PHILOSOPHIE
FÜR ANFÄNGER
von Sokrates bis Sartre

Ein Wegbegleiter
durch die abendländische Philosophie
von Ralf Ludwig

Deutscher Taschenbuch Verlag

Vorwort

Ein Spötter bemerkte einmal, Philosophie sei das mit den kleinen Buchstaben und der großen Bedeutung. Schaut man sich heute die Werke bedeutender zeitgenössischer Philosophen an, könnte man meinen, je höher die Unverständlichkeit, desto größer die Bedeutung der Denkprodukte.

Am Anfang der Philosophie steht eine recht einfache, doch grundlegende Frage: Was ist das Sein? Leider sind die Antworten darauf schwieriger als die Frage.

Dieses Buch versucht, einen verständlichen Überblick über die Geschichte der abendländischen Philosophie von der griechischen Antike bis ins 20. Jahrhundert zu geben. Formal ist es eine Synthese von Philosophiegeschichte und Lexikon, Letzteres allerdings in chronologischer Anordnung. Die besondere Originalität dieses Buches liegt vielleicht darin, dass die berühmtesten Vertreter auch mit Primärtext-Ausschnitten vorgestellt werden. Es ist geschrieben für Leser, die zugeben können, Anfänger zu sein, geschrieben von einem, der oft selbst als Anfänger hilflos und verstört war, wenn er mit der schweren Kost von Originaltexten und Fachliteratur konfrontiert wurde.

Die einzelnen Artikel sind bewusst nicht gleichförmig gestaltet. Manche philosophische Entwürfe lassen sich in wenigen Punkten abhandeln, andere sind so komplex, dass sie eine Gliederung erfordern und wieder andere lassen sich am besten durch die Erläuterung der Hauptwerke verständlich darstellen.

Die Auswahl ist repräsentativ, aber der Vorwurf, dass dem Autor bei manchen Philosophen das Herz höherschlug als bei einigen anderen, ist sicher berechtigt, denn nicht jeder philosophische Denkansatz spricht in gleichem Maße alle an und hilft, das eigene Denken zu hinterfragen.

Gerade darin sehe ich auch die Aufgabe der Philosophie. Denn mit ihr kann man keine Straßen oder Brücken bauen, aber – man kann sich dem faszinierenden Abenteuer des Denkens stellen.

München, im Sommer 2014
Ralf Ludwig

Einführende Gedanken

Der Philosoph Odo Marquard benutzt das bissig-schöne Wort von der »Inkompetenzkompensationskompetenz«, um das Dilemma heutiger Philosophie zu beschreiben. Einst habe die Philosophie eine Kompetenz für alles gehabt, später für einiges und heute nur für eines: für die eigene Inkompetenz und für die Nützlichkeit des Überflüssigen.

Diese ironische Selbstkritik gehört natürlich mit einem entrüsteten Schmunzeln in ihre Schranken verwiesen. Und doch ist etwas Wahres dran. Schon bei den alten Griechen sprach man von Haarspalterei, vom Wortverdrehen und betrachtete Philosophie als Luxus. Ist Philosophie wirklich nur ein ungeordneter Haufen von Meinungen oder die Anhäufung musealen Stoffes?

Natürlich nicht.

Allerdings stimmt der Vorwurf, wenn man von der Philosophie gesicherte und endgültige Antworten erwartet. Die Antwort mutet merkwürdig an: Das muss so sein.

Aber warum?

Klärungen

Es sollen zwei Antworten versucht werden. Zum Ersten gilt es festzuhalten, dass es in der Natur der Sache liegt, dass endgültige Erkenntnis und Philosophie sich nicht vertragen, denn Philosophie lebt vom Fragen, und wäre die Antwort auf die Fragen der Philosophie endgültig durch die Vernunft festgemacht worden, wäre dies das Ende des Fragens und auch das Ende der Philosophie.

Zum Zweiten finden wir den Grund auf dem Umweg über die Frage nach dem Menschen. Dies bedarf einer Erläuterung, die ein wenig Aufmerksamkeit verlangt.

Die Frage Wer bin ich? ist die ureigenste Frage des Menschen. Trotz gewisser Denkvorgänge beim Tier, die vor allem bei Schimpansen und Delphinen nachgewiesen wurden, ist die Fähigkeit zur Selbstreflexion, d. h. nach dem eigenen Ich fragen zu können, beim Tier ausgeschlossen. Nur der Mensch fragt nach sich selbst, seit er denken kann.

Aber dabei macht er eine seltsame Erfahrung: Es gibt keine endgültige Antwort, der Mensch bleibt sich selbst trotz stets neuer Antworten immer ein Rätsel. Der Theologe Jürgen Moltmann meint dazu, dass der Mensch letzten Endes sich selbst verborgen sein muss, um am Leben und in der Freiheit zu bleiben. Denn käme er »hinter sich selbst«, würde er zu der Erkenntnis gelangen, was mit ihm los ist, nämlich nichts. Es wäre gar nichts mit ihm »los«, weil alles festgestellt und gebunden wäre.

Trotz aller unzureichenden Antworten passiert aber doch etwas sehr Wichtiges: Indem der Mensch fragt und sucht, verändert er sich mit seinen Antworten. Erkenntnisse über das Andromeda-Sternbild sind für die Andromeda ohne jeden Belang. Nicht so beim Menschen. Wenn schon Erkenntnisse über Gegenstände ihn verändern, wie viel mehr verändern ihn Erkenntnisse über sich selbst, auch wenn sie nicht endgültig gesichert sind.

Diese ausschlaggebende Veränderung, die zwar nicht biologische Existenz, so doch menschenwürdiges Leben ermöglicht, hat ihre Ursache darin, dass das Fragen des Menschen keinen anderen Gegenstand hat außer dem Sein selbst und dem, was damit zusammenhängt. Das macht es leider manchmal so kompliziert.

Somit ist der Leser mit der Schwierigkeit konfrontiert, trotz der Unmöglichkeit einer unwiderruflich feststehenden Erkenntnis nach Antworten zu suchen, auch wenn diese nur vorläufig sein werden.

Was auf den ersten Blick frustrierend erscheint, ist in Wahrheit spannend. Natürlich ist diese Spannung irgendwann nicht mehr ganz so faszinierend wie bei einem kleinen Kind, das über seine neue Welt staunt und Fragen ohne Ende stellt. Die griechischen Denker Platon und Aristoteles waren die Ersten, die erkannten, dass die Philosophie einst aus diesem Staunen heraus erwuchs. Im Staunen wird sich der Mensch seines Nicht-Wissens bewusst und drängt danach, über das Staunen zur Erkenntnis zu gelangen. Er sucht nach Wissen.

Allerdings hat nicht jedes Staunen mit Philosophie zu tun. Wenn ich staune, dass ein Superjumbo fliegen kann, macht mich das erlangte Wissen nicht zum Philosophen. Anders ist es, wenn ich das Wissen selbst suche. Ähnlich drückt es Karl Jaspers aus: Das philosophische Wissenwollen um sich selbst ist wie ein Erwachen aus der »Gebundenheit der Lebensnotdurft«.

