder zu kümmern. Mutti hat hier gesessen, geheult, vier Jahre hat es bis zur Scheidung gedauert. Warum, weiß ich nicht, darüber wurde nicht gesprochen.

Ein glückliches Familienleben habe ich nie kennengelernt. Er hat viel getrunken mit seinem Saufkumpan, auch einem Polizisten. Vom Gehalt hat er immer erst seine Schulden in der Kneipe bezahlt, manchmal waren dann nur noch 200 Mark für den ganzen Monat da. Dann ist meine Mutter borgen gegangen, aber mein Opa war ein knausriger Müller, der hatte noch nicht mal 25 Pfennig für seine Enkelkinder sonntags fürs Kino. Erst kurz vor drei, als das Kino anfing, hat er die manchmal rausgerückt. Später, als meine Oma gestorben ist, und mein Onkel das Haus und die Wiese übernommen hat, hat Opa alles auf Heller und Pfennig vom Erbe abgezogen.

Wir selbst hatten kein Viehzeug, keine Landwirtschaft; bei meinen Großeltern habe ich Eier ablesen dürfen. Was hat man als Kind nicht alles gemacht. Ich hatte Schlüpfer mit Gummis an den Beinen, da hab ich die Eier reingesteckt, so ringsum. Als die Oma starb, war’s zu Ende mit Kinogeld und Eiern.

Im gleichen Jahr ist mein Bruder geboren, ich war zehn, habe in der Nacht noch die Hebamme geholt, weil keiner da war, der sich gekümmert hat, das weiß ich noch wie heute. Ich musste immer auf meine Geschwister aufpassen, Kindergarten gab es bei uns noch nicht. War ja das einzige Mädchen und die Älteste, die Jungen waren auch froh, wenn sie draußen spielen konnten. Ich musste drauf achten, dass sie sich umzogen, wenn sie aus der Schule kamen, also ihre Spielsachen anzogen, dann Betten machen, einkaufen, hab bei der Wäsche mitgeholfen. Mutti hat gekocht, wenn sie nach Hause kam. Zeit hatte sie eigentlich nie. Einmal hab ich Kohlen beim Bäcker reingeschaufelt, da hab ich ein Brot zum Abend gekriegt, mit dem kam ich freudestrahlend nach Hause, oder ich hab für andere Leute eingekauft, Wolle gewickelt und dafür mal eine Kleinigkeit bekommen, wie Vitalade. Richtige Schokolade gab’s nur zu Weihnachten, für jeden eine halbe Tafel.

Mutter hat zuerst nur bei ihrem Vater in der Mühle mit geholfen, der hatte sie natürlich nicht versichert, 1957 starb er. Danach hat sie als Landschaftsgestalterin gearbeitet, die ganzen Wälder, die um W. entstanden sind, hat sie mit aufgeforstet. Danach ist sie nach R. ins Drahtseilwerk in drei Schichten. Als ich meinen Mann kennenlernte, war ich grade mal 16. Hab bei der Post gelernt, später in der Finanzbuchhaltung gearbeitet. Geheiratet haben wir wegen der Wohnung, das war ja zu DDR-Zeiten so, man kriegte erst eine Wohnung, wenn man verheiratet war. Das kann man sich heutzutage gar nicht mehr vorstellen. Voriges Jahr haben wir Goldene Hochzeit gefeiert. Ich hab’s besser getroffen als meine Mutter, viel besser. Mein Mann verwöhnt mich, seit er Rentner ist.

Mutter hat auch nie viel Geld verdient und ich glaube, sie war ganz froh, als ich aus dem Hause ging, dann mein Bruder, der lernte Maurer, der nächste wurde Meliorationsbauer. Als alle aus dem Haus waren, ging’s ihr besser. Weil der T. nichts für uns Kinder gezahlt hat, ist das damalige Jugendamt eingesprungen und hat 3.600 Mark gezahlt. Das musste sie aber alles zurückzahlen, als wir groß waren und Lehrlingsgeld kriegten.

Nein, einen Freund oder Geliebten hatte sie nicht, so lang ich mich erinnern konnte.

Wer nimmt eine Frau mit vier Kindern? Hier ist sie auf dem Foto mit ihrem Kollektiv, die einzige Frau unter lauter Männern. Vielleicht war sie auch enttäuscht von den Mannsbildern oder die waren alle verheiratet.

Später hat sie dann in der Werkzeugausgabe gearbeitet, wurde auch mal als Aktivist ausgezeichnet. Erst mit 62 ist sie in Rente gegangen, um Betriebsrente zu kriegen, 27 Mark. Als das Werk in R. Westfälische Drahtindustrie wurde, fiel das weg. Nach der Wende ist die Oma auch verreist, aber seitdem sie sich im Bus verletzt hatte, die saßen noch gar nicht alle, da ist der losgefahren, ist sie zu Hause geblieben.

Dann kamen die Wehwehchen, eins nach dem anderen und besonders der Zucker hat ihr zu schaffen gemacht. Wir sind in der Woche zwei-, dreimal zu ihr. Sie hat zwar immer versucht, mobil zu bleiben, ist ihren Lieblingsbeschäftigungen nachgegangen, stricken, häkeln, fernsehen, lesen, aber allmählich ist sie erblindet. Auch die Freundinnen wurden immer weniger. 2002 haben wir hier den Anbau gemacht, alles behindertengerecht, und sie im Herbst 2003 zu uns geholt. Sicher mussten wir Aufklärungsarbeit leisten, sie wollte auf ihrem Dorf bleiben, hatte es aber dann wirklich gut bei uns. Sie ist im Garten rumgelaufen, hat sich an den Blumen erfreut. Mein Mann behauptet, ich hab den grünen Daumen; wir haben draußen gefrühstückt, gemeinsam Mittag gegessen, jeden Tag bin ich dann mit ihr mit dem Rollstuhl raus, ich musste sie auch spritzen.

Sie hatte ihren eigenen Fernseher, man hat ja doch einen anderen Geschmack, will nicht immer „Der Berg ruft“ sehen. Am Anfang hat sie auch noch gekocht, gebügelt, aber dann ist sie völlig erblindet und wurde taub, man musste richtig brüllen. Sie konnte nicht mehr fernsehen, kein Radio hören, die Häkelnadel blieb im Schrank. Wenn man im Kopf gesund ist, dann grübelt man. Sie wollte nicht mehr aufstehen, hat sich selbst mehr oder weniger aufgegeben, in der Nacht zehn-, zwölfmal gerufen, konnte nicht schlafen, saß ewig auf dem Klo, hat im Bad den Vorhang zerschnippelt, ist auch mal ausgerastet, ausgerissen. Wir haben sie dann wieder eingefangen. Einschließen durften wir sie nicht, weil das Freiheitsberaubung ist. Oben auf der Treppe hat sie gesessen, im Nachthemd, wollte sich runterstürzen, hatte keine Lust mehr aufs Leben. Wir haben ständig in Angst gelebt und alles, was mit Streichhölzern oder so zu tun hatte, rausgeräumt.

Ich wurde krank, der Pflegedienst und mein Mann haben sich um die Oma gekümmert, aber es ging dann irgendwie nicht mehr. Sieben Jahre hat sie bei uns gewohnt. Vor drei Jahren ist sie in das neue Altenheim nach K. gekommen.

Dort ist es noch schlimmer geworden. Erzählen Sie mal einer 92-jährigen Frau, die geistig noch voll da ist, dass sie in die Windel machen soll! Sie ruft, will klingeln, da haben sie die Klingel so hochgebunden, dass sie nicht rankommt, weil sie eben zu oft geklingelt hat. Es ist jetzt ganz furchtbar, ich komme immer weinend raus. Mein Mann kann sich das Unglück nicht ansehen. Aber meine Geschwister kümmern sich auch. Fast jeden Tag ist einer bei ihr. Jetzt erzählt sie oft von ihrer Schwester, die mit 18 an Diphtherie gestorben ist. Das hat sie nie verwunden. Im Kopf ist sie auch heute noch völlig klar. Sie kann die ganzen alten Volkslieder noch, „Am Brunnen vor dem Tore“ und so, singt wie eine Heidelerche.

Manchmal singt sie auch Lieder aus dem „Königin Luise Bund“. Das verbieten sie ihr dann im Heim.

2.600 Euro kostet der Platz. Rente und 1.500 Euro Pflegegeld, sie hat Pflegestufe 3, reichen nicht; 660 Euro fehlen. Die bezahlt nun das Sozialamt. Wir mussten sämtliche Konten aufdecken, bis zu den Enkelkindern. Nur eine Bestattungsgrundlage von 2.600 Euro durften wir beiseitelegen. Die 0,25 Prozent Zinsen müssen wir auch immer abführen. Wir haben einen dicken Ordner „Oma“ angelegt. Friseur, Zehennägel verschneiden, das alles muss von außen bezahlt werden. Waschzeug, Shampoo, alles muss mitgebracht werden.

Wenn wir ihr Strümpfe kaufen oder eine Jogginghose, das müssen wir alles abrechnen. 100 Euro Taschengeld, mehr darf sie nicht kriegen, ach ja und die 41 Euro Blindengeld, das ist ihres, das wird ihr nicht abgezogen.

Neulich haben sie mich doch im Heim gefragt, ob wir keine Uhr für die Oma hätten. „Sie braucht keine Uhr, sie ist doch blind“, hab ich gesagt. Aber beim Pflegepersonal geht’s nur nach der Zeit. Hintern abwischen und Oma frisch machen drei Minuten; die dürfen als Pflegepersonal keine Uhren tragen, wegen der Verletzungsgefahr. Die Schwestern sitzen nur am Schreibtisch und krakeln in irgendwelchen Papieren, so läuft das da ab, bei der Menge Geld, die fließt. Das befremdet mich. Für das Geld müsste rund um die Uhr jemand da sein.

„Ist ja wie in der DDR früher“, sagt mein Mann, „Motorhaube öffnen, 60 Pfennig, Motorhaube schließen, wieder 60 Pfennig.“

Oder gerade gestern kommt eine Hilfsschwester rein und sagt: „Können Sie nicht gleich mal den Essenplan mit Ihrer Mutter fertig machen?“ Ich frage: „Und warum machen Sie das nicht?“ Da sagt die doch tatsächlich, ich traue meinen Ohren nicht: „Ich kann nicht lesen und schreiben, mir hat das keiner beigebracht.“ Also, da kannst du nur mit dem Kopf schütteln, und die bringt den alten Leuten womöglich noch die Arznei. Ist ja überhaupt erstaunlich, dass sie das verraten hat.

Wir, mein Mann und ich, wollen, solange wie es geht, hier im Haus bleiben. Das haben wir ja erst im Rentenalter gekauft. Es sind noch Schulden drauf, aber unser Sohn würde das übernehmen und weiter bezahlen.

Jetzt blühen bei uns schon die Winterlinge. Haben Sie die im Vorgarten gesehen? Ich habe so viel Freude an den Blumen. Wenn Sie wollen, gebe ich Ihnen welche mit.

Clara, Jahrgang 1931,

Beruf: Künstlerin,

vier Kinder, fünf Enkel

Begabung am Küchentisch

Wenn die Menschheit nur aus Wunschkindern bestände, dann wäre sie schon längst ausgestorben. Nein, mein Ziel waren – weiß Gott – nicht vier Söhne, mein Ziel war, meine Begabung zum Beruf zu machen.

„Wenn die Kinder erwachsen sind, kannst du ohne Sorgen mit deiner Malerei anfangen“, hat er damals gesagt, der spätere Herr Professor. Und ich habe ihm geglaubt. Es dauerte lange, bis sie erwachsen waren. Erst zur Wende waren alle aus dem Haus, ich war 58, Invalidenrentnerin und hatte kaum Geld verdient.

Als Kind war ich immer mit Klassenspitze und in der Schule ganz schön beliebt.

Einmal bin ich in der Mathestunde vor Hunger umgefallen, von da an haben mir zwei Freundinnen jeden Morgen zwei Brotscheiben mitgebracht, so sozial waren die Familien damals eingestellt. Ich habe denen dann auch bei den Schularbeiten geholfen. Ich hatte immer Ideen, mich allein zu beschäftigen, hab in der Natur rumgeschnüffelt, alles hinterfragt und dadurch Wissen gesammelt von anderen, die das beantworten konnten. Die Hausaufsätze hat meine Mutter geschrieben und ich hab immer eine Eins gekriegt. Begabung am Küchentisch war das bei ihr, sie konnte ihre Ambitionen auch nicht umsetzen, musste die Familie versorgen, weil weiblich. Ich hab eine Wut auf diese Konstellation gekriegt.

Im Krieg und auch danach musste ich immer mit für Nahrung sorgen, das war ja das Grundproblem. Wir waren vier Geschwister, ich war die Älteste. Einer meiner Brüder ist dann gestorben, an Kriegsdiphtherie, so nenn ich das.

Mein Vater hatte drei Einberufungsbefehle, die sind jedes Mal zurückgezogen worden, weil er in einer Munitionsfabrik gearbeitet hatte. Nachher schufteten dort Ausländer als Hilfskräfte, die waren so ausgehungert, da hat mein Vater ihnen von unserem bisschen Nahrung was mitgenommen, heimlich natürlich. Wenn Bombenalarm war, sind sie auf die Felder gerannt, haben sich unter Strohballen versteckt, und ringsum flogen die Granatsplitter.

Wir wohnten in einer Siedlung am Rande von S. und blieben wie durch ein Wunder vor Zerstörung im Krieg verschont. Ich hab bei Alarm mit im Keller gesessen und hatte Todesängste. Die Erinnerung an den Krieg ist wie ein Trauma. Ich kann diese Nachrichten über die ständigen Kriegsschauplätze nicht mehr ertragen. Zola hatte schon recht mit der Bestie Mensch oder dem Tier im Menschen.

Auch nach Kriegsende hatte ich noch schaurige Erinnerungen, wie Frauen auf der Ostseite der Elbe vor den Vergewaltigungen der Mongolen flohen, wie sie heimlich über den Fluss schwammen. Die Soldaten konnten keinen mehr totschlagen und mussten ihren Adrenalinspiegel normalisieren, sich abreagieren. Ich hab keine Illusionen mehr, ich weiß, wie weiblich und männlich von Natur aus konstruiert sind.

Es war am 1. Juli 45. Ich erinnere mich noch ganz genau an diese plötzliche Stille. Die Amerikaner waren verschwunden. Mit denen hatte man sich ja gut unterhalten können, ich hab übersetzt, ich konnte Englisch. Der Buschfunk meldete dann, dass die Mongolen in Kürze auftauchen. Die Elbbrücke hatten die Nazis gesprengt, so dass die Soldaten eine Fähre benutzen mussten. Es war höchste Spannung. Ich bin heimlich über den Acker bis zu meiner Freundin, deren Haus an der Straße stand, wo die lang mussten. Dann haben wir hinter dem Fenster auf die Mongolen gewartet. Wir wollten sehen, was das für Menschen waren; ob es überhaupt welche sind. Das dauerte Stunden und dann kamen die tatsächlich mit ihren Pferden, ihren Pelzkutten und Pelzmützen und trippelten mit ihren Ponys weiter. Die sahen sich so ähnlich, die Ponys und die Mongolen. Ja, und dann ging die sowjetische Diktatur los, so nenn ich das.

1948, ich war 16 und fing mit Pubertätsgefühlen an, durfte ich zum ersten Mal tanzen gehen, im Stadtpark. Der spätere Herr Professor stand im Hintergrund und ich fühlte, wie er mich mit Blicken durchbohrte. Es war der 30. Juni. Vielleicht war ich zu naiv, auf jeden Fall zerschmolz ich als junges Mädchen vor Mitleid, das ist mein Schwachpunkt, das weiß ich heute. Ich habe mit 16 Jahren Stunden an seinem Bett verbracht, weil er schwer Asthma hatte, er kriegte Ephedrin vom Arzt gespritzt, und ich hab versucht, ihn ein bisschen aufzubauen, nicht wissend, wohin das führt. Sein kleiner Bruder war an Bronchitis gestorben. Nein, verknallt war ich nicht, er gefiel mir vom Aussehen her, ich hatte durch meine Begabung ja auch ein starkes ästhetisches Empfinden. Meine Kindheitsliebe, auch in der Form, war Schiller; ich hätte ihm ein klein wenig die Backenknochen zusammengeschoben, besonders in dessen Nase war ich verliebt.

Wir haben dann zusammen an der „Burg“ in H. studiert. Übrigens ließ bei ihm, dem späteren Herrn Professor, das Asthma nach, nachdem er ausreichend seine Hormone abbauen konnte. Dieses Phänomen sollten Mediziner mal untersuchen.

Eigentlich wollte ich nach Amerika. Meine Freundin war dorthin ausgewandert, ihre Asche schwimmt heute schon auf dem Atlantik, ich wäre ihr hinterher, wenn ich die Aufnahmeprüfung hier an der „Burg“ nicht bestanden hätte. Ich hatte schon alles vorbereitet. Heute bin ich froh, dass nichts daraus geworden ist, es hätte mich bestimmt auch wieder ein Mann gegriffen.

Die Prüfung hab ich mit Bravour abgelegt, aber ich war nie großmannssüchtig, ich hab mich gefreut und mit Wandmalerei begonnen, der spätere Herr Professor mit Bildhauerei.

Wir waren in meiner Klasse, glaube ich, neun Studenten. Es war ja zu DDR-Zeiten nicht so problematisch, einen künstlerischen Beruf auszuüben.

Geheiratet haben wir 1953, ich sag immer, es war eine Vertragsehe, damit wir Anspruch auf eine gemeinsame Wohnung hatten. Die Hochzeit war erbärmlich, das war kein „Fröhlich sein und Singen“, kurz zum Standesamt, mit Ach und Krach, dass ich vom Acker Weizen geklaut habe und meine Mutter ein bisschen backen konnte. Wir hausten in einer Dachkammer, 12 qm groß, zwei Betten und ein Tisch, das war alles, und dort stellten wir das erste Kind her. So können Sie das nicht schreiben, aber so ist es. Ich habe es satt, immer zu bagatellisieren und damit die Wahrheit zu verscheuchen. Ich war ja so was von arglos, wusste nicht, was gemeinsames Wohnen bedeutet. Ein halbes Jahr habe ich den Sohn an der Mutterbrust gehalten, ich hatte ja kaum Brust, dann hatten wir abgesprochen, dass meine Eltern ihn übernehmen, damit ich mein Studium weiterführen kann. Ich beendete es, im 7. Monat schwanger, mit einem türgroßen Fresko, wunderschön, drei Schichten Putz und dann auf frischen Putz gemalt, zwei Mädchen, das eine hält Rüben im Arm, das andere ist gebückt und gräbt sie aus der Erde. Das Thema hieß Ernte, und so waren die damaligen Verhältnisse und Probleme, heute wird es vielleicht gar keiner verstehen. Von den Nachfolgern wurde alles abgehackt und die Zeichnung fand mein Jüngster vor ein paar Jahren zerfetzt unter dem Kohlenberg. Das hab ich auch dem Herrn Professor zu verdanken.

Ich hätte noch ein Diplomjahr anschließen müssen, aber das war unmöglich mit dieser Belastung. Ich musste nach Nahrung, nach Windeln Schlange stehen; wir hatten jeder 125 Mark Stipendium, davon gingen 20 Mark Miete ab. Ich habe genäht, aber wir waren arm, arm, arm, haben manchmal hungern müssen.

Er hat das Diplomjahr durchgezogen, danach kam der dritte Sohn. Mit jedem Sohn sind wir umgezogen, 1963 dann in diese Inflationsruine hier, Baujahr 1926. „Ich mache die Mäuse“, hat er gesagt, „du machst alles andere.“ Er besorgte auch die Handwerker, ich habe die dann versorgt, auch die Kinder, gekocht, den Dreck weggemacht, der bei Bauarbeiten anfiel, das hat der spätere Herr Professor gar nicht mitgekriegt.

Er hat vormittags geschlafen bis 10, und ich hatte ab 6 Uhr schon die erste Schicht hinter mir und dann war er wütend, dass ich, wenn er erwachte, nicht griffbereit neben ihm lag. Gegen Mittag ist er in die „Burg“, und erst, wenn die Kinder alle im Bett lagen, kam er nach Hause. Dann habe ich für ihn die Arbeiten getippt, um Mitternacht ging es ins Bett, er reagierte sich ab. Ich hatte immer nur ein paar Stunden zum Schlafen, um zwei brüllte der Säugling.

Als der drei Jahre alt war, wollte ich wieder mit dem Malen anfangen. Mit einer Freundin haben wir einen leer gewordenen DDR-Fleischerladen gemietet, für 25 Mark, die Freundin hatte auch drei Kinder. Aber nach ein paar Jahren war auch das wieder vorbei.

Mit Familie R. waren wir seit der Studienzeit befreundet, sie waren ein Jahr über uns und die erste Information erhielt ich von A. R., dass mein Mann fremdging. Seit zwei Jahren war er Professor mit einem Monatsgehalt von 5.000 Mark.

A., die Bildhauerin, hatte ja auch allerhand hinter sich, der sind auch vier Kinder gemacht worden, oh, wenn ihr Mann jetzt hier sitzen würde! Aber die haben es bewältigt und ich gönne es denen, dass sie berühmt geworden sind. Sie hat gesagt: „Ich lasse mich nicht zum Haushalt zwingen und mir auch kein Haus aufzwingen.“ Als ich in ihre Wohnung kam, da konnte ich vor Müll nicht treten, aber da hat sie sich nichts draus gemacht, sie war ein Pyknikerweib.

Sie hat es mir also berichtet, und dann gingen das Theater und der Terror los. Erst hab ich noch gedacht, es ist machbar. Mit Tränen in den Augen hat er gesagt, er habe sonst noch nichts mit anderen Frauen erlebt. „Dann bring das in Ordnung und es ist vergessen“, hab ich gesagt.

Aber es ging mit ihm nicht, ich brach zusammen, kriegte das Riesenmagengeschwür; damals hatte ich noch Zähne, hab sie zusammengebissen vor Schmerz, das Geschwür blutete, ich war so blutarm, dass ich in der Stadt umgefallen bin. Die Magenoperation verlief mit Komplikationen, über 20 kg hatte ich abgenommen. Von November 77 bis Ende Januar 78 lag ich in der Klinik. Meine Eltern haben sich um den Jüngsten gekümmert. Ich wurde Vollinvalid.

Mein Anwalt wollte auf Grund meines Zusammenbruches und meiner Invalidität durch den Terror hier die Ehe erhalten.

Der Herr Professor meinte dazu: „Ja, du darfst weiterhin für Haus und Familienarbeit bleiben, aber ich will endlich meine Freiheit haben und mein Leben genießen, mit ihr schlafen und reisen.“ Das ging entschieden zu weit und ich habe in die Scheidung eingewilligt. Er ist nicht weit von hier weggezogen, hat sich ganz in der Nähe ein Atelier bauen lassen.

Mein Jüngster war damals 8 Jahre alt und hat in vielen Szenen furchtbar gelitten. Er wollte einen Vater, der ihn schützt und ihm hilft. Als ich mit ihm beim Arzt war, ein halbes Jahr nach meinen Operationen, hat er gesagt: „Mutti, den kannst du nehmen.“

Anfangs musste der Herr Professor mir 1.000 Mark Unterhalt und für vier Söhne noch mal 1.000 Mark zahlen, so dass ihm alleine 3.000 blieben und uns zu fünft 2.000. Das sind Relationen, aber damit konnte ich leben und die Kinder ernähren.

Das wurde dann stufenweise immer weiter herabgesetzt, das hat er beantragt, und als die Wende kam, hat er beim Oberlandesgericht in N. erreicht, dass er komplett von der Unterhaltszahlung befreit wird. Auch mit dem Magenstumpf kann man arbeiten gehen, hat er gefordert.

Einmal hat mich so ein Zeitungsreporter besucht und gefragt: „Was haben Sie eigentlich geleistet für die Gesellschaft?“

Ich war verblüfft, musste erst überlegen, was der meinte und dann habe ich Fotos rausgesucht von meinen Söhnen und diese Bilderwand hier gemacht. Und diesen Zeitungsausschnitt „Hausmann ein schwerer Job“ dazugeklebt.

Wenn der noch mal kommt und so dumm fragt, zeig ich’s ihm.

Der älteste Sohn ist auch Bildhauer geworden, hat in D. studiert. Ein Kollege meines Mannes hat mich gefragt: „Warum hat er denn nicht hier in H. bei Prof. L. studiert?“

Weil mein Mann gesagt hat, weg mit dem, weg von Mutters Rockzipfel; der war eifersüchtig auf die Söhne. Ja, da hat er mich nur groß angeschaut.

Der zweite ist zum Studium nach P. und heute Restaurator. Der dritte war Naturfanatiker und ist im Wald hängengeblieben, arbeitet heute als Forstwirt.

Der Jüngste hat auch eine Riesenbegabung. Er ist Industrie-Designer und Maler, ja, er hat denselben Vornamen wie sein Vater, da ging der ja auch noch nicht fremd.

Mit ihren Frauen hatten alle vier kein Glück. Die erste des Ältesten erlitt mit 33 einen Herzinfarkt. Ihr siebenjähriger Sohn lag im Bett neben ihr und fragte: „Mutti, was ist denn?“ Aber Mutti rührte sich nicht mehr.

Mit der Frau, mit der er danach 20 Jahre zusammen war, ist die Ehe nun auch auseinandergegangen. Sie hat durchgedreht, wurde seit 2003 in Kliniken behandelt, hat das Leben nicht verkraftet, sie hat ein paar Mal die Flucht ergriffen, weil sie ihre Wut über ihr Leben nicht ablassen konnte. Das hat er nun nicht mehr ausgehalten.

Sie hatte übrigens 1981 mit meinem zweiten Sohn eine Tochter. Aber diese Beziehung hielt nicht, er ist wohl immer fremdgegangen.

Die Frau meines dritten Sohnes ist 40-jährig an Brustkrebs gestorben. Zwei Kinder hatte er mit ihr, die eine ist schon durch Kanada gewandert und anschließend durch China, einmal ist sie auch hier aufgetaucht. Die Jüngere will jetzt in Berlin Literatur studieren, kann wunderbar schreiben. Er hat auch die Frauen mehrfach gewechselt, aber das ist ja alles nicht einmalig. Ich sage: Baut doch endlich mehr Bordelle, dann müssen sie bezahlen, das ist nicht verkehrt, das ist naturbedingt.

Die Frau, das Weib, hat ein stärkeres Sozialsystem entwickelt, das habe ich gerade gelesen, das ist so logisch. Der Mann kann doch eine Affenherde von 50 Weibern haben und die übrige Zeit nach seinem Erguss hat er frei, aber das können wir der Welt nicht erzählen