Matthew Quick

Happy Birthday, Leonard Peacock

Aus dem Englischen von Knut Krüger

Deutscher Taschenbuch Verlag

Deutsche Erstausgabe

2014 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

© für die deutschsprachige Ausgabe:

2014 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

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eBook ISBN 978-3-423-42352-6 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-74006-7

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Für die Leuchtturmwärter –
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft

Ich bitt dich, lass die Hand von meinem Hals;

Denn wenn ich auch nicht jäh und heftig bin,

So ist doch was Gefährliches in mir.

Sei klug und fürcht es. Weg die Hand!

Aus Hamlet von William Shakespeare

Eins

Die Walther-P38-Nazi-Pistole sieht ziemlich albern aus, wie sie da auf dem Frühstückstisch neben der Müslischale liegt. Wie irgend so ein abgedrehter anachronistischer Steampunk-Gegenstand aus den Achtzigern. Doch wenn man ganz genau hinsieht, erkennt man über dem Griff das Hakenkreuz mit dem Reichsadler – sie ist also absolut echt.

Ich mache ein Foto mit meinem iPhone und denke, das könnte ein Beweisstück oder moderne Kunst sein.

Als ich das Foto auf dem Display anschaue, lache ich mich schlapp, weil moderne Kunst so ein Schwachsinn ist.

Ich meine, hey, diese Nazi-Knarre, die neben der Müslischale liegt wie ein Löffel, das könnte doch wirklich moderne Kunst sein, oder?

Schwachsinn.

Aber auch lustig.

In echten Kunstmuseen habe ich noch viel größeren Schwachsinn gesehen, eine weiße Leinwand, über die sich ein dünner roter Pinselstrich zog, sonst nichts.

Ich hab Herrn1 Silverman mal von diesem Bild erzählt und gesagt, so einen roten Strich auf eine weiße Leinwand malen könnte ich auch. Darauf hat er selbstbewusst geantwortet: »Aber du hast es nicht getan.«

Eigentlich eine ziemlich coole Antwort, außerdem hat er ja recht.

Damit hat er mir echt das Maul gestopft.

Und jetzt erschaffe ich eben noch ein bisschen moderne Kunst, ehe ich sterbe.

Vielleicht landet mein Handy ja mal im Philadelphia Museum of Art, damit die Leute mein Nazi-Knarre-Müsli-Werk auf dem Display bewundern können.

Sie können es Frühstück eines Jugendkillers nennen oder ihm einen anderen lachhaften und schockierenden Titel geben.

Die Kunstwelt wird voll drauf abfahren, jede Wette.

Und mein Kunstwerk auf einen Schlag weltberühmt werden.

Vor allem nachdem ich erst Asher Beal und dann mich selbst abgeknallt habe.2

Der Wert von Kunstwerken schießt ja meistens so richtig in die Höhe, wenn rauskommt, dass der Künstler einen Knall hatte, sich das Ohr abgeschnitten hat wie van Gogh, seine 13-jährige Cousine geheiratet wie Edgar Allan Poe oder irgendwelche Promis umbringen ließ wie Charles Manson. Man kann natürlich auch seine eigene Asche mit einer riesigen Kanone abfeuern wie Hunter S. Thompson, sich von seiner Mutter wie ein kleines Mädchen anziehen lassen wie Hemingway oder ein Kleid aus rohen Fleischresten tragen wie Lady Gaga oder so unaussprechliche Dinge erlebt haben, dass man erst einem Mitschüler und dann sich selbst das Licht ausbläst, wie ich es nachher tun werde.

Mein Doppel-Mord-Selbstmord wird Frühstück eines Jugendkillers 3 zu einem unbezahlbaren Meisterwerk machen, weil die Leute wollen, dass Künstler komplett anders sind als sie selbst. Wenn du langweilig, nett und normal bist – wie ich früher –, wird du im Kunstkurs deiner Schule keine Chance haben und auch später nur als Pseudokünstler angesehen werden.

Von den Massen verachtet.

Jeder weiß das.

Jeder.

Der Trick besteht darin, etwas zu tun, was den Leuten ewig im Gedächtnis bleibt.

Weil es etwas bedeutet.

Zwei

Ich packe die Geburtstagsgeschenke in das rosa Geschenkpapier ein, das ich im Schrank auf dem Flur gefunden habe.

Eigentlich wollte ich die Geschenke nicht einpacken, aber irgendwie habe ich doch das Gefühl, dass ich diesem Tag einen offiziellen, feierlichen Charakter verleihen sollte.

Ich hab keine Angst davor, jemand könnte mich für schwul halten, weil mir total egal ist, was die Leute in diesem Punkt denken. Also meinetwegen das rosa Papier, obwohl mir eine andere Farbe lieber wäre. Schwarz würde vielleicht besser zu dem passen, was ich vorhabe.

Das Einpacken der Geschenke verschafft mir so ein wohliges Gefühl, als wäre ich ein kleines Kind an Heiligabend.

Irgendwie fühlt es sich richtig an.

Ich vergewissere mich, dass die Pistole gesichert ist, bevor ich die geladene Walther P38 in das alte Zigarrenkästchen aus Zedernholz lege. Das habe ich von meinem Vater geerbt, der eine Schwäche für illegale kubanische Zigarren hatte. Ich stopfe ein paar alte Socken dazu, damit die Kanone nicht hin und her rutscht und mir versehentlich eine Kugel in den Hintern jagt. Dann schlage ich auch das Kästchen in rosa Geschenkpapier ein. Es soll ja keiner auf den Gedanken kommen, ich könnte eine Pistole mit zur Schule nehmen. Und selbst wenn es unserem Direktor – warum auch immer – einfallen sollte, unsere Rucksäcke zu durchsuchen, kann ich immer noch sagen, es wäre ein Geschenk für einen Freund.

Das rosa Papier wird sie hinters Licht führen und die Gefahr verschleiern. Nur ein Riesenarschloch würde mich zwingen, so ein hübsch eingepacktes Geschenk zu öffnen.

Mein Rucksack ist noch nie durchsucht worden, aber ich will kein Risiko eingehen.

Vielleicht wird die P38 ja ein Geschenk für mich sein, wenn ich sie nachher auspacke und Asher Beal erschieße.

Vermutlich wird sie mein einziges Geschenk bleiben.

Abgesehen von der P38 habe ich vier Geschenke dabei, je eines für meine Freunde.

Ich will mich richtig von ihnen verabschieden.

Ich will ihnen etwas geben, das sie an mich erinnert. Damit sie wissen, dass sie mir wirklich etwas bedeutet haben und es mir leidtut, nicht mehr gewesen zu sein, als ich war. Dass ich einfach nicht bei ihnen bleiben konnte und es nicht ihre Schuld ist, was heute passieren wird.

Ich will nicht, dass sie sich meinetwegen schlecht fühlen oder sich hinterher den Kopf zerbrechen.

Drei

Mein Holocaust-Lehrer, Herr Silverman, rollt nie seine Ärmel nach oben, so wie alle anderen männlichen Lehrer auf der Highschool. Jeden Morgen erscheinen sie in ihren frisch gebügelten Hemden, deren Ärmel bis zu den Ellbogen aufgekrempelt sind. Auch das an Freitagen obligatorische Polohemd hat er noch nie getragen. Selbst in den wärmeren Monaten hält er seine Unterarme stets bedeckt und ich frage mich schon ewig, warum das so ist.

Ich denke wirklich ständig darüber nach.

Das ist wahrscheinlich das größte Rätsel meines Lebens.

Vielleicht hat er extrem behaarte Arme, ein Gefängnis-Tattoo oder ein riesiges Muttermal. Womöglich hat er mal eine hässliche Brandverletzung davongetragen oder wurde bei einem Chemieexperiment versehentlich mit Säure verätzt. Oder er war früher heroinabhängig und will die Narben verbergen, die unzählige Nadeleinstiche hinterlassen haben. Könnte natürlich auch sein, dass ihm ständig kalt ist, weil was mit seiner Durchblutung nicht stimmt.

Aber ich vermute, dass die Wahrheit einen ernsteren Hintergrund hat – vielleicht hat er mal einen Selbstmordversuch unternommen und jetzt vernarbte Handgelenke.

Vielleicht.

Allerdings fällt es mir schwer, an einen Selbstmordversuch zu glauben, weil er so einen selbstbewussten Eindruck macht; er ist wirklich der bewundernswerteste Erwachsene, den ich kenne.

Manchmal hoffe ich sogar, dass er früher einsam und verzweifelt genug war, um sich die Handgelenke bis zu den Knochen aufzuschlitzen, denn wenn er diesen Horror überlebt hat und später ein so fantastischer Erwachsener aus ihm wurde, dann besteht vielleicht auch noch Hoffnung für mich.4

Wann immer ich ein bisschen freie Zeit habe, frage ich mich, was Herr Silverman wohl verbirgt, und versuche mir die verschiedensten Gründe für einen Selbstmordversuch in seiner Vergangenheit auszumalen.

An manchen Tagen sehe ich seine Eltern vor mir, wie sie ihn mit Kleiderbügeln prügeln und ihm nichts zu essen geben.

An anderen Tagen wird er von seinen Mitschülern zu Boden geschlagen und so lange getreten, bis seine Kleider mit Blut durchtränkt sind, was die anderen zum Anlass nehmen, ihm auf den Kopf zu pinkeln.

Manchmal stelle ich mir vor, dass seine brennende Liebe nicht erwidert wurde und er jede Nacht heulend in seinem Kämmerchen hockt und sich schluchzend ein Kissen gegen die Brust drückt.

Kann natürlich auch sein, dass er von einem sadistischen Psychopathen entführt wurde, der ihn nachts der Wasserfolter unterzieht – das reinste Guantánamo. Tagsüber bekommt er kein bisschen Wasser zu trinken und ist in einem Clockwork- Orange-Raum eingesperrt – mit zuckenden Blitzlichtern, dröhnenden Beethoven-Sinfonien und grausamen Bildern, die auf einen riesigen Bildschirm projiziert werden.

Ich glaube nicht, dass außer mir schon mal jemand von Herrn Silvermans ständig bedeckten Unterarmen Notiz genommen hat. Jedenfalls hat sich noch nie jemand dazu geäußert und auf den Fluren habe ich auch nichts gehört.

Falls ich jedoch wirklich der Einzige bin, dem so was auffällt, was sagt das dann über mich aus?

Dass ich ein wenig seltsam bin?

(Beziehungsweise noch seltsamer, als ich dachte?)

Oder bloß ein guter Beobachter?

Mehrmals war ich schon drauf und dran, Herrn Silverman zu fragen, warum er nie seine Ärmel hochkrempelt, doch aus irgendeinem Grund habe ich es stets gelassen.

Manchmal ermutigt er mich zu schreiben oder er sagt, ich sei sehr »talentiert«, wobei er mich anlächelt, als sei das sein voller Ernst. Dann bin ich jedes Mal kurz davor, ihn nach seinen stets verhüllten Unterarmen zu fragen, doch ich kann mich nicht dazu durchringen, was eigentlich merkwürdig, geradezu lächerlich ist, wenn man bedenkt, dass ich es unbedingt wissen will und seine Antwort mich retten könnte.5

Als wollte ich mir diese Antwort, die mein ganzes Leben ändern könnte, für später aufheben – wie ein emotionales Antibiotikum oder ein Rettungsboot gegen Depressionen.

Manchmal glaube ich das wirklich.

Aber warum?

Vielleicht ist mein Gehirn einfach im Arsch.

Oder ich habe Schiss davor, dass ich mich irre und irgendwelchen Hirngespinsten hingebe – dass sich unter seinen langen Ärmeln nichts Außergewöhnliches befindet und er den Anblick von vollständig bedeckten Armen eben mag.

Ein modisches Statement.

Er gleicht Linda6 mehr als ich.

Das war’s. Ende der Durchsage.

Ich befürchte, Herr Silverman wird mich auslachen, wenn ich ihn auf seine bedeckten Unterarme anspreche.

Und ich werde mich für all meine Gedanken – und Hoffnungen – schämen müssen.

Er wird mich einen Spinner nennen.

Wird mich für durchgeknallt halten, weil ich so viel darüber nachgedacht habe.

Wird voller Unverständnis sein Gesicht verziehen, was mir zu verstehen gibt, dass wir uns niemals wirklich etwas zu sagen haben könnten und ich mich eitlen Illusionen hingegeben habe.

Ich glaube, das würde mich umbringen.

Würde mir den letzten Mut rauben.

Ganz ehrlich.

Also muss ich wohl die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass ich einzig und allein aus dem Grund nicht frage, weil ich ein grenzenloser Feigling bin.

Doch während ich hier so verlassen am Frühstückstisch sitze und mich frage, ob Linda sich vielleicht daran erinnert, dass heute ein besonderer Tag ist – dabei weiß ich doch genau, dass sie nicht anrufen wird –, beschließe ich, mir lieber zu überlegen, ob der Nazi-Offizier, der die Walther P38 besessen hat, sich wohl je hätte träumen lassen, dass seine Handfeuerwaffe siebzig Jahre später in New Jersey, auf der anderen Seite des Atlantiks, zum Kunstobjekt wird – geladen und bereit, den Typ zu erledigen, der mehr als jeder andere an unserer Schule einem Nazi gleicht.

Der Deutsche, dem diese P38 früher gehört hat – wie mag er geheißen haben?

War er einer der netten Deutschen, von denen uns Herr Silverman immer erzählt? Einer von denen, die Juden, Schwule oder Schwarze nicht gehasst haben, sondern nur das Pech hatten, in eine unglückselige Zeit hineingeboren worden zu sein.

War er einer von ihnen?

Vier

Ich habe diese unverkennbaren langen dunkelblonden Haare, die mir über Augen und Schultern hängen. Ich habe sie seit Jahren wachsen lassen, genauer gesagt, seit die Behörden hinter meinem Dad her sind und er sich ins Ausland absetzen musste.7

Linda kann meine Locken nicht ausstehen, vor allem seit sie im Modebusiness ist. Sie sagt, ich sehe aus wie ein »bekiffter Hippie-Rocker«8, und damals, als sie sich noch um mich kümmerte, hat sie mich echt mal zu einem Drogentest überredet – ich musste in einen Becher pinkeln –, der natürlich negativ ausfiel.9

Ich hab kein Abschiedsgeschenk für Linda besorgt, was mir fast ein schlechtes Gewissen bereitet, deshalb schneide ich mir jetzt mit der Küchenschere, die wir sonst nur für Lebensmittel benutzen, die Haare ab. In einem wilden Tanz fallen sie der rasenden Schere zum Opfer, bis die Kopfhaut durchschimmert. Dann sammle ich sie ein, forme ein rundes Etwas daraus und packe es ebenfalls in rosa Papier ein.

Ich muss die ganze Zeit lachen.

Ich schneide ein kleines Rechteck des Geschenkpapiers aus und schreibe auf die Rückseite:

Liebe Delilah,

bitte schön,

hier ist dein Geschenk,

herzlichen Glückwunsch!

Dein Samson

Ich falte das Rechteck in der Mitte und klebe es auf das Geschenk, das ziemlich seltsam aussieht, als würde sich darin nichts als Luft befinden.

Dann lege ich es in den Kühlschrank, was einfach saukomisch ist.

Linda wird dort bestimmt nach einer gut gekühlten Flasche Riesling suchen, um ihre überhitzten Nerven zu beruhigen, nachdem sie erfahren hat, dass ihr Sohn die Welt von Asher Beal und Leonard Peacock befreit hat.

Und was wird sie finden? Das große rosa Dingsbums.

Wenn sie die Nachricht liest, wird sie sich über meine Samson-und-Delilah-Anspielung wundern, das war nämlich der Titel dieses missratenen Albums meines Vaters. Den Gag wird sie allerdings erst kapieren, wenn sie das Geschenk auspackt.

Ich sehe schon, wie sie sich theatralisch die Hände vor die Brust schlägt, sich falsche Tränen aus den Augen quetscht, das Opfer spielt und eine Riesenshow abzieht.

Jean-Luc wird all seine Fingerfertigkeit aufbringen müssen, um sie mit seinen perfekt manikürten französischen Händen zu trösten.

Wohl kein Sex für ihn an diesem Tag – oder vielleicht doch?

Vielleicht wird ihre Beziehung ja so richtig Fahrt aufnehmen, wenn ich nicht mehr da bin, um sie an die Realität und ihre mütterlichen Pflichten zu erinnern.

Vielleicht wird sie nach meinem Ableben umgehend nach Frankreich entschweben wie ein silbrig glänzender Kindergeburtstagsballon.

Vermutlich sogar eine Kleidergröße verlieren, weil sie ohne mich keine Stress-Esserin mehr sein muss.

Vielleicht wird Linda niemals in unser Haus zurückkehren.

Vielleicht wird sie mit Jean-Luc in die Modehauptstadt der Welt übersiedeln, der Stadt des Lichts – ah oui Madame –, wo sie bis ans Ende ihrer Tage glücklich rammeln können wie die Kaninchen.

Sie wird alles verkaufen und die neuen Hausbesitzer werden meine Haare im Kühlschrank finden und den Mund nicht mehr zukriegen.

Meine Haare werden im Mülleimer landen.

Das war’s.

Vergessen.

Ruhet in Frieden, Haare.

Kann natürlich auch sein, dass sie meine Locken einem Perückenmacher verehrt, der die Kinderkrebsstation eines Krankenhauses beliefert. Dann würden meine Haare auf dem kahlen Kopf eines unschuldigen kleinen Chemo-Mädchens ein zweites Leben führen.

Das würde mir gefallen.

Ganz ehrlich.

Meine Haare hätten das verdient.

Ich hoffe also auf die Kinderkrebsvariante, falls Linda sofort nach Frankreich abzischt oder meine Haare verschenkt.

Alles ist möglich.

Ich gucke in den Spiegel, der über der Spüle hängt.10

Der glatzköpfige Typ, der mich anstarrt, sieht so merkwürdig aus.

All die Unebenheiten auf dem Schädel lassen ihn wie eine andere Person wirken.

Er sieht dünner aus.

Wo früher die blonden Locken hingen, zeichnen sich jetzt die Wangenknochen ab.

Wie konnte dieser Typ sich nur so lange unter meinen Haaren verstecken?

Ich mag ihn nicht.

»Nachher bring ich dich um«, sage ich zu dem Jungen im Spiegel und er lächelt mich an, als könne er es kaum erwarten.

»Versprochen?«, höre ich jemand fragen und zucke zusammen, weil meine Lippen sich kein bisschen bewegt haben.

Ich meine, das hab doch nicht ich gesagt? Versprochen?

Als wäre eine Stimme im Glas des Spiegels gefangen.

Also schaue ich nicht mehr hin.

Als Zugabe schleudere ich einen Kaffeebecher in den Spiegel hinein, weil er nie wieder zu mir sprechen soll.

Scherben regnen in die Spüle, worauf Millionen winziger Ichs zu mir aufblicken wie ein Schwarm winziger Fische.

Fünf

Obwohl ich schon spät dran bin, schaue ich auf dem Schulweg bei Walt11 vorbei, um ihm sein Geschenk zu geben.

Heute klopfe ich einmal und öffne mir selbst die Tür, weil Walt mit seinem zweirädrigen grauen Gehwagen – an dessen hinteren Stangen schmutzige Tennisbälle angebracht sind, um sein Parkett zu schonen – nur langsam vorankommt. Er ist nicht sehr mobil, vor allem wegen seiner schlechten Lunge, deshalb hat er mir einen Schlüssel in die Hand gedrückt und gesagt: »Komm, wann immer du willst. Und komm oft!«

Er raucht, seit er zwölf ist, und ich helfe ihm, übers Internet seine roten Pall Mall zu besorgen, damit er ein bisschen Geld spart. Dort habe ich auch dieses sensationelle Angebot entdeckt: 200 Zigaretten für 19 Dollar – seitdem genieße ich bei ihm Heldenstatus. Vom Internet hat er keine Ahnung und besitzt nicht mal einen Computer. Es musste ihm also wie ein Wunder vorkommen, dass die spottbilligen Zigaretten auch noch an die Tür geliefert wurden. Damit verglichen, zahlt er sich im Laden dumm und dämlich. Ich nehme meinen Laptop mit rüber – unsere WLAN-Verbindung reicht bis in sein Wohnzimmer – und gemeinsam suchen wir nach den besten Angeboten der Woche. Er versucht immer, mir die Hälfte des ersparten Gelds aufzudrängen, was ich grundsätzlich ablehne.12

Eigentlich lustig, weil er reich13, aber stets darauf aus ist, ein Schnäppchen zu machen. Vielleicht ist er deshalb reich, keine Ahnung.

Ein »Pfleger« kommt an den meisten Tagen der Woche, um ihm beim Nötigsten behilflich zu sein, doch nie vor halb zehn, sodass Walt und ich vor Schulbeginn stets unter uns sind.

»Walt?«, rufe ich, während ich unter dem Kronleuchter des verqualmten Eingangsbereichs entlanggehe, um ins nicht minder verqualmte Wohnzimmer zu kommen, wo er für gewöhnlich inmitten überquellender Aschenbecher und leerer Flaschen vor sich hin döst. »Walt?«

Ich finde ihn rauchend in seinem Fernsehsessel, seine blutunterlaufenen Augen zeugen vom Scotch, den er letzte Nacht getrunken hat.

Sein Morgenmantel ist ein wenig geöffnet und entblößt seine nackte haarlose Brust. Sie sieht so rosig aus wie eine bestimmte Färbung des Sonnenuntergangs oder wie das Innere mancher Meeresschnecken.

Er setzt seine überzeugendste Schwarz-Weiß-Filmstar-Miene14 auf und sagt: »Verachtest du mich jetzt deswegen?«

Das ist eine Zeile aus Casablanca, den wir schon tausendmal zusammen gesehen haben.

Neben seinem Sessel stehend, den Rucksack zwischen meinen Füßen, antworte ich mit Ricks Filmreplik: »Dazu müsste ich erst mal einen Gedanken an dich verschwenden.«

Darauf lasse ich unmittelbar einen Satz aus Tote schlafen fest folgen: »Sieh an, sieh an, so viele Waffen in der Stadt und so wenig Gehirn.« Angesichts der P38 in meinem Rucksack eine überraschend passende und authentische Bemerkung.

Walt kontert mit einer Zeile aus Gangster in Key Largo: »Du hattest recht. Wenn dein Kopf das eine sagt und dein ganzes Leben das andere, verliert dein Kopf immer.«

Mein Lächeln wird noch breiter, weil unsere Wortwechsel, die aus Bogart-Zitaten bestehen, immer einen Hintersinn bekommen, der unvorhersehbar und fast poetisch ist.

Ich streue ein Bogart-Zitat ein, das ich aus dem Internet habe: »In einer Bar scheint es nie Probleme zu geben, bis eine Frau ihre High Heels über das Messinggeländer schwingt. Frag mich nicht, woran das liegt, aber irgendwie verursachen Frauen in Bars Probleme unter den Männern.« Walt greift ein weiteres Mal auf Casablanca zurück: »Wo warst du gestern Abend?«

Ich führe das Zitat fort, indem ich Ricks Antwort wiedergebe: »Das ist so lange her, dass ich mich nicht erinnern kann.«

Er fragt: »Werde ich dich heute Abend sehen?«

Das bringt mich schier um den Verstand, weil mich heute Abend niemand mehr sehen wird, es ist also die entscheidende Frage. Ich sage mir, dass er unmöglich von meinem Plan wissen kann. Er spielt nur das blöde Bogart-Spiel, das wir immer spielen. Er hat keine Ahnung.

Ich schlüpfe wieder in Ricks Rolle und beende das Zitat: »So weit plane ich nie voraus.«

Walt lächelt, bläst Rauch an die Decke und sagt: »Louis, ich glaube, das ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.«

Ich lasse mich auf die Couch sinken und beende das Spiel mit dem obligatorischen Satz: »Ich seh dir in die Augen, Kleines.«

»Warum bist du nicht in der Schule?«, fragt er, während die Flamme des Feuerzeugs sein Gesicht erleuchtet und eine weitere Zigarette zum Leben erglüht. Doch eigentlich ist es ihm egal. Ich schwänze ständig die Schule, um alte Bogart-Filme mit ihm zu gucken. Er liebt es, wenn ich die Schule schwänze.

Als er zu husten beginnt, hört man ein schleimiges Rasseln in seiner Brust. Ein Sechzig-Jahre-lang-zwei-Schachteln-täglich-Raucherhusten.

Pfui Teufel.

Ich sehe ihn lange an und warte darauf, dass er sich die Hand an seinem Morgenmantel abwischt und wieder zu Atem kommt.

Ich wünschte, er wäre gesünder, aber es fällt schwer, ihn sich ohne Zigarette vorzustellen. Ich wette, dass er sogar auf den Fotos des Highschool-Jahrbuchs eine Fluppe in der Hand hält. Er ist, wie er ist. Wie Bogart.

O Mann, ich werde Walt so vermissen. Sich mit ihm zusammen rauchgeschwängerte alte Bogart-Filme anzugucken, gehört zu den wenigen Dingen, die mir echt fehlen werden. Das war immer das Highlight der Woche.

Walt fragt: »Alles okay, Leonard? Du siehst nicht gut aus.«

Ich schüttele meine Verwirrung ab, wische mir mit dem Ärmel über die Augen und antworte: »Yeah, alles okay.«

Er sagt: »Du hast all deine Haare unter diesem Fedora versteckt.«15

Ich nicke.

Ich will ihm nicht erzählen, dass ich mir all meine Haare abgeschnitten habe. Vielleicht weil Walt einer meiner besten Freunde ist – ich bin ihm wichtig, das schwöre ich! Außerdem würde er beim Anblick meiner neuen Scheißfrisur sofort ahnen, dass was im Busch ist. Das würde ihn nur aufregen und ich will doch, dass es ein schöner Abschied wird. Etwas, woran er sich gern erinnert und das ihm ein gutes Gefühl beschert, wenn ich nicht mehr da bin.

»Hab dir ein Geschenk gekauft«, sage ich und ziehe ein schildkrötenähnliches Päckchen aus meinem Rucksack.

»Aber ich hab doch gar nicht Geburtstag.«

Ich hoffe, er kommt darauf, dass es meiner ist – oder dass er es sich irgendwie denken kann, also warte ich einen Moment, während seine Finger prüfend über das Geschenk streichen, um zu erraten, was zum Teufel bloß darin sein mag.

Er sieht so glücklich aus, ein Geschenk zu bekommen.

Ich verspreche mir im Stillen, dass ich weder Asher Beal noch mich selbst töten werde, wenn Walt nur ein einziges Mal »Happy Birthday« zu mir sagt, so albern sich das auch anhört.

Doch er sagt nichts – was mich traurig macht, obwohl ich ihm wahrscheinlich nie erzählt habe, wann ich Geburtstag habe. Außerdem würde er mir garantiert gratulieren, wenn er es wüsste. Trotzdem will ich, dass er von sich aus »Happy Birthday« sagt, denn wenn er es nicht tut, werde ich mir so nutzlos vorkommen wie ein Schiff auf dem Trockenen.

»Warum das rosa Papier? Hältst du mich etwa für ’ne Schwuchtel?«, fragt er lachend und fängt sofort wieder an zu husten.

»Sei nicht so ein Schwulenhasser, wir leben schließlich im einundzwanzigsten Jahrhundert«, gebe ich zurück, doch ich bin ihm nicht böse.

Walt ist so alt, dass es unfair wäre, ihm seine Engstirnigkeit vorzuwerfen. Sein ganzes Leben lang war es okay, »Schwuchtel« zu sagen, und auf einmal soll es nicht mehr okay sein.

Er benutzt auch Wörter wie »Nigger«, »Bimbo«, »Kanake«, »Spaghettifresser«, »Schlitzauge«, »Polacke«, »Kümmeltürke« und »Kameltreiber« und kennt noch eine Million andere Verunglimpfungen und Beleidigungen.

Ich hasse Engstirnigkeit, aber ich liebe Walt.

Das ist wie bei Herrn Silverman, wenn er uns von den Nazis erzählt. Vielleicht hat Walt einfach Pech gehabt, zu einer Zeit geboren zu sein, in der Vorurteile gegen Homosexuelle und ethnische Minderheiten das Normalste der Welt waren. Ich weiß auch nicht.

Mich macht das alles nur traurig, deshalb richte ich meine Aufmerksamkeit auf das Geschenk und sage: »Willst du’s nicht aufmachen?«

Er nickt einmal wie ein kleines Kind, bevor er mit seinen zittrigen gelben Fingern das Papier aufreißt. Als er es halb geschafft hat, sagt er: »Ich glaube, ich weiß, was es ist.«

Nachdem er den Bogart-Hut vollständig ausgepackt hat, ruft er: »Da wird ja der Hund in der Pfanne verrückt!« – eine seiner brandaktuellen Redewendungen –, und stülpt sich umständlich den Hut auf den Kopf.

Ich wusste, dass er perfekt passen würde, weil ich seinen Kopf mal ausgemessen habe, als er betrunken und bewusstlos war.

Erneut setzt er seine Schwarz-Weiß-Filmstar-Miene auf und erklärt: »Ich hab einen Job zu erledigen. Dort, wo ich hingehe, kannst du mich nicht begleiten. Und was ich zu tun habe, muss ich allein tun. Ich will hier nicht die Rolle des Edlen spielen, Leonard, aber es ist doch nicht zu übersehen, dass die Probleme dreier verrückter Menschen in dieser Welt völlig unwichtig sind. Eines Tages wirst du das verstehen.«

Ich lächle, weil er Ilsas Namen gegen meinen ausgetauscht hat. Das macht er manchmal, wenn er Passagen aus Casablanca zum Besten gibt.16

Er lächelt warmherzig zurück und sagt: »Wow. Mein eigener Bogart-Hut. Ich liebe ihn!«

Und dann fange ich an zu lügen und kann mich einfach nicht beherrschen, sosehr ich es auch versuche.

Ich weiß nicht, warum ich das tue.

Vielleicht um mich daran zu hindern, in Tränen auszubrechen, denn ich spüre einen enormen Druck hinter meinen Lidern – als würde in meinem Schädel gleich ein gewaltiges Unwetter losbrechen.

Also erzähle ich ihm, ich hätte den Hut auf einer Internetseite erworben, die alte Filmrequisiten versteigert. Sämtliche Erlöse kämen Menschen zugute, die an Speiseröhrenkrebs erkrankt seien – eine heimtückische Krankheit, die auch dem unsterblichen Bogart den Garaus gemacht hat. Ich füge hinzu, dass Bogart den Hut, den Walt in diesem Moment auf dem Kopf hat, als Sam Spade in Die Spur des Falken getragen habe.

Walts Augen werden riesengroß, bevor er ein trauriges Gesicht macht, als wisse er, dass ich ihn anlüge, was natürlich absolut unnötig ist – denn er würde den Hut auch lieben, wenn er keine Original-Filmrequisite wäre und ich ihn auf der Straße gefunden hätte oder so, und ich weiß auch, dass ich ihm nicht so einen Blödsinn zu erzählen brauche, weil das, was unsere Freundschaft ausmacht, echt und wahr ist –, aber ich binde ihm weiter diesen Bären auf und er tut so, als würde er mir Glauben schenken, um mich nicht zu demütigen und den wunderbaren Moment zu zerstören.

Sein trauriger Gesichtsausdruck lässt mich Dinge sagen wie »ehrlich« und »ich schwöre«, wie ich das manchmal tue, wenn ich lüge.

Ich sage: »Das war wirklich Bogarts Hut, ich schwöre es dir, aber sag meiner Mom bitte nichts davon, weil ich einen Haufen Geld dafür hingeblättert habe, also nicht ich, sondern ihre Visa Card – fünfundzwanzig Riesen, die von ihrem Konto abgebucht wurden und jetzt der Krebsstiftung zugutekommen –, aber ich musste diesen Hut einfach haben, damit wir beide für alle Zeiten ein Teil von Bogies Geschichte sind.«

Ich fühle mich hundeelend, weil ich den Hut für vier Dollar fünfzig in einem Secondhandshop gekauft habe.

Walts Augen sind glasig und abwesend, als hätte ich ihn mit der P38 erschossen.

»Er gefällt dir also?«, frage ich. »Dir gefällt Bogies Hut? Hast du das Gefühl, dass du mit ihm in der Lage bist, die Situation zu retten?«

Walt lächelt melancholisch, setzt sein Bogie-Gesicht auf und entgegnet: »Was hättest du mir je gegeben außer Geld? Hast du mir je die Wahrheit und dein Vertrauen geschenkt? Hast du nicht immer versucht, meine Loyalität mit Geld zu erkaufen?«

Ich erinnere mich an das Zitat. Es ist aus Die Spur des Falken. Also antworte ich textgetreu: »Womit hätte ich sie sonst kaufen sollen?«

Wir sehen uns mit unseren Bogart-Hüten an und kommunizieren miteinander, obwohl niemand ein Wort spricht.

Ich versuche ihm mitzuteilen, was ich vorhabe.

Ich hoffe, er kann mich retten, obwohl mir klar ist, dass er das nicht kann.

Sein Bogie-Hut ist grau mit schwarzem Band und sieht genauso aus wie der von Sam Spade. Was für ein Zufallsfund. Dieser Hut ist wirklich wie für Walt gemacht.

Mir fällt ein weiteres seltsam passendes Zitat aus Die Spur des Falken ein, also sage ich: »Ich hab kein gutes Leben geführt. Es war schlecht. Schlechter, als du dir vorstellen kannst.«

Aber diesmal spielt Walt nicht mit. Stattdessen rutscht er unruhig auf seinem Stuhl herum und will wissen, warum ich ihm den Hut gerade jetzt geschenkt habe: »Warum heute?« Und: »Warum siehst du auf einmal so traurig aus?« Und: »Was ist los mit dir?«

Dann fordert er mich plötzlich auf, meinen Hut abzunehmen, fragt, ob ich mir die Haare geschnitten hätte, und als ich nicht antworte, ob ich heute schon mit meiner Mutter geredet habe. Ob sie in letzter Zeit mal zu Hause gewesen sei.

»Ich muss jetzt wirklich zur Schule gehen«, antworte ich. »Du bist ein fantastischer Nachbar, Walt. Ehrlich. Du bist fast wie ein Vater zu mir. Mach dir keine Sorgen.«

Erneut kämpfe ich gegen einen Schwall von Tränen an. Dann drehe ich ihm den Rücken zu, marschiere aus dem Wohnzimmer und haste unter dem Kronleuchter hindurch, um Walts Leben für immer zu verlassen.

Die ganze Zeit ruft er hinter mir her: »Leonard! Leonard, warte! Lass uns reden! Ich mache mir Sorgen! Was ist denn los? Warum bleibst du nicht? Bitte. Nimm dir einen Tag frei. Wir können uns einen Bogart-Film angucken. Danach wird alles schon anders aussehen. Bogart sagt immer …«

Ich öffne die Haustür und bleibe lange genug stehen, um zu hören, wie Walt hustend und schnaufend versucht, mich mit seinem Drogeriemarkt-Tennisball-Gehstuhl einzuholen.

Er könnte heute sterben, denke ich, das wäre echt möglich.

Dann verlasse ich das Haus in dem Wissen, dass mein Abschied von Walt einfach perfekt war. Mein emotionaler Abgang im Moment höchster Erregung hätte aus einem Bogart-Film stammen können. In meinem Kopf höre ich sogar die Streichinstrumente zu einem dramatischen Crescendo anschwellen.

»Mach’s gut, Walt!«, murmele ich, während ich meiner Schule entgegengehe.

Sechs

Brief aus der Zukunft Nummer 1

Lieber Oberleutnant Leonard,

Billy Penn tut so, als wäre er Jesus.

Das ist es, was Du vielleicht sagen wirst, wenn Du Dich hier zum Dienst meldest.

Was – von Deiner Gegenwart aus betrachtet – in ungefähr zwanzig Jahren und einer Stunde der Fall sein wird, ungefähr dreizehn Monate nachdem Du Dich zu dem Risiko entschlossen hast, im großen, offenen Raum jenseits der Zivilisation weiterzuleben.

So wie ich hast Du Dich entschieden, dass das Leben auf dem übervölkerten trockenen Land – wo man sich gegen andere durchsetzen muss, um nur ein wenig frische Luft zu atmen – nichts für Dich ist.

Und Du würdest niemals wie ein Nagetier in den engen Röhren der Stadt wohnen wollen, oder?

Du wirst Dich mir unweigerlich dort anschließen, wo sich heute der sogenannte Vorposten 37, Leuchtturm 1, befindet – Dir bekannt als Compast Center in Philadelphia.

Heutzutage steigen und fallen die Gezeiten um mehrere Hundert Meter, da die Wetterverhältnisse sich ständig ändern und es täglich neue Erdbeben gibt, die den Meeresboden aufreißen und gigantische Spalten hinterlassen. Unser Planet gestaltet sich um.

Heute steht das Wasser so niedrig, dass wir die Füße der Billy-Penn-Statue auf dem Dach des alten City-Hall-Gebäudes erkennen können, das fast komplett im Meer versunken ist. Es sieht wirklich so aus, als würde Billy Penn über das Wasser wandeln, daher der Jesus-Vergleich.

Viele Grüße aus der Zukunft.

Wir schreiben das Jahr 2032.

So wie alle befürchtet haben, hat es einen Atomkrieg gegeben. Außerdem haben wir es geschafft, die Polkappen abzuschmelzen, woraufhin der Planet überflutet wurde. Ein Drittel der ehemaligen Landmasse liegt heute unter Wasser. Erinnerst Du Dich an den Film, den euer Geschichtslehrer gezeigt hat? Tja, Al Gore hat leider recht behalten.

Die Atomwaffen haben ein Viertel der Weltbevölkerung ausgelöscht, der nachfolgenden Knappheit an Lebensmitteln und Trinkwasser fiel angeblich ein weiteres Viertel zum Opfer.

Hier, in der Nordamerikanischen Föderation – wir haben uns vor Jahren mit Kanada und Mexiko zusammengeschlossen –, waren die Gesamtverluste nicht so dramatisch wie in anderen Teilen der Welt, doch auch unser Landverlust war enorm. Was zu etwas führte, das mit einem bevölkerungstechnischen Herzinfarkt verglichen wurde. Alle waren gezwungen, sich in der Mitte des Landes zusammenzuballen. Dem unvermeidlichen Chaos versuchte man mit der Anwendung der Militärgesetzgebung sowie einem neuen totalitären Regime Herr zu werden.

Sie haben damit begonnen, senkrecht zu bauen. Der Himmel kennt keine Grenzen, sondern ist der neue Baugrund. Es gibt nichts als Aufzüge und Hochhäuser, riesige Tunnelröhren, die bis in die Wolken hineinragen. Die Leute leben fast ausschließlich drinnen, irgendwo zwischen Erde und Weltraum, atmen kaum ungefilterte Luft und spüren fast nie mehr die Sonne auf ihrer Haut. Sie sind wie Wüstenrennmäuse, die in gigantischen Stadtkäfigen gehalten werden.

Nur wir nicht.

Wir sind Freiwillige des Vorpostens 37, Leuchtturm 1, und verbringen die meiste Zeit damit, um die Spitzen der Häuser herumzufahren, die früher mal die Skyline von Philadelphia gebildet haben. Mit Dir zusammen sind wir zu viert.

Es ist unsere Aufgabe, alle Fahrzeuge, die sich in diesen Sektor verirren, mit Lichtern auszustatten, damit sie nicht mit den aus dem Wasser ragenden oberen Geschossen der Wolkenkratzer kollidieren. Natürlich sind wir auch dazu da, militärische Operationen zu unterstützen, doch haben wir seit über einem Jahr weder einen Menschen noch ein Boot zu Gesicht bekommen. Seit siebenundneunzig Tagen hat die Nordamerikanische Föderation keinen Kontakt mehr zu uns aufgenommen. Dass wir auch keine Satellitenverbindung haben herstellen können, lässt uns vermuten, dass das globale Kommunikationsnetz zusammengebrochen ist.

Warum?

Das wissen wir nicht.

Doch hier kommt der Clou: Es ist uns egal.

Wir sind glücklich.

Wir versorgen uns selbst. Unsere haltbaren Essensvorräte reichen noch für mindestens zwanzig Jahre.

Da wir hier oben ständig ungefilterte Luft einatmen und noch dazu den radioaktiven Wolken ausgesetzt sind, die ziellos über das Globale Gemeinschaftsgebiet II – den früheren Atlantischen Ozean – hinwegziehen, gehen Wissenschaftler davon aus, dass unsere Lebenszeit stärker verkürzt ist, als wenn wir zwei Schachteln Zigaretten täglich rauchen würden. Doch wir haben uns mit der Lage arrangiert, fühlen uns wie glückliche Überlebende einer Katastrophe und sind mit uns im Reinen – als wären wir endlich nach Hause gekommen.

Wir leben im Hier und Jetzt.

Manchmal leiden wir unter Schuldgefühlen angesichts der vielen Menschen, die durchlitten haben, was uns hierhergeführt hat. Da wir jedoch keinen Einfluss auf den Gang der Dinge hatten, versuchen wir, das Beste aus unserer Situation zu machen und unser gnädiges Schicksal zu genießen.

Das Leben ist schon seltsam.

Unsere Tage verbringen wir in den Booten, schippern um die oberen Stockwerke der Wolkenkratzer herum und suchen sie nach interessanten Dingen ab. Wir sind Hobbyarchäologen und die Appartements, Büros und Geschäfte unsere Fundstätten. Sie sind die ägyptischen Pyramiden unserer Zeit – »unser unter Wasser liegendes Machu Picchu«, wie Du gern sagst. »Gemeinsam rekonstruieren wir das Leben der anderen.« Es ist wie ein Spiel und »unser größtes Vergnügen«. Euer absolutes Lieblingsspiel heißt Wer hat hier gelebt? und eure Antworten darauf sind voller Helden und Heldinnen, die jede Menge mutige und edle Taten vollbracht haben, ehe sie mitsamt ihrer ganzen Zivilisation vom Meer verschluckt wurden.

Millionen und Abermillionen Geschichten und Schicksale liegen unter uns begraben. »Vorposten 37 ist vielleicht die größte interaktive Bibliothek aller Zeiten.«

Auch dieser Satz stammt von Dir.

Ich zitiere nur Dein zukünftiges Ich.

Du lässt dich eben gut zitieren.