Man kann natürlich fragen, ob Staunen in einer von Erkenntnissen stark gesättigten Welt überhaupt noch möglich ist. Selbst der Naturwissenschaft bleibt das Staunen nicht erspart, denn auch sie steht vor klassischen Fragen, wie zum Beispiel: Wenn der Weltraum endlich ist, was ist jenseits der Endlichkeit? Wenn der Urknall der Anfang war, wie ist dann Unendlichkeit trotz eines Anfanges denkbar? Und überhaupt: Was war vor dem Urknall? Das sind zutiefst philosophische Fragen, denn sie haben wie die Frage nach dem Sein des Menschen auch das Sein zum Thema, in dem sich der Mensch vorfindet. Somit teilen sich das Schicksal, keine endgültige Antwort geben zu können und trotzdem weiterfragen zu müssen, beide: Philosophie und Naturwissenschaft.

Was bedeutet das Wort Philosophie?

Bekannt ist die nette Anekdote, der zufolge Pythagoras den Titel des Weisen aus Bescheidenheit ablehnte, da nur Gott allein als weise angesehen werden könne, und er sich daher lieber einen Freund (philos) der Weisheit (sophia) nenne. Erzählt wird sie von dem Platon-Schüler und Pythagoras-Bewunderer Herakleides Pontikos (um 350 v. Chr.), den die Athener seines Reichtums wegen nicht Pontikos, sondern Pompikos nannten.

Die Anekdote gibt aber nicht ganz den Ursprung des Wortes Philosophie wieder, denn sophia bedeutet zuerst einmal »Tüchtigkeit« bzw. »Geschicklichkeit als Sachkunde, die auch einem Handwerker zukommt«. Daraus wurde die Auffassung vom Streben nach Wissen, die sich später verengte zu einem Streben nach wissenschaftlicher Erkenntnis unter Ausschluss des technisch verwertbaren Wissens, bis schließlich Aristoteles Philosophie mit Wissenschaft gleichsetzte.

Bei dieser Begriffsherkunft darf aber nicht haltgemacht werden. Eine weiterführende Definition hat der britische Philosoph und Mathematiker Bertrand Russell gegeben. Sie ist nicht sehr bekannt, sie ist recht eigenwillig, aber doch bestechend. Er hat die Philosophie ein »Niemandsland« genannt, das zwischen Theologie und Wissenschaft liegt. Als sog. »Mittelding« habe die Philosophie mit der Theologie gemein, dass sie eine Spekulation über Dinge sei, über die keine nachprüfbaren Kenntnisse gewonnen werden könnten; mit der Wissenschaft hingegen habe sie die Tatsache gemein, dass sie sich nicht auf irgendeine Autorität oder überirdische Offenbarung berufe, sondern allein auf die Vernunft.

Trotz Gemeinsamkeiten sei das Niemandsland ständig Angriffen ausgesetzt. Hätten früher die Theologen gemeint, endgültige Antworten auf alle philosophischen Fragen geben zu können, werde diese Entschiedenheit heute mit Misstrauen betrachtet.

So weit Russell. Man ist versucht hinzuzufügen, dass dieses Misstrauen heute auch gegenüber der Allmacht der Wissenschaft angebracht ist, denn nicht alle Vertreter der Naturwissenschaft haben die Größe, ihre Hilflosigkeit angesichts offensichtlicher Grenzen einzugestehen.

Bei der eben geschilderten Definition von Philosophie durch Russell könnte man befürchten, dass dieses Niemandsland zwischen Wissenschaft und Theologie, durch deren Angriffe zum Verschwinden gebracht werden wird. Dies aber kann nach menschlichem Ermessen ausgeschlossen werden. Denn die »Unverlässlichkeit des Weltseins« (K. Jaspers), sei es die unberechenbare ständige Bedrohung des Menschen durch Krankheit, Altern, Tod oder durch Schuld und Scheitern, meint gewiss nicht nur Bedrohungen durch Biologie oder Natur. Sie meint auch Momente, die dem Mensch-Sein als solchem notwendigerweise anhaften. So dürfte – salopp ausgedrückt – das Geschäft der Philosophie auf unabsehbare Zeit gesichert sein. Oder vollmundiger ausgedrückt: Solange der Mensch nicht Gott ist, wird es Philosophie geben.

Kleiner Hinweis zum Gebrauch des Buches

Die Tatsache, dass es trotz seines lexikalischen Charakters chronologisch angelegt ist, soll dem Leser helfen, die einzelnen Denker in ihren jeweiligen Zeitepochen vorzufinden und sie in einem philosophiegeschichtlichen Zusammenhang zu verstehen. Eine lexikalisch-alphabetische Auflistung der Philosophen gibt es am Ende des Buches. Auch die Literaturhinweise werden dort aufgeführt.

Die Artikel zu den einzelnen Denkern haben überwiegend folgende Struktur:

1. Schritt: jeweils eine Kurzinformation über Bedeutung und zeitgeschichtliche Einordnung

2. Schritt: biographische Hinweise. Bei den Angaben zu den Lebensdaten, besonders zu denen der Philosophen der Antike, handelt es sich teilweise um Circa-Angaben, da hierzu leider oft keine gesicherten Informationen vorliegen.

3. Schritt: Denkergebnisse des betreffenden Philosophen in gestraffter Form, je nach Bedeutung und urheberrechtlichen Möglichkeiten, mit Auszügen aus Primärtexten, die als eine Art Originalton den einzelnen Denker zu Wort kommen lassen

Nun bleibt mir nur noch, dem Anfänger in Sachen Philosophie viel Freude bei der Lektüre des Buches zu wünschen.

Philosophie der Antike

1. Der Aufbruch des Denkens: Die Philosophen vor Sokrates

Als Vorsokratiker gelten seit dem späten 19. Jahrhundert die Denker, die entweder vor Sokrates lebten oder von dessen Philosophie noch nicht beeinflusst waren. Von den Werken dieser Pioniere des Geistes sind leider nur Bruchstücke in späteren Zeugnissen überliefert. Trotzdem verdanken wir gerade diesen Männern den Aufbruch zu einem neuen Denken. Faszinierend ist ein Blick auf die Geburtsstunde der abendländischen Philosophie.

Ab der Mitte des 6. Jahrhunderts v. Chr. macht aus bislang unerklärlichen Gründen das Denken des Menschen an verschiedenen Punkten der Erde, die in keinerlei Verbindung miteinander standen, einen unerwarteten Sprung: in Indien mit Buddha, in China mit Lao-tse und Konfuzius, in Persien mit Zarathustra und unter den Griechen mit den Vorsokratikern. Karl Jaspers nennt dies die »Achsenzeit der Weltgeschichte«.

Neues Denken bedeutet stets Ablösung von altem Denken. Was aber war das alte Denken, und warum wurde gerade diese Ablösung zur Geburtsstunde der Philosophie?

Der Grund liegt in der folgenschweren Tatsache, dass die vorsokratischen Denker sich von der wichtigsten Voraussetzung abgesetzt haben, die das Denken in naiv-religiöser Geborgenheit gefangen hielt.

Die Rede ist vom Mythos (griech. mythos: »Wort, Rede«, später: »Fabel, Sage«). Mit Mythen versuchen die Menschen, die Welt gedanklich zu formen. Äußerungen der Natur – von der Entstehung der Welt bis hin zu ihrem möglichen Ende – werden ängstlichen oder freudigen Sinnes erfasst, verarbeitet und zu Antworten geformt. Der Blitz als Zorn des Göttervaters, die peitschende See als Rache des Meeresgottes und der Regen als segensreiche göttliche Antwort auf Opfergaben: Das alles ist nicht lächerlich, sondern zuerst einmal kulturgestaltend.

Friedrich Nietzsche hat den Mythos zu Unrecht diffamiert, indem er ihn das »Faulbett des Denkens« nannte. Der Mythos war eine wichtige Vorstufe zur Systematisierung von zusammenhanglosen Annahmen über die Anfänge der Welt, die Geburt der Götter usw. Die Tendenz, all das zu systematisieren, ist zwar schon bei Hesiod (um 700 v. Chr.) zu beobachten, aber die eigentliche Befreiung stand noch aus: das Bestreben, alles Wirkliche aus Prinzipien abzuleiten. So ist der Übergang vom Mythos zur Philosophie der Schritt vom bildhaft-anschaulichen zum begrifflich abstrakten Denken.

Dies war der Aufbruch des Abendlandes zu eigenständigem wissenschaftlichen Denken und machte die Vorsokratiker zu wahren Pionieren des Geistes.

a. Die ionischen Naturphilosophen

Bezeichnend für die Anfänge des neuen Denkens ist, dass sie außerhalb der attischen Polis einsetzten. Der ionische Küstenstreifen, heute die türkische Westküste, hatte nicht nur eine handelspolitische Bedeutung, sondern war auch die kulturelle Nahtstelle zwischen Morgenland und Abendland – offen für neue Ideen und kulturelle Errungenschaften anderer Völker. Im Schnittpunkt der Handelswege lag Milet mit seinen vier Häfen, mehreren Speichern und Schiffshäusern. Es war die Mutterstadt von 80 griechischen Pflanzstädten, die von Ägypten bis zum Schwarzen Meer reichten. Der Umschlagplatz Milet war auch für die Textüberlieferung von zentraler Bedeutung: Aus Ägypten wurde Papyrus eingeführt, der wichtigste Beschreibstoff des Altertums.

Thales von Milet (624–545 v. Chr.) Sein Verdienst ist es, die Frage nach einem umfassenden Prinzip des Seins als Erster gestellt zu haben. Die Annahme einer einheitlichen Substanz, von Thales als materieller Grundstoff angesehen, war für ihn Voraussetzung dafür, dass Prozesse wie Werden, Sein, Bestehen und Vergehen überhaupt verständlich sind. Trotz massiver Ungereimtheiten führt daher der Denker aus Milet den Titel Vater der Philosophie nicht zu Unrecht.

Eine der bekanntesten Anekdoten über ihn ist die vom Brunnenfall des Thales. Platon berichtet in seinem Dialog ›Theaetet‹, dass eine »reizende thrakische Magd« Thales verspottete, als er bei der Beobachtung der Sterne in einen Brunnen fiel. Nach einer anderen Quelle fiel Thales in eine Grube und es war ein altes Weib, das ihn anschrie: »Du kannst nicht sehen, Thales, was dir vor Füßen liegt, und wähnst zu erkennen, was am Himmel ist?« Aristoteles stellt ihn in seiner ›Politik‹ als gewieften Geschäftsmann hin: Als Thales eine reiche Olivenernte vorausberechnete, begegnete er dem Vorwurf, die Philosophie sei zu nichts nütze, indem er sämtliche Ölpressen auf Chios und in Milet mietete. Bei der folgenden Olivenernte sei er dann dadurch zu Reichtum gekommen, dass er seine Ölpressen zu Höchstpreisen weitervermietete.

1. Was das Anekdotenhafte sprengt, ist ein Ereignis, das wie kein anderes die bereits erwähnte Weichenstellung vom Mythos zum neuen Denken dokumentiert: Es war Thales' Vorhersage der Sonnenfinsternis für den 28. Mai 585 v. Chr. Dieses Datum gilt als die Geburtsstunde der Philosophie. Die furchteinflößende Verfinsterung der Sonne war jetzt nicht mehr Willkür oder Strafe der Götter, sondern ein Ereignis der Natur, und deren Berechenbarkeit nahm dem Menschen die Angst.

Natürlich setzte die Ablösung vom Mythos mit der Berechnung der Sonnenfinsternis nicht schlagartig ein. Belegt wird dies mit der von Aristoteles zitierten Bemerkung des Thales,

dass alles voll von Göttern sei.
(DK 11 A 22)1

Möglich ist aber auch eine andere Sicht dieses Spruches: Es ist kein ehrfurchtsvolles Relikt aus mythischer Sicht, sondern Klage aus Überdruss.

2. Die zentrale These des Thales, die ihn zum Protophilosophen macht, findet sich in seiner Wassertheorie: Der Ursprung alles Seienden ist das Wasser, genauer: das Feuchte. Hiermit wird zum ersten Mal ein materieller Grundstoff angenommen, der überhaupt einen Prozess wie das Werden und Vergehen verständlich macht.

Aristoteles ist der einzige verlässliche Zeuge für die berühmte Wassertheorie:

Von denen, die als erste philosophiert haben, glaubten die meisten, dass der einzige Urgrund aller Dinge im Wesen des Stofflichen liege. Denn das, woraus alles Seiende ist und woraus es als Erstem wird und in was es am Ende wieder vergeht, indem es seiner Substanz nach erhalten bleibt, in seinen Zuständen aber sich wandelt, erklären sie als Urelement und Urgrund (archē) alles Bestehenden [...]
Thales aber, der Begründer einer solchen Philosophie, erklärt das Wasser für den Urgrund der Dinge.
(DK 11 A 12)

Anaximander von Milet (610–546 v. Chr.) Er nahm nicht einen bestimmten Stoff, sondern ein Prinzip stofflich-geistiger Art zur Bestimmung allen Seins an. Anaximanders wesentliche Bedeutung aber besteht darin, dass wir bei ihm dem ersten metaphysischen Satz des Abendlandes begegnen.

Im Gegensatz zu seinem Lehrer Thales hat er ein Buch geschrieben. Diesem wurde später der Titel ›Über die Natur‹ gegeben. Angeblich hat er außerdem einen Gnomon erfunden, ein astronomisches Messinstrument, und diesen Vorläufer der Sonnenuhr in Sparta aufgestellt.

Von Anaximander stammt das berühmteste Fragment der Vorsokratiker. Es ist der erste metaphysische Satz des Abendlandes. Er benennt ein unbestimmtes Prinzip als den Urgrund allen Seins: das Apeiron. Griechisch peras bedeutet »die Bestimmung« oder »die Grenze«. In Verbindung mit der verneinenden Vorsilbe a- könnte apeiron heißen: »das Grenzenlose, das Unbestimmte«.

Es scheint so, als ob Anaximander im Apeiron etwas Materielles gesehen hat, das er allerdings von den anderen stofflichen Elementen unterschied. Diese Auffindung eines Urstoffes außerhalb jedes menschlichen Begreifens bedeutete einen beträchtlichen Schritt hin zu einer ersten metaphysischen, d. h. einer »über die Natur hinausgehenden« Aussage, die auch in der Tat erfolgt.

Wir verdanken diese wertvolle Quelle dem Philosophen Simplikios (490–560), der 1000 Jahre nach Anaximander aus dem Werk des wichtigsten Aristoteles-Schülers Theophrast (371–287 v. Chr.) zitiert:

Simplikios: Unter denen, die das Eine sowohl bewegend wie unendlich angenommen haben,

Theophrast: [war] Anaximander, Sohn des Praxiades aus Milet, Anhänger und Nachfolger des Thales: er hat als Urgrund und Urelement der Dinge das Unbegrenzte (Apeiron) angesehen, als erster hat er diesen Begriff für den Urgrund gebraucht. Aber er hat weder das Wasser noch ein anderes der so bezeichneten Elemente als Urgrund angesehen, sondern eine gewisse andere unendliche Naturwesenheit, aus der alle Himmel entstanden seien und die Welten in ihnen. Aus welchem Stoff den jeweils entstandenen Dingen aber die Entstehung wird,

Anaximander,
zitiert von
Theophrast:
dahin erfolgt auch ihr Vergehen gemäß der Notwendigkeit; denn sie zahlen einander Strafe und Vergeltung für ihr Unrecht nach der Ordnung der Zeit.

Simplikios: wie er es mit diesen eher poetischen Worten zum Ausdruck bringt.

(DK 12 A9/B1)

Was bedeutet aber, es geschieht gemäß der Notwendigkeit? Und warum wird diese Notwendigkeit mit Strafe und Vergeltung begründet? Strafe – aber für welches Unrecht?

Aristoteles gibt in seiner ›Physik‹ folgende Erklärung: Gegner kämpfen meist um die Vorherrschaft. Nun versucht jedes Element, seinen Bereich auf Kosten eines anderen zu erweitern. So stehen Wasser, Luft und Feuer mit ihren Eigenschaften in Feindschaft zueinander. Wäre eines der Elemente in seinem Drang, ohne Beschränkung zu sein, siegreich, würde das kosmische Gleichgewicht aus den Fugen geraten und jedes Leben wäre vernichtet. Deshalb herrscht eine Notwendigkeit, dieses Unrecht (unbeschränkt sein zu wollen) zu sühnen und den gegnerischen Elementen Untergang und neues Entstehen nach der Ordnung der Zeit zuzumessen.

Möglich ist aber auch eine von Aristoteles abweichende Deutung: Die Schuld besteht darin, dass ein jegliches Ding über das ihm gesetzte Maß hinaus im Dasein verharren will. Die Schuld an den anderen Dingen ist, dass das Maß ihnen den Raum verwehrt und ihnen so die Möglichkeit nimmt, ins Dasein zu treten. Das Alte hindert das Neue darin, ins Dasein zu gelangen, aber weil es sich damit an ihm verschuldet, bewirkt die Naturnotwendigkeit den Untergang und schafft so Raum für neues Werden.

Anaximenes von Milet (585–525 v. Chr.) Er gibt – ähnlich wie Thales das Wasser – ein einzelnes Element, die Luft, als den Urgrund des Seins an.

Urgrund allen Seins sei die Luft; den Übergang in andere Stoffe erklärt Anaximenes mit Verdichtung und Verdünnung: Luft, die sich verdichtet, werde zu Wasser, bei stärkerer Verdichtung zu Erde, dann zu Stein; aus Luft, wenn sie sich verdünne, entstehe Feuer usw.

Auch Originalfragmente des Anaximenes sind überliefert, von denen eines, das von Plutarch stammt, angeführt sei:

Er [Anaximenes] sagt, das, was sich von der Materie zusammenzieht und verdichtet, ist das Kalte, das Dünne und Schlaffe dagegen – so drückt er sich wörtlich aus – sei das Warme.
(DK 13 B 1)

Durch den Zusatz so drückt er sich wörtlich aus wird deutlich, dass Plutarch hier Anaximenes im Original zitiert.

*

Bei der Würdigung der ionischen Naturphilosophen darf nicht vergessen werden, dass es nicht die Antworten sind, auch nicht das Erreichte, was die Bedeutung dieser philosophischen Väter ausmacht, sondern ihre Fragen. Mit diesen ihren Fragen haben sie die Welt bewegt, und mit Fragen wird auch in Zukunft die Welt weiterbewegt werden.

b. Die Schule der Pythagoreer

Die wissenschaftlichen Leistungen der pythagoreischen Schule sind nicht hoch genug einzuschätzen. Pythagoras wurde schon allein dadurch zum Philosophen, so P. Tillich, dass er in der Welt, die er erlebte, keine letzte Wirklichkeit sah. Ohne diese Voraussetzung wäre auch das Gedankengebäude eines Platon nicht entstanden.

Pythagoras von Samos (570–496 v. Chr.) Mit seiner Schule floss die zweite Hauptströmung in die früheste Philosophie ein. Er unternahm den bahnbrechenden Schritt zur Unterscheidung zwischen wahrnehmbarer und gedachter Welt, auf die Platons Ideenlehre später aufbauen wird. Kernpunkt seiner Lehre ist: Die Wirklichkeit ist mathematisch geordnet, das Wesen der Dinge liegt letztlich in den Zahlen.

Geboren wurde Pythagoras auf der Insel Samos, sein Vater war Goldschmied. Er emigrierte um das Jahr 530 v. Chr. in die griechische Pflanzstadt Kroton in Unteritalien, in das heutige Crotone in Kalabrien. In Kroton betätigte er sich als Verfassungsgeber und hatte großen Einfluss in der Stadt. Er gründete dort eine Schule mit ca. 300 Schülern; diese Schule hatte aber mehr den Charakter einer religiösen Lebensgemeinschaft oder Sekte, die sich vegetarisch ernährte und zu der auch Frauen Zutritt hatten. Eine seiner Schülerinnen, Theano, nahm er zur Frau. Der gemeinsame Sohn hieß Telauges; dieser wurde später sein Nachfolger.

Pythagoras' politische Macht führte bald zu Spannungen und später zu offenem Aufruhr. Wahrscheinlich floh Pythagoras vor Ausbruch der Unruhen von Kroton nach Metapont und ist dort gestorben.

1. Eine der zentralen Lehren des Pythagoras ist die Lehre von der Seele. Der Leib-Seele-Gegensatz und die Unsterblichkeit der Seele, verbunden mit der Seelenwanderung, stammen wohl aus der Dichtung des Sängers Orpheus und aus dem Kontakt mit asiatischen Kulten. Hinzu kommt die Lehre von der Wiederverkörperung der Seele, je nach Lebenswandel in höheren oder niederen Existenzweisen.

2. Haben die Ionier geglaubt, den Urstoff gefunden zu haben, nehmen die Pythagoreer nun in Anspruch, die gestaltende Form des »ersten Anfangs«, der archē, angeben zu können. Jede Kraft, will sie nicht willkürlich wirken, bedürfe einer formalen Ordnung, um bewegen zu können. Diese Ordnung, die jeden Stoff gestaltet, bestehe in den die Zahlen. Sie seien die Bausteine der Welt, sie lägen den Erscheinungen der Dinge zugrunde.

Wie aber kamen die Pythagoreer auf die Zahl als das Wesen aller Dinge? Es war die Beschäftigung mit der Musik, die diese Revolution im Denken auslöste. Spannt man die Saite eines Musikinstrumentes auf ein Brett, kann man den Ton verändern, indem man die Länge der Saite verkürzt. So liegen den Oktaven, Quinten und Quarten messbare Saitenlängen zugrunde, deren Abstände in Zahlen ausdrückbar sind. Somit basiert die Harmonie in der Musik auf einem mathematischen Verhältnis. Es gibt also ein Prinzip, das nicht im Stoff der Dinge (der Saiten oder des Holzbrettes) liegt.

3. Am bekanntesten dürfte der sog. Lehrsatz des Pythagoras sein, der ganz sicher nicht von Pythagoras selbst stammt, sondern schon in asiatischen Kulturen bekannt war: a2 + b2 = c2. Weniger bekannt dürfte aber die Gedankenwelt sein, die hinter diesem Satz steckt.

Die Summe aus 9 und 16 ist 25. Dafür kann man auch sagen: 3 × 3 + 4 × 4 = 5 × 5. Die Pythagoreer entdeckten nun, dass 3 × 3 auch als räumliches Quadrat darstellbar ist; also ist ein arithmetisches Verhältnis auch als geometrische Größe darzustellen, ebenso 4 × 4 und 5 × 5.

Statt 9 + 16 = 25 kann man auch sagen: Die Summe der beiden Kathetenquadrate ist gleich dem Quadrat der Hypotenuse. So besteht zwischen den räumlichen Gestalten und den unräumlichen arithmetischen Verhältnissen im Grunde eine Identität. Das räumliche Gebilde eines rechtwinkligen Dreiecks mit seinen drei Quadraten ist eine in Erscheinung getretene arithmetische Gleichung. Wenn wir also die Zahlen und die richtige Ordnung der Zahlengesetze kennen, dann können wir die räumlichen Erscheinungen enträtseln. Gott hat, der Überzeugung der Pythagoreer zufolge, das Buch der Natur in mathematischen Lettern geschrieben.

Weitere Pythagoreer

Hippasos von Metapont (6./5. Jh. v. Chr.) gilt als der eigentliche Begründer der mathematischen Richtung der pythagoreischen Schule. Sein bleibender Verdienst ist die Entdeckung der Inkommensurabilität (»Unmessbarkeit«).

(Dem geometrischen Begriff der Inkommensurabilität entspricht in der Mathematik der Begriff der irrationalen Zahl. Von Inkommensurabilität spricht man, wenn Größen verglichen werden, deren Maßverhältnisse als mathematisches Ergebnis eine irrationale Zahl ergeben. Irrational ist z. B. die Zahl Pi (3, 1415926535...). Ein Beispiel für die geometrische Inkommensurabilität: Nimmt man die Seitenlänge eines Quadrates und vergleicht sie mit seiner Diagonale, so ergibt dies – geht man von der Seitenlänge 1 aus – das inkommensurable Verhältnis 1 : 1, 4142135 ...).

Für die Pythagoreer muss diese Entdeckung bestürzend gewesen sein. Ihr Glaube, die gesamte Natur könne in ganzen Zahlen ausgedrückt werden, bekam Risse.

Philolaos (470–399 v. Chr.) war Arzt und Zeitgenosse des Sokrates. Er bricht wohl als Erster mit dem Verbot, pythagoreische Lehren zu veröffentlichen, und ist die eigentliche Quelle dessen, was wir von Aristoteles über den Pythagoreismus wissen.

c. Heraklit und Parmenides – zwei Gegenpositionen

1. Position: Das bewegte Sein

Die Naturphilosophen aus Milet hatten nach einem Urstoff gesucht und jeweils geglaubt, ihn gefunden zu haben. Jeder der gefundenen Urstoffe setzte eine anfängliche Unveränderlichkeit und eine ursprüngliche beharrende Substanz der Weltwerdung voraus. Bei Pythagoras war es die Zahl, die als Ordnung den Stoff gestaltete, aber als formales Gesetz unveränderlich den Dingen der Welt zugrunde lag. Jetzt geht es um neue Fragestellungen: Ist nicht hinter dem Werden und Vergehen das Werden selbst, die Veränderung, das oberste Prinzip, und nicht eine ruhende Substanz? Kann es nicht sein, dass das Urwesen der Dinge ein Prozess ist? Auf diese Fragen versucht Heraklit zu antworten.

Heraklit von Ephesus (520–460 v. Chr.) Bei ihm kann ein erstes umfassendes System erahnt werden, das von einer Einheit der Gesamtwirklichkeit ausgeht, die gerade in ihrer Gegensätzlichkeit von einem metaphysischen Gesetz zusammengehalten wird. Seine Lehre vom Logos werden nachfolgende Schulen aufnehmen und den Logos mit Gott und dem Schicksal identifizieren. Dies reicht bis in die christliche Theologie hinein, die im Johannes-Evangelium zu der Aussage gelangt, dass der Logos nichts anderes sei als der Schöpfungsakt Gottes.

Mit ihm bekommt zum ersten Mal ein vorsokratischer Philosoph persönliche Konturen. Diogenes Laertius berichtet, Heraklit habe voller Verachtung auf seine Mitmenschen geblickt und sei der Ansicht gewesen, Homer verdiene es, aus den Preiswettkämpfen herausgeprügelt zu werden. Den Ephesern, diesem »heillosen Gesindel«, habe er geraten, sich aufzuhängen. Dass Heraklit ein Buch geschrieben hat, steht fest. Angeblich soll der Tragödiendichter Euripides Sokrates dieses Buch geliehen und ihn nach seiner Meinung gefragt haben. Sokrates soll geantwortet haben, was er davon verstanden habe, zeuge von hohem Geist; und was er nicht verstanden habe, dazu bedürfe es eines »delischen Tauchers«. Eine Legende zu Heraklits Tod findet sich ebenfalls bei Diogenes Laertius: Wegen seiner Wassersucht habe er sich, in der Hoffnung, dass das Wasser in seinem Körper durch die Wärme verdunsten würde, in einem Kuhstall in den Mist eingegraben. Daraufhin sei er gestorben.

Heraklits Werk ist rekonstruiert worden. Sein fragmentarischer Zustand ist zwar beklagenswert, aber andererseits sehen wir uns mit dem Glücksfall einer geistigen Hinterlassenschaft konfrontiert, die uns über 120 Originalzitate des dunklen Denkers beschert, an deren Echtheit zu zweifeln größtenteils kein Grund besteht. Heraklits Philosophie wird von drei Kerngedanken getragen:

  1. dem Fluss der Dinge,
  2. der Einheit der Gegensätze und
  3. der Lehre vom Logos.

1. Das Bild vom fließenden Strom ist Heraklits berühmtes Symbol für den Prozesscharakter des Seins: »Alles fließt« (panta rhei) ist sein bekanntester Satz, obwohl er sich wörtlich in keinem Originalfragment findet. In Platons Dialog ›Kratylos‹ sagt Sokrates über Heraklit:

ich glaube zu sehen, dass Heraklit gar alte Weisheit vorbringt [...] Heraklit sagt doch, dass alles fließt und nichts bleibt [...]
(Platon ›Kratylos‹ 402 a)

In Aristoteles' ›Metaphysik‹ heißt es, dass Heraklit der Meinung sei,

dass alles Sinnliche beständig fließe und es keine Wissenschaft davon gebe.
(DK 65 A 3)

Plutarch zitiert Heraklit in Fragment 91 mit folgenden Worten:

Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen [...]
(DK 22 B 91)

Das klingt, als mache ein Fließen aller Dinge diese Dinge zu etwas Flüchtigem, sodass jede konkrete Aussage über die jeweilige Identität unmöglich sei. Vor allem Platon scheint diesem Missverständnis aufgesessen zu sein; jedenfalls fügte er den Zusatz und nichts bleibt an und versuchte, die Identität der Gegenstände mithilfe von Ideen zu sichern.

Der Fluss wandelt sich durch neue Gewässer, ohne dass der Fluss aufhört zu bestehen. Die Tatsache, dass etwas dasselbe sein kann, obwohl sich seine Bestandteile ständig ändern, wird oft übersehen und ist der eigentliche Grund für das besagte Missverständnis.

Auch die Wandlungen am Menschen besagen nicht, dass nichts am Menschen bleibt: Er selbst bleibt. Es gibt ein Einheitliches hinter aller Vielheit und hinter allem Wandel. Diese Einheit sieht Heraklit aber nicht im endlosen Fließen aller Dinge, sondern in dem Gesetz, dass die Dinge des Lebens in ständiger Gegensätzlichkeit, ja in ständigem Kampf miteinander ständen.

2. Die Einheit der Welt verliert sich nicht im endlosen Fließen – sie ist deren Veränderung durch widerstreitende Gegensätze. Heraklit führt hierfür in Fragment 53 das massive Wort vom Krieg oder Kampf (je nach Übersetzung) ein.

Der Krieg ist der Vater aller Dinge, Herrscher aller ist er.
(DK 22 B 53)

Es wurde oft versucht, diese schroffe Aussage abzumildern, indem man die Vaterschaft des Krieges auf harmlose Gegensatzpaare zu beschränken suchte, bis man im 19. Jahrhundert einen Fund machte, der offensichtlich die Fortsetzung des berühmten Fragments 53 sein musste:

die einen lehrt er Götter, die anderen Menschen werden, diese macht er zu Sklaven, jene zu Freien.
(DK 22 B 53)

Damit ist klar, dass Heraklit demnach auch den mit Waffen ausgetragenen Konflikt als ein Weltgesetz ansah, das die schöpferische Weiterentwicklung der Menschheit garantiert.

Die schönste und einleuchtendste Illustration der Einheit der Gegensätze gibt Heraklit in Fragment 51 mit dem Beispiel des Musikinstruments der Leier:

Sie verstehen nicht, wie (das Eine), auseinanderstrebend, in sich übereinstimmt; gegenstrebige Vereinigung wie ein Bogen und Leier.
(DK 22 B 51)

So wie die Saiten der Leier Druck auf die beiden Enden des Holzes ausüben, so wehrt sich das Holz der Leier gegen diese Krümmung mit Gegendruck. Aber gerade auf diesen entgegengesetzten Spannungen beruht die Einheit des Instrumentes, ebenso wie die des Bogens. Für diese gegenstrebige Vereinigung bzw. »Verbindung« steht das griechische Wort harmoniē, im Grunde kein musikalischer, sondern ein technischer Begriff, der ursprünglich aus dem Schiffsbau kommt.

3. Diese harmoniē ist Ausdruck des Weltgesetzes, das Heraklit logos nennt. Logos heißt »Wort«, nicht »gesprochenes Wort«, sondern »Wort, hinter dem sich Rationalität verbirgt«, weil es sich als Rede gliedert, eine Rede, die das Sein erfasst und es in vernünftige Zusammenhänge bringt. Der Logos muss als ordnendes Gesetz im Sein der Welt erkannt werden, was aber meist nicht gelingt, weil der individuelle Logos dies oft nicht zu fassen vermag und die Menschen in ihrer Unerfahrenheit verständnislos weiterhin ihren privaten Logos pflegen.

Der Logos hat Anteil am Göttlichen. Als Teil des Göttlichen ist der Logos auch Prinzip aller Dinge, »Urgrund« (archē) allen Seins. Dieser Urgrund wird nun Feuer genannt, allerdings nicht als stoffliches Prinzip wie bei den ionischen Naturphilosophen, sondern als unstoffliches Prinzip für die stofflichen Erscheinungsformen der Wirklichkeit.

In dem Maße, in dem die Seele Anteil am Logos hat, ist auch der Mensch imstande, richtig zu handeln. Richtiges Handeln ist nach Heraklit, wenn die Einsicht in die Gesetzmäßigkeit der Natur und die Einsicht in den Weltlogos zusammenfallen. Dies bedeutet, dass bei Heraklit bereits ein naturrechtlicher Ansatz vorliegt, der besagt, dass richtiges Handeln der Natur abgelauscht werden kann.

2. Position: Das ruhende Sein

Diese Gegenposition zu Heraklit wird vertreten von den Denkern von Elea, einer Stadt, die wohl unbedeutend geblieben wäre, wenn sich nicht die berühmte Philosophenschule dort etablierte hätte. Ionische Griechen, die 540 v. Chr. ihre Heimatstadt Phokaia verlassen hatten, hatten in Hyele in Unteritalien einen Handelsstützpunkt gegründet. Aus Hyele wurde Elea, das heutige Velia in Kampanien. Es liegt ca. 70 Kilometer südöstlich von Salerno und 40 Kilometer südlich von Paestum. Der Name der Philosophenschule von Elea ist untrennbar verbunden mit dem Namen Parmenides. Sein Vorgänger war Xenophanes.

Xenophanes von Kolophon (570–470 v. Chr.) Er verdankt seine Bedeutung in der Philosophiegeschichte der Tatsache, dass er als eine Art Aufklärer gegen den anthropomorphen (»vermenschlichten«) Götterglauben des Homer und Hesiod zu Felde zog und die Unmöglichkeit sicherer Wahrheit behauptete.

Nach seiner Flucht aus seiner Heimatstadt Kolophon folgten Irrfahrten nach Sizilien, Malta und Ägypten, auf denen er sich als fahrender Sänger und Dichter durchs Leben schlug. Elea wurde dann die letzte Station seines Lebens, wo er alle seine Kinder überlebte und fast hundertjährig starb. Die Fragmente, die wir von ihm haben, sind in poetischer Form abgefasst.

Die Fragmente 14–16 geben Zeugnis von seinem Spott über die Vermenschlichung der Götter:

Aber die Sterblichen wähnen, die Götter würden geboren,
und sie hätten Gestalt und Tracht und Sprache wie sie [...]
Hätten die Ochsen, Rosse und Löwen Hände und könnten
malen und Werke sie schaffen und bilden gleiche Menschen, dann
würde das Pferd wie ein Ross und ähnlich dem Ochsen der Ochse
seine Götter gestalten und Körper würden sie bilden,
so wie jegliches selbst das eigene Aussehen kennt [...]
Äthiopier sehn ihre Götter stumpfnasig, schwarz;
glänzenden Augs, rothaarig stellen die Thrakier sie dar.
(DK 21 B 14–16)

Dass die menschliche Erkenntnis unzureichend ist, war für die Griechen nicht neu. Dass aber die Einsicht, alles sei nur Vermutung, sichere Wahrheit könnten wir nicht erlangen, nicht mehr wegzudenkendes Allgemeingut der Philosophie geworden ist, verdanken wir dem Gründer der Schule von Elea. Sein bekanntestes Zitat lautet:

Nie noch lebte ein Mann noch wird es ihn geben, der
von den Göttern und dem, was ich sage, Sicheres wüsste.
Denn geläng' es ihm auch, das Vollendete einmal zu sagen,
nur ein Zufall hätt' ihn geführt, selbst wüsst' er es nicht.
Ist doch dem Menschen in allem nichts andres gegeben als Wahn.
(DK 21 B 34)

Parmenides von Elea (540–470 v. Chr. oder 515–445 v. Chr.) Er steht für einen Neuanfang in der Philosophie. Platon nennt ihn Vater. Als Erstem ging es ihm darum, dem Begriff des Seins bzw. des Seienden auf die Spur zu kommen. So wird er zum Ahnherrn der Ontologie, der »Wissenschaft vom Seienden«, als Grunddisziplin der Philosophie. Über ein Jahrtausend lang blieb sie deckungsgleich mit dem, was man als Metaphysik kennt.

Parmenides war wohl Schüler des Xenophanes. Einmal sei Parmenides mit seinem Schüler Zenon von Elea (490–430 v. Chr.) nach Athen gereist, wo es zu dem legendären Philosophentreffen mit dem jungen Sokrates gekommen sei, das Platon den Stoff zu seinem ›Parmenides‹-Dialog gab. Stimmt die am häufigsten tradierte Lebensspanne 540–470 v. Chr., so ist ein solches Treffen ein Unding, da Sokrates erst 470 v. Chr. das Licht der Welt erblickte. Demgegenüber steht bei Platon mit verblüffender chronologischer Genauigkeit, dass Parmenides ganz weißes Haar bei dem Treffen gehabt habe und in recht fortgeschrittenem Alter, etwa 65 Jahre, gewesen sei. Zenon sei vierzigjährig, von erfreulichem Aussehen und der Geliebte von Parmenides gewesen. Sokrates sei zu der Zeit noch sehr jung gewesen. Aufgrund dieser präzisen Angaben spricht viel für die alternative Angabe der Lebensdaten: von 515 bis 445 v. Chr. Das große Philosophentreffen kann somit im Jahre 450 stattgefunden haben.

Das Herzstück der Lehre des Parmenides ist die Lehre vom Sein und Nichtsein. Die Vernunft geht von folgendem Wissen aus: Es gibt nur ein Sein, aber es gibt kein Nichtseiendes. Das klingt banal, ist es aber nicht. Denn unter Seiendem versteht Parmenides immer »etwas, das einen Raum hat«. Das Nichtseiende leugnet er, da darunter ein »leerer Raum« verstanden wird, ein Vakuum. Die Annahme einer Bewegung oder eines Werdens setzt aber ein Nichtseiendes, einen leeren Raum, voraus, in dem sich etwas bewegt und in dem etwas entsteht. Daraus folgert Parmenides, dass es weder Bewegung noch Werden geben könne, sondern nur unveränderliches Sein. Dies stellt den gesamten Denkansatz der Vorsokratiker zu Werden und Vergehen auf den Kopf: Es kann kein Werden geben, denn nichts entsteht aus Nichts. Es hat also ein Übergang aus dem Nichtsein in das Sein stattgefunden. Und es kann auch kein Vergehen geben, da dem Vergangenen dann ein Nichtsein zukäme. Die Annahme von Werden und Vergehen erweist sich als trügerischer Schein. Warum die Menschen diesem Schein aufsitzen, begründet Parmenides allerdings nicht.

Niemals kann man es beweisen, daß es Nichtseiendes gibt,
Halte dein Denken entfernt vom Pfade derartigen Forschens,
lass von Gewohnheiten nicht, der vielerfahrenen, dich
zwingen auf irrigem Weg. Vertrau' nicht ziellosem Blick
nach der Ohren schallendem Brausen oder der Zunge [...]
Nicht auch verstatte ich dir, zu sagen oder zu denken,
dass aus Nichtsein einst Seiendes wäre entsprossen.
Weder darf man sagen noch denken: ›Nichtseiendes ist‹.
Denn was zwang, was trieb es dazu, ob eher, ob später,
in dem Nichts zu beginnen, als Sein dem Nichts zu entwachsen?
(DK 28 B 7–8)

Mit Parmenides haben wir einen Philosophen vor uns, dem wir eine bahnbrechende Erkenntnis verdanken, auf der andere Philosophen aufbauen werden: Das einzig Wirkliche ist über aller Wirklichkeit; es gibt eine Wirklichkeit jenseits der Erfahrung.

*

Was auf Parmenides folgte, ist reine Apologie, »Verteidigung« der Lehre des Meisters aus Elea. So spielt beispielsweise die Leugnung von Bewegung bei seinem Schüler Zenon eine spektakuläre Rolle. Die Verteidigung dieser Leugnung wird ihn berühmt machen.

Zenon von Elea (490–430 v. Chr.) Er verteidigt seinen Lehrer Parmenides gegen den massiven Spott und die Angriffe, die dessen Lehre von der Einheit des Seins ausgelöst haben. Zenon weist nach, dass die Annahme der anderen, es gebe eine Vielheit, zu noch lächerlicheren Resultaten führt.

Seine Einmischung in die Politik sollte ihn das Leben kosten. Bei einem Waffentransport von der Insel Lipari nach Italien wurde Zenon angeblich geschnappt und vom Tyrannen von Elea in ein scharfes Verhör genommen, in dessen Verlauf er getötet wurde. Unter Zenons Schülern soll der spätere athenische Staatsmann Perikles gewesen sein.

Zenons Methode ist raffiniert: Er geht von der hypothetischen Richtigkeit der gegnerischen Einwände aus, es gebe eine Vielheit, es gebe eine Bewegung usw. Daraus leitet er logische Schlüsse ab, die jedoch widersprüchlich sind. Was widersprüchlich ist, kann nicht wahr sein; also ist die zugrunde liegende Annahme falsch und – jetzt kommt der Umkehrschluss – somit das Gegenteil richtig, nämlich seine eigene These von der Bewegungslosigkeit. Mit vier Paradoxien belegt er seine These von der Unmöglichkeit von Bewegung, die beiden bekanntesten seien hier erwähnt. Überliefert wurden sie von Aristoteles:

1. »Achilles und die Schildkröte«: Der schnellste Läufer der Griechen wird das langsamste Lebewesen im Wettlauf nicht einholen. Vorausgesetzt wird, dass Achill beispielsweise 10-mal so schnell läuft wie die Schildkröte und dass diese einen Vorsprung bekommt, sagen wir von 100 Metern. Hat Achilles die 100 m aufgeholt, ist der langsamere Gegner schon bei der 110-m-Marke. Bei 110 zurückgelegten Metern hat die Schildkröte noch 1 m Vorsprung, dann 10 cm, dann 1 cm, 0, 1 cm, 0, 01 cm usw. Immer bleibt ein kleiner Vorsprung übrig. Bei unendlicher Teilung der zu durchlaufenden Wegstrecke wird Achilles die Schildkröte also nie einholen. (DK 29 A 26)

2. »Der ruhende Pfeil«: Ein abgeschossener Pfeil steht im Fluge still. Das Argument für diese Behauptung ist in Fragment 27 (DK 29 A 27) nur sehr verkürzt überliefert. Es könnte etwa so ausgesehen haben: Wenn etwas einen Ort von genau der Größe einnimmt, die es selbst hat, dann ist es in Ruhe. Was sich bewegt, nimmt im gegenwärtigen Zeitpunkt einen Ort von genau der Größe ein, die es selbst hat. Was sich bewegt, ist also im gegenwärtigen Zeitpunkt in Ruhe. Nun bewegt sich, was sich bewegt, immer im gegenwärtigen Zeitpunkt. Was sich bewegt, ist also immer in Ruhe.

Sicher war Zenon nicht ernsthaft davon überzeugt, dass der Wettlauf nicht gewonnen werden könne oder der Pfeil tatsächlich ruhe. Sein Anliegen war, den Gegnern seines Lehrers nachzuweisen, dass auch deren Ansichten zu Widersprüchen führten. Natürlich sind seine Gedanken ein Affront gegen den gesunden Menschenverstand, was sicher auch beabsichtigt war. Sie machen einen ärgerlich, da die Widerlegung doch nicht so leicht fällt, wie man es sich beim ersten Lesen vorgestellt hat.

d. Die Vermittlungsversuche zwischen Heraklit und Parmenides

Heraklit und Parmenides hatten zwei Fronten abgesteckt: dynamisches Werden und Vergehen als Realität einerseits und statische Unveränderlichkeit und Unvergänglichkeit als Realität andererseits. Zwischen beiden Positionen galt es nun, eine Synthese herzustellen. Denn hinter den scheinbar unversöhnlichen Standpunkten bestand eine elementare Gemeinsamkeit: Über der sichtbaren Wirklichkeit gibt es eine größere Wahrheit: bei Heraklit die unsichtbare Einheit der Gegensätze, bei Parmenides die unsichtbare Einheit des Seins. Drei philosophische Systeme stellen Vermittlungsversuche zwischen den beiden dar: das des Empedokles, das des Anaxagoras und das der Atomisten. Die Vermittlung besteht in der Annahme, dass unsere sichtbare Realität zwar aus veränderlichen Aggregaten besteht, diese jedoch wiederum aus unveränderlichen Teilpartikeln bestehen.

Empedokles von Akragas (495–435 v. Chr.) Er hat von den Eleaten die Lehre des wahrhaft Seienden übernommen, von Heraklit die Realität des Werdens, von den Ioniern die Kosmologie und von Pythagoras die Lehre von Wiederverkörperung und Seelenwanderung. Damit war er aber keineswegs ein unorigineller Denker, sondern der Erste, der einen Ausweg aus dem Dilemma zwischen Konstanz und Bewegung wies.

Empedokles war Philosoph, Wunderheiler, Wissenschaftler, Magier, Politiker, Arzt und vielleicht auch ein Scharlatan. Seine Heimatstadt ist das heutige Agrigent an der Südküste Siziliens. Aus tiefstem Herzen war er Pythagoreer. Als er einmal eine Epidemie (wahrscheinlich die Malaria) eindämmte, indem er auf eigene Kosten ein stehendes Gewässer durch Flussumleitungen belebte, haben ihn die Einwohner wie einen Gott angebetet. Kein Wunder, denn er trug zu seiner finsteren Miene stets ein Purpurgewand mit goldener Kopfbinde und an den Füßen eherne Sandalen. Über seinem Tod schwebt ein rätselhafter Schleier. Die schönste der sechs Varianten von seinem Tod lautet: Um seine Göttlichkeit mit einer Art Himmelfahrt zu krönen, stürzte er sich in den glühenden Schlund des Ätna, der jedoch eine seiner ehernen Sandalen wieder ausspie. Gegen diese Darstellung erhob allerdings sein Schüler und Geliebter Pausanias Einspruch.

1. Empedokles nimmt vier Grundstoffe an: Zu den bekannten, Wasser, Luft und Feuer, nimmt er noch die Erde hinzu. Er nennt diese Grundstoffe Wurzeln des Seins; Aristoteles wird sie später Elemente nennen. Hiermit greift Empedokles den archē-Gedanken der Ionier von dem einen Grundstoff auf und erweitert die Reihe auf vier gleichberechtigte Grundstoffe oder Elemente, die nicht aufeinander zurückführbar sind. Hinter der Entdeckung der Vierzahl der Elemente steckt der Zweifel des Empedokles: Wie kann ein mannigfaltiger universaler Prozess aus einer einzelnen Einheit abgeleitet werden? Diese Annahme des Parmenides von der Einheit des Seienden muss geopfert werden. Nicht geopfert aber werden die Eigenschaften, die Parmenides ihnen zugesprochen hatte: die des Ungewordenen und die des Unvergänglichen.

2. Das Werden führt Empedokles nun auf die Faktoren Mischung und Trennung der Elemente zurück. Das, was wir mit unseren Augen oder sonstigen Organen wahrnehmen, ist nichts anderes als die Kombination der vier Grundelemente zu verschiedenen Aggregaten oder Konstellationen. Das Bleibende aber an den Kombinationen der Grundstoffe ist ihr unveränderliches Sein.

3. Was setzt diese Mischung und die daraus resultierende Bewegung in Gang? Es ist die Kraft: Diejenige, welche die Stoffe verbindet, ist die Liebe, und die, welche Stoffe abspaltet, nennt er Hass oder Streit.

Der (Wettstreit beider Kräfte) liegt klar vor in der ausgezeichneten Masse menschlicher Glieder: Bald vereinigen sich auf Antrieb der Liebe alle Glieder, die Körper angenommen haben, in eins, auf der Höhe strotzenden Lebens, dann aber wieder, auseinandergetrieben durch die bösen Mächte der Zwietracht, irren sie, voneinander getrennt, umher am Gestade des Lebens.
(DK 31 B 20)

Anaxagoras von Klazomenai (500–428 v. Chr.) Er verpflanzt den neuen Anspruch des Denkens in das künftige Zentrum des Geistes, Athen, das noch nichts von seinem Glück weiß. Auch er will einen Ausweg aus der Sackgasse aufzeigen, die die Philosophie seit Heraklit und Parmenides verlassen möchte. Ihm verdankt die Philosophie einen neuen Grundgedanken, den des Nous (»Geist«). Platon wird diesen Begriff als »Vernunft« übernehmen